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Where is my mind?: Unzuverlässiges Erzählen in David Finchers Film "Fight Club"

©2011 Bachelorarbeit 41 Seiten

Zusammenfassung

'Where is my mind?' fragen die Pixies in ihrem gleichnamigen Song am Ende des Films FIGHT CLUB. Und genau diese Frage könnten sich wohl auch die Zuschauer stellen. Gemeinsam mit dem namenlosen Erzähler und dessen Alter Ego Tyler Durden erleben wir einen rasanten Trip, der uns an unseren eigenen Urteilen und Sehgewohnheiten zweifeln lässt. Dieses Fachbuch beschäftigt sich mit den Strategien, die zu eben diesem Zweifeln führen. Die Autorin erläutert die Theorie des unzuverlässigen Erzählens und gibt einen Überblick über den momentanen Stand der Forschung zu diesem Thema. Ein Exkurs in die Erzähltheorie Genettes liefert weitere Aspekte zur Interpretation, die sich erfolgreich auf das Medium Film übertragen lassen. Anhand einer Filmanalyse wird deutlich, wie die behandelten literaturwissenschaftlichen Konzepte in FIGHT CLUB angewandt werden und die Täuschung vom Publikum durchschaut werden kann. Was an der Handlung des Filmes ist real und was ist nur die Einbildung des Protagonisten? Wodurch wird der Zuschauer getäuscht? Diese Fragen werden beantwortet und verschiedene Deutungsansätze diskutiert, die sich aus der Erzählweise ergeben. Lesenswert, nicht nur für Geisteswissenschaftler, sondern auch für echte Filmfans!
FIGHT CLUB ist ein Drama des Regisseurs David Fincher aus dem Jahre 1999, nach einer Romanvorlage Chuck Palahniuks. Mit Brad Pitt, Edward Norton und Helena Bonham Carter in den Hauptrollen gilt er als einer der besten Filme der 90er Jahre.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


6
Verfahren in FIGHT CLUB, welche die Täuschung beim Rezipienten aufrecht erhalten.
6.
Zum
anderen beschäftigen sich Literaturwissenschaftler mit einer Vielzahl verschiedener Lesarten,
welche der Film anbietet. Darunter beispielsweise Elisabeth Bronfen, die anhand der
Filmanalyse geschlechterwissenschaftliche Konzepte in FIGHT CLUB diskutiert,
7
sowie
Heidemann, die das Phänomen des Doppelgängers in Literatur und Film vertieft.
8
Ich möchte mich in dieser Arbeit sowohl mit der zugrundeliegenden Narrationstechnik
beschäftigen und aufzeigen, wie unzuverlässiges Erzählen in diesem Film etabliert ist als auch
erörtern, welche Lesarten sich aus dieser Erzählstrategie ergeben.
Der Begriff des unzuverlässigen Erzählers wurde von Wayne C. Booth geprägt, der dieses
ironieverwandte Konzept in seinem Werk zur Erzähltheorie The Rhetoric of Fiction
9
aus dem
Jahre 1961 erstmalig vorstellt. Nach Booth ist eine unzuverlässige Erzählweise an einen
personalisierbaren Erzähler gebunden und eng mit dem Konzept des implied author verknüpft,
welcher vom Rezipienten beim Lesen entworfen wird und sich somit sowohl von der Figur
des Erzählers in einem fiktionalen Werk, als auch von der des realen Autors unterscheidet.
Von einem unzuverlässigen Erzähler lässt sich nach Booths Beschreibung dieser
Erzählinstanz also dann ausgehen, wenn dessen Äußerungen mit den Normen des Textes, also
denen des implied authors, in Widerspruch stehen.
10
Der Leser bemerkt somit beim Lesen
eine Diskrepanz zwischen den Einstellungen und Meinungen einer Erzählerfigur, gegenüber
denen, die der implizite Autor vertritt.
Die feste Verzahnung von erzählerischer Unzuverlässigkeit und der Annahme eines impliziten
Autors stieß in der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Unzuverlässigkeit jedoch auf
starke Kritik und wurde von Ansgar Nünning in den 1990er Jahren neu konzipiert. Nünning
schafft es die erzählerische Unzuverlässigkeit von Booths Konzept des implied authors ,,zu
6
Vgl. Ganser, Katharina: Dramaturgie der Irreführung in Fight Club (1999). In: Blaser, Patric/Braidt,
Andrea/Fuxjäger, Anton/Mayr, Brigitte (Hrsg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen. Böhlau Verlag Wien
2007, Seite 111-120.
7
Vgl. Bronfen, Elisabeth: "Männliche Halluzination und weibliche Vernunft". In: Rüffert, Christine/Schenk,
Imbert/Schmid, Karl-Heinz/Tews, Alfred (Hrsg.): Wo/man. Kino und Identität. Bertz Verlag Berlin 2003, Seite
15-32. Im Folgenden: Bronfen (2003).
8
Vgl. Heidemann, Gudrun: Narrative Duplikate ­ Dostoevskijsche Schein- und Seinskämpfe in Finchers Fight
Club. In: Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies, Timo (Hrsg.): Erzählen im Film. Bielefeld: transcript
2009, Seite 85-104. Im Folgenden: Heidemann (2009)
9
Booth, Wayne C.: Rhetoric of Fiction. University of Chicago Press, Chicago 1961, 10. impr. Ausgabe 1973. Im
Folgenden: Booth (1961)
10
Vgl. Booth (1961), Seite 158 f

7
Gunsten des realen Autors und eines kognitiven Rezeptionsprozesses"
11
zu lösen. Nach
Nünnings Neukonzeption der Unzuverlässigkeit ist einem Erzähler diese folglich dann
zuzuschreiben, wenn diese Zuschreibung aufgrund einer Interpretationsleistung des Lesers
erfolgt. Liptay und Wolf schließen hierzu in ihrer Einleitung zu Was stimmt denn jetzt?
12:
,,Da offensichtlich bereits bei ihm [Wayne C. Booth] erzählerische Unzuverlässigkeit nicht zuletzt eine Frage
der Interpretation und damit der Rezeption ist, verfährt Ansgar Nünning nur konsequent, wenn er in seinem
kognitiv-narratologischen Ansatz den >impliziten Autor< gegen den Leser, die Bezugsrahmen seines Denkens,
seine Werte und seinen Erwartungshorizont austauscht."
13
Im Hinblick auf den Rezeptionsprozess und die Interpretationsleistung des Lesers entwickelte
Nünning einen Katalog von Merkmalen, welche auf die Unzuverlässigkeit eines Erzählers
hindeuten können. Diese beziehen sich vor allem auf das Wissen eines Leser, welches er in
seine Interpretation mit einbringt, beziehungsweise die moralischen Maßstäbe, die der Leser
an einen Text anlegt, oder auch auf textinterne Signale für Unzuverlässigkeit, wie zum
Beispiel irritierte Äußerungen anderer Figuren.
14
Der Leser versucht also, mit den ihm gegebenen Mitteln, die auftretenden Widersprüche in
einen sinnvollen Zusammenhang einzugliedern. Nach Monika Fludernik, die diesen Prozess
als Neutralisierungsstrategie
15
bezeichnet, können dieser Art im Text mehrere vorkommen;
darunter die mimetische Explikation, bei der die Widersprüche im Text absichtlich eingefügt
wurden und nur durch die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit auf Seiten des Erzählers durch
den Leser interpretiert werden können.
16
11
Solbach, Andreas: Die Unzuverlässigkeit der Unzuverlässigkeit. Zuverlässigkeit als Erzählziel. In: Liptay,
Fabienne/Wolf, Yvonne: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Richard
Boorberg Verlag (Edition Text & Kritik), München 2005, Seite 61
12
Vgl. Liptay, Fabienne/Wolf, Yvonne: Einleitung. Film und Literatur im Dialog. In: Liptay, Fabienne/Wolf,
Yvonne (Hrsg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Richard Boorberg
Verlag (Edition Text & Kritik), München 2005. Im Folgenden: Liptay/Wolf (2005)
13
Liptay/Wolf (2005), Seite 12
14
Vgl. Nünning, Ansgar: Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen
Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Unreliable narration: Studien
zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur.
Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, Seite 27 ff. Im Folgenden: Nünning (1998)
15
Vgl. Fludernik, Monika: Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literarischen Konzept der
erzählerischen Unzuverlässigkeit. In: Liptay, Fabienne/Wolf, Yvonne: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges
Erzählen in Literatur und Film. Richard Boorberg Verlag (Edition Text & Kritik), München 2005, Seite 52. Im
Folgenden: Fludernik (2005)
16
Vgl. Fludernik (2005), Seite 52 f

8
In einem literarischen Text können verschiedene Arten von Unzuverlässigkeit auftreten und
unterschieden werden, wobei die Übergänge in einem Text fließend sein können.
Grundlegend können nach Vogt zwei Grade von unzuverlässigem Erzählen voneinander
abgegrenzt werden.
17
Hierbei werden Vorkommen normativer Unzuverlässigkeit, ,,[...] in
denen die Erzählinstanz fragwürdige Bewertungen über das Geschehen in der erzählten Welt
aufstellt"
18
von Fällen faktischer Unzuverlässigkeit differenziert, welche weitreichender sind,
da der Erzähler dem Leser unzutreffende Aussagen über die Diegese vermittelt.
Eine weitere Unterscheidung von verschiedenen Arten von Unzuverlässigkeit, die in der
Literaturwissenschaft etabliert ist, trafen Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrer
Einführung in die Erzähltheorie
19
. Nach Martinez und Scheffel kann ein Erzähler neben
mimetischen Sätzen, die die Beschaffenheit der erzählten Welt beschreiben, auch theoretische
Aussagen treffen, welche seine persönlichen Einstellungen ausdrücken. Als theoretische
Unzuverlässigkeit wird ein Typus von Unzuverlässigkeit definiert, der sich lediglich auf die
theoretischen Aussagen des Erzählers bezieht, den Wahrheitsgehalt der mimetischen Sätze
jedoch unangetastet lässt - diese können somit als wahr gelten.
20
Können in einem Text
sowohl theoretische als auch mimetische Aussagen als falsch bewertet werden, so kann nach
Martinez und Scheffel von mimetisch teilweise unzuverlässigem Erzählen gesprochen werden.
Solche fiktionalen Erzählungen, in denen der Erzähler sowohl Falschaussagen bezüglich der
erzählten Welt sowie befremdliche Meinungsäußerungen zu seinen moralischen Werten,
Einstellungen oder Wertungen macht, welche am Ende als unzuverlässig aufgeklärt werden,
stellen vor allem rückwirkende Überraschungsberichte
21
dar, nach deren Rezeption eine Re-
Interpretation des Erzählten durch den Leser stattfinden müsse, da sonst unauflösbare
Widersprüche in der Handlung bestehen blieben.
22
Sind zuverlässige und unzuverlässige
Äußerungen am Ende nicht zu unterscheiden und keine logisch konsistente Erzählung mehr
rekonstruierbar oder werden dem Rezipienten alternative Versionen einer Handlung ange-
17
Vgl. Vogt (2009), Seite 37
18
Vogt (2009), Seite 37
19
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. C.H.Beck München, 1999, 7. Aufl. 2007,
Seite 95 ff. Im Folgenden: Martinez/Scheffel (1999)
20
Vgl. Martinez/Scheffel (1999), Seite 101
21
Vgl. Hartmann, Britta: Von der Macht erster Eindrücke. Falsche Fährten als textpragmatisches
Krisenexperiment. In: Liptay, Fabienne/Wolf, Yvonne: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in
Literatur und Film. Richard Boorberg Verlag (Edition Text & Kritik), München 2005, Seite 154. Im Folgenden:
Hartmann (2005)
22
Vgl. Hierzu Martinez/Scheffel (2007), Seite 103
Umfassende Konsistenz ist eine konstitutive logische
Norm des fiktionalen Erzählens, also akzeptiert der Leser die Aufklärung der Unzuverlässigkeit, da er nur so aus
dem Text eine konsistente erzählte Welt konstruieren kann.

9
boten, so liege ein Fall von mimetisch ununterscheidbarem Erzählen vor, welches einen ,,[...]
Sonderfall des unzuverlässigen Erzählens"
23
darstelle.
Des Weiteren kann nach Fludernik eine qualitative Unterscheidung erfolgen: Die falsche
Darstellung von Geschehnissen, nach welcher im Text ein Fall von faktueller Unzuver-
lässigkeit vorliegt, ein Mangel an Objektivität zum Beispiel durch eingeschränkte
Wahrnehmung, der als epistemologische Unzuverlässigkeit bezeichnet wird, wie auch die
ideologische Unzuverlässigkeit in Bezug auf die ethischen Normen, die im Text vermittelt
werden. Alle drei Vorkommnisse ­ faktuelle, epistemologische und ideologische
Unzuverlässigkeit ­ können weiter aufgefächert werden, wobei Fehldarstellungen und
unvollständige Darstellungen unterschieden werden können.
24
Hierbei findet vor allem die
Unterscheidung von Darstellungsweisen auf faktueller Ebene, also misreporting im Sinne
einer falschen Darstellung von Fakten durch einen unzuverlässigen Erzähler und
underreporting, das schlichte Weglassen von Sachverhalten, Anwendung.
Ferner gibt es in der Literaturwissenschaft einen Konsens darüber, dass sich unzuverlässiges
Erzählen meist im Zusammenhang mit einem personalisierbaren, homodiegetischen Erzähler
konstruieren lässt. Seltener können auch Fälle von impersonal heterodiegetischen Texten
unzuverlässig erzählt sein.
25
Meist wird die Unzuverlässigkeit hierbei bestimmten Typen von
Erzählern zugesprochen, wie zum Beispiel dem Geistesgestörten, der aufgrund seiner
Erkrankung eine verzerrte Realitätswahrnehmung besitze oder dem Kriminellen, der durch die
Unzuverlässigkeit versuche, seine verbrecherischen Machenschaften zu verschleiern.
26
Im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit im Film, deren Aspekte ich anhand eines Beispiels in
dieser Arbeit behandeln werde, hat sich bisher kein medienspezifisches Konzept der
Unzuverlässigkeit durchsetzen können.
27
In der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob
die Theorien aus der Literaturwissenschaft auf den Film übertragbar sind und die
Zuschreibung narrativer Unzuverlässigkeit im Film auf einen personalisierbaren Erzähler
zurückgeht oder auf andere Instanzen ausgeweitet werden muss, da der Film multiple Wahr-
nehmungskanäle anspricht.
28
23
Palmier, Jean-Pierre: Gefühle erzählen. Narrative Unentscheidbarkeit und audiovisuelle Narration in
Christoffer Boes Reconstruction. In: Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies, Timo (Hrsg.): Erzählen im
Film. Bielefeld: transcript 2009, Seite 141.
24
Vgl. Fludernik (2005), Seite 43 ff.: Fludernik bezieht sich hier auf die Unterscheidung von Phelan/Martin
25
Vgl. Vogt (2009), Seite 35; Vergleiche zur Unterscheidung von hetero- und homodiegetisch Kapitel 2.1
26
Für diese und weitere Typen vgl. Fludernik (2005), Seite 40 f
27
Vgl. Helbig (2005), Seite 131
28
Vgl. Vogt (2009), Seite 35 f.; als auch Schweinitz, Jörg: Multiple Logik filmischer Perspektivierung.

10
In dieser Arbeit soll zunächst die in der Literaturwissenschaft etablierte Erzähltheorie nach
Genette vorgestellt werden, die als Leitfaden dient, um Erzählsituation analysieren zu können
und somit auch einen direkten Bezug zum unzuverlässigen Erzählen besitzt.
Hierbei werde ich mich bei der Darstellung Genettes Theorien weitestgehend auf die Aspekte
beschränken, die im Hinblick auf die Analyse des Filmes FIGHT CLUB nutzbar gemacht
werden können. Des Weiteren werde ich filmspezifische Erzähltechniken beschreiben, welche
in der Eigenart des Filmes, sich durch sowohl visuelle als auch auditive Formen auszudrücken,
begründet liegen. Daraufhin werde ich verschiedene Theorien zum unzuverlässigen Erzählen
im Film vorstellen. Hierbei werde ich mich aus Platzgründen ebenfalls auf die für meine
Analyse wichtigsten Theorien beschränken, welche jedoch einen guten Überblick über das
Thema der Unzuverlässigkeit im Film gewährleisten.
Durch eine Sequenzanalyse des Filmes FIGHT CLUB, die sich sowohl inhaltlichen,
erzählerischen als auch ­ wenn auch nur im geringeren Maße ­ filmanalytischen Aspekten
widmet, sowie durch die Interpretation der Analyseergebnisse, möchte ich herausarbeiten, wie
das unzuverlässige Erzählen in FIGHT CLUB eingesetzt ist und welche Lesarten der Film
anbietet. Die Analyse der erzählerischen Aspekte erfolgt hierbei auf Grundlage der Theorie
Genettes, da ich mich, im Gegensatz zu Hickethier
29
, der diese im Hinblick auf den Film für
unfruchtbar hält, den Arbeiten anschließe, welche davon ausgehen, dass Genettes Begriff-
lichkeiten auf den Film übertragen werden können und die Unterscheidung von Narration und
Fokalisation für eine differenzierte Analyse hilfreich ist
30
. In einem abschließenden Fazit
werde ich meine Ergebnisse sammeln und einen Ausblick auf weitere Forschungsmöglich-
keiten geben.
Fokalisierung, narrative Instanz und wahnsinnige Liebe. In: montage/av. Figur und Perspektive (2).
Marburg/Berlin 16.01.2007, Seite 83-100. Im Folgenden: Schweinitz (2007); sowie Orth, Dominik: Eine Frage
der Perspektive. Greg Marck's 11:14. Polyfokalisiertes Erzählen und das Problem der Fokalisierung im Film. In:
Birr, Hannah/Reinerth, Maike Sarah/Thon, Jan-Noël (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens.(Beiträge zur
Medienästhetik und Mediengeschichte 27) LIT Verlag Berlin 2009, Seite 111-130. Im Folgenden: Orth (2009)
29
Vgl. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Metzler Stuttgart, 4. Auflage 2007, Seite 128 f.
30
Vgl. Schweinitz, Jörg: Die Ambivalenz des Augenscheins am Ende einer Affäre. Über Unzuverlässiges
Erzählen, doppelte Fokalisierung und die Kopräsenz narrativer Instanzen im Film. In: Liptay, Fabienne/Wolf,
Yvonne: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Richard Boorberg Verlag
(Edition Text & Kritik), München 2005, Seite 89-106. Im Folgenden: Schweinitz (2005); als auch Orth (2009)

11
2. Erzähltheoretischer Hintergrund
2.1 Erzähltheorie nach Genette
In seiner Erzähltheorie unterscheidet Genette drei Ebenen der Erzählung: (1) die Geschichte
selbst, also den Inhalt einer Erzählung, der in der erzählten Welt, der Diegese angesiedelt ist,
(2) die Erzählung, also der narrativen Text und (3) die Narration, also der narrative Akt
selbst.
31
Des Weiteren unterscheidet Genette drei Analysekategorien, die das Verhältnis von Narration,
Erzählung und Geschichte zueinander beschreiben. Die erste Kategorie ist die Zeit. Die Zeit
betrifft das Verhältnis von Geschichte und Erzählung und wird in weitere drei Aspekte, dem
der Ordnung, Dauer und Frequenz unterteilt. Durch den Analyseaspekt der Ordnung lassen
sich Aussagen über die Reihenfolge der erzählten Geschehnisse treffen. In diesem
Zusammenhang unterscheidet Genette Analepse und Prolepse, also die Nachholung eines
Ereignisses in einer Erzählung, welches in der Geschichte an einem früheren Punkt an-
gesiedelt wäre bzw. den Vorgriff auf ein Ereignis, welches später in der Geschichte auftritt.
Ein weiterer Aspekt, welcher unter die Analysekategorie der Zeit fällt, ist die Dauer, deren
Gegenstand das Verhältnis von erzählter Zeit zur Erzählzeit ist; hierbei lassen sich
beispielsweise Zeitdehnung, Zeitraffung oder Zeitsprung unterschieden. Mit der Frequenz als
letztem Aspekt der Kategorie Zeit, lassen sich Aussagen über Wiederholungen von
Ereignissen treffen. Tritt ein Ereignis in der Geschichte einmalig auf, wird in der Erzählung
jedoch öfter von ihm berichtet, so spricht Genette von einer repetitiven Erzählung, wird im
Gegensatz dazu ein häufig auftretendes Ereignis nur einmal erzählt, von einer iterativen.
32
Die zweite Analysekategorie nach Genette, der Modus, betrifft ebenfalls das Verhältnis von
Erzählung und Geschichte und lässt sich in die Kategorien Distanz und Perspektive
unterteilen. Die Distanz beschreibt den Grad der Information, die der Leser erhält, wobei die
Mittelbarkeit je nach Art der Rede abnimmt; die Perspektive aus welcher Sicht uns die
Informationen dargeboten werden. Unter dem Kriterium der Perspektive führt Genette den
Begriff der Fokalisierung ein, welcher das Verhältnis von Erzähler und Figuren beschreibt.
Eine Erzählung kann demnach nullfokalisiert, intern oder extern fokalisiert sein. In den
31
Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. Fink München 1994, 2. Auflage 1998, Seite 15 f. Im Folgenden: Genette
(1994)
32
Vgl. Genette (1994), Seite 19 ff.

12
jeweiligen Fällen weiß der Erzähler mehr, genauso viel oder weniger als eine der handelnden
Figuren in der Geschichte.
33
Die letzte Kategorie bildet die Stimme, die sich auf das Verhältnis von Narration zu Erzählung
und Geschichte beziehen lässt. Gehört diese Stimme einem Erzähler, der als Figur in der
Geschichte auftaucht, so wird dieser als homodiegetischen Erzähler definiert, ist er
Protagonist der Erzählung als autodiegetischer. Steht der Erzähler außerhalb der Handlung,
ist also nicht Teil der Diegese, so wird er als heterodiegetisch bezeichnet.
Ferner unterscheidet Genette verschiedene narrative Ebenen innerhalb der Erzählung: Die
extradiegetische Erzählung, also die Rahmenhandlung einer Geschichte, die intradiegetische
Erzählung, also eine Erzählung innerhalb der Rahmenhandlung, die vom extradiegetischen
Erzähler der 1. Ebene, sowie die metadiegetische Ebene die vom intradiegetischen Erzähler
der 2. Ebene erzählt wird und eine Erzählung in der Erzählung darstellt. Diese Ebenenstruktur
lässt sich beliebig vertiefen:
34
,,Jedes Ereignis von dem in der Erzählung erzählt wird, liegt
auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt
dieser Erzählung angesiedelt ist."
35
Genette stellt eine besondere Form der metadiegetischen Ebene heraus, nämlich die pseudo-
diegetische Erzählung.
,,Diese Narrationsformen, in denen die metadiegetische Zwischenstation, ob sie explizit erwähnt wurde oder
nicht, sogleich zu Gunsten des ersten Erzählers ausgeschaltet wird, so daß man sich gewissermaßen eine (oder
zuweilen mehrere) narrative Ebenen erspart, wollen wir reduziert metadiegetische (nämlich aufs Diegetische
reduzierte) oder pseudo-diegetische nennen."
36
Für die Überschreitung und Vermischung zwischen diegetischen Ebenen verwendet Genette
den Ausdruck der Metalepse. So können die diegetische und extradiegetische Ebene ver-
mischt werden, wenn der Erzähler der 1. Ebene in die Diegese eingreift und diese als Fiktion
entlarvt. Darüber hinaus ist auch eine Ebenenüberschreitung in die Gegenrichtung denkbar,
also die Vermischung der Binnenerzählung mit der Rahmenhandlung einer Erzählung
möglich.
37
33
Vgl. Genette (1994), Seite 117 ff.
34
Vgl. Genette (1994), Seite 151 ff.
35
Genette (1994), Seite 163
36
Genette (1994), Seite 169
37
Vgl. Genette (1994), Seite 167 ff.

13
Wichtigstes Merkmal der Erzähltheorie Genettes stellt also die, bis dato in der Erzähltheorie
unter dem Aspekt der Perspektive zusammengefasste Trennung von Fokalisierung und
Erzählstimme dar.
38
Somit können die Leitfragen Wer spricht?, deren Antwort auf die
Erzählinstanz hinweist, und Wer sieht?, die Frage nach der Fokalisierungsinstanz,
unterschieden werden.
2.2 Erzählen im Film
Im Hinblick auf das filmische Erzählen stellt die Übertragbarkeit der literaturwissen-
schaftlichen Erzähltheorie auf das Medium Film ein Problem dar.
39
Durch die Mehr-
kanaligkeit des Mediums Film ­ also durch seine Verbindung sowohl auditiver als auch
visueller Erzählweisen ­, ist es ersichtlich, dass Film und Literatur unterschiedlich erzählen.
40
Um ein medienübergreifendes Konzept etablieren zu können, muss die literaturwissen-
schaftliche Erzähltheorie demnach auf die spezifischen Erzählinstanzen des Filmes angepasst
werden.
41
Während der literarische Erzähler nur über das Medium der Sprache verfügt, so kann der
Film auf unterschiedliche Arten gestaltet sein, da dieser andere Zeichensysteme in sich
aufnehmen kann.
42
Der Film besitzt somit wie die Literatur sprachliche Erzählweisen,
beispielsweise Dialoge oder den Voice-over-Erzähler und darüber hinaus audiovisuelle, wie
die Bild- und Tongestaltung, wobei der Zuschauer dem Audiovisuellen gegenüber dem
Verbalen, also den Dialogen und Titeln, sowie den Äußerungen eines Erzählers, einen
höheren Stellenwert beimisst.
43
Nach Eder verfügen audiovisuelle Medien ,,durch ihre
38
Vgl. Busch, Dagmar. Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches
Analyseraster. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Unreliable narration: Studien zur Theorie und Praxis
unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Wiss. Verlag, Trier 1998, Seite 41
39
Vgl. Unter anderem Sulzbacher, Laura/Socha, Monika: Forschungsübersicht zum unzuverlässigen,
audiovisuellen und musikalischen Erzählen im Film. In: Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies, Timo
(Hrsg.): Erzählen im Film. Bielefeld: transcript 2009, Seite 263. Im Folgenden: Sulzbacher/Socha (2009). Sowie
Eder, Jens: Zur Spezifik audiovisuellen Erzählens. In: Birr, Hannah/Reinerth, Maike Sarah/Thon, Jan-Noël
(Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens.(Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte 27) LIT Verlag
Berlin 2009, Seite 22. Im Folgenden: Eder (2009)
40
Vgl. Schweinitz (2007), Seite 89 f.
41
Vgl. Orth (2009). Seite 115
42
Vgl. Eder (2009), Seite 13
43
Vgl. Eder (2009), Seite 13. Vergleiche dazu zum Verhältnis von gesprochenen Wort und Bild: Scheffel,
Michael: Was heißt (Film-)Erzählen? Exemplarische Überlegungen mit einem Blick auf Schnitzlers
Traumnovelle und Stanley Kubricks Eyes Wide Shut. In: Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies, Timo

14
Mehrkanaligkeit [...] über die Möglichkeit, andere Medien und Kommunikationsformen
aufzunehmen und narrativ einzusetzen."
44
Somit enthält die audiovisuelle Darstellung im
Film eine Vielzahl an Ausdrucksmitteln.
Der Einsatz eines Voice-overs, also einer extradiegetischen Stimme
45
, stellt demnach kein
Muss für das filmische Erzählen dar. Vielmehr können sogar die nonverbalen Ausdrucks-
formen Aussagen, an der Erzählerstimme vorbei, an den Zuschauer vermitteln.
46
Ist also beim literarischen Erzählen die narrative Instanz relativ leicht zu bestimmen, so bietet
der Film eine Vielzahl von Erzählweisen an. Um dieses Spektrum an möglichen narrativen
Instanzen fassen zu können und zu einer sinnvollen Aussage zu kombinieren, könne, so
Schweinitz, im Film eine übergeordnete narrative Instanz, der cinematic narrator, ange-
nommen werden.
47
Der Begriff des cinematic narrators, welcher von Seymour Chatman
etabliert wurde
48
, ist in der Forschung jedoch umstritten. In Bezug auf den cinematic narrator
lassen sich nach Eder semiotische Filmtheorien, welche diesen als narrative Instanz annehmen
und kognitive, welche die Funktion des cinematic narrators einem realen Filmteam
zuschreiben, unterscheiden.
49
Entgegen der Theorie Chatmans, kann nach Susanne Kaul der Begriff des cinematic narrators
irreführend sein, ,,[...] weil hier ein Erzählsubjekt suggeriert [wird], während ja gerade das
audiovisuelle Erzählen jenseits des Erzählers damit ausgedrückt werden soll"
50
. Mit dem
Wissen über diese Problematik, möchte ich dennoch im Folgenden ­ im Gegensatz zu Kaul ­
den Begriff des cinematic narrators verwenden.
Haben wir es im Film mit verschiedenen narrativen Instanzen zu tun, so kann die Unter-
scheidung von Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen im Film besonders interessant sein. In
meinen vorangehenden Ausführungen wurde deutlich, dass der Film verschiedene Formen des
showing und telling in sich vereint, wodurch ersichtlich ist, dass eine Anwendung der
Erzähltheorie nach Genette, welcher seinerseits nach Wer sieht? (showing) und Wer
(Hrsg.): Erzählen im Film. Bielefeld: transcript 2009, Seite 19
44
Eder (2009), Seite 13
45
Vgl. Zur Trennung von Voice-over und diegetischer Off-Stimme: Dieterle, Bernhard: Erzählerstimme im Film.
In: Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies, Timo (Hrsg.): Erzählen im Film. Bielefeld: transcript 2009,
Seite 159-172.
46
Vgl. Schweinitz (2005), Seite 95
47
Vgl. Schweinitz (2005), Seite 89 f.
48
Vgl. Chatman, Seymour Benjamin: Coming to terms. The rhetoric of narrative in fiction and film. Cornell
University Press 1990, Seite 124 ff.
49
Vgl. Eder (2009), Seite 21
50
Kaul, Susanne: Bilder aus dem Off. Zu Hanekes Caché. In: Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies,
Timo (Hrsg.): Erzählen im Film. Bielefeld: transcript 2009, Seite 61. Im Folgenden: Kaul (2009)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863418366
ISBN (Paperback)
9783863413361
Dateigröße
271 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Filmanalyse unreliable narration Erzähltechnik Lesart Genette

Autor

Maximiliane Sander, B.A., wurde 1987 in Essen geboren. Ihr Studium der Philosophie und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen schloss die Autorin im Jahre 2011 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. In ihrem Masterstudium der Literatur und Medienpraxis sowie Sprache und Kultur befasst sich die Autorin vorwiegend mit den Schwerpunkten Film und Literatur.
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