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„… und dann ist nichts mehr freundlich.“ Über die Kunst zu(m) Leben - Aspekte des Copings am Beispiel der Tagebuchaufzeichnungen einer Krebserkrankung von Christoph Schlingensief

©2012 Bachelorarbeit 77 Seiten

Zusammenfassung

Am Beispiel von Christoph Schlingensiefs 'Tagebuch einer Krebserkrankung' möchte ich einerseits ein Bewusstsein für die Brüchigkeit eines jeden Lebens schaffen und dafür, wie umfassend das Leid ist, ist man plötzlich konfrontiert mit der existenziellen Bedrohung seiner eigenen Person und seiner gesamten Lebenswelt durch Krebs.
Andererseits ist mir sehr daran gelegen aufzuzeigen, wie der Mensch (in diesem Fall Christoph Schlingensief) selbst in einem Zustand tiefster Verzweiflung, Angst, Verletzlichkeit und Ungewissheit weiterlebt und dennoch das Leben liebevoll (vielleicht liebevoller als zuvor) anschaut und, was das Wichtigste ist, wie er einen Weg findet zu lernen weiterzuleben.
Am Ende dieser Arbeit möchte ich Sie empfindsam, mutig, gestärkt, aufgeschlossen und zuversichtlich und ja, auch kampfeslustig zurücklassen.
Wir sollten Krebs mit aller Konsequenz begegnen, anstatt davor die Augen zu verschließen.
Wir (sowohl die Kranken als auch die Gesunden) sind Teil eines gemeinsamen 'Überlebens'projektes. Schauen wir im Folgenden diese 'Kunst zu(m) Überleben' näher an und lernen wir daraus.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mich beschleicht zuweilen das Gefühl, ob es nicht geradezu eine Anmaßung sei, Schlingensiefs Gefühlszustände und die Art und Weise, wie er diese in den verschiedenen Stadien seiner Erkrankung „aushält“, „durchleuchten“ und „wissenschaftlich belegen“ zu wollen.

Wer bin ich, dass es mir zustünde, das Verhalten von Jemandem „auseinander zu nehmen“, der nicht mehr selbst in der Lage sein wird, meinen Interpretationen – sollte es ihm ein Bedürfnis sein - etwas entgegen zu halten. Ein wenig „beruhige“ ich mich mit dem wie ich finde sehr eindrücklichen Satz Schlingensiefs: „Ich bin eigentlich ein Produktionsfaktor, ich treibe andere an und freue mich, wenn meine Gedanken durch andere durchgehen. …“[1]

„Nun, lieber Christoph, “ denke ich, „dann freue ich mich jetzt einfach einmal darüber, dass du dich darüber freust, gehen deine Gedanken in Form deiner Tagebuchaufzeichnungen durch mich hindurch.“

Krankheitsstadien und Bewältigung

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit fokussiere ich die folgenden Krankheitsstadien und die Gefühlsreaktionen Schlingensiefs, die damit verbunden sind.

I Verdacht auf Krebs und Entschluss zum PET
II Diagnose: Adenokarzinom
III MRT und Weiterbehandlung
IV Operation
V Intensivstation
VI Verlegung auf „Normal“station
VII Wieder Zuhause
VIII Chemotherapie
IX Diagnose erneuter Metastasen
X Erfahrung von Endlichkeit

Den Krankheitsstadien Schlingensiefs, basierend auf dessen Tagebuchaufzeichnungen, möchte ich die folgende Tabelle „Kritische Phasen einer Tumorerkrankung und ihre psychischen Belastungen“ gegenüberstellen[2] und damit verdeutlichen, dass sich Schlingensiefs Krankheitsverlauf nicht grundlegend von dem anderer Patienten unterscheidet.

Kritische Phasen einer Tumorerkrankung und ihre psychischen Belastungen[3]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Phasen des Copings in Abhängigkeit vom Krankheitsverlauf

Zu Beginn des Krankheitsverlaufs tritt die Sinnfrage noch vor dem Ziel und der Zuversicht in den Hintergrund, die Krankheit bewältigen zu können. Im Verlauf der Krankheit und schließlich im Terminalstadium verhält es sich umgekehrt.[4]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Krankheitsphasen im Überblick:

I Verdacht auf Krebs und Entschluss zum PET
II Diagnose: Adenokarzinom
III MRT und Weiterbehandlung
IV Operation
V Intensivstation
VI Verlegung auf „Normal“station
VII Wieder Zuhause
VIII Chemotherapie
IX Diagnose erneuter Metastasen
X Erfahrung von Endlichkeit

I Verdacht auf Krebs und Entschluss zum PET

Schreiben zur Bewältigung von Ungewissheit

„… quält der Gedanke dich[5], dann denk / schreib ihn weg.“[6]

Sich wie Christoph Schlingensief zu einem PET zu entschließen, bedeutet, „den Tatsachen ins Auge blicken zu wollen“, bedeutet, den „Bildern, die keine Eindeutigkeit haben“[7], Eindeutigkeit zu verschaffen, wie immer diese auch aussehen mag.

Meinen Überlegungen möchte ich nachfolgenden Ausschnitt eines Interviews voranstellen, welches Christoph Schlingensief im September 2008 mit einem Redakteur der österreichischen Zeitung „Der Standard“ führt.

Ich beginne bereits, in Schlingensiefs Tagebuchaufzeichnungen zu lesen, als ich auf das Interview stoße und plötzlich vom Gedanken erfasst werde, seine Krebserkrankung sei in gewisser Weise genau „der Grund“, “die Landebahn“ auf der all seine „kreisenden Gedanken“ nun landen können.

„Ich kam heuer im Jänner aus Nepal, wo ich für die Inszenierung "Jeanne d‘Arc - Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna" für die deutsche Oper Berlin nach Erlösungsbildern gesucht habe, um sie mit dem streng katholischen Stoff von Walter Braunfels zu kreuzen. Wir haben dort die Verbrennung von Leichen gefilmt und diese Kinderarbeits-Ziegeleien besucht, wo acht bis 17-Jährige Ziegel produzieren und bis zu 30 Kilo Ziegel auf ihrem Rücken tragen.

Dann haben wir ein Kinderkrankenhaus besucht, das ein Einwohner gebaut hatte, weil sein Sohn im Alter von vier Jahren bei einem Unfall überfahren wurde und verblutete. Hier werden nun 10.000 Kinder im Jahr durch Impfungen oder ärztlichen Beistand behandelt. An diesen Orten habe ich gespürt, dass die eigene Arbeit uneffektiv und sinnlos ist. Zweifel an Kunst, an Theater, Oper. Eigentlich hat es mich nach Handgreiflichkeiten gesehnt.

Zum Schluss schrieb ich in das Gästebuch: "Auf dass die kreisenden Gedanken endlich einen Grund finden."

Und drei Tage später bekam ich das Röntgenfoto mit dem gut sichtbaren Tumor. Nach dem ersten Röntgen haben wir noch gehofft, es wären irgendwelche Pilze aus dem Amazonas oder Tuberkulose, doch in Berlin wurde klar, es war ein Adenokarzinom, ein Nichtraucherkrebs.“ [8]

Nachdem sich Christoph Schlingensief am 15. Januar 2008 zu einem PET[9] entschließt, abstrahiert er diesen Vorgang, indem er über „die Merkwürdigkeit“ nachdenkt, er habe eigentlich schon immer „in Bildern“ gelebt. Den Zustand der Ungewissheit vor der eigentlichen Diagnose beschreibt er als „Bild ohne Eindeutigkeit“.

Und, so sinniert er weiter, nichteindeutige Bilder, also Bilder, die aus Überblendungen bestehen, habe er immer schon gemocht und sogar „angezettelt“, wohl weil er den Kern, den er mit seinen Bildern verfolgt habe, „nicht richtig spüren konnte“ und am Ende immer auf ein Ergebnis – im besten Fall eine Belohnung – angewiesen war. Und mit diesem „Ergebnis“ war dann das Ziel erreicht, der Kern also spürbar.

Die Auswertung des PETs, welche Klarheit in „das Bild ohne Eindeutigkeit“ bringen könnte, ist aber diesmal nicht das Ziel (der Kern). Nein! „Diesmal,…“, so Schlingensief, „… wird das Ergebnis aber die Öffnung zu einem Weg sein, der noch gegangen werden muss, in welcher Form auch immer.“[10]

Die „Klarheit“, die das PET bringt, ist also „nur“ eine scheinbare, die wiederum weitere „Unklarheiten“ nach sich zieht. Also sozusagen wieder eine „Überblendung“.

Bemerkenswert ist, dass sich Christoph Schlingensief während der zehn Tage die dem PET voraus gingen, nicht die Frage „Warum ich?“ oder „Was soll das?“ gestellt hat. Er bezeichnet seinen Zustand eher „als ein Umdenken“ und mit seinen Aufzeichnungen möchte er erst einmal „seine Gedanken sammeln“. Das, was ihn quält, schreibt (denkt) er weg.

Über die Macht des Wortes

„Schreiben heißt, sich selber lesen.“ (Max Frisch)

Wer schreibt, schaut sich selbst beim Denken zu. Die Selbstreflexion beim Schreiben und Lesen der eigenen Ängste und Gefühle hilft, sich selbst zu entdecken und therapeutisch zu analysieren. Das Schreiben hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, die Lebensgeschichte zu ordnen, zu reflektieren und Abstand zu gewinnen.

Schreiben hilft, Zugang zu sich selbst und zu anderen zu finden, Lebenszusammenhänge zu erkennen und fördert so die persönliche Entwicklung. Schreibtherapie kann entlasten und Leid lindern: Wer seine Probleme, Ängste und Sorgen zu Papier bringen oder literarisch verarbeiten kann, findet Distanz zu ihnen und kann sich neu ordnen.

Schlingensief nutzt das Schreiben bzw. das Reden während seiner gesamten Krankheitsphasen als Bewältigungsform.

Hinwendung zur Religion

„…Vielleicht war Jesus an dem Abend
[der Abend des letzten Abendmahles; Vermerk d. Verf.]
aber noch in verhältnismäßiger Ahnungslosigkeit, eher in einer Phase der langsamen
Bewusstwerdung, dass er sich schon längst auf dem Weg befindet.“…[11]

… so, wie Schlingensief selbst sich wohl auch schon „auf dem Weg“ wusste – auch
ohne das definitive Ergebnis des PETs bereits zu wissen… [Vermerk d. Verf.]

In Situationen, in denen unser Leben eine entscheidende Wende macht, meist– wie uns scheint – zum Negativen hin, besinnen wir uns auf Gott oder Religion.

Ich selbst beispielsweise halte mich nicht für sonderlich gläubig, dennoch ertappe ich mich oft dabei, dass ich in brenzligen Situationen denke: „Lieber Gott, mach, dass das gut ausgeht.“

In Zeiten, in denen Dinge um uns herum „unfassbar“ scheinen, Zeiten, in denen wir seelisch und mental noch nicht soweit sind, unsere Gedanken klar formulieren zu können, wo wir noch „so eine Grenze, eine Hemmung spüren“[12], ist Gott – oder das, was wir dafür halten – ein geduldiger Gesprächspartner, der uns davor bewahrt, an unseren Ängsten zu ersticken.

Jemand, der uns zuhört, ohne Fragen zu stellen. Jemand, der uns so annimmt, wie wir sind, in all unserer Verletzlichkeit und mit all unserem „Wirrwarr“ im Kopf. „Gott“ quasi als Ruhepol, um uns von dem ersten Entsetzen „ausruhen“ zu können.

Christoph Schlingensief erwähnt in seinen Tagebuchaufzeichnungen, dass seine Beziehung zu Gott sich aufgrund der extremen Situation verändert habe und dieser Veränderungsprozess erstaunlich schnell vonstatten ging. Bei seiner Hinwendung zur Religion ginge es ihm nicht um das kirchliche „Brimbamborium“ an sich, sondern darum, mehr über Jesus und den Gedanken Gottes zu erfahren und über das Prinzip Leben, zu dem auch das Sterben gehört. Die Liebe zu Gott bedeute vor allem Liebe zu sich selbst.

Ein wichtiger Prozess, denn er bedeutet, sich selbst mit allen Schwächen und Stärken anzunehmen – gerade in Zeiten größter seelischer „Wirrnis“. Innere Stärkung durch „sich selbst ein Freund sein“.

Gleich zu Beginn seiner „Tagebuchaufzeichnungen einer Krebserkrankung“, genau genommen an dem Tag, als er sich entschließt, durch ein PET herauszufinden, ob sich im Zentrum seiner Lunge ein Tumor befindet und ob dieser gut- bzw. bösartig ist, kauft er sich ein Buch, nicht irgendein Buch, sondern eines, was sich mit Religion beschäftigt, diese kritisch betrachtet. Nämlich:

„Die Bibel. Was man wirklich wissen muss“, von Christian Nürnberger.

Schlingensief bemerkt beiläufig, dass er die Geschichten des Alten und Neuen Testamentes nicht mehr kenne – und das, obwohl er Messdiener war und Religionleistungskurs hatte. Er habe „alles irgendwie verschluckt“, meint Schlingensief.

Bemerkt jemand, wie Schlingensief, Dinge „verschluckt“ zu haben und unternimmt im Anschluss daran gezielt etwas, um „Verschlucktes wieder ausspucken zu können“ (nicht mehr Erinnertes wird nachgelesen), dann ist wohl – in Zeiten der Krise – ein besonderes Anliegen daran gewachsen, mit den Dingen, die ihn umgeben, die etwas über ihn aussagen, achtsam umzugehen.

Vielleicht – und das ist wirklich nur meine Vermutung - weil Schlingensief in der Zeit des Wartens auf das definitive Ergebnis seines PETs nicht mehr das Gefühl hat, selbst sein Schicksal bestimmen zu können, dürften Nürnbergers Gedanken über Gott wie Seelenbalsam für ihn sein. So fällt ihm beispielsweise der Satz: „Gott fordert, dass der Mensch darauf verzichtet, sein Schicksal selbst zu bestimmen“ quasi „ins Auge“.

Nürnberger spricht von einer „ungeheuren Forderung“ an die Menschheit, die quasi bis heute unerfüllbar blieb. Ich denke, genau das ist es, was Schlingensief berührt; diese wirklich ungeheure Forderung Gottes, seine Autonomie in dessen Hände zu legen!

Ein weiterer beeindruckender Satz in Nürnbergers Buch ist für Schlingensief der folgende:

„Der Mensch glaubt nicht, dass er das Leben gewinnt, wenn er es drangibt“.

Konkret bedeutet das, der Mensch glaube nicht, zu gewinnen, wenn er stirbt.

„Tja, das Leben drangeben, um zu leben …“, bemerkt Schlingensief.[13] Und dieses „Tja…“ sagt so Vieles. Mir selbst kommt der Gedanke: „Das Leben drangeben um weiterzuleben?“ …

Das sich Auseinandersetzen mit sich selbst, mit Gott, mit dem Sterben, dem Leben an sich bedeutet ein Stück Autonomie, bedeutet Stärke, die einen davor bewahrt, sich seinem Schicksal zu ergeben. Man ist weiterhin „konstruktiv“, man „reibt“ sich an etwas und daraus entsteht Energie. Und ganz viel Stärke und Energie braucht ein Mensch in einer solch ungeheuren Situation.

In der Phase, in der noch nicht auszuschließen ist, dass es sich bei dem Tumor vielleicht doch nur um eine Entzündung handelt, fängt Christoph Schlingensief nach langer Zeit („Das habe ich ewig nicht mehr gemacht.“) wieder an, zu beten. Er genießt das leise Sprechen, das Flüstern mit den Händen vorm Gesicht weil er dabei „ganz bei sich ist“. Beten als Art Meditation, als Art „in sich hinein zu horchen“ aber auch, um sich selbst von außen zu betrachten und seiner eigenen Angst zuzuhören und, so Schlingensief, um „einen Moment zu haben, wo nicht alles schon wieder auf der Bühne oder auch im Leben ausgesprochen ist, so eine Grenze, eine Hemmung zu spüren, ist ganz wichtig und richtig.“[14]

Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Gott gibt ihm in dieser ersten Krankheitsphase das Gefühl, nicht tatenlos zu sein, seine Situation reflektieren zu können und das erst einmal nicht „im Leben“, sondern ganz für sich alleine. Und die Reflexion über Gott, das Leben und den Tod, tröstet, nimmt Ängste, gibt eine gewisse Autonomie.

Im Verlauf seiner Krankheit wird sich Schlingensiefs Verhältnis zu Gott noch einige Male ändern („Hinwendung zu Gott“ - „Zerrüttung“ - „Aussöhnung“). Diese Veränderungen sind wieder im Kontext der jeweiligen Krankheitsphase zu sehen und werden an gegebener Stelle von mir berücksichtigt.

Seine Beziehung zu Gott, der Kirche in Beziehung mit seiner Krebserkrankung verarbeitet er in dem in 2009 im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführtem Fluxus-Oratorium Kirche der Angst vor dem Fremden in mir.[15]

Wissenschaftlicher Exkurs „Religion und Psyche“

Für die Psychologie ist Religiosität in zweierlei Hinsicht wichtig. In vielen unterschiedlichen Konstellationen ist sie wichtige psychische Variable, denn als solche beeinflusst sie die individuelle Religiosität, Kognitionen, Einstellungen, und das Verhalten von Menschen. Religiöse Vorstellungen, Glaubensinhalte und ethische Werte sind wichtige Determinanten des Denkens, Fühlens und Handelns sowohl von Individuen als auch von Gruppen.[16] Des Weiteren ist sie Gegenstand psychologischer Betrachtungen.

Der Themenkomplex „Religion und psychische Gesundheit“ steht dabei in der religionspsychologischen Forschung an erster Stelle. Schon Sigmund Freud und William James[17] befassten sich damit.

Mit Hilfe von Korrelationsstudien[18] wurde lange Zeit versucht nachzuweisen, dass Religion einen positiven bzw. negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit Einzelner hat; durch diese Art der Forschung konnte man aber kein eindeutiges Ergebnis erzielen.

Der US-amerikanische Psychologe Gordon W. Allport differenzierte in den 70er Jahren zwischen extrinsischer und intrinsischer Religion. Er argumentiert, dass gemessene Korrelationen zwischen Religionszugehörigkeit und negativen Eigenschaften wie z. B. Rassismus und Vorurteilen nur im Falle einer falsch verstandenen Religiosität gelten. Religionszugehörigkeit oder präziser gesagt, Kirchenzugehörigkeit, würde manchmal von Individuen, die in Wirklichkeit innerlich gar nicht religiös sind, lediglich zur Schau getragen, um Vorteile zu erzielen (funktionalisierte Religion). „Wahre“ Religiosität wird nach Allport aus dem Inneren heraus gelebt. Intrinsisch religiöse Menschen könnten dann auch nie rassistisch oder vorurteilsbehaftet sein.[19]

Allports Differenzierungen zwischen ex- und intrinsischer Religion wurden in die empirische Forschung aufgenommen und gewannen enorm an Einfluss. Auch bei ihm ist die Aufteilung in „gute“ und „schlechte“ Religion gegeben.

Ungeachtet aller Entwicklungen auf dem Gebiet der Forschung, um Zusammenhänge zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit festzustellen, hat sich eine wissenschaftliche Religionspsychologie, deren Leitbild weltanschauliche Neutralität wäre, noch nicht etabliert.

Den Tatsachen ins Auge sehen

„… die Angst ist gelandet“[20]

Klarheit ist besser als Ungewissheit, selbst wenn diese bedeutet, einen malignen Tumor zu haben. Jedes Ergebnis ist besser als keines, ist „geradezu eine Erleichterung“.

Nach der ersten Auswertung des PETs geht der Radiologe mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Tumor aus. Leber und Skelett seien noch nicht befallen, aber um Gewissheit zu haben, müsse man noch einmal punktieren.

Anstatt in diesem Moment seine Ungewissheit erneut mit „trügerischem Hoffen“ zu beruhigen, entschließt sich Schlingensief, den Tatsachen ins Auge zu sehen. „Ich habe das eigentlich alles sehr kühl aufgenommen.“, merkt er an. „Das war für mich heute der Stichtag. Ergebnis: Tumor.“[21]

Warten, weiß man nicht, wie das konkrete Ergebnis aussehen wird, zermürbt. Man ist sozusagen zur Tatenlosigkeit verdammt. Und unfreiwillige Tatenlosigkeit, gerade bei einem Menschen wie Schlingensief, der immer „in Aktion“ zu sein scheint, ist wie „Gefesseltsein“ und nimmt schließlich alle Kräfte, die doch so dringend gebraucht werden.

Die Diagnose „Tumor“, selbst wenn erst eine Punktion 100%ige Sicherheit bringen wird, bedeutet für Schlingensief, „endlich landen zu können“ [Landen, um auszuruhen aber auch um neu zu starten; Vermerk d. Verf.]. Er kann wieder selbst entscheiden, wie es weitergeht mit ihm. Und wieder ist das Streben nach Autonomie im Vordergrund. Sich einem Konflikt zu stellen zeigt einerseits, dass man die Kraft zur Auseinandersetzung hat und andererseits wächst in der Auseinandersetzung mit Konflikten (egal, wie schwer es ist, diese letztlich zu bewältigen) auch Selbstbewusstsein, Mut und Stärke. Und spüre ich diese Elemente in mir, werde ich auch ein Stück weit „unverwundbarer“.

Ich denke, diese Bereitschaft, sich den Tatsachen zu stellen, nicht mehr auszuweichen, den Tumor als Bestandteil des eigenen Lebens zu begreifen, ist ein wichtiger Schritt hin zu sich selbst und weg vom Selbstbetrug.

Wissenschaftlicher Exkurs „Diagnostische Abklärung“

Die diagnostische Phase wird als belastender, stressvoller Moment erlebt. Ein „diagnostischer Schwebezustand“, in welchem die Gefühle und Reaktionen der Patienten von Gleichgültigkeit bis hin zu großer Angst reichen. Solange sie auf die Diagnose warten, scheint ihr Leben und auch das ihrer Angehörigen förmlich „in der Luft zu hängen“[22].

Die diagnostische Phase kann durchaus traumatisch sein, besonders wenn sie verzögert oder mit der Feststellung einer physisch oder mental lähmenden oder unheilbaren Krankheit endet.[23]

Ordnen – Klarsehen - Strukturieren

„ich will, dass man sehen kann, in jenen Jahren ist das und das passiert. Schluss.“[24]

Der Aspekt „Klarheiten schaffen“ gewinnt in Momenten, in denen die Zukunft ungewiss ist [eben: „unklar“; Vermerk d. Verf.], enorm an Bedeutung.

Ungewissheit lässt Punkte der Orientierung vermissen und genau diese versucht Schlingensief sich durch das „Ordnen – Klarsehen – Strukturieren“ gewisser Dinge in seinem Leben zu schaffen. Sei dies die finanzielle Versorgung seiner Mutter bis an deren Lebensende, die Neustrukturierung seiner Internetseite oder das Nachdenken über die Möglichkeit, sein Büro noch zwei oder drei Jahre weiterlaufen zu lassen, um Klarheit in seine Arbeit zu bringen.

„Mit einem klaren Blick zurück…“, so erwähnt er, „… kann man auch viel besser nach vorne gucken.“ Und weiter: „Ich brauche jetzt hinter mir einen aufgeräumten Laden. Der muss nicht klinisch steril sein, aber er muss Orientierung geben.“[25]

Orientierung vermittelt Sicherheit [man weiß, wo es lang geht; Vermerk d. Verf.] und regt an, den nächsten Schritt zu tun. Energien werden nicht sinnlos mit Suchen oder Grübeln verschwendet, sondern werden effektiv eingesetzt, weiterleben zu können. Durch das „Ordnen – Klarsehen – Strukturieren“ behält Schlingensief „sein Ruder in der Hand“ und führt nicht nur im Hier und Jetzt Regie, sondern auch über seinen eventuellen Tod hinaus. Dieses „Regie führen“ stärkt ihn, bedeutet Autonomie. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Passage, in der er schreibt: „… ich treibe andere an und freue mich, wenn meine Gedanken durch andere durchgehen.“[26] Ja, neben seiner Autonomie ist hier sicherlich auch ein Gewinn an Freude zu beobachten.

Wissenschaftlicher Exkurs „Sinn- und kohärenzorientierte Theorien“

Eine schlüssige und stimmige Lebensgeschichte ist Voraussetzung für das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Erfülltheit im Leben. In diesem Zusammenhang spricht man von „autobiografischer Kohärenz“[27].

Die Organisation von Erfahrungen in eine kohärente[28] Autobiografie beinhaltet nach Habermas u. Bluck (2000)[29] vier Formen der Kohärenz.

Durch organisatorische Kohärenz wird dem Grundbedürfnis nachgegangen, die Lebensereignisse in einer subjektiv logischen und schlüssigen Weise zu verbinden.

Mit der zeitlichen Kohärenz ist zumeist die Vorstellung eines linearen zeitlichen Bezugs der Lebenserinnerungen aufeinander verbunden.

Die biografische Kohärenz ist eine weitere von Habermas u. Bluck (2000) definierte Form der Kohärenz. Durch sie wird die Konstruktion der Lebensgeschichte im Licht gesellschaftlicher Richtwerte für Dauer und Zeitpunkt des Auftretens als bedeutsam erachteter Ereignisse geprägt.

Das Ordnen von Lebensereignissen nach thematischen Gesichtspunkten nennt man „ thematische Kohärenz “ [bei Schlingensief beispielsweise die Aufarbeitung seiner Internetseite; Anm. d. Verf.].

Einhergehend mit der Schaffung von Kohärenz in der eigenen Lebensgeschichte ist immer die Aufrechterhaltung des Gefühls von Kontrolle im Verlauf des Lebens.

Sich Gefühle zugestehen

„Ach, Mann, ist das alles eine Kacke. So eine unendliche Kacke“[30]

Zwei Tage vor dem Punktionstermin, der endgültige Klarheit über die Ausdehnung des Tumors bringen soll, leidet Schlingensief sehr darunter, dass Aino - anstatt mit ihm die letzten Tage, an denen so etwas wie Normalität möglich wäre - gemeinsam zu verbringen, doch zur Probe fährt.

Seine Art, diese doch sehr schmerzliche Situation aushalten zu können, ist, sich damit auseinanderzusetzen. Zu sagen: Ich bin eifersüchtig! Ja! Aber ich kann von keinem Menschen verlangen, dass der sich 24 Stunden aufopferungsvoll um mich kümmert.

Und er macht sich bewusst, dass es sich – bliebe Aino an seiner Seite – nur um eine scheinbare Normalität handele. „Normal ist es…“, so Schlingensief, „…eine Beziehung zu haben, wo man sich sieht, gemeinsam aufsteht, frühstückt, aber sich dann auch verabschiedet: Tschüss, bis später, wir sehen uns.“

Er sieht seine Normalität verletzt, wurde von ihr verlassen. Und er steht zu seinen negativen Gefühlen, ob dieses unglaublichen Verlusts, beschönigt nichts, sondern respektiert einfach, dass er enttäuscht und traurig ist.

Wissenschaftlicher Exkurs über das „Aushalten von Angst“

Reden wir bei Krebspatienten davon, dass es hilfreich sei, „Gefühle zuzulassen“, dann steht das Gefühl der Angst sicherlich an erster Stelle.

Flucht oder Vermeidung machen die Angst unkontrollierbar und verstärken sie. Stellt sich der Kranke der Angst, kann sie Gestalt annehmen, wird überschaubar und kann damit besser kontrolliert werden.[31]

Beate Stein (Sozialarbeiterin und Fachberaterin für Psychotraumatologie; selbst an chronischer Leukämie erkrankt) geht davon aus, dass die Bewältigung von Angst ein kontinuierlicher Prozess ist. „Gelingt es, den Blickwinkel zu verändern, die Angst immer wieder zur Seite zu schieben, […]“, so Stein, „[…] zeigt sich die Freiheit, das Leben auch ohne die belastende Angst führen zu können. Der Kranke kann wieder einen Sinn in der Vielfalt des Lebens finden. Die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal und der eigenen Endlichkeit führt zu einem neuen Denken. Die Hinwendung auf das „Kommen und Gehen des Lebens im Leben” wird zum Reifungsschritt. Das Verlorene kann nicht ersetzt werden, aber man erfährt, dass nicht alles verloren ist.“[32]

In der Medizin beispielsweise fehlen bis heute die Kriterien dafür, wann die Kontrolle oder das Aushalten von Angst positiv oder negativ zu bewerten sei – besonders bei lebensbedrohlichen Erkrankungen.

Angstlösende Medikamente können hilfreich sein, wenn sie bewusst, quasi als Überbrückung einer besonders schweren Zeit genommen werden. Bewusster Einsatz von Medikamenten setzt allerdings voraus, dass Patienten am Entscheidungsprozess „für oder gegen medikamentöse Unterstützungsmöglichkeiten“ aktiv beteiligt sind.

Leider werden Psychopharmaka in manchen Krankenhäusern noch immer Patienten ohne deren Wissen verabreicht. Psychopharmaka, die das Bewusstsein dämpfen, können dann dazu führen, dass Menschen in entscheidenden Etappen ihres Lebens (so, wie beispielsweise Christoph Schlingensief) in einen Zustand von Gleichgültigkeit versetzt werden.

In der gegenwärtigen Medizin ist ein überdimensionales Abwehrsystem gegenüber menschlichen Ängsten entstanden.

Der von mir sehr geschätzte Prof. Dr. Rolf Verres erwähnt in seinem Buch „Die Kunst zu Leben – Krebs und Psyche“ den Begriff „Angst“ im Zusammenhang mit „Antrieb zur Wandlung“ und bezieht sich auf eine Definition eines W. A. Schelling, die ich im Folgenden zitiere:

„Die Angst übernehmen zu können und sich ihre verwandelnde Kraft angedeihen zu lassen, scheint eine wichtige Potenz des Menschen zu sein. Jeder hat hier genügend Erfahrungen bei sich und bei anderen: Gelingende Auseinandersetzung mit der Angst öffnet den Raum für die Entwicklung von neuen Fähigkeiten und Erfahrungen. Freilich gibt es keine Auseinandersetzung, keine Überwindung, die nicht ihrerseits wiederum Angst auslösen würde. Das allmähliche Aufgeben einer inneren Haltung, die durch Angstschranken abgeschirmt war, gegen die Möglichkeit einer Veränderung, wird mit neuer Angst verbunden sein. Wenn dieser Prozess aber gelingt, dann wird er den Betroffenen zu neuen Erfahrungen und zu einer größeren Erlebnisintensität hinführen.“[33]

Pläne schmieden

„Ich bin gerne auf der Welt. Ich möchte gerne auf der Welt Dinge tun.“[34]

Sich wie Schlingensief bewusst sein, wie sehr man die Welt liebt, sich bewusst sein, dass man hier(!) bleiben möchte und dass man hier(!) Dinge tun möchte, ist gut und wichtig. Dazu gehört – quasi „um seine Wurzeln noch einmal tiefer in diese Erde zu schlagen“ – dass man Pläne schmiedet.

Pläne zu schmieden bedeutet „voraus zu schauen“, bedeutet „Zukunft“, bedeutet „Hoffnung“, bedeutet, dass man an sich glaubt und daran, dass man vielleicht doch stärker als der Krebs sein könnte.

Schlingensief möchte weiterhin Momente schaffen, in denen er Menschen berührt. Am Ende, egal wann, möchte er, dass seine Arbeit einen sozialen Charakter hatte. Und so entsteht seine Idee mit dem Festspielhaus in Afrika.

Nachzudenken über Projekte wie „ein Festspielhaus in Afrika“[35] ermöglicht, über das eigene Leiden hinausschauen zu können, die Welt auch außerhalb der eigenen schwierigen Situation wahrnehmen zu können und sich selbst als wichtigen Teil dieser Welt zu begreifen.

Indem Schlingensief kreativ ist, gewinnt er an Kraft und Selbstvertrauen. Mit seiner Idee von Afrika ist er nicht auf seine Krankheit reduziert, sondern „wächst“ darüber hinaus.

Krankheitsphasen im Überblick:

I Verdacht auf Krebs und Entschluss zum PET
II Diagnose: Adenokarzinom
III MRT und Weiterbehandlung
IV Operation
V Intensivstation
VI Verlegung auf „Normal“station
VII Wieder Zuhause
VIII Chemotherapie
IX Diagnose erneuter Metastasen
X Erfahrung von Endlichkeit

II Diagnose: Adenokarzinom

„Ich weiß nicht, […]“, so Schlingensief, „[…] ob ich jemals einen solchen Tag erlebt habe. Ich glaube nicht. Vielleicht einmal, in meiner Jugend, da war ich elf und habe auf einem Feld von Bauer Mewes ein Gefäß gefunden, in dem eine Taube saß. Ich habe das Ding berührt, dann gab es einen großen Knall, die Taube flog hoch und zur Seite raus – und mein Arm wäre fast in diesem Metallständer gelandet, abgequetscht. Es war eine Falkenfalle […]“.[36]

Klarheit tut weh

„… Warum wird das alles jetzt kaputt gemacht? Warum?“[37]

So sehr Schlingensief die Klarheit und Aufrichtigkeit, mit der sein Internist Dr. Bauer bisher auf ihn zuging, schätzte, so sehr entsetzt ihn diese jetzt.

Dr. Bauers Äußerungen zur Diagnose wie beispielsweise: „[…] wir haben den Befund und der ist große Scheiße.“, „Es wird eine harte Zeit auf Sie zukommen“ oder auch als er zu Aino sagt, sie solle doch erst einmal zu Hause übernachten anstatt im Krankenhaus, denn sie brauche ihre Kraft später noch, auch Worte wie „Chemo“, „Operation“, „Bestrahlung“ – all das stürzt auf ihn ein und er versteht erst einmal überhaupt nichts mehr. Ihm scheint, seine gesamte Normalität breche mit einem Mal zusammen, ist entsetzt und sieht sich seiner Freiheit beraubt. „Sich ein gottverdammtes Brötchen zu besorgen, ist plötzlich nicht mehr möglich.“

Um mit diesem gefühlsmäßigen Chaos auch nur irgendwie fertig zu werden, versucht er herauszufinden, was die Ursachen seiner Erkrankung sein könnten.

Frage nach der Ursache

„… Werde ich jetzt für irgendetwas bestraft? Warum bricht hier alles zusammen?“[38]

Zum ersten Mal stellt sich Schlingensief die Frage, ob er durch seinen Krebs wohl für etwas bestraft werden solle. Eine Frage, die Patienten nach Mitteilung der Diagnose oft quält. Die Frage nach den Ursachen. Warum hat es gerade mich getroffen?

Die subjektive Vorstellung von der Entstehung der Erkrankung hat bei der Krankheitsverarbeitung enorme Bedeutung.

Häufig als Ursache vermutet werden:

- eine Bestrafung für etwas, was man in der Vergangenheit getan habe,
- eine evtl. vorhandene Prädestination für Krebs (Krebspersönlichkeit) oder
- eine Mitschuld an der Entstehung der Krankheit (vergleichbar mit Opfern von Gewalt).

Die individuelle Zuschreibung von Ursachen für die Entstehung der Krebserkrankung ermöglicht, eine Komponente der Erkrankung zu benennen und das, was in Begriffen ausdrückbar ist, erscheint dem Menschen in der Regel handhabbarer und „fassbarer“ als das Unbekannte.

Weiß man, was oder wer für die Krebserkrankung verantwortlich ist, hat man sozusagen etwas oder jemanden, das oder den man dafür „haftbar“ machen kann (im Notfall sich selbst). Das bedeutet konkret: man kann die Krebserkrankung in gewissem Sinne vor sich selbst „rechtfertigen“ [Vermerk d. Verf.]

Zu einem späteren Zeitpunkt, d.h. nach der Operation, merkt Schlingensief an, dass er sich nicht mehr „bestraft“ fühlen möchte, weder von anderen, noch von sich selbst. „Dass ich Krebs habe, gut, das ist Scheiße. Wer da was verbockt hat, weiß ich nicht, warum das so ist, weiß ich auch nicht. Aber es handelt sich nicht um eine Bestrafung, vor allen Dingen nicht um eine Selbstbestrafung.“[39]

Wissenschaftlicher Exkurs „Ursachen von Krebs“ / „Krebspersönlichkeit“

Menschen mit Lungenkrebs sind mehr als andere Krebspatienten einem gewissen Stigma ausgesetzt. Oftmals reflexartig lautet die erste Frage nach der Diagnose: „Hast du geraucht?“

Das liegt u. a. daran, dass bei keiner anderen Krebsart der Zigarettenkonsum als Ursache so klar und bekannt ist wie bei Lungenkrebs. Etwa 85% aller Lungenkrebs-Todesfälle gehen auf das Rauchen zurück, das heißt, ein geringer Teil der Patienten (so Schlingensief) erkrankt „unverschuldet“[40] [es scheint, als werde man erst dann „für unschuldig“ erklärt, hat man diese erste Frage nach seinem Rauchverhalten eindeutig mit „Nein“ beantwortet. Dann erst gehört man zu den Privilegierten, die fortan ihren Lungenkrebs „ausleben“ dürfen …; Vermerk d. Verf.].

Krebspatienten stellen sich oft die Frage nach den Ursachen ihrer Erkrankung. Leider haben die Denkmodelle, die in der Öffentlichkeit bekannt sind, nur selten etwas mit dem Wissensstand der professionellen Krebsforschung gemein. Um nur eines dieser Denkmodelle darzustellen, möchte ich im Folgenden die Aussage eines nichtkrebsbetroffenen Patienten erwähnen, den Prof. Dr. Verres im Rahmen seines Forschungsprojektes nach dessen Ansicht über Krebs befragte. Warum also bekommen manche Menschen Krebs, während andere davor verschont bleiben?[41]

Hierzu eine männliche Person, Baumaschinenschlosser, 44 Jahre:

„Also, es mag mit an der Erbmasse liegen. Ich glaube auch, dass viel am Essen liegt, ich meine, einer, der das ganze Jahr gespritzte und gedüngte Sachen isst, […]. Ich glaube auch, dass viel zusammenhängt, wenn man verheiratet ist, mit der Familie, dass wenn man sich gut versteht und sehr wenig Streit hat, dass man da ganz anders lebt, als wenn ich jeden Tag heimkommen muss und die Gegend vollschreie […]. Ich glaube auch, wenn ich unser Gespräch zurück verfolge, über den Krebs, dass jeder das in sich trägt. Ich glaube aber auch, dass es jeder von uns in sich hat. Nur der Brennpunkt fehlt noch, wo es explodiert.“[42]

In der Wissenschaft weiß man zwar Einiges über Risikofaktoren und Mechanismen der „Entartung“ von normalen Körperzellen zu Krebszellen, doch über die Krebsursachen gibt es nur wenige Theorien.[43]

Zum Begriff der „Krebspersönlichkeit“ bemerkt Verres [und spricht mir damit aus der Seele; Verm. D. Verf.], er sei dafür, dieses missverständliche und vielleicht sogar manchen Menschen unangemessen diskriminierende Wort ganz aus unserem Wortschatz zu streichen.

Er fasst die Versuche der Wissenschaft, Zusammenhänge zwischen psychischen Vorgängen und der Krebsentstehung aufzudecken, wie folgt zusammen:

- Anhaltspunkte dafür, dass die Entstehung einer ersten Krebszelle aus einer gesunden Körperzelle konkret etwas mit psychischen Phänomenen zu tun hätte, sind kaum belegbar.
- Die Entstehung einer ersten Krebszelle sei vielmehr als eine Art „Betriebsunfall“ während der täglich milliardenfach stattfindenden natürlichen Zellteilung zu verstehen.
- Sicheres Wissen gibt es zu den Wirkungen von Schadstoffen, die in den Körper gelangen. Die Wirkungen seien aber zum Teil auch verhaltensbedingt (z.B.: Schadstofferhöhung durch Rauchen oder Ernährungsverhalten).
- Das weitere Wachstum einer entstandenen Krebszelle zu einer Krebsgeschwulst und zu Tochtergeschwülsten ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Dabei spielt es eine Rolle, ob das körpereigene Abwehrsystem schnell genug und wirksam funktioniert (Bsp.: „natürliche Killerzellen“ im Blut können entstandene Krebszellen u. U. schnell abtöten, so dass keine Krebserkrankung entsteht).
- Viele Funktionen des körpereigenen Abwehrsystems stehen mit dem Nervensystem in Verbindung. Veränderungen im psychischen Geschehen (also im Hirn) können – über das Nervensystem und spezielle Botenstoffe, die Hormone – im Prinzip auch bestimmte Funktionen des Immunsystems beeinflussen.
- Prinzipiell ist denkbar, dass die Entwicklung bestimmter Krebserkrankungen, sind einmal Krebszellen entstanden, nicht völlig unabhängig von psychischen Geschehnissen ist. Dieses Denkmodel beruht allerdings vorerst auf vereinzelten wissenschaftlichen Beobachtungen und begründete Schlussfolgerungen für die Lebensführung lassen sich daraus nicht ableiten.[44]

Auch Prof. Dr. med. Wolfgang Söllner von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg schreibt in der Fachzeitschrift „Psychotherapie im Dialog“ (PID), 2/2010, dass der direkte Einfluss psychischer Faktoren wie Stress, belastende Lebensereignisse oder Depression auf die Entstehung von Krebs zwar möglich ist und biologisch erklärbar, aber empirisch nicht gesichert.[45]

Soweit zur Thematik „Ursachen von Krebs“ und „Krebspersönlichkeit“. Wenden wir uns im Folgenden wieder Christoph Schlingensief und dessen Gefühlen nach der schockierenden Diagnose „Lungenkrebs“ zu.
Im Strudel der Gefühle

„… ich versteh das nicht! Ich bin entsetzt“[46]

Schlingensief denkt zum ersten Mal auch darüber nach, sich umzubringen oder einfach wegzugehen, ausgerüstet mit genügend Morphium (dabei denkt er wieder einmal an Afrika).

In dieser Phase äußersten Entsetzens kommen sehr viele Reaktionen auf der Gefühlsebene zusammen: Weinen, flüchten wollen, an sich selbst zweifeln, Zukunftsängste, Verständnislosigkeit und Enttäuschung. Und mit der Enttäuschung wird das Thema „Gott“ wieder präsent. Diesmal allerdings in Form von Abwendung.

Abwendung von Gott

„… Gott ist ignorant. Er sagt einfach, was du hier machst, interessiert mich nicht“[47]

Die Annäherung an Gott, die in der ersten Krankheitsphase stattfand, ist nach der Diagnose mit einem Mal zerstört. Schlingensief betet zwar noch zu seinen Schutzengeln, was vermuten lässt, dass er mit dem Himmel noch nicht gänzlich abgeschlossen hat, aber mit Gott und Jesus ist er erst einmal fertig. „Vielleicht […]“, so Schlingensief, „[…]kommt er wieder, wenn man ganz am Arsch ist.“

Nach dem Schlag der Diagnose fühlt sich Schlingensief, als seien bei ihm gerade „alle Seile und Verbindungen abgerissen“[48] [stellt man sich das bildlich vor, lassen einen gerissene Seile in die Tiefe fallen oder verbindungslos schweben in einer Leere, die einen zu verschlucken droht; Anm. d. Verf.]. Schlingensief möchte „einfach nur wegdämmern“ und fragt sich, ob das nicht schon genug des Lebens war. Und dann ist er einfach nur „supertraurig“, fühlt sich gleichermaßen aggressiv und wütend und hat den „Draht zu Jesus verloren“. „Ich kann nicht mehr beten“, schreibt er und, was sehr berührend ist: „Ich dachte, dass ich im Kern beschützt sei“.[49]

Man stelle sich vor, wie es für jemanden sein mag, „im Kern beschützt zu sein“. Das hat etwas Unumstößliches und Beruhigendes. Da fühlt man förmlich innere Sicherheit, ein „safe place“, ein Ort also, wo man Schutz und Hilfe findet, ohne dass einem Schuld für eine schwierige Situation zugesprochen wird. Ein Ort, wo man erfährt, dass man einiges vermag, um seine aus den Fugen geratene Welt zu kitten. Und dann versuche man, zu begreifen, wie es sich wohl anfühlen mag, ist ein solcher Ort um einen herum einfach mit einem Wimpernschlag / mit einer Diagnose wie ausgelöscht.

Schlingensiefs Fassungslosigkeit und zuweilen auch Trotz mutet ein wenig an wie das verzweifelte Schreien eines Kindes, das von seiner Mutter verlassen wurde und darauf hofft, dass diese zurück käme.

Seine Wut, seine Ohnmacht und seine Enttäuschung lädt Schlingensief erst einmal auf Gott ab und schafft sich damit den nötigen Raum, wieder „zu sich zurück zu kommen“ (Affektverschiebung).

Um ruhiger zu werden nimmt er dieses Mal ein Sedativum.

Allgemeiner Überblick über Belastungen und Anforderungen nach der Diagnosestellung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[50]

(eigene Bearbeitung nach Loscalzo / Brintzenhofeszok 1998, in: Tschuschke, Volker (2011), Seite 71)

Krankheitsphasen im Überblick:

I Verdacht auf Krebs und Entschluss
zum PET
II Diagnose: Adenokarzinom
III MRT und Weiterbehandlung
IV Operation
V Intensivstation
VI Verlegung auf „Normal“station
VII Wieder Zuhause
VIII Chemotherapie
IX Diagnose erneuter Metastasen
X Erfahrung von Endlichkeit

[...]


[1] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!;Seite 25

[2] Reuter, K. (2010): Psychoonkologie: Stellenwert, Prinzipien und Behandlungsansätze; Psychother. Psych. Med. 2010; 60: 486–497

[3] Reuter, K. (2010): Psychoonkologie: Stellenwert, Prinzipien und Behandlungsansätze; Psychother. Psych. Med. 2010; 60: 486–497

[4] Vgl. http://www. tumorzentrum-muenchen.de /patienten.html, abrufbares Manual: Psychoonkologie

[5] siehe Glossar, Seite 70 dieser Ausarbeitung

[6] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 14

[7] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 13

[8] vgl.: http:// derstandard.at /1220459550838/Es-geht-hier-nicht-um-meine-Leidensgeschichte

[9] siehe Glossar, Seite 70 dieser Ausarbeitung

[10] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 14

[11] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 19

[12] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seiten 18

[13] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seiten 15 u. 16

[14] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 18

[15] vgl. Schingensief Biografie, Seite 67 dieser Ausarbeitung

[16] Grom, B. (1992): Religionspsychologie. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen

[17] James, W.: The varieties of religious experience, A Study in Human Nature, New York (1901/02); dt. Die Vielfalt religiöser Erfahrung. üb. von Eilert Herms u. Christian Stahlhut (1997), Insel-Verlag, Frankfurt/M.

[18] siehe Glossar, Seite 70 dieser Ausarbeitung

[19] Allport, G. W. (1974): Werden der Persönlichkeit, Kindler Verlag, München

[20] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 23

[21] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 22

[22] Kohröde-Warnken, Corinna (2011): Zwischen Todesangst und Lebensmut; Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hannover, Seite 29

[23] Kohröde-Warnken, Corinna (2011): Zwischen Todesangst und Lebensmut; Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hannover, Seite 29

[24] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 31

[25] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 32

[26] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 25

[27] Mehnert, Anja; Braack,Katharina; Vehling,Sigrun (2011): Sinnorientierte Interventionen in der Psychoonkologie; in: Psychotherapeut 2011, Springer Verlag, Seite 2

[28] vgl. Glossar, Seite 70 dieser Ausarbeitung

[29] Bluck, S.; Habermas, T. (2000). The life story schema. Motivation & Emotion, Seite 121-147

[30] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 39

[31] vgl.: http://www. gesundheit-report.de /lebensfragen/artikel156/leben-konnen-heist-der-angst-bewusst- begegnen.html

[32] http://www. gesundheit-report.de /lebensfragen/artikel156/leben-konnen-heist-der-angst-bewusst-begegnen.html

[33] Verres, Rolf (2003): Die Kunst zu leben, Krebs und Psyche; Verlag Herder, Freiburg, Seite 49

[34] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 32

[35] siehe Schlingensief Biografie, Seite 67 dieser Ausarbeitung

[36] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 45

[37] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 47

[38] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 46

[39] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 129

[40] vgl.: http://www. krebsgesellschaft.de /pat_tdm_112011_lungenkrebs_schicksal_leitartikel,201397.html

[41] Verres, Rolf (2003): Die Kunst zu leben, Krebs und Psyche; Seite 58

[42] Verres, Rolf (2003): Die Kunst zu leben, Krebs und Psyche; Seite 58

[43] Verres, Rolf (2003): Die Kunst zu leben, Krebs und Psyche; Seite 50

[44] Verres, Rolf (2003): Die Kunst zu leben, Krebs und Psyche; Seite 74 f

[45] Prof. Dr. med. Wolfgang Söllner; in: „Psychotherapie im Dialog“ (PID), 2/2010, „Psyche und Krebs - Können psychosoziale Faktoren Krebs verursachen oder den Verlauf von Krebserkrankungen beeinflussen?“

[46] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 46

[47] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 51

[48] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 50

[49] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!; Seite 51

[50] Tschuschke, Volker (2011): Psychoonkologie, Psychologische Aspekte der Entstehung und Bewältigung von Krebs, Seite 71

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783863418212
ISBN (Paperback)
9783863413217
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Darmstadt
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
2
Schlagworte
Coping Krebs Religion Spiritualität Psychoonkologie Krankheitsstadium

Autor

Ines Suckel (Jg. 61) absolvierte ein Studium der Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit an der Hochschule in Darmstadt mit dem erfolgreichen Abschluss des Bachelor of Arts im Jahr 2012. Oftmals selbst dazu herausgefordert, alle Ressourcen zu mobilisieren, um nicht unterzugehen, faszinierten sie schon immer Menschen, die das Beste aus ihrem Leben heraus holten, die nicht kapitulierten, den Kopf nicht in den Sand steckten und schließlich aufbrachen, zu neuen Wegen. So ein Mensch ist Schlingensief für die Autorin. Einer, der trotz seiner Krankheit die Kraft hat, anderen - so auch der Autorin - ein Stück Lebenslust einzuhauchen. Und genau dafür widmet sie ihm diese Arbeit.
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Titel: „… und dann ist nichts mehr freundlich.“ Über die Kunst zu(m) Leben - Aspekte des Copings am Beispiel der Tagebuchaufzeichnungen einer Krebserkrankung von Christoph Schlingensief
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