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Zum Leben erweckt: Vom Comic zum Trickfilm

©2012 Bachelorarbeit 38 Seiten

Zusammenfassung

Vieles wurde über die Anfangszeit des Kinos geschrieben. Über seine Schwierigkeiten als neues Medium und seine Probleme mit der Etablierung einer Erzählweise. Der Zeichentrickfilm wurde hingegen bisher nur stiefmütterlich behandelt. Nur einige wenige Forscher schrieben über den Trickfilm, zudem meist erst ab der Zeit nach Mickey Maus.
Dieses Werk geht dem Ursprung des Trickfilms auf den Grund. Seine Geschichte von den ersten Geräten, die eine Illusion von Bewegung erzeugten, über die ersten Aufführungen mit dem ‚Praxinoskop’ bis hin zu Stuart Blacktons Film ‚Humorous Phases of Funny Faces’ wird kurz beleuchtet, jedoch immer mit dem Fokus auf die Frage: Wie erzählt der stumme Trickfilm? Denn klar ist, der Trickfilm musste, wie der Realfilm, seine Sprache erst finden.
Doch bedienen sich diese Medien derselben Sprache oder weisen sie Unterschiede auf? Und welche Rolle spielte der Comic bei der Entwicklung einer Erzählstrategie des Zeichentrickfilms? Denn diese Medien sahen sich in der Anfangszeit mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Der frühe Film sowie Trickfilm und der Comicstrip mussten mit visuellen Mitteln dem Rezipienten eine verständliche Geschichte übermitteln. Der Comic hatte mit den Sprechblasen schon eine Lösung etabliert, um Dialoge zu visualisieren. Doch war dieses Instrument wirklich der richtige Weg, um dem Film zum Sprechen zu bringen?
Eine Analyse der stummen Zeichentrickserie ‚The Alice Comedies’, die 1923 bis 1927 von Walt Disney produziert wurde, soll Aufschluss über die gestellten Fragen geben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Problemstellung

„The early cinema in all its forms had a craning for narrative, dramatic situations, visual motifs and iconography (the use of recurrent imagery to establish consistent meaning) that could only be satisfied by foraging in other media.“ [1]

Denn der Film konnte nicht von Anfang an schon erzählen. Seine anfängliche Funktion hatte er als Medium des Zeigens. Tom Cunning beschreibt diese Art des Kinos, dessen Fokus nicht im Erzählen einer Geschichte liegt, als „cinema of attraction“. „Many trick films are, in effect, plotless, a series of transformations strung together with little connection and certainly no characterization.“[2]

Obwohl einige Filmhersteller wie auch Kritiker daran zweifelten, dass das Kino mehr kann als nur Zeigen, hat es im Laufe seiner Geschichte seine eigene Sprache entwickelt, um uns Geschichten zu erzählen. Die Entwicklung des Films hin zu einem Medium des Erzählens wie wir es heute kennen, wurde in zahlreichen Werken schon behandelt (u.a. David Bordwell[3] ). Die Animationsstudie war aber lange Zeit ein Stiefkind der Filmwissenschaft. Erst in letzter Zeit wurde dem Zeichentrick auch in der Wissenschaft Beachtung geschenkt.

Over the past decade, animation seems finally to have emerged from its previously very marginalised status, both in terms of a growing adult audience for the very heteronenous range of films that come under the rubric ‚animation‘ and in terms of academic study. [4]

Auch diese Arbeit widmet sich dem Zeichentrick als ein Medium des Erzählens. Da der Trickfilm ein Medium wie der Film ist, ist es klar, dass der Zeichentrick sich ebenfalls der Filmsprache bedient. Jedoch weist er ebenfalls Verwandtschaft zum Comic auf. Ausgehend von diesem Phänomen wurden zwei Forschungsfragen entwickelt.

1.1. Forschungsfrage I

FF1. Welche besonderen narrativen Elemente benutzt der frühe Trickfilm für seine Erzählung?

Im ersten Block meiner Arbeit soll untersucht werden, ob der Trickfilm, neben der Filmsprache und der Sprache des Comics, eine eigene Sprache entwickelt hat. Neben einer Literaturstudie soll eine Analyse der Serie „The Alice Comedies“ zur Beantwortung dieser Frage dienen. Die Analyse einiger Filmbilder aus dieser Serie soll aufzeigen, welche Elemente für die narrative Struktur dieses stummen Trickfilms ausschlaggebend sind.

1.2. Forschungsfrage II

FF2. Gibt es eine Gemeinsamkeit der Erzählweise vom stummen Trickfilm und Comics?

Im zweiten Block der Arbeit sollen die Gemeinsamkeiten vom stummen Trickfilm und den Comicstrips erarbeitet werden. Anhand einiger Filmbilder aus der Serie „The Alice Comedies“ soll aufgezeigt werden, ob sich das Trickfilmbild und das Comicbild ähneln und in welcher Weise der Trickfilm Elemente des Comics übernommen hat.

2. Narratologie

Narratologie geht auf das lateinische Wort „narrare“ zurück und bedeutet übersetzt „erzählen“. Infolgedessen ist Narratologie die Lehre des Erzählens.

Das Wort Erzählung hat drei Bedeutungen. Die verbreiteste Bedeutung ist die Erzählung als narrative Aussage. Es handelt sich hierbei um einen mündlichen oder schriftlichen Diskurs über ein oder mehrere Ereignisse. Analytiker und Theoretiker verstehen zumeist unter einer Erzählung „die Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand dieser Rede ausmachen und ihre unterschiedlichen Beziehungen zueinander […]“[5]. Hierbei geht es um den Komplex der Handlung, aber weder um Sprache oder sonstige Medien. Die letzte Bedeutung bezieht sich auf den Akt der Narration. Dieser narrative Akt ist oft entscheidend und existentiell für die narrative Aussage und den narrativen Inhalt.[6] Diese drei Komplexe des Begriffs Erzählung stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. „Die Analyse des narrativen Diskurses ist für uns also im Wesentlichen die Untersuchung der Beziehungen zwischen Erzählung und Geschichte, zwischen Erzählung und Narration sowie […] zwischen Geschichte und Narration.“[7]

Überträgt man diese Dreiteilung auf mein Fallbeispiel der Serie „The Alice Comedies“, dann geht es bei der Analyse dieser Serie um die Wechselbeziehung des Films als Erzählung, die Abenteuer von Alice als Geschichte und Walt Disney, beziehungsweise die Kamera als Produzent der Erzählung.

2.1. Narratologie im Film

Eine Analyse der Erzählstruktur und Theorie zur Narrativität im Film stammt von David Bordwell. Er geht dabei von Aristoteles‘ „Poetik“ aus und greift auf die Begriffe des „telling“ and „showing“ sowie „Mimesis“ und „Diegese“ zurück.

Diegetische Theorien behandeln Narration als eine schriftliche oder verbale Aktivität. Es geht dabei um das „telling“. Hierbei kann man unterscheiden, ob es sich um den Autor handelt, der erzählt oder ob ein Charakter erzählt. Mimetische Theorien fokussieren die Präsentation, demnach das „showing“. Diese Theorie geht auch davon aus, dass Literatur und Film sich ähneln, da beide eine Perspektive aufweisen. Der Film sei daher eine perspektivische Kunst und die Kamera ein unsichtbarer Beobachter.

Die Ansicht des unsichtbaren Zeugens herrscht schon seit den frühen Anfängen des Kinos. Später wird dann die Kamera mit einem Geschichtenerzähler oder dem „Point of view“ des Erzählers verglichen. Jedoch müsste dann der Erzähler im narrativen Film omnipräsent sein und es ist kaum möglich diese Theorie bei einem ganzen Film anzuwenden. Vor allem da es sich bei einem Film um eine fiktionale Erzählung handelt, die erst mit dem Filmprozess entsteht, bei dem nicht nur die Kamera involviert ist.[8]

Laut Bordwell eignen sich Sergei Eisensteins Ansichten zum Film besser, um den Film als narrative Einheit zu verstehen. „His insistence that the profilmic event is already narrational, his attempt to treat all filmtechniques as potentially equivalent instruments, and his assumption that the spectator constructs the story out of stimuli – all these are indispensable to an adequate theory of narration [...]”[9]

Die diegetischen Theorien, wie beispielsweise MacCaves „Meta-Sprache“, sprechen den Rezipienten eine passive Rolle zu. Jedoch spielt das Verständnis des Zuschauers bei einer Filmgeschichte eine wichtige Rolle. Insofern konstruiert der Seher aktiv eine verständliche Geschichte. So bringt er Sequenzen in die richtige zeitliche Ordnung oder verbindet Ereignisse miteinander.[10] „In comprending a narrative film, the spectator seeks to grasp the filmic continuum as a set of events occurring in defined settings and unified by principles of temporality and causation.”[11] Erleichtert wird das Verständnis durch ein Schema, ein “canonical story format“, dem die meisten Filme folgen.[12] Das stellte auch Syd Field fest. Er beschreibt in seinem Buch „Screenplay“ eine dramatische Grundstruktur, die auf jeden seiner untersuchten Filme zutrifft. Field unterteilt den Film in drei Akte, die durch bestimmte Dimensionen festgelegt sind. Die drei Akte werden von den sogenannten Plot Points getrennt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Grundstruktur des Films nach Syd Field[13]

Die Handlung eines Films lässt sich daher in die Exposition, die Konfrontation und die Auflösung unterteilen. Nach der Exposition und der Konfrontation gibt es jeweils einen Plotpoint. "Ein Plot Point ist ein Vorfall oder ein Ereignis, das in die Geschichte eingreift und sie in eine andere Richtung lenkt."[14]

2.2. Filmische Erzähltheorie der russischen Formalisten

Die russischen Formalisten haben ebenfalls ein Schema für eine filmische Erzähltheorie entwickelt. Sie unterteilen den Film in drei Teile: Die Fabula (Story), das Syuzhet (Plot) und der Style. Die Fabula bringt die Aktion als eine chronologische Ereigniskette von Ursache und Effekt zum Ausdruck. Infolgedessen finden diese Aktionen in einer bestimmten Zeit sowie Umfeld statt. Die Fabula ist nicht von vorherein gegebenen, sondern muss erst vom Rezipienten konstruiert werden. Für die Konstruktion benötigt der Rezipient das Syuzhet. Es ist die eigentliche Repräsentation der Fabula im Film, jedoch in einer geordneten Art und Weise. Mit dem Syuzhet meint man somit die Handlung, die Szenen und die Wendepunkte. Weitere Prinzipien des Syuzhets tragen zum Verständnis einer Fabula bei. So muss die Geschichte eine narrative Logik besitzen. Das heißt, dass ein Ereignis die Konsequenz eines anderen Ereignisses sein muss. Das Syuzhet hilft den Rezipienten diesen linearen Zusammenhang zu ziehen. Jedoch kann das Syuzhet uns auch einen falschen Hinweis liefern. Zudem konstruiert das Syuzhet Ereignisse in allmöglichen zeitlichen Ordnungen, Dauer oder Häufigkeiten. Ebenfalls der Raum wird durch das Syuzhet erschaffen, indem es den Rezipienten über die Umgebung und die Position informiert.

Der Style ist der systematische Einsatz von filmtechnischen Geräten und er interagiert mit dem Syuzhet.[15] „The syuzhet embodies the film as a »dramaturgical« process; style embodies it as a »technical« one.”[16]

2.3. Der Erzähler im Film

Es gibt mehrere Arten von Erzähler. Ein Charakter-Erzähler ist ein Charakter, der die Geschichte erzählt. Es gibt Erzähler, die nicht Teil der diegetischen Welt sind und es gibt Voice-Over Kommentatoren. Doch selten stellen wir uns den Erzähler des Films als menschliches Wesen vor.[17] „[…] narration is better understood as the organization of a set of cues for the construction of a story.”[18] Chatman würde diese Erzählung als “nonnarration” definieren. Hierbei handelt es sich um einen unpersönlichen Erzähler, der nicht in der Geschichte präsent ist.[19]

3. Der Trickfilm

„Traditional animation tends to imply that it is a film that tells a story in moving drawings, is usually produced on cels and contains what has been calls »personality animation« with which the narrative’s protagonists are imbued.”[20]

Unter den Animatoren sowie Filmwissenschaftlern herrschen jedoch unterschiedliche Meinungen, wie man Animationsfilme definieren kann. Einige definieren Animationen als eine qualitative Kunstform, wohingegen andere sie als eine Filmtechnik betrachten. Unter den Rezipienten galt lange Zeit die Ansicht, dass Animationsfilme die Trickfilme der Disney Studios sind.[21]

Den frühen Animationsfilmen wurden bisher von den Historikern kaum Beachtung geschenkt. Neben dem ersten synchronisierten Mickey Maus Film „Steamboat Willie“ (1928) erschienen die frühen Trickfilme als obsolet beziehungsweise gerieten sie immer mehr in Vergessenheit. Wann nun genau der erste Trickfilm erstellt wurde, ist unklar. Man kann aber davon ausgehen, dass Film und Trickfilm sich parallel entwickelt haben und die gleiche Vorgeschichte haben. „[…] technologically, the »prehistory« of cinema and animation are inseparable.“[22]

3.1. DIe Geschichte des Trickfilms

Die ersten Geräte, die eine Illusion von Bewegung erzeugten, waren der Phenakiskoscope, Stroboscope sowie Zoetropes. Emile Reynaud gilt gemeinhin als Vater des Trickfilms. Er eröffnete 1879 sein „Praxinoskop Theater“ und 1892 war das Praxinoskop im „Théâtre optique“ einem größeren Publikum zugänglich. Durch ein komplexes System aus Spiegel und Linsen projizierte Reynaud seine auf Zelluloidband handgezeichneten Bilder auf eine Leinwand. Der Apparat funktioniert ähnlich wie das Kino und erzeugte ebenso die Illusion von bewegten Bildern. Dennoch war das Praxinoskop kein bedeutender Fortschritt nach der Laterna Magica und wurde von anderen Künstlern auch kaum Bedeutung geschenkt. Eine größere Bedeutung für die Entwicklung des Zeichentricks schreiben die Trickfilmhersteller dem Daumenkino sowie den Bewegungsstudien von Muybridge und Marey zu. Ebenfalls der Zauberer George Méliès wird als Pionier angesehen, da er das Stopptrick-Verfahren in seinen Filmen verwendete. Dieses Verfahren wurde von James Stuart Blackton weiterentwickelt und beispielsweise bei seinen Filmen „Humorous Phases of Funny Faces“ oder „The Haunted Hotel“ verwendet. „Humorous Phases“ unterschied sich von den bisherigen Stopptrick-Filmen, da hierbei mit gezeichneten Bildern gearbeitet wurde. 1907 produzierte der englische Zauberer Booth „Comedy Cartoons“, der dem Film „Humorours Phases“ von Blackton sehr ähnlich ist.[23]

3.2. Trickfilm als fiktionales Erzählen

Wie schon im vorhergegangenen Kapitel kurz skizziert, entwickelte sich der Zeichentrickfilm aus dem Stopptrick-Verfahren heraus. Vor allem in Filmen über verwunschene Häuser war dieses Verfahren sehr beliebt.[24] Jedoch hatten diese kurzen Animationssequenzen keine narrative Funktion.[25] Ein Beispiel hierfür wäre Winsor McCay’s Comicstrip Verfilmung „Little Nemo“ (1911), die keinen Handlungsstrang aufweist. Lediglich der Bewegungsablauf wurde mittels Sprechblasen, wie sie schon aus den Comics bekannt waren, kommentiert.[26] Erst durch Emile Cohl (Fantasmagorie, 1908) und Winsor McCay (Gertie the Dinosaur, 1914) bekam der Trickfilm dann auch dramatische Situationen, narrative Strukturen, Ikonographie und eine Erwartungshaltung.[27] Um Narration im stummen Trickfilm darzustellen musste der Fokus auf der Bildkomposition und der Gestaltung der Figuren liegen. Durch eine gut gelungene visuelle Darstellung war es dem Zuschauer möglich die Handlung zu verstehen. War es mit Zeichnungen nicht möglich, so musste man auf Tricks zurückgreifen. Bei „Gertie the Dinosaur“ wurden beispielsweise die Instruktionen von Winsor McCay mit Stummfilmtexten eingeblendet. Nach diesen Instruktionen handelte dann der animierte Dinosaurier. Oder man griff auf den Comicstrip zurück, der schon einige Lösungen für narrative Probleme parat hatte. Infolgedessen benutze man basierend auf dem Comic im Trickfilm allgemeingültige Ideogramme oder standardisierte Gesichts- und Körperausdrücke.[28]

3.3. „The Alice Comedies“

„The Alice Comedies“ war die erste, kommerziell erfolgreiche Serie, die von Walt Disney produziert wurde. Der Pilotfilm, den Walt in Kansas City gedreht hatte, wurde 1923 von der Verleihfirma M.J. Winkler akzeptiert und am 16. Oktober wurde ein Vertrag für zwölf weitere Folgen unterzeichnet. Dieses Datum gilt als der Beginn der Disney Company.

Die ersten sechs Folgen der Serie wurden von Walt Disney alleine hergestellt. Er bediente die Kamera, führte Regie und fertigte alle Zeichnungen an. 1924 holte Walt seinen alten Freund Ub Iwerks aus Kansas City in das Produktionsteam hinzu. Dadurch stieg die Qualität der Serie an und wurde infolgedessen erfolgreicher. Walt Disney war aber ständig darum bemüht die Serie zu verbessern, so dass er alle Einnahmen einer Folge in die nächste investierte.[29] Und dies ist das Einzigartige an den frühen Disney-Filmen. Walt Disney war ständig darum bemüht den Zeichentrick zu perfektionieren und wendete daher in seinen Filmen technische Neuerung an. So steht auch „The Alice Comedies“ für eine neuartige Mischung von Zeichentrick und Realfilm.[30] Diese Art der Hybridanimation wurde bereits schon von Winsor McCay bei dem Film „Gertie the Dinosaur“ (1914) benutzt oder hierbei ging es jedoch weniger um die Geschichte, sondern eher um das Spiel mit der Wirklichkeit.

Moreover, that trick also suggested a new possibility – and a new attraction – for film, is ability not only to conjure up a life-like illusion, but to let us enter into that fantasy space, as if we were being invited to go down the rabbit hole, to undertake the same sort of liminal exploration as Lewis Caroll’s Alice, to participate in a life of illusion.[31]

In diese Welt brachte Walt und Roy Disney Alice in der Serie. Doch das ist schon die einzige Gemeinsamkeit zwischen der literarischen Vorgabe von Carroll und Disneys „Alice Comedies“.[32] Zwischen 1923 bis 1927 wurden 57 Teile der Serie gedreht.[33] Danach interessierte sich keiner mehr für Alice und es war die Zeit für eine neue Figur, „Oswald the Rabbit“.[34]

3.3.1. Die Charaktere

Der Hauptcharakter der „Alice Comedies“ ist ein Mädchen mit blonden Locken namens Alice. Im Gegensatz zu Carrolls Vorlage ist Alice in der Serie kein wohlerzogenes Mädchen, sondern ein freches Mädchen der 1920er Jahre.[35] Sie wurde zuerst von Virginia Davies gespielt und später von Margie Gay sowie Lois Hardwick verkörpert. Aufgrund des Wechsels der Schauspielerinnen, hat Alice später kurze, schwarze Haare. Dementsprechend änderte sich auch ihr Charakter. Wo sie anfangs noch eher pflichtbewusst ist, wird sie durch die Schauspielerin Margie Gay zunehmend frecher und wilder.

Die Tiere in der Cartoonwelt sind zumeist anthropomorph. Sie verhalten sich wie Menschen, sprechen zumeist durch Gesten und weisen besondere Merkmale und Charakterzüge auf. Manche Nebenfiguren besitzen sogar eine eigene Persönlichkeit. Die bedeutendste Nebenfigur ist Julius. Er war in den ersten Folgen ein Kater unter vielen anthropomorphen Tieren. In den späteren Folgen wird er zum ständigen Begleiter von Alice, entwickelt immer mehr Persönlichkeit und wurde somit eine inhaltstragende Nebenfigur. Er zeichnet sich durch Treue sowie Freundlichkeit aus und hilft Alice bei ihren Problemen. In der Folge „Alice helps the Romance“ (1926) ist Julius sogar die Hauptfigur. Insbesondere bei Julius merkt man, dass sich Walt Disney von anderen Figuren beeinflussen ließ. So lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Julius und „Felix the Cat“ kaum abstreiten.[36]

3.3.2. Die Welten

Die Protagonistin Alice wechselt in der Serie durch ein Ereignis zwischen der realen und der Animationswelt. Doch in beiden Welten herrscht die Freiheit. Disney überzeichnet die Autoritätspersonen und sie werden als absurd oder satirisch dargestellt. Auf der anderen Seite sind die Außenseiter und die Chaoten die Helden der Geschichte. Schule schwänzen, aus dem Gefängnis ausbrechen oder von zu Hause wegrennen sind Teil dieser anarchistischen Welt.[37] Was in der realen Welt schon möglich ist, wird in der Animationswelt noch gesteigert.

In der Animationswelt gelten die Regeln der Cartoons. Bruckner schreibt in ihrem Essay über die Serie, dass die Schauspielerin selbst wie eine Cartoonfigur agiert. Als Beispiel nennt sie Verfolgungsjagden, wo Alice auf der Stelle läuft während sich der Vorder- und Hintergrund durch den Bildausschnitt bewegen. Und wenn sich Alice erschrickt, so fliegt ihre Kopfbedeckung in die Höhe und ihre Socken ringeln sich. Ebenfalls Geräusche werden comicartig umgesetzt, indem sie durch Buchstabenfolgen wie „Ouch“ oder „Grrrr“ verschriftlicht werden.[38]

3.3.3. Die Handlung

Der Ablauf der Serie hat zumeist das gleiche Schema. Die ersten Folgen der Serie beginnen und enden mit der realen Welt. Die Zeichentrickwelt wird narrativ durch ein Vorkommnis in der realen Welt eingeleitet. Um in die animierte Welt zu gelangen, schläft Alice ein, halluzinierte oder stellte sich diese Welt vor. „And that dream-state provides the logic for all manner of exaggerations and transformations that follow.“[39] In dieser Welt ist alles möglich, denn sie hat ihre eigenen Regeln. Und diese Welt dient Alice dazu, die Probleme, die in der realen Welt auftauchten, zu lösen.[40]

In den späteren Folgen ist das Cartoonland der einzige Handlungsraum. Die reale Welt spielt in diesen Folgen keine Rolle mehr. Mit dieser Änderung treten auch die Charaktere der Zeichentrickwelt mehr in den Vordergrund und die Figur Julius bekommt eine tragende Rolle.

Als Schauplätze der Serie dienen zumeist Bauernhöfe, Königreiche oder Sportplätze und zu den Elementen der Geschichte zählen Tiere, Könige sowie Geheimnisse, Rituale und Passwörter, die es zu entschlüsseln gilt.[41]

3.4. Die Disney-Formel

„The Alice Comedies“ sowie die anderen Kurzfilme[42] der 1920er Jahre waren die Grundlage für den späteren Erfolg der Disney Filme. In dieser Zeit arbeitete Walt Disney an der Animationstechnik, der Schauspieltechnik, Licht und der narrativen Struktur. Die 1920er waren für Disney die Zeit des „trial and error“ und an den Konzepten, die sich als erfolgreich erwiesen, wurde festgehalten. So tauchen die erfolgreichen Gags immer wieder auf und führten bei einigen Folgen dazu, dass der Kurzfilm eine Aufeinanderfolge von Gags war. Jedoch geschah dies aus ökonomischen Gründen und aufgrund des Drucks der Distributorin Margaret Winkler, sowie ihrem Mann Charles B. Mintz.[43]

Zu den Handlungsträgern sowie Gags der frühen Disney Filme zählen die Motive des Gefangenwerdens und Flüchtens. Dazu gehörte immer eine spezielle List, um den Gegenspieler übers Ohr zu hauen.

[…] Disney almost invariably inserts ingenious ghastly contrivances into the room, whether a murderous buzz-saw, a burning bootlegger’s stove, or a bomb stapped to a safe dangling over the heroine’s head.[44]

Diese Apparaturen dienten jedoch nicht nur dem Humor, sondern waren gleichzeitig eine Parodie auf das damalige Melodram.[45] So wie auch Crafton[46] stellen Merritt und Kaufman eine Ähnlichkeit zwischen den Disney Figuren und Buster Keaton fest: „Like Keaton, Disney’s cartoon characters are inveterate tinkerers, imaginative investors of improbable devices.“[47] Die Figuren machen sich die surrealen Maschinen zu Eigen, um daraus einen Nutzen zu ziehen. Und da sich die Charaktere selbst in einer surrealen Welt befinden, sind den Erfindungen keine Grenzen gesetzt.

Erst als Walt Disney durch den finanziellen Erfolg seiner Filme unabhängig wurde, konnte er die Elemente für erfolgreiche Filme herausfiltern und an Geschichten basteln. Zu den Elementen, die in fast jedem Film vorkommen und zumeist auch ausschlaggebend für den Erfolg waren, gehören Magie und verrückte Erfindungen, die einem Durchschnittsmenschen zum Erfolg verhelfen. Diese Magie entspringt zumeist dem Wunschdenken des Publikums. Zudem greift man auf stereotype Charaktere wie „der halbherzige Reiche“ oder „der trottelige Polizist“ zurück.[48] Ebenfalls das „Hänsel und Gretel“-Motiv gehört zur Disney-Formel. Die Kinder in den Geschichten sind zumeist von ihren Eltern getrennt oder werden von ihnen getrennt. Bambi wird beispielsweise zum Waisen, da seine Mutter erschossen wird, Mowgli verliert seine Eltern durch einen Flugzeugabsturz und das „Hänsel und Gretel“-Motiv zieht sich durch die ganze Geschichte von Peter Pan und den elternlosen Kindern.[49] So ist auch Alice, wenn sie das Wunderland betritt, von ihren Eltern getrennt und muss die Abenteuer auf sich alleine gestellt bestehen.

Nicht nur bei den Geschichten und Gags verfolgen die Disney Studios Richtlinien, 1930 wurden zwölf Prinzipien für die Bewegungen der animierten Figuren und Objekte entwickelt:

1. Squash and strech (quetschen und dehnen)

Die Bewegungen sind übertrieben und deformiert.

2. Anticipation (Erwartung)

Man lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers.

3. Staging (Inszenierung)

Durch Bewegungen der Charaktere und der Kamera werden

Stimmung und Intention der Szene vermittelt.

4. Straight ahead action and pose to pose

Hierbei geht es um kontinuierliches Zeichnen, wodurch Unvorhersehbares

und Spontanität entsteht.

Bei „pose to pose“ wird die Animation in Schlüsselposen unterteilt.

5. Follow through and overlapping action

Diese beiden Begriffe beziehen sich zum einen auf eine abgeschlossene Aktion, die auf die Animation zurückwirkt und zum anderen auf eine zusätzliche Bewegung, die sich mit der Hauptbewegung des Charakters überlappt.

6. Slow in and out

Hierbei ist die Mitte der Bewegung schneller, als der Anfang und das Ende der Bewegung.

7. Arcs (Bogen)

Dieses Prinzip besagt, dass Organische Charaktere ihre Bewegungen immer bogenförmig ausführen.

8. Secondary action

Die Szene wird durch kleine, unauffällige Bewegungen ergänzt

9. Timing

Die Bewegung des Charakters erfolgt zu einem bestimmten Zeitpunkt und hat eine bestimmte Dauer.

10. Exaggeration (Übertreibung)

Die Wirkung einer Animation wird durch Übertreibung verstärkt. Dadurch bekommt die Bewegung etwas Karikaturhaftes.

11. Solid drawings

Die Zeichentechnik soll angemessen eingesetzt werden.

12. Appeal (Anreiz)

Ein Charakter bekommt durch eine interessante und gut entwickelte Persönlichkeit Appeal.

Abb. 2: 12 Prinzipien der Animation[50]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] Craftron 1993, S. 35

[2] Gunning 2000, S. 231

[3] S.h. Kapitel 2.1

[4] Pilling 1998, S. XI

[5] Genette 1998, S. 15

[6] Vgl. ebd., S.15

[7] ebd., S. 16

[8] Vgl. Bordwell 1985, S. 4ff

[9] Ebd., S. 15

[10] Ebd., S. 30ff

[11] Ebd., S. 35

[12] Vgl. Ebd., S. 35

[13] Quelle: Field 1987, S. 12

[14] Field 1987, S. 12f

[15] Vgl. Bordwell 1985, S. 49ff

[16] Ebd., S. 50

[17] Vgl. Ebd., S. 61f

[18] Ebd., S. 62

[19] Vgl. Chatmann 1978, S. 33f

[20] Vgl. Pilling 1998, S. XIII

[21] Vgl. Dobson 2009, S. xxxvii

[22] Crafton 1993, S. 6

[23] Vgl. Ebd., S. 7ff

[24] Vgl. ebd., S. 32

[25] Vgl. ebd., S. 9

[26] Vgl. Dobson 2009, S. 125

[27] Vgl. Crafton., S. 9

[28] Vgl. Wieser 2011, S. 14ff

[29] Vgl. Reitberger 1979, S. 34f

[30] Vgl. ebd., S. 137

[31] Telotte 2010, S. 332

[32] Vgl. Bruckner 2010, S. 94

[33] Vgl. ebd., S. 94

[34] Vgl. Reitberger 1979, S. 37

[35] Vgl. Bruckner 2010, S.94

[36] Vgl. Merritt / Kaufman 1993, S. 27

[37] Vgl. Merritt / Kaufman 1993, S, 17ff

[38] Vgl. Bruckner 2010, S. 94ff

[39] Telotte 2010, S. 334

[40] Vgl. ebd., S. 331ff

[41] Vgl. Merritt / Kaufman 1993, S, 17

[42] U. a. „Laugh-O-grams“ und „Oswald the lucky rabbit“

[43] Vgl. Merritt / Kaufman 1993, S. 12ff

[44] Ebd. 1993, S. 22

[45] Vgl. ebd., S. 22

[46] Vgl. Crafton 1993, S. 295

[47] Merritt / Kaufman 1993, S. 22

[48] Vgl. Reitberger 1979, S. 131

[49] Vgl. ebd., S. 77

[50] Quelle: Thomas / Johnston 1995, S. 47ff

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783863417895
ISBN (Paperback)
9783863412890
Dateigröße
6.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1
Schlagworte
Narrativität Cartoon Animation Walt Disney Zeichentrickfilm Alice im Wunderland Stummfilm
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Bianca Lipp, bakk.phil, wurde 1988 in Jennersdorf (Burgenland) geborgen. Seit 2006 studiert sie an der Universität Wien Publizistik und Kommunikationswissenschaft und Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Im Laufe ihres Studiums beschäftigte sich die Autorin mit dem Bereich Animationsstudien und Comic. Vor allem der Gegenseitige Einfluss der verschiedenen Medien und die Intermedialität einiger Filme (u.a. 'Scott Pilgrim') waren oft Themen ihrer Abhandlungen.
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