Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung am Arbeitsplatz vor dem Hintergrund der UN-Konvention für Behindertenrecht: Die aktuelle Beschäftigungssituation in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und ein Ausblick in die Zukunft
Zusammenfassung
Um keine rechtliche Analyse zu machen, wird der Fokus auf etwas Konkreteres gelegt und der Aufbau der Werkstätten auf ihre soziale Bedeutung und ihre Funktion für die gesellschaftliche Inklusion geistig behinderter Menschen untersucht. Es wird die aktuelle Situation der Beschäftigung geistig behinderter Menschen in Werkstätten beleuchtet und dabei werden verschiedene Kritikpunkte herausgestellt. So sind die Werkstätten zum Beispiel nach wie vor die dominierende Form der Beschäftigung dieses Personenkreises und es mangelt an Alternativen, die dem heutigen Konzept der Inklusion entsprechen. Eigentlich müsste mehr dafür getan werden, die Beschäftigung in einem inklusiven Umfeld zu fördern, da die Werkstätten ihrer eigentlichen Aufgabe - der Förderung des Übergangs auf den allgemeinen Arbeitsmarkt - nur ungenügend nachkommen und die jährlichen Übergangsquoten erschreckend gering ausfallen.
Nach der Darlegung der aktuellen Situation wird das Recht auf Arbeit nach der UN-Konvention für Behindertenrecht kritisch untersucht. Dabei wird insbesondere den § 27 der Konvention in Bezug auf Werkstätten kritisch hinterfragt und versucht, einen vorsichtigen Ausblick auf die mögliche, kommende Entwicklung zu geben. Auch hier werden diverse Kritikpunkte herausgearbeitet, sowohl bei der Formulierung der UN-Paragraphen als auch bei der geplanten Umsetzung, und ein vorsichtiger Ausblick auf die kommende Entwicklung gegeben.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2. Teilhabe und Arbeit bei Behinderung
In diesem Kapitel werde ich werde ich den Begriff der Teilhabe im Kontext von Hilfeleistungen für Menschen mit Behinderung und anschließend den Begriff der Arbeit aus soziologischer Sicht definieren und dabei vor allem herausstellen, was Arbeit für Menschen mit Behinderung bedeutet und wie Teilhabe am Arbeitsleben definiert und realisiert wird.
Ich werde mich auf die soziologische Definition von Arbeit beschränken, da Arbeit aus zahlreichen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und dementsprechend verschieden definiert werden kann – sei es rechtlich, pädagogisch oder soziologisch. Ich werde mich dabei auf die soziologische Definition beschränken, da diese zum Ausdruck bringt, was Arbeit für die Gesellschaft wie für den Einzelnen bedeutet. Daraus werde ich dann ableiten, inwiefern die Teilhabe am Arbeitsleben, die in den Werkstätten geleistet wird, aus soziologischer Sicht zufriedenstellend ist.
2.1 Teilhabe, Integration und Inklusion
Der Begriff der Teilhabe wird im Bereich der Sozialen Arbeit in verschiedensten Zusammenhängen verwendet, sei es als übergeordnetes Ziel oder als konkrete Hilfeleistung. Doch so einfach und einleuchtend der Begriff auf den ersten Blick scheinen mag, so schwierig ist es dann doch, genauer zu definieren, was damit eigentlich gemeint ist. Denn tatsächlich handelt es sich dann doch um einen reichlich abstrakt und allgemein gefassten Begriff. Ursprünglich war der Begriff auch tatsächlich eher philosophisch als praktisch geprägt (vgl. Pöld-Krämer 2007), erst im Laufe der Zeit wurde er dann konkreter ausformuliert.
Versucht man zunächst einmal zu definieren, was Teilhabe eigentlich meint, so ist dies schon eine höchst anspruchsvolle Aufgabe. Teilhabe kommt von Teilnehmen und Teilhaben an etwas. Rein rechtlich gesehen meinte Teilhabe schon immer die Teilnahme an der Gesellschaft; vor dem Gesetz sind alle Mitglieder einer Gesellschaft Teilhaber (vgl. Welti 2005). Es kommt zudem selten bis nie vor, dass mit den Begriff der Teilhabe nicht auch die Begriffe „Integration“ oder „Inklusion“ in Verbindung gebracht werden. Inklusion ist dabei der modernere der beiden Begriffe, der heutzutage häufiger angewandt wird, während der Begriff der Integration als veraltet gilt. In Folgenden werde ich deshalb versuchen, diese beiden Begriffe kurz zu definieren. Auch hier kann man verschiedene Wege der Definition anwenden, sei es aus pädagogischer oder soziologischer Sicht, wobei ich mich auf die soziologische Definition beschränken werde, da die pädagogische Definitionsweise mehr auf die konkrete pädagogische Arbeit bezogen ist, die soziologische Sichtweise hingegen auf die theoretischen Konzepte zur Umsetzung.
- bedeutet der soziologischen Definition nach, dass eine Minderheit oder Randgruppe den Normen und Lebensweisen der Mehrheitsgesellschaft angepasst werden soll (vgl. Fachlexikon der sozialen Arbeit 2007). Diese Sichtweise zeigt bereits, warum der Begriff heute zutage als veraltet angesehen werden kann, da es sich mehr um eine Form der Anpassung und Unterwerfung handelt, zudem wird auch impliziert, dass die Gruppe der Minderheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft als eigene Gruppe erhalten bleibt, aber keine wirklicher Austausch und keine Vermischung stattfindet. Da es heutzutage jedoch darum gehen soll, Vielseitigkeit und Unterschiedlichkeit zu fördern, stellen pädagogische und soziologische Konzepte zum Umgang mit Minderheiten heute wesentliche eher Dialog und Diversität in den Mittelpunkt. In Bezug auf die Arbeit mit behinderten Menschen bedeutet dies zum einen, dass die Zusammenarbeit und das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung gefördert werden soll, und zum anderen, dass Menschen mit Behinderung nicht bloß Mitglieder der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft sein sollen, sondern auch auf ihre Bedürfnisse abgestimmt inkludiert und gefördert werden sollen. Da dies jedoch mehr bedeutet als Integration, wird der Begriff und das Leitbild der Integration heute immer öfter von dem der Inklusion abgelöst.
- hingegen bedeutet wesentlich eher als Integration Einbeziehung und Zugehörigkeit, was auch schon im Wort zum Ausdruck kommt, das vom lateinischen „inclusio“ („Einschluss“) abgeleitet wurde. In einer inklusiven Gesellschaft sind alle Menschen unabhängig von äußerlichen Merkmalen wie Geschlecht, Ethnizität, körperlicher Verfassung und Intelligenz als gleichberechtigte Mitglieder akzeptiert und werden in ihrer Verschiedenheit gefördert (vgl. Niehoff 2007). Schon der Systemtheoretiker Luhmann ersetzte in seinen Theorien von Gesellschaft Integration durch Inklusion und beschrieb Inklusion als das spezifische Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft (vgl. Wansing 2005). Es wird in inklusiven (im Gegensatz zu integrativen) Gruppen nicht mehr zwischen verschiedenen Einzelgruppen unterschieden, sondern nur noch eine homogene Gruppe gesehen, die ihre Mitglieder in ihrer Verschiedenheit wahrnimmt und dabei als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert und fördert. Zudem wird neben der institutionellen zunehmend auch die emotionale und soziale Ebene des Zusammenlebens wahrgenommen (vgl. Hinz, ohne Jahreszahl). Auch die UN-Behindertenrechtskonvention greift, wie später weiter ausgeführt werden wird, den Begriff der Inklusion auf und fördert die Rechte von Menschen mit Behinderung unter dem Leitbild der Inklusion statt Integration.
Das Inklusionskonzept mag einem freilich als eine sehr stark beschönigende Idealvorstellung vorkommen, weshalb man es sich eher als Vision und Leitbild vorstellen kann. In Bezug auf die Arbeit mit behinderten Menschen hat dies zur Folge, dass Sondereinrichtungen nach dem Leitbild der Inklusion zumindest in Frage zu stellen sind und deshalb die Zukunft der Behindertenhilfe stattdessen in inklusiven Einrichtungen erfolgen sollte, um zu ermöglichen, dass die gesamte Biographie behinderter Menschen in gemeinsamen Einrichtungen mit Menschen ohne Behinderung stattfinden kann, angefangen bei inklusiven Kindergärten und Schulen über geneinsame Arbeitsplätze bis hin zu gemeinsamen Wohneinrichtungen. Dem steht in der Realität jedoch das nach wie vor dominierende, etablierte System der stationären Sondereinrichtungen gegenüber; zudem ist die Beschäftigtenzahl in den Werkstätten seit Jahren steigend, weshalb anzunehmen ist, dass sich das Werkstattwesen in den kommenden Jahren eher noch weiter ausdifferenzieren wird. So ist alleine in den vergangenen drei Jahren die Zahl der Beschäftigten von 277.201 im Jahr 2009 auf 284.884 im Jahr 2010 und 291.711 im Jahr 2011 gestiegen (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. 2011).
Benachteiligten und ausgeschlossenen Menschen Teilhabe zu ermöglichen, war und ist eines der Hauptanliegen der Sozialen Arbeit. Beruhend auf Studien und Theorien sozialer Ungleichheit, nach denen es in einer Gesellschaft immer soziale Unterschiede und Ungleichheiten gibt, wovon Randgruppen besonders betroffen sind, ist es die Aufgabe, Teilhabe von Menschen, die von der Gesellschaft aus welchen Gründen auch immer exkludiert wurden, wiederher- und sicherzustellen (vgl. Wansing 2005). Dennoch gibt es in der Sozialen Arbeit keine einheitliche Definition von Teilhabe. Was mit dem Begriff gemeint ist und wie er umgesetzt wird, ist zunächst einmal davon abhängig, in welchem Bereich der Sozialen Arbeit man sich befindet. So wird der Begriff der Teilhabe nicht nur im Bereich der Behindertenhilfe angewandt, sondern beispielsweise auch im Bereich der Armen-Fürsorge (vgl. Pöld-Krämer 2007). Grundsätzlich sind Teilhabe-Leistungen dort nötig, wo Personengruppen aufgrund spezifischer Risikofaktoren gesellschaftliche Ausgrenzung und damit Exklusion droht. Da Behinderung zu den Hauptrisikofaktoren gesellschaftlicher Exklusion zählt (vgl. Wansing 2005), bedarf es hier besonders sensibler und ausgefeilter Konzepte, um Teilhabe zu ermöglichen und sicherzustellen. Die Hilfeleistungen der Behindertenhilfe sind deshalb darauf ausgerichtet, die behinderungsspezifischen, verminderten Teilhabemöglichkeiten zu kompensieren und dadurch Teilhabe zu ermöglichen. Auch im Sozialgesetz ist Behinderung deshalb definiert als Einschränkung von Teilhabemöglichkeiten (§ 2 SGB IX), die durch Rehabilitations- und Teilhabeleistungen des sozialen Systems auszugleichen sind.
Die Leistungen zur Teilhabe lassen sich dabei in verschiedene Kategorien unterteilen:
- Das eine sind ganz praktische Probleme, die deshalb als praktische Teilhabe zusammengefasst werden, wie etwa die Unerreichbarkeit von Orten, die nur über eine Treppe zu erreichen sind für Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, oder auch die Frage, ob immer genug Behindertenparkplätze oder barrierefreie Fluchtwege vorhanden sind. In diesen Fällen kann man die Teilhabemöglichkeiten durch Barrierefreiheit verbessern, die dazu beiträgt, dass für Menschen mit Behinderung z.B. nicht nur ein Treppenhaus, sondern auch ein Fahrstuhl zur Verfügung steht. Doch Barrierefreiheit ist nicht nur auf räumlich-physikalische Probleme bezogen, sondern auch auf kognitive. So gibt es etwa das Problem, dass viele Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nicht oder kaum lesen können und deshalb auf einen Vorleser angewiesen sind oder geistig nicht in der Lage sind, schwierige Texte zu verstehen und deshalb einfache Erklärungen benötigen. Hierfür gibt es Barrierefreiheit in Schriftform, die bedeutet, dass für geistig behinderte Menschen oder Analphabeten Texte durch Bilder verständlich gemacht werden oder es zusätzlich einen vereinfachten Text gibt.
- Daneben gibt es aber noch weitere Formen der Teilhabe, die schon wesentlich komplexer sind, nämlich die Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe.
Darunter fallen alle Hilfeleistungen, die über die rein physikalische Barrierefreiheit hinausgehen und die soziale Inklusion des behinderten Menschen in die Gesellschaft fördern sollen. Was darunter zu verstehen ist und wie genau dies zu geschehen hat, ist schwer zu definieren. Man möchte behinderten Menschen Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen, doch was ist eigentlich gesellschaftliche Teilhabe? Gemäß der heutigen Inklusionstheorien soll möglichst das Miteinander aller Gesellschaftsmitglieder gefördert werden. Können Sondereinrichtungen wie Wohnheime und Werkstätten, die Menschen mit Behinderung ja immer noch von der Gesellschaft weitgehend abgrenzen, überhaupt gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen? Diese Fragen werden in der Behindertenhilfe heute kontrovers diskutiert.
Diese gesellschaftliche Teilhabe kann man dann noch einmal unterteilen in weitere Unteraspekte, die man in zwei Hauptkategorien unterteilen kann:
- Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
und
- Teilhabe am Arbeitsleben.
Unter Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sind alle Hilfeleistungen zu verstehen, die die Inklusion behinderter Menschen außerhalb des Arbeitsbereichs fördern, also etwa Angebote der Bildung, Freizeit, usw.. Dabei gehen die beiden Begriffe bis zu einem gewissen Grad ineinander über, denn Arbeit gilt als „wesentliche[r] Aspekt für gesellschaftliche Teilhabe“ (Kühn/Rüter 2008: 13). Über Arbeit wird auch die Freizeit und der Zugang zur Erwachsenenbildung und die soziale Interaktion gestaltet und gefördert (vgl. Fischer/Heger/Laubenstein 2011). Teilhabe am Arbeitsleben ist somit auch ein wichtiger Beitrag zur gesellschaftlichen Teilhabe; wer nicht am Arbeitsleben teilhaben kann, dem droht die gesellschaftliche Exklusion (vgl. ebd.).
2.2 Historische Ansichten zur Teilhabe behinderter Menschen
Da Behinderung rechtlich und soziologisch als Einschränkung von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten gesehen wird, ist es die Aufgabe der Behindertenhilfe, Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Dies gibt der Sozialen Arbeit mit behinderten Menschen zudem ein klares Ziel vor: Während in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit oft Unklarheit über das genaue Ziel der Arbeit herrscht, so ist hier die Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe zum Ausgleich der behinderungsbedingten Einschränkungen von Teilhabemöglichkeiten als Zielvorgabe klar definiert. Die Ansichten darüber, wie dies geschehen soll und was dabei unter Hilfeleistungen und Partizipation respektive Teilhabe genau zu verstehen ist, haben sich im Laufe der Zeit mehrfach geändert. Im Folgenden werde ich kurz die unterschiedlichen Bedeutungen von Teilhabe in Rahmen der Behindertenhilfe darstellen. Dabei soll es weniger darum gehen, die historische Entwicklung aufzuzeigen, sondern lediglich aufzuzeigen, wie sich die verschiedenen Ansichten zur Teilhabe im Laufe der Zeit verändert haben.
Vom Anbeginn der Geschichte bis etwa zum Zweiten Weltkrieg gab es keinerlei ernsthafte Konzepte für die Teilhabe von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Über die Jahrhunderte hinweg lebten sie in ihrem Familien und ab dem Mittelalter immer häufiger auch in Zucht- oder Arbeitshäusern und später in Pflegeheimen. An die gesellschaftliche Inklusion dieser Menschen war damals noch lange nicht zu denken, sie hatten lediglich ihren Familienverband als soziales Umfeld. Wenn überhaupt gab es erst ab der Renaissance und dem damit verbundenen humanistischen Denken erste Überlegungen, dass auch behinderte Menschen in ihrer Würde geachtet werden müssen und man diesem Personenkreis Hilfeleistungen anbieten müsse, was im 17. Jahrhundert zu den ersten stationären Hilfs- und Pflegeeinrichtungen führte (vgl. Scheibner 2000). Konzepte zur gesellschaftlichen Teilhabe oder gar zur Erwerbsarbeit gab es aber nicht, stattdessen wurden Menschen mit geistiger Beeinträchtigung weiterhin ausgesondert, und die Hilfeleistungen beschränkten sich auf Pflegeleistungen. Im Dritten Reich wurde schließlich dafür gesorgt, Menschen mit Behinderung aus der Gesellschaft zu entfernen durch die massenhafte Zwangssterilisierung und schließlich die systematische Ermordung im Rahmen des Euthanasie-Programms. Deshalb beginnt die Entwicklung ernsthafter Konzepte zur Partizipation und Teilhabe behinderter Menschen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein erstes konkretes Konzept zur Gleichbehandlung und Integration von Menschen mit Behinderung war das Normalisierungsprinzip, das bereits 1959 von dem dänischen Juristen Niels Erik Bank-Mikkelsen entwickelt wurde und in Dänemark und Schweden, später auch in den USA Verbreitung fand. In Deutschland sorgte dieses Konzept erst ab den 1980er Jahren für ein allmähliches Umdenken (vgl. Schlummer/Schütte 2006). Es war speziell auf Menschen mit geistiger Behinderung zugeschnitten und forderte, wie bereits der Name deutlich macht, eine „Normalisierung“ der Lebenssituation geistig behinderter Menschen, indem ihnen ein möglichst „normales“ Leben ermöglicht werden sollte, was einen normalen Tagesablauf, Jahreszeitenwechsel, Jahres-Rhythmus usw. umfasste. Anders als häufig kritisch angemerkt wird, war der Gedanke des Normalisierungsprinzips dabei nicht eine Anpassung an einen bestimmten, als „normal“ empfundenen gesellschaftlichen „Mainstream“, sondern lediglich eine Angleichung der Lebensbedingungen und -voraussetzungen. Teilhabe sollte dem Normalisierungsprinzip zufolge also durch die „Normalisierung“ bzw. Angleichung von Lebensverhältnissen realisiert werden, wobei sich die Normalisierung ausdrücklich auf Lebensverhältnisse und nicht auf Personen bezog (vgl. u.a. Wansing 2005, Schlummer/ Schütte 2006). Auch wenn das Normalisierungsprinzip einen zweifelsohne sehr richtigen und wichtigen Ansatz darstellte und seine Gedanken bis heute diskutiert werden, gilt es heute dennoch als eher überholt, da zum einem die Konzeption der „einheitlichen“ Lebensführung im Zuge zunehmender Individualisierung von Lebensverhältnissen als immer weniger zeitgemäß gilt und es zunehmend schwer fällt, zu definieren, was für einem Menschen eigentlich ein „normaler“ Tagesablauf oder „normale“ Lebensverhältnisse sind. Zum anderen beinhaltet der Begriff auch eine stigmatisierende und diskriminierende Wirkung, da er impliziert, dass die üblichen Lebensverhältnisse behinderter Menschen nicht als „normal“ angesehen werden, was mit dem heutigen Gedanken der Inklusion, in der alle Gesellschaftsmitglieder gleich behandelt werden, zunehmend schwer vereinbar ist. Deshalb wird heutzutage anstelle von Normalisierung immer öfter der Begriff der „Gleichstellung“ verwendet. Gleichstellung wird zunehmend zu einem bestimmenden Begriff der Behindertenpolitik und zeigt den Paradigmenwechsel weg von der defizitorientierten, auf Unterschiede zwischen Personengruppen zielenden Perspektive hin zur Anerkennung von allen Mitgliedern einer Gesellschaft als gleichberechtigte Teilhaber. Neben der Chancen-gleichheit zielt Gleichstellung auch auf die Beseitigung von Unterschieden und damit auch auf die Beseitigung von Diskriminierung und Ungleichbehandlung ab (vgl. Baer 2007). Damit einher geht auch der Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion, der die Gleichstellung anerkennt und auf die Beseitigung von Unterschieden und Benachteiligungen ausgerichtet ist.
Im Jahr 2001 erschien eine neue, seitdem gültige Definition von Behinderung und Teilhabe durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die den Begriff von Behinderung neu definiert und zu einem „Verständniswandel“ (Wansing 2005: 79) beigetragen hat. Die WHO veröffentlichte 2001 die „International Classification of Function, Disability and Health“ (ICF), die den Nachfolger der 1980 erschienen „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“ (ICIDH) darstellt und den Begriff der Behinderung im Vergleich zum Vorgänger gänzlich neu definiert. Neu ist vor allem, dass es im Gegensatz zum Vorgänger-Konzept erstmals ein für alle Behinderungsarten übergreifendes Gesamtkonzept gibt, um Behinderungen zu klassifizieren und objektivierbar zu machen. In diesem Zusammenhang hat sich auch die Sicht auf Behinderung geändert – während in der ICIDH noch eine wesentlich defizitorientiertere Sicht auf Behinderung zu finden war, hat sich die Perspektive nun gewandelt, und die Ressourcen-Orientierung steht im Mittelpunkt, was auch schon im Namen zum Ausdruck kommt. Behinderung wird mit der ICF nicht mehr als Zuschreibung spezifischer Defizite definiert, sondern als Zusammenspiel individueller Möglichkeiten und Kontextfaktoren unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen und Umwelteinflüssen. Die zentralen Elemente dabei sind Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Konkret wird zwischen den Dimensionen Körperstrukturen (anatomische Teile des Körpers), Körperfunktionen, Aktivität und Teilhabe unterteilt und auch die sogenannten Umweltfaktoren, also das gesamte Umfeld des behinderten Menschen, berücksichtigt. Behinderung wird nun als Zusammenspiel negativer Kontextfaktoren beschrieben (vgl. u.a. Schlummer/Schütte 2006, Wansing 2005). Der Teilhabe kommt dabei hohe Bedeutung zu. Teilhabe wird in der ICF nun als „Einbezogen-sein in eine Lebenssituation“ („involvement in a life situation“) definiert; Behinderung wird infolgedessen als Defizit von Teilhabe konstruiert (vgl. Welti 2005). Behinderung ist demzufolge eine Beeinträchtigung der Möglichkeiten der Teilhabe an der Gesellschaft. Die Sozialgesetzgebung hat deshalb das Ziel, Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, was auch bereits im §1 des SGB IX verankert ist (vgl. Welti 2005). Die Einrichtungen der Behindertenhilfe sind demnach Einrichtungen, deren Auftrag es ist, Menschen mit Behinderung Teilhabe zu ermöglichen. Insgesamt wird Behinderung damit nicht mehr als Grundlast eines Menschen angesehen, sondern als Zuschreibungsprozess. Es handelt sich nicht mehr um einen passiven Zustand, sondern um einen aktiven Prozess – man ist nicht, sondern wird vielmehr behindert. Dies dient auch der Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung – durch die neue Definition soll die Sicht stärker auf die behinderungsbedingten Benachteiligungen der betroffenen Menschen gelegt werden und dadurch Menschenrechtsverletzungen vorgebeugt werden (vgl. Rothfritz 2010). Im Zuge dessen findet auch beim Prinzip der Hilfeleistungen für behinderte Menschen seitdem ein Paradigmenwechsel statt: Anstelle von bloßer „Förderung“ in Form von defizitorientierten Hilfeleistungen steht zunehmend das Leitbild der Selbstbestimmung der Klienten im Vordergrund, was zur Folge hat, dass die Entscheidungs- und Mitbestimmungsrechte sowie die Auswahlmöglichkeiten der Klienten gestärkt werden. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention fördert diesen Ansatz und stellt die individuelle Förderung und Achtung behinderter Menschen in den Mittelpunkt. Inwiefern dies jedoch in der Realität wirklich umsetzbar ist und umgesetzt wird, wird im weiteren Verlauf der Arbeit dargestellt.
Die UN-Behindertenrechtskonvention enthält allerdings keine konkrete Definition von Behinderung. Sie lehnt sich bei ihrer Sicht auf Behinderung aber eng an das soziale Modell von Behinderung nach der ICF an und sieht Behinderung als dynamischen Prozess und nicht mehr als defizitorientierten, medizinisch definierten Zustand (vgl. Demke 2011).
2.3 Die Funktion und Bedeutung von Arbeit
Im Folgenden werde ich kurz definieren, was Arbeit im Kontext von Behinderung und Teilhabechancen bedeutet. Ich werde mich auf die soziologische Sichtweise beschränken, da diese die Bedeutung von Arbeit für den Menschen als Individuum, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes zu beschreiben. Darauf aufbauend werde ich dann erklären, inwieweit die Beschäftigung in Sondereinrichtungen der eigentlichen Bedeutung von Arbeit wirklich entspricht.
„Arbeit“ ist ein Begriff, der einerseits jedermann geläufig ist und der, wenn man einmal überlegt, was darunter genau zu verstehen ist, dennoch schwer zu definierten ist. Man kann ihn, abhängig vom wissenschaftlichen Blickwinkel, auf nahezu jede erdenkliche Weise erklären, sei es aus rechtlicher, soziologischer, pädagogischer, betriebswirtschaftlicher, ethischer oder physikalischer Sicht. Hinzu kommt, dass es sich um einen hochgradig subjektiven, nie vollständig objektivierbaren Begriff handelt, dessen Definition und Auslegung auch immer „von der jeweiligen Realität eines Menschen“ (Fischerauer 2005: 3) abhängig ist. Zudem unterliegt Arbeit auch immer einer natürlichen Evolution durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungen, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen und damit auch auf die Bedeutung und das Verständnis von Arbeit hatten. Ich werde mich im Folgenden auf die aktuelle Sichtweise beschränken, die den gängigen Definitionen entspricht, aber vielleicht in einigen Jahren auch schon wieder als überholt gelten kann, insbesondere im hier dargestellten Kontext des Arbeitsfeldes der Werkstätten für behinderte Menschen, da durch die UN-Konvention und andere Reformversuche vielleicht auch schon bald hier Arbeit anders definiert werden kann.
2.3.1 Arbeit als (Erwerbs-)Tätigkeit
Arbeit ist auch im soziologischen Kontext keinesfalls eindeutig definiert. Es finden sich vielerorts gängige Kurzdefinitionen, die Arbeit beispielsweise als „zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste, körperliche und geistige Tätigkeit“ (Gabler Wirtschaftslexikon (Hrsg.) 2011) oder auch als „zweckgerichtete, verstandesgeleitete menschliche Tätigkeit, die […] dem Erwerb des Lebensunterhalten dient“ (Promberger 2008) beschreiben. So abstrakt diese Definitionen auch klingen mögen, so steckt dennoch bereits vieles darin, das hilfreich ist, sich von dem Begriff ein Bild zu machen. So wird in beiden Erklärungsansätzen impliziert, dass Arbeit einen speziellen Zweck und ein spezielles Ziel verfolgt. Zudem geht die zweite Definition noch weiter und erweitert den Begriff um den Aspekt des Lebensunterhalts. In der Tat wird in der Soziologie davon ausgegangen, dass ein sehr wichtiger Aspekt der Arbeit auch der Erwerb des Lebensunterhaltes ist, was eigentlich alle Tätigkeiten, die nicht bezahlt werden, wie etwa ehrenamtliche Arbeit, ausschließt. Natürlich kann man auch nicht bezahlte Tätigkeiten als „Arbeit“ definieren, weshalb zur Abgrenzung zu nicht bezahlten Tätigkeiten auch von Lohnarbeit oder Erwerbsarbeit die Rede ist. Zudem muss man auch den Begriff „Lebensunterhalt“ differenziert betrachten, denn dabei kann unterschieden werden zwischen dem Erwerb von überhaupt irgendeiner Form von Lohn, aber auch von so viel Lohn, dass man damit auch wirklich seine Lebenshaltungskosten decken kann. Mit Lebensunterhalt ist dabei letzteres gemeint. Lebensunterhalt bedeutet das Erwirtschaften von ausreichend Geld, um seine Lebenshaltungskosten decken zu können.
Des Weiteren erwirtschaftet man nicht nur für sich selbst den Lebensunterhalt, sondern trägt auch dazu bei, die Wirtschaftsleistung des Arbeit gebenden Unternehmens und der gesamten Volkswirtschaft zu steigern, denn „Arbeit ist in allen Kulturen die Grundlage der Ökonomie“ (Giddens, zit. nach Fischerauer 2005). Daran ist bereits deutlich die Doppelfunktion der Arbeit und der Kreislauf der Wirtschaft sichtbar, denn Arbeit dient sowohl dem Individuum als auch der Gesellschaft.
Dennoch gilt Arbeit trotz ihrer großen Bedeutung für den Menschen nicht als grundsätzlich positiv belegt, sondern der Begriff ist auch immer mit negativen Folgen wie Mühe, Anstrengung, Stress, Erschöpfung, etc. verbunden (vgl. u.a. Aßländer 2005).
2.3.2. Die soziale Bedeutung von Arbeit
Es besteht Konsens darüber, dass Arbeit neben der Selbstverwirklichung und dem Erwerb von Lebensunterhalt auch eine soziale Funktion hat und maßgeblich dazu beiträgt, auch die Sozialisation des Arbeitenden zu fördern. Dabei geht die soziale Funktion der Erwerbsarbeit über die bloße soziale Integration in die Gruppen der Arbeitskollegen und die Kommuni-kation mit Vorgesetzten oder Kunden weit hinaus: Sowohl das Selbstwertgefühl als auch die soziale Anerkennung werden durch den Beruf und den daraus resultierenden sozialen und ökonomischen Status maßgeblich beeinflusst (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon 2011), manche reden gar davon, dass „Arbeit […] nicht nur die Voraussetzung für materiellen Wohlstand [bildet], sondern [sie] wird selbst zum Ausweis des tugendhaften Lebens und bildet die Grundlage der vollwertigen bürgerlichen Existenz“ (Aßländer 2005: 31) und dass „Arbeit heute ein lebensnotwendiger Bestandteil unseres kulturell und gesellschaftlich gewachsenen Daseins“(Fischer/Heger/Laubenstein 2011: 7) ist. Auch hier wird deutlich, wie sehr das gesellschaftliche Ansehen und die gesamte Sozialisation des Individuums von der Arbeit geprägt werden.
Bezieht man die soziale Bedeutung von Arbeit im Hinblick auf Sicherung des Lebens-unterhalts und Erwerb von Status nun auf Menschen mit geistiger Behinderung, so ist davon auszugehen, dass Arbeit für Menschen mit Behinderung in Vergleich zu Menschen ohne Behinderung grundsätzlich von gleich großer Bedeutung ist, da für jeden Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, der Erwerb des Lebensunterhalts wichtig ist. Auch ist anzunehmen, dass die meisten Menschen mit Behinderung grundsätzlich gerne arbeiten (vgl. Hirsch/Kasper 2010). Für Menschen mit und ohne Behinderung ist ihr Arbeitsplatz ein wichtiger Ort der Sozialisation, an dem soziale Kontakte geknüpft und gepflegt werden. Es kann jedoch durchaus angenommen werden, dass Arbeit für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eine mindestens ebenso große, tendenziell vielleicht sogar noch größere Bedeutung hat (vgl. Kühn/Rüter 2008), sei es, weil die Möglichkeit der Selbstverwirklichung für behinderte Menschen bei der Arbeit besonders groß ist, da sie es aufgrund ihrer geistigen Defizite schwerer haben, sich selbst zu verwirklichen, sei es, weil durch die nicht immer gegebene Barrierefreiheit ihre gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten in ihrer Freizeit eingeschränkt sind, was die Bedeutung des Arbeitsplatzes als Ort der sozialen Interaktion erhöht.
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Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783863418793
- ISBN (Paperback)
- 9783863413798
- Dateigröße
- 283 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Kassel
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Schlagworte
- UN behindert Arbeitsrecht WfbM Behinderung