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Ich leide, also bin ich: Zu Schopenhauers Theorie des Mitleids und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung

©2010 Bachelorarbeit 47 Seiten

Zusammenfassung

In Zeiten zunehmender sozioökonomischer und -kultureller Spannungen im gesellschaftlichen Zusammenleben bekommt die Frage nach den Eigenschaften, die den Menschen erst zu einem Selbst machen und diesen seinem Selbst nach handeln lassen, eine neu aufflammende Bedeutung. Konträr zu einer scheinbar verstärkt auftretenden Genese negativer sozioökonomischer und -kultureller Tendenzen und der damit einhergehenden egoistisch geprägten Selbstverwirklichung des Individuums in der heutigen Gesellschaft gilt es, diese Eigenschaften aufzuzeigen und zu beleuchten.
In diesem Kontext beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit einer der elementarsten menschlichen Eigenschaften, welche die Philosophie in den letzten Jahrhunderten herausarbeiten konnte: dem Mitleid. Dieses erfährt unter der subtilen Bedrohung des individuellen Selbst in der modernen Gesellschaft eine erneute Bewusstwerdung. Es scheint sich zu manifestieren, dass es der Eigenschaft des Mitleids bedarf, welche auch zu den bereits angeführten heutigen gesellschaftlichen Konditionen das Menschliche im Menschen zu garantieren vermag.
Im Verlaufe dieser Arbeit versucht der Autor, die Bedeutung und das Verständnis des Mitleidbegriffs darzulegen. Dies geschieht in Anlehnung an die Ausführungen Arthur Schopenhauers. Nach einem Kapitel der Hinführung zum Begriff des Mitleids, welches einen kurzen Abriss der differenzierten Epochen mit Beispielen mehrerer Autoren darstellt, werden die expliziten Ausführungen Schopenhauers im Folgekapitel aufgegriffen, dargestellt und erläutert. Im Anschluss versucht der Autor den Gesellschaftsbegriff zu erörtern, gesellschaftliche Zusammenhänge aufzuzeigen und deren Konditionen darzulegen. Abschluss findet die vorliegende Arbeit in dem Versuch, potenzielle Parallelen zwischen den Ausführungen Schopenhauers und den gesellschaftlichen Konditionen bezüglich des Mitleidbegriffs aufzuzeigen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.3 Die mittelalterliche Philosophie und das Mitleid

Betrachtet man den Begriff des Mitleids in der mittelalterlichen Philosophie, so ist die Beachtung auf die christlichen Werte der Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu richten, da dem christlichen Verständnis nach das Mitleid deren Voraussetzung darstellt.

So führt Samson weiter aus, dass bereits Lactantius in der Spätantike den Affekt des Mitleids als positiv beschreibt. Diesem zufolge umfasst der Affekt des Mitleids die Vernunft des menschlichen Lebens. Wer diesen aufhebt, macht das menschliche Leben zum animalischen.[1]

Als Weiteres ist es unausweichlich, auf Thomas von Aquin zu sprechen zu kommen. Diesem nach erklärt sich das Mitleid als Liebe zum anderen, welche auf einer Traurigkeit begründet ist, die wiederum auf dem Mitempfinden am Leid des anderen zu basieren scheint. Die von mir bereits zu Beginn des Kapitels angeführte Differenzierung des Mitleidbegriffs findet sich bei Thomas von Aquin wieder. So spricht er in einer Linie von einem sinnlichen Affekt des Mitleids, dem affectus misericordiae, welcher die pathologische Form des Mitleids beschreibt; in einer anderen Linie ist die misercordia[2] als Tugend zu verstehen, da ihr die Vernunft zu Grunde liegt.[3]

2.4 Das Mitleid in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts

Das 17. und 18. Jahrhundert ist von immenser Bedeutung in der Diskussion um den Begriff des Mitleids. Dieser ist zu einem festen Bestandteil einer sich herausbildenden Gefühlsethik geworden.

Im Zuge dieses Kapitels sind mehrere Autoren anzuführen und teils auch konträr gegenüberzustellen.

Mit René Decartes beginnend, findet sich wiederum ein Bezug zu den Ausführungen Aristoteles. Er bestimmt das Mitleid als die differenzierte Traurigkeit, die erst dann in Erregung versetzt wird, wenn jemandem ein Übel widerfährt, welches dieser nicht verdient.[4] Dieser Beschreibung des Mitleids gegenüber äußert sich Thomas Hobbes konträr zu Decartes Ausführungen. Er beschreibt das Mitleid als einen egoistischen Affekt, dem die gezielte Furcht vor dem eigenen zukünftigen Leben zu Grunde liegt und benennt es als eine perturbation animi.[5] Folglich beeinträchtigt das Mitleid die eigenen Überlegungen.[6]

Als Weiteres ist in diesem Kapitel die Philosophie des moral sense mit ihren Vertretern David Hume und Adam Smith anzuführen. Der moral sense ist als eine Theorie des Mitleids, die durch Hutchesons und Shaftesbury begründet wurde, zu begreifen, welche versucht, die Genese moralischer Begriffe aus dem Inneren her zu erklären und fassbar zu machen.

David Hume nach gibt es zwischen den Menschen eine vorauszusetzende natürlich bedingte Ähnlichkeit, die es ermöglicht, sich die Gefühle anderer begreifbar zu machen und zu verstehen.[7] Hier führt er die Einbildungskraft an. Hume benutzt in seinen Ausführungen den Begriff der sympathy[8]. Mitleid ist eine Sonderform von sympathy und Hume formuliert einige Merkmale. So setzt er das Mitleid in Abhängigkeit zu der Nähe des zu bemitleidenden anderen.[9]

Auch Adam Smith benutzt den Begriff der sympathy in seinen Ausführungen. Dieser bildet den Kernpunkt seiner Moralphilosophie.[10] Inhaltlich geht Smith mit Hume sehr stark d’accord. Allerdings liegt in Smiths Ausführungen ein Schwerpunkt auf der menschlichen Einbildungskraft, der er mehr Bedeutung zumisst als Hume. Er differenziert, dass der Schmerz des Leidenden stets stärker sein wird als der des Mitleidenden. So sind die Gefühle eines anderen nicht direkt erfahrbar; es herrscht stets nur eine Vorstellung dieser vor.[11]

Ein weiterer Autor, der in dieser Thematik angeführt werden muss, ist Jean-Jacques Rousseau. Seine Ausführungen sind für die Moderne von immenser Bedeutung.[12] Er beschreibt den Begriff des Mitleids als „präreflexiven“ Trieb. Auch Rousseau sieht diesen Affekt in der Natur begründet. Folglich umfasst er auch die Welt der Tiere. Das Mitleid ist nach Rousseau die einzige natürliche Tugend, die dem Menschen im Naturzustand[13] zugesprochen werden kann.[14] Das Faktum der Anschaulichkeit des Leidens wird ebenfalls verdeutlicht und das Mitleid als Identifikation verstanden. Rousseaus Ausführungen finden ihre Finalität in einer ‚Doktrin des Mitleids‘:„Befördere dein Bestes, aber laß es andern so wenig zum Nachteil gereichen, als möglich ist“.[15]

Abschluss möchte ich in diesem Kapitel in den Ausführungen Lessings finden. Dieser ist primär an der ästhetischen Perspektive des Mitleids interessiert. Die Fähigkeit des Mitleids ist für ihn eine der wichtigsten Tugenden. Er führt aus: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.[16] Lessing erarbeitet, in Auseinandersetzung mit Aristoteles, seine Theorie des Trauerspiels. Er interpretiert Aristoteles dahingehend, dass der Affekt der Furcht nicht das andere des Mitleids, eher dessen erweiterte Form ist. Fortführend ist Furcht ein selbstbezügliches Mitleid, das bei dem Gedanken verspürt wird, dass das auf der Bühne dargestellte Leid auch uns selbst treffen könnte. Lessing begründet diese These, indem er den schon von Aristoteles angeführten Aspekt unserer Ähnlichkeit bzw. Gleichheit mit dem Leidenden aufgreift, welcher der Identifikation dienlich ist. Dabei bezieht er sich auf dessen wirkungsästhetische Bestimmungen, welche in der kathartischen Wirkung der Tragödie bestehen, indem sie beim Zuschauer Mitleid und Furcht induzieren.[17] Beim Mitleid, welches durch das Trauerspiel beim Zuschauer hervorgerufen wird, handelt es sich primär um ein episodisches Gefühl. Um als moralisches Gefühl eine Wirkung entfalten zu können, muss es nach Lessing in ein dauerhaftes Gefühl transformiert werden. In dieser Transformation liegt das kathartische Momentum, die elementare Aufgabe der Tragödie.

3. Der Mitleidsbegriff bei Schopenhauer

3.1 Zum Satz vom zureichenden Grund

Um Schopenhauers Ausführungen zum Begriff des Mitleids begreifbar machen zu können, ist es vonnöten, sich einen Einblick in sein Hauptwerk zu verschaffen, Die Welt als Wille und Vorstellung, welches zum Verständnis das Wissen um den Satz vom zureichenden Grund voraussetzt. Sein Hauptwerk erläutert die Grundgedanken der Schopenhauerschen Philosophie und bildet die Grundlage für das Verständnis seiner Ausführungen zum Mitleid.

Die Hauptpunkte der Erarbeitung des Satzes vom zureichenden Grund, die zum Verständnis von Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ erforderlich sind, seien im Folgenden angeführt und erläutert.

a) Schopenhauer setzt voraus, dass Vorstellungen bereits gegeben sind. Der Satz vom Grund ist der Hauptgrundsatz aller Erkenntnis. „Nichts ist ohne Grund, warum es sei.“[18] Die bereits a priori manifestierten Erkenntnisse lassen den Satze vom Grund in einer vielfachen Gestalt erscheinen. Schopenhauer nach ist es des Weiteren daran, die „Wurzel“ des Satzes vom Grund zu ergründen und die Momente zu erfassen, nach denen sich das Grund-Folge- Verhältnis gestaltet. Dieses kann abstrahiert und in einer Formel dargestellt werden. Zu bemerken ist hier, dass die Suche nach der Wurzel keiner Beweisführung gleichgesetzt ist. Der Satz vom Grund ist elementar und kann folglich nicht weiter abgeleitet werden.[19]

b) Die Wurzel ist im Vorstellungsvermögen, dem Bewusstsein, zu finden, da davon auszugehen ist, dass nur Vorstellungen als gegeben gelten. Dieses Bewusstsein kann stets in Erkennendes und Erkanntes gegliedert werden. Die a priori verbindbaren Vorstellungen sind in einem Gesetz umfasst, welches als die gemeinsame Wurzel der differenzierten Gestalten des Satzes vom Grund zu verstehen ist. Der Satz vom zureichenden Grund ist als gemeinschaftlicher Ausdruck dieses Gesetzes zu verstehen.[20]

c) Die Vielfältigkeit der Grund-Folge-Verbindungen von Vorstellungen sind stets in den Vorstellungen selbst zu finden. Dies beruht auf der Tatsache der Invarianz der Vorstellungsverknüpfung in den Grund-Folge-Verhältnissen. Hier sind vier Vorstellungsklassen zu differenzieren. Jede Klasse impliziert eine spezifische Gestalt der Wurzel des Satzes vom Grund. Die vier differenzierten Klassen sind, Schopenhauer nach, induziert.[21]

d) Das Resultat der Induktion impliziert folgende vier Klassen. Die erste sind die empirischen Vorstellungen, welche als repräsentant bezüglich der objektiven realen Welt zu verstehen sind. Diese resultiert aus der Vereinigung von Zeit und Raum durch den Verstand. Das Gesetz der Kausalität dominiert die Vorstellungen.[22] Die zweite Klasse umfasst die Begriffe, welche durch Abstraktion aus den Vorstellungen hervorgegangen sind. Der Satz vom Grund gestaltet sich hier als Satz vom zureichenden Grund des Erkennens. Die Betrachtungsformen Zeit und Raum bilden die dritte Klasse. Der Satz vom zureichenden Grund des Seins ist hier der dominierende Ausdruck des Bestimmtseins durch das Gesetz der Verbindung.[23] Die vierte und letzte Klasse bildet das Subjekt des Wollens. Dieses ist für das Subjekt des Erkennens desgleichen ein Objekt. Der Satz vom zureichenden Grund des Handelns ist Ausdruck des Entschlusses, dem die Handlungen des Wollens entstammen.[24]

Bei der Betrachtung der vierten Klasse wird eine deutliche Differenz zu den übrigen Klassen offenbar. Das Motiv erklärt sich als Auslöser des Wollens, jedoch bleibt die Erklärung des Willensaktes selbst offen. Aus der Betrachtung dieser Differenz stellt sich für Schopenhauer Folgendes als evident dar. Er geht davon aus, dass der Willensakt selbst nicht in der Zeit ist, sondern nur dessen Handlungen. Ein universaler Willensakt muss folglich außerhalb der Zeit liegen. Aus diesem gehen alle anderen Akte, als Erscheinung, hervor.[25]

e) Das Außerzeitliche in der metaphysischen Betrachtung ist für Schopenhauer von immenser Bedeutung. Der Ursprung des menschlichen Handelns ist ein nichtzeitlicher und unbedingt. Der Akt des Willens ist selbst nicht dem Satz des zureichenden Grunds untergeordnet, da er selbst kein Objekt ist. Er ist das unabhängige und freie Wesen des Menschen selbst.[26]

3.2 Ein kurzer Abriss zu „Die Welt als Wille und Vorstellung“

Die Welt als Wille und Vorstellung ist Schopenhauers Hauptwerk. Er beschäftigt sich in diesem mit der elementaren Frage nach einem besseren Bewusstsein. Wie gelangt der Mensch, der auf sein eigenes Leiden fokussiert ist, zu einem Selbstverständnis, das von Schmerz und Tod nicht tangiert wird? Das menschliche Selbstverständnis und das Verständnis der Welt an sich sind eng an das Prinzip der Endlichkeit gebunden.[27] Die Vereinigung des Erkennens und Wollens in einem Individuum, gebunden an den Satz vom zureichenden Grunde, ermöglichen die Auflösung der Problematik der Leidensaufhebung.[28]

Schopenhauer formuliert dementsprechend den Lösungssatz, dass der Wille das Wesen der Dinge ist und die Welt der Prozess, in dem sich der Wille selbst erkennt.[29] Er arbeitet zwei aufeinander aufbauende Prinzipien aus. Primär sieht Schopenhauer den Willen. Diesem gegenüber stellt er die Vorstellung als sekundäres Prinzip, da sie aus dem Willen hervorgeht. Diese Einteilung hält er in seinem gesamten Werk aufrecht. Jedoch zeigt er auch, dass es für das Verständnis vonnöten ist, ein weiteres Verhältnis zwischen Wille und Vorstellung zu erörtern. Dieses bezieht sich auf seine transzendentalen Ausführungen. So bleibt der Wille in der Betrachtung stets ursprünglicher gegenüber der Vorstellung, jedoch wird diese Ursprünglichkeit selbst durch die Vorstellung vermittelt. Folglich gründet die Reflexion des Individuums auf der Vorstellung und nicht auf dem Willen.[30] Um sich dem Ursprung des Leidens und der Aufhebung des selbigen zu nähern, erkennt Schopenhauer schnell, dass in der Frage nach dem, was die Welt ist, die Erkenntnis, der Welt als Vorstellung, nur ungenügend zu sein scheint und dass es folglich der Ergänzung, die Welt ist auch Wille, bedarf.[31]

In Schopenhauers fortlaufender Gedankenfolge versucht er den Begriff der Vorstellung weiter zu analysieren. So ist diese binär zu begreifen. Sie setzt ein Subjekt, welches zu erkennen versucht, und ein Objekt, welches erkannt wird, voraus. Der Logik folgend ist das Subjekt die stets vorauszusetzende Bedingung der Erkenntnis und kann somit selbst nicht erkannt werden. Dem gegenüber steht das mannigfaltige Objekt der Erkenntnis.[32] Um sich noch weiter dem Verständnis der Welt als Vorstellung zu nähern, ist es erforderlich, den Zusammenhang zum Satz vom zureichenden Grunde aufzugreifen. Dieser stellt vier zu differenzierende Gestaltungen auf. Den Seinsgrund, den Werdegrund, den Handlungsgrund und den Erkenntnisgrund. Diese ermöglichen die Konstitution der realen Welt, wie sie vom Individuum erfasst wird. Hierauf basiert die Erkenntnis.[33] Sie ermöglicht dem Individuum, sein Dasein in der Gegenwart, Vergangenheit sowie der Zukunft zu betrachten.

In der weiteren Gedankenfolge ersucht Schopenhauer, den Willen zu definieren. Er erläutert, dass die ganze Welt im Essentiellen Wille ist, was wiederum aus der Beobachtung des Leibes zu begreifen ist. Wille und Leib sind als identisch zu verstehen. Der Wille stellt das Wesen des Leibes dar, so wie der Leib die Gestalt des Willens definiert. Diese Identität erläutert ein Bewusstsein der Divergenz des Willenshaften und des Vorstellungshaften. Die Pole Wollust und Schmerz liegen hier bestimmend zu Grunde.[34]

Ausgeweitet auf die Natur im Ganzen spricht Schopenhauer vom Willen als „Ding an sich“.[35] Er führt aus, dass sich die Objektivation des Willens in verschiedenen Phänomenen zeigt. Dies umfasst auch jegliche Selbstobjektivation. Sämtliche Objektivationen des Willens sind determiniert. Der Wille an sich ist jedoch im Absoluten frei. Alles von ihm gewollte unterliegt allerdings einer Notwendigkeit. Jegliche Objektivationen des Willens sind als diesem zu Dienste zu verstehen.[36]

Das menschliche Dasein wird vom Willen begrenzt, sodass es stets zwischen Leiden und Langeweile schwankt und sich des Todes bewusst ist. Die gesamte Welt ist Objektivität des Willens und dieser ist wiederum das Prinzip der absoluten Unerfülltheit, welche als Leiden zu definieren ist. Schopenhauer führt folgernd aus, dass die primäre Prämisse allen Daseins das Leiden ist. Alles Leben ist Leiden.[37] Dies ist die elementare Darstellung des Schopenhauerschen Pessimismus, welcher den Zustand beschreibt, in dem der Wille sich selbst bejaht. Schopenhauer führt weiter aus, dass es das Bestreben sein muss, einen Stillstand des Willens zu induzieren, um eine Aufhebung des Leidens zu erreichen. Er spricht von der „ Meeresstille des Gemüts “.[38] Zwei Wege, dies zu erreichen, kommen für ihn in Betracht. Der erste ist die „ ästhetische Kontemplation“.[39] Diese beschreibt eine Loslösung des erkennenden Individuums vom einfachen Erkennen und ermöglicht, durch Ausblendung der Individualität, das elementare Wesen eines Objekts zu erfassen. Dies ist die Idee, welche den Willen selbst darstellt.[40] Eine absolute Aufhebung des Leidens und die damit verbundene Befreiung vom selbigen ist auf diesem Wege allerdings nicht zu erreichen. Hier erläutert Schopenhauer einen zweiten Weg.

Eine Substitution des velle[41] durch das nolle[42] ist hier erforderlich, um eine unabänderliche Aufhebung des Leidens herbeizuführen. Solange die Bejahung des Willens fortbesteht, induzieren die Motive mannigfaltige Handlungen, welche stets im Interesse des wollenden Individuums stehen, das heißt in einer egoistischen Absicht. Der Egoismus als Verhalten des gänzlich vom Willen beherrschten Menschen führt den Menschen ständig in weiteres Leiden. Je mehr gewollt wird, um so mehr steigt, hinter kurzfristiger trüber Lust verborgen, der Schmerz. Eine Befreiung vom Leiden ist folglich als eine Befreiung vom Egoismus zu verstehen.[43] Die Negation des Egoismus, welche die eigentliche Thematik einer Moral darstellt, findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen. Zum einen als Faktum der Gerechtigkeit oder der Menschenliebe und zum weiteren als Mitleid, welches sich als höchstmoralische Ebene zu verstehen ersucht. Das Mitleid zeigt am deutlichsten, worin ein Leiden aufhebendes Handeln besteht. Die zwischen den Individuen durch das principium individuationis[44] im Erkennen gesetzte Differenzierung wird als Schleier der Maja[45] erkannt.

Eine finale Erlösung wird durch das Mitleid allerdings nicht herbeigeführt, da selbst das Mitleid nicht mit einer absoluten Negation des Lebens gleichzusetzen ist. Diese wird dann erreicht, wenn es, Kraft der totalen Durchschauung des Individuationsprinzips, ermöglicht wird, das Erkennen so zu ändern, dass ein Wirken des Willens verhindert wird.[46]

[...]


[1] Vgl. Samson, L. (1980). Sp. 1411

[2] (lat.), das Mitleid

[3] Vgl. Samson, L. (1980). Sp. 1411

[4] Vgl. Demmerling, C., Landweer, H. (2007). S. 173

[5] (lat.) Störung des Geistes

[6] Vgl. Samson, L. (1980). Sp. 1411

[7] Vgl. Hume, D. (1978). S. 49

[8] (engl.) die Anteilnahme

[9] Vgl. ebenda

[10] Vgl. Demmerling, C., Landweer, H. (2007). S. 173

[11] Vgl. ebenda

[12] Vgl. Samson, L. (1980). Sp. 1412

[13] Bei Rousseau der Mensch, der den Einklang mit der Natur sucht. Im Allgemeinen, der Zustand vor der Genese eines menschlichen Zusammenlebens.

[14] Vgl. Rousseau, J-J., (1988). S. 218f

[15] Vgl. ebenda

[16] Vgl. Lessing, G. E. (1972). S. 55

[17] Vgl. Lessing, G. E. (1955). S. 581

[18] Vgl. Malter, R. (2010). S. 16

[19] Vgl. Malter, R. (2010). S. 16

[20] Vgl. Ders. S. 17

[21] Vgl. ebenda

[22] Vgl. Ders. S. 17f

[23] Vgl. Malter. R. (2010). S. 18

[24] Vgl. ebenda

[25] Vgl. ebenda

[26] Vgl. Ders. S. 19

[27] Satz vom zureichenden Grunde

[28] Vgl. Malter, R. (2010). S. 50f

[29] Vgl. Schopenhauer, A. (1977). S. 76

[30] Vgl. Schopenhauer, A. (1977). S. 66

[31] Vgl. Malter, R. (2010). S. 53

[32] Vgl. Schopenhauer, A. (1977). S. 68

[33] Vgl. ebenda

[34] Vgl. Safranski, R. (1996). S. 333

[35] Vgl. Malter, R. (2010). S. 77ff

[36] Vgl. ebenda

[37] Vgl. ebenda

[38] Vgl. ebenda

[39] Vgl. Malter, R. (2010). S. 77ff

[40] Vgl. ebenda

[41] (lat.) wollen

[42] (lat.) nicht wollen

[43] Vgl. ebenda

[44] Das Prinzip, das die Individualität bedingt.

[45] Metapher für die Täuschung der Sinne

[46] Vgl. Malter, R. (2010). S. 89f

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783863417420
ISBN (Paperback)
9783863412425
Dateigröße
270 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Düsseldorf
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Schopenhauer Mitleid Gesellschaft Moral Pessimismus

Autor

Christian Mönch, B.A., wurde 1983 in Neuss geboren. Sein Studium der Sozialarbeit und -pädagogik an der Fachhochschule Düsseldorf schloss der Autor im Jahre 2011 erfolgreich mit dem akademischen Grad Bachelor of Arts ab. Bereits während des Studiums beschäftigte sich der Autor umfassend mit moralphilosophischen und ethischen Thematiken. Seine wissenschaftliche Tätigkeit und sein Interesse an gesellschaftlichen Zusammenhängen motivierten ihn, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen und eine akademische Laufbahn einzuschlagen.
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