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Vom Sinn der Sehnsucht: Michel Houellebecq - Les particules élémentaires: Zerrbild oder Zeitbild - Houellebecqs Elementarteilchen

©2008 Bachelorarbeit 41 Seiten

Zusammenfassung

Einem Werk, das die Öffentlichkeit in einem solchen Maße zu spalten vermochte, wie es Michel Houellebecqs Roman 'Les particules élémentaires' beschieden war, muss ein Kern innewohnen, der den Menschen betroffen macht, der ihn zum Nachdenken bewegt und zum Weiterdenken animiert. Dementsprechend reicht die Spanne der Rezensionen in den wichtigsten Feuilletons von hymnischen Elogen über die Erneuerungsfähigkeit der französischen Literatur bis hin zu völlig entnervten Verrissen eines 'zweifellos misslungenen Buches'. Auch die in der Sekundärliteratur hergestellten Bezüge sind widersprüchlicher Natur. Diese Heterogenität des Urteils mag zunächst dahin gestellt bleiben - nur allzu oft ist das heute von den Kritikern geschmähte Machwerk der Geniestreich von morgen. Thematisch aufgenommen seien vielmehr verschiedene Aspekte der Betroffenheit, die durch die Lektüre, durch die Ängste und Hoffnungen der an dem Roman Beteiligten provoziert werden - beteiligt sind in diesem Sinne nicht nur die Figuren des Romans, sondern auch der Autor und seine Leser. Aufgenommen wird damit die Frage nach der Kraft, die die Romanfiguren handeln lässt, wie sie handeln, den Autor schreiben lässt, was und wie er schreibt, und die auch den Leser gefangen nimmt und zu einem je eigenen Erleben und Urteilen führt. Es wird gefragt nach der Kraft der Sehnsucht und der Rolle, die sie in Houellebecqs Roman einnimmt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Der Sehnsuchtsbegriff

2.1 Etymologie

Die Herkunft des Begriffes Sehnsucht ist unbekannt. Wenn der Bedeutung der einzelnen Komposita sehnen und Sucht nachgegangen wird, stößt man bei Letzterem auf den semantischen Einfluss des nicht verwandten Wortes suchen, sodass aus dem ’krankhaft gesteigerten Verlangen’ und dem ’intensiv finden wollen, nachforschen, erstreben’ das ’intensive Verlangen nach etwas’ wurde[1]. Die Bedeutung ’inniges schmerzliches Verlangen’ geht auf das mittelhochdeutsche sensuht als ursprünglich ’peinigende, schmerzliche Krankheit’ bzw. mittelhochdeutsch senesiech ’krank vor schmerzlichem Verlangen’ zurück.

2.2 Der Mythos des Aristophanes über die wahre Kraft des Eros

Ein Bild der Sehnsucht ist zweifelsohne das Eros-Modell, [2] welches Platon in seinem Symposion[3] aufzeigt. Anhand der Reden auf den Gott Eros, die bei diesem Gastmahl zu Ehren des Dichters Agathon gehalten werden, entwickelt Platon die Idee, nach der der Mensch von einer fundamentalen „Grundsehnsucht“[4] bestimmt ist, die sich im Streben nach dem Guten und Schönen äußert und daher als positive Motivationskraft zu sehen ist.

In der meisterhaften Komposition der sieben Reden, die einzeln durch Anspielungen miteinander verknüpft sind und zugleich im Ganzen ihren Höhepunkt in der letzten Rede finden, werden je nach Redner unterschiedliche Aspekte des Gottes Eros hervorgehoben.

Aristophanes greift als vierter Redner auf den für die vorliegende Thematik entscheidenden[5] Mythos von der radförmigen Urgestalt des Menschen mit vier Armen, vier Beinen und zwei Gesichtern zurück. Dabei habe es einst nicht nur Frau und Mann gegeben, sondern zudem noch ein drittes Geschlecht: Mann-Frau. Da diese Kugelwesen jedoch dem Mythos nach gegen die Götter revoltierten, wurden sie zur Strafe von Zeus in zwei Teile geschnitten. „Jeder Mensch heute sei nur eine Hälfte dessen, der er eigentlich sein müsste, und jeder habe nur ein Ziel im Leben: seine andere, ursprüngliche Hälfte wieder zu finden und so seine eigentliche Ganzheit zu erlangen.“[6] Die Aufgabe und Kraft des Eros bestehe nun darin, dem Menschen zu helfen, indem er die einzelnen Hälften in Liebe – und zwar je nachdem, ob ursprünglich Mann, Frau oder Mann-Frau in homo- oder eben heterosexueller Liebe – wieder vereint.

Die existentielle Sehnsucht, die den einzelnen Menschen treibt, ist das unbändige Verlangen nach dieser Ganzheit. Sie äußert sich in schmerzhaftem Mangel und Unzufriedenheit mit dem Ist-Zustand und nur derjenige, dem es gelingt, seine andere Hälfte zu finden, wird schließlich den tiefen Sinn des Eros gewahr: ein glückliches Leben zu führen.

2.3 Sehnsuchtsmodelle in der Psychologie

In der Psychologie hat der Begriff Sehnsucht keine eigenständige Definition, er wird lediglich in Zusammenhang mit einem Ziel oder einem Objekt gebraucht, dabei wird die Sehnsucht immer als Wirkkraft vorausgesetzt. Sicher ist, dass jeder Mensch verschiedene Sehnsüchte hat, die jeweils unterschiedlich zu charakterisieren sind und je nach Form (Trieb, Begehren, Streben) in verschiedenem Maße zusammenhängen[7].

2.3.1 Das Transzendenzmodell

Für viele moderne Tiefenpsychologen ist das Grundmodell des aktiven Sehnens das Verlangen des Säuglings nach der Brust, die Nahrung, Wärme, Behagen und Liebe spendet, und nach antwortender Beziehung der Pflegeperson zum Kleinkind.[8]

Das psychologische Äquivalent der Sehnsucht ist je nach Autor der Trieb, das Begehren oder das Streben. Spezifisch für diese Sehnsucht ist jeweils eine weitergehende Erwartung des Sehnenden, die nicht erfüllt wird, d. h. es bleibt immer ein Rest von Erwartung. Die Liebe vermag nicht die Perfektion zu erreichen, die die Liebenden in ihrer Phantasie vor Augen haben. Dies zeigt sich bereits im Bild des Säuglings und der Mutter und manifestiert sich in jeder Phase des Heranwachsens und der Sozialisation, auch in der Liebesbeziehung erwachsener Menschen. Immer gibt es den Wunsch nach einem Mehr, der nicht befriedigt wird und somit der Sehnsucht die Tür öffnet. Aus diesem Dilemma heraus besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass es zu pathologischen Konsequenzen der Sehnsucht kommen kann. „Die Zerstörungswut des privaten und gesellschaftlichen Terrors ist eine Wirkung der unbewussten Dynamik der Sehnsucht, die das Ersehnte herbeizwingen will.“[9] Psychologen wie Jacques Lacan sehen, wie Karl Heinz Witte weiter ausführt, eine Auflösung des Dilemmas lediglich gegeben, wenn es gelingt, den zumindest teilweisen Verzicht auf die Erfüllung der Sehnsucht zu praktizieren. Das dazugehörige Reflexionsniveau ist recht hoch und erfordert die Erkenntnis, „dass jede Erfüllung einen Rest unerfüllten Begehrens lässt, der wieder neu gemeint und verstanden werden kann.“[10] Es wird deutlich, dass hier ein regressus ad infinitum vorliegt, der das Verstehen in die Richtung auf ein Moment des Transzendenten verschiebt. Nur wer versteht, dass Liebe in dieser Welt immer nur menschliche Liebe und damit unvollkommene Liebe sein kann, wird in der Lage sein, zu lieben und geliebt zu werden, mit all der damit verbundenen Sehnsucht.

2.3.2 Das Modell der Ciszendenz

Karl Heinz Witte stellt in seinem Versuch einer tiefenpsychologischen Revision[11] dem transzendentalen Modell das Phänomen der Ciszendenz oder der ciszendentalen Erfahrung gegenüber.

Diese Namen bringen zur Erinnerung, dass wir das Leben niemals einholen, stellen und meistern können, wenn es uns nicht zuvor gegeben ist und zwar nicht nur in der anfänglichen Geburt, sondern auch in der je neu entspringenden Erfahrung unseres Selbstseins. Wir wachen auf und sind da. Wir werken und wirken, halten ein, kommen zu Besinnung und erwachen aus dem alltäglichen Verlorensein. Schon lange, bevor wir eine Beziehung eingehen, sind wir bereits bezogen.[12]

Was hier gemeint ist, ist eine Umkehr der Blickrichtung im Vergleich zu dem Modell des platonischen Eros-Denkens, das auf etwas hinstrebt. Zu Grunde liegt der Gedanke der biblischen Liebe Gottes, die der Liebe des Menschen vorausgeht. Liebe ist hier nicht die Folge eines bereits Geliebt-werdens, sondern umgekehrt erahnt der Mensch das Aufkeimen einer Liebe in sich, die möglicherweise Gegenliebe in dem anderen entzünden kann, in jedem Falle jedoch ein Geschenk ist. Nicht der Entschluss und der Wille des Menschen ist das Entscheidende, sondern die Aktivität des Menschen bleibt beschränkt auf die Annahme der Liebe.

Äußerlich ist das Bild, das der Mensch von den Liebenden wahrnimmt, das gleiche wie im platonischen Eros-Modell. Das Geschenk dieser Liebe kann durch den Teufelskreis der unreflektierten Sehnsucht im einen wie im anderen Falle zerstört werden, wenn nicht die Selbstbescheidung umgesetzt wird, wie Witte an seinem Beispiel des Paares verdeutlicht, das sich gegenseitig Erlösung schenken möchte, aber nicht den Punkt des Genügens findet.[13] Und doch gibt es einen Unterschied: Die Liebe, die als Geschenk empfangen wurde, soll von der Möglichkeit der Wiedergutmachung ausgehen, von der Annahme, dass das Geschenk der Liebe durch die eigenen Fehler nicht zerstört wird. Das Geschenk ist eben kein Verdienst, sondern ein Geschenk. Es entstammt bereits einer qualitativ anderen Instanz, deren Charakter am ehesten mit dem Hinweis auf die göttliche Gnade beschrieben werden kann.

2.4 Hinführung zum Sehnsuchtsbegriff in Auseinandersetzung mit Houellebecq

Im Zentrum des houellebecqschen Romans steht das Problem der menschlichen Egozentrik und in deren Folge die Auflösungserscheinungen der Urzelle der Gesellschaft, der Familie, und der Gesellschaft selbst in ihrem sozialen Gefüge. Das entworfene Bild der westlichen Wohlstandsgesellschaft, Ausgangspunkt dabei das Jahr 1968, ist ein Frontalangriff auf eben jene vom Gedanken an die Freiheit des Individuums geprägte Gesellschaft. Diese Idee hat der Autor auch in seinem vorhergehenden Werk Extension du domaine de la lutte[14] schon postuliert; dort heißt es: « Si les relations humaines deviennent impossibles, c’est bien entendu en raison de cette multiplication des degrés de liberté […]. »[15] In Les particules élémentaires[16] wird nun die Lösung für das materialistische Zeitalter dargeboten: Der eugenisch neu gezüchtete Mensch, frei von allen sexuellen Trieben und individuellen Differenzen. Diese neue, genetisch manipulierte Art, nach Houellebecq von den Quellen des Unglücks ihrer Vorgänger befreit, kennt die Egozentrik und ihre Folgen nicht mehr. An die Stelle der zerstörerischen Individualität tritt reine Freude: « Maintenant que nous vivons dans la lumière, et que la lumière […] enveloppe nos corps, dans un halo de joie. »[17]

Das Grundübel des menschlichen Problems identifiziert Houellebecq in dem Triebleben des Menschen, in seinem evolutionären Erbe als Säugetier. Dem gegenüber stünde, konsequent weitergedacht, der Geist des Menschen als Teilhabe an der göttlichen Vernunft. Traditionellerweise wird das Triebleben mit einer Erdverbundenheit und niedrigem Genuss- und Machtstreben gleichgesetzt. Die Teilhabe am Göttlichen dagegen entspricht dem Streben nach dem Guten und Schönen, nach wahrer Liebe und ethischer Perfektion. Dement- sprechend kann dieses Kräfteverhältnis als ein Antagonismus angesehen werden, in dem sich die beiden Seiten gegenseitig behindern. Die Vernunft strebt nach reiner Liebe und nach Handlungsmaximen, die das Wohl des Mitmenschen beachten. Perfektion wird dem Menschen in dieser Hinsicht nie gegeben sein, da sich die Triebe, und sei es über das Unterbewusstsein, ihr Recht verschaffen. Vernunft und Bewusstsein sind letztlich nicht Herr im eigenen Haus. Umgekehrt wird das Ausleben der Triebe durch vernünftige Erwägungen unterbunden.

Da der Mensch unhintergehbar dieses Mischwesen aus Körper und Geist ist, sind diese beiden Seiten immer gleichzeitig präsent, wie in einer Melange sind immer beide Teile am Werk. Aus dieser Dichotomie vermag der Mensch nicht heraus zu gelangen. Er befindet sich in einem Dilemma, dessen Zerreißproben nicht selten an physische und psychische Grenzen stoßen, an denen das Moment der Sehnsucht nur zu deutlich zu werden vermag. Wohin diese Sehnsucht den einzelnen Menschen auch führen will, er fällt immer wieder auf sein Hybrid-Wesen aus Körper und Geist zurück.

Dass diese Abfolge der Gedankengänge durchaus auf der Linie Houellebecqs liegt, lässt sich durch den Brückenschlag zu Werner Heisenbergs Biographie Der Teil und das Ganze[18] zeigen, die bereits auf den ersten Seiten des Romans als Lieblingslektüre der Hauptfigur eingeführt wird, und deren philosophische und naturwissenschaftliche Sichtweisen im Verlaufe des Romans immer wieder in die Diskussionen einfließen. So z. B. finden sich bei Heisenberg, wenn auch in anderem Zusammenhang, die Gedanken des französischen Philosophen Malebranche zur Teilhabe des Menschen an der göttlichen Vernunft wieder.[19]

Im Laufe der folgenden Untersuchungen wird diese Herleitung des Sehnsuchtsbegriffs in enger Anbindung an die Romanfiguren und den Autor das Raster bilden, vor dem die Motive der einzelnen Handlungsstränge betrachtet werden.

3. Die Sehnsucht im Beziehungsgefüge von Autor und Werk

Die Diagnose Houellebecqs bezüglich des (Selbst-)Zerfalls der Gesellschaft ist unstrittig. Dass Houellebecq in seiner Deskription dieses Zerfalls zu radikalsten Mitteln greift, ist ebenso unbestritten. Eine radikalere Lösung als die, die Houellebecq in der Abschaffung der Menschheit anbietet, ist kaum vorstellbar. Bleibt die Frage, ob in der zu untersuchenden Sehnsucht Houellebecqs als Kraftfeld der Auseinandersetzung von Körper und Geist konstruktivere Werte verdeckt impliziert werden, als die angebotene Lösung in ihrer Negation bietet.

3.1 Sex vs. Liebe – Körperlichkeit vs. Geist

Neben einigen Randfiguren bringt der Roman sieben wichtige Personen zur Darstellung, deren nähere Betrachtung für den Handlungsstrang von Bedeutung ist. Houellebecq legt Wert darauf, die Abstammung und hervorragende Intelligenz Janine Ceccaldis, der Mutter der eigentlichen Hauptpersonen, zu vermitteln. Als junge Ärztin steigt sie früh aus dem Berufsleben aus und sieht ihr ganzes Ziel in der sexuellen Selbstverwirklichung, sie wird zu „einer radikalen Jüngerin der 68-er Ideale“[20]. Ihr erster Mann ist der nicht besonders gut aussehende, aber maskulin wirkende Arzt Serge Clément, der früh das kapitalistische System durchschaut und als Schönheitschirurg sehr viel Geld verdient. Er steht zum einen für das Bild des Ausbeuters der Gesellschaft und gleichzeitig für das Bild dessen, der die Gesellschaft manipuliert, der schließlich jedoch am Kapitalismus scheitert und Hab und Gut verliert.[21] Der zweite Ehemann ist der Filmemacher und Künstler Marc Djerzinski, der die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten sucht, für den Äußerlichkeiten wie Prominenz und Ruhm nicht von Bedeutung sind, der auch keinerlei Karrierebewusstsein zeigt und eher nach geistigen Werten sucht, sodass er am Ende als verschollen gilt, weil er wahrscheinlich nach Tibet, in die Welt des Dalai-Lama gegangen ist.[22] Der Sohn aus Janines erster Ehe ist Bruno Clément, der konsequenterweise von seiner Mutter die Extrovertiertheit und von seinem Vater das wenig an-sprechende Äußere und den maskulinen Drang geerbt hat. Durch den Selbstverwirklichungswahn seiner Mutter zunächst zu den Großeltern und dann ins Internat abgeschoben, erleidet Bruno starke Misshandlungen in jeder Hinsicht: sexuelle Misshandlungen, körperliche und geistige Gewaltanwendungen.[23] Bruno wird zu einem Lehrer, der zwar äußerlich die Sicherheit des Beamtentums genießt, innerlich jedoch von stärksten Selbstwertzweifeln geplagt wird und der im Grunde als sexueller Krüppel bezeichnet werden muss, der für ein normales Sexualleben verdorben ist.

Der Sohn aus der zweiten Ehe ist Michel Djerzinski, der ebenfalls durch das Ausleben der sexuellen Selbstverwirklichungen der Mutter zu verkommen droht, jedoch als Kleinkind von seinem Vater Marc zu dessen Mutter gebracht wird, um dem Kind ein Aufwachsen in geordneten Verhältnissen zu ermöglichen.[24] Michel hat von seinem Vater die Introvertiertheit und von beiden Eltern die hohe Intelligenz geerbt.[25] Früh wird deutlich, dass der Junge aus Literatur und Fernsehen die hohen Werte von Freundschaft und jeglichem Ethos verinnerlicht, dass er nach Harmonie in der Welt und mit der Welt strebt, ja das jegliche Gewaltanwendung ihm zuwider ist und zu frühen philosophischen Betrachtungen führt.[26] Ganz im Gegenteil zu seinem Bruder entwickelt sich Michel zu einem wenig sexuellen Menschen, für den Körperlichkeit eine untergeordnete Rolle spielt.

À cette règle, il convenait cependant de faire une exception dans le cas de son demi-frère ; le terme même de plaisir semblait difficile à lui associer ; mais, à vrai dire, Michel était-il mû par quelque chose ? Un mouvement rectiligne uniforme persiste indéfiniment en l’absence de frottement ou de l’application d’une force externe. Organisée, rationnelle, sociologiquement située dans la médiane des catégories supérieures, la vie de son demi-frère semblait jusqu’à présent s’accomplir sans frottement. Il était possible que d’obscures et terribles luttes d’influence se déroulent dans le champ clos des chercheurs en biophysique moléculaire ; Bruno en doutait, cependant.[27]

Dies zeigt sich früh in der Freundschaft zu der sechsten wichtigen Person, zu Annabelle, die in einer Art Gegenüberstellung zu der entfremdeten, zerstörer- ischen Welt als nahezu engelsgleich, klug und unwahrscheinlich schön dargestellt wird.[28] Michel genießt das eher platonische Zusammensein mit diesem schönen Wesen. Er übersieht, dass Annabelle auch ein sexuell attraktives Wesen ist, und verliert sie letztlich an andere Männer, die sie nur als Lustobjekt sehen.[29]

Die letzte Person in diesem Beziehungsgefüge ist Christiane, auf die Bruno in der Ferienanlage « le Lieu du Changement »[30] trifft, wo er seine sexuelle Sucht auszuleben versucht. Christiane sucht ihrerseits als verlassene Ehefrau eine sexuelle Erfüllung, die allerdings auch eine altruistische Seite zeigt. Sie findet einen Großteil ihrer eigenen Erfüllung in dem Lustgewinn des Partners:

[j’]aimais le sentir en moi. J’étais fière de provoquer ses érections, j’avais une photo de son sexe dressé, que je conservais tout le temps dans mon portefeuille ; pour moi c’était comme une image pieuse, lui donner du plaisir était ma plus grande joie.[31]

Aus der anonymen sexuellen Begegnung entwickelt sich langsam eine auch emotionale Beziehung. Bruno, der an solch eine Begegnung schon gar nicht mehr geglaubt hat[32], schafft es, sich Christiane völlig zu öffnen. Er erzählt zum ersten Mal jemandem von seiner Kindheit, der Zeit im Internat, der gescheiterten Ehe und seinem Job als Lehrer.[33] Christiane hört ihm aufmerksam zu, sie zeigt Verständnis und kann Bruno, der sich für nutzlos hält, beruhigen: « Tu n’as pas fait de mal… »[34]. Zudem kann sie seine sexuellen Phantasien und Begierden erfüllen.[35] Bruno fühlt sich gut, wenn er mit ihr zusammen ist, er verbringt nicht mehr träge ganze Wochen im Bett[36], sondern bereitet sich auf die Treffen vor, indem er aufräumt, Blumen kauft und seine Wohnung putzt.[37] « Ce qu’il éprouvait était étrange, très étrange: il respirait plus facilement, il restait parfois des minutes entières sans penser, il n’avait plus tellement peur. »[38] Ihr geht es ebenso. Sie plant Wochenendtrips für beide[39], und während sie zu Beginn auf ein Kompliment seinerseits mit einem eher schwachen « Je te crois. J’ai l’impression que tu es plutôt un homme gentil. Égoiste et gentil.»[40] reagiert, begegnet sie ihm nun völlig gerührt:

Il dit à Christiane : « Je crois que je suis heureux. » Elle s’arrêta net, la main crispée sur le bac de glace, et poussa une très longue expiration. Il poursuivit : « J’ai envie de vivre avec toi. J’ai l’impression que ça suffit, qu’on a été assez malheureux comme ça, pendant trop longtemps. Plus tard il y aura la maladie, l’invalidité et la mort. Mais je crois qu’on peut être heureux, ensemble, jusqu’à la fin. En tout cas j’ai envie d’essayer. Je crois que je t’aime. » Christiane se mit à pleurer.[41]

Sie lassen sich beide auf die Beziehung ein, es funktioniert. Sie scheinen zusammen, selbst bei ihren gemeinsamen Besuchen der Swinger-Clubs, dem gnadenlos narzisstischen Wettkampf der modernen Welt entkommen zu sein. Auf ihre Weise, wie sie für sich Sexualität und Sittlichkeit vereinen, leben sie glücklich miteinander. Es gelingt ihnen einen Weg zu finden, der das Nebeneinander von Sexparties und Familienleben nicht ausschließt.[42]

In Analogie zu diesem Paar wird aus Michel, der hier jedoch eher passiv bleibt, und seiner Jugendliebe Annabelle ebenfalls ein Paar. Selbst Michel, der stets versucht ist, (sich) alle Fragen theoretisch präzise zu beantworten und Dinge, die passieren, egal welcher Art, ebenfalls immer rein logisch zu erklären, – ja dem sein Bruder sogar eines Abends eröffnet, er sei gar kein Mensch[43] – selbst dieser Mann erlebt mit Annabelle etwas, an das er weder zuvor jemals gedacht hatte noch geglaubt hätte. Michel und Annabelle treffen sich zunächst ein-, zweimal die Woche, fahren dann über die Feiertage zusammen ans Meer, kochen, gehen spazieren und scheinen an dieses Glück nach langen Jahren der Einsamkeit manchmal kaum glauben zu können.

‘Je sais qu’il est bien tard, dit elle. J’ai quand même envie d’essayer. J’ai encore ma carte d’abonnement de train de l’année scolaire 74-75, la dernière année où nous sommes allés au lycée ensemble. Chaque fois que je la regarde, j’ai envie de pleurer. Je ne comprends pas comment les choses ont pu merder à ce point. Je n’arrive pas à l’accepter.’[44]

Michel, als ein durch und durch rationaler Mensch, bringt seine Gefühle für die schöne Annabelle nicht so deutlich zum Ausdruck. Anders als bei seinem Bruder bleiben seine Emotionen zumeist unausgesprochen und müssen dem Kontext entnommen werden: Gerne nimmt er sie in die Arme, streift eng umschlungen mit ihr durch Paris und fühlt sich wie an den Beginn der Welt versetzt, wenn er neben ihr einschläft.[45] Ja, es ist sogar davon die Rede, dass Michel und Annabelle Momente wie aus einer Parfumwerbung zusammen erleben.[46]

3.1.1 Die Sehnsucht bei Bruno Clément

Die Beschreibung der Sehnsucht Brunos beginnt in der Kindergartenzeit. Der Junge sehnt sich nach Liebe, er kann jedoch den Kranz aus Blättern für seine „petite préférée“[47] nicht flechten. Er ist schon hier zu ungeschickt, und weint vor Wut, weil er seinem Bedürfnis nach Nähe und Verbindung, für die der Ring (gleich Kranz) steht, nicht Ausdruck zu verleihen vermag. Schon dem Kleinkind kommt keine Hilfe von außen zu, die Welt (die Kindergärtnerin) ignoriert seine Sehnsucht.[48]

In seinem weiteren Werdegang wird er während seiner Internatzeit als das Omega-Tier bezeichnet, als das Letzte, als das Wertloseste, das in geradezu grotesker Weise körperlicher und geistiger Gewalt, insbesondere sexuellen Misshandlungen von Seiten seiner Mitschüler, ausgesetzt ist.[49] Hier darf eine Sehnsucht nach Erfolg in jeder Hinsicht vorausgesetzt werden, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Junge später Lehrer wird, der sich sogar über einen mentalen Sieg über einen Schüler freut.[50]

Weitere Misserfolgserlebnisse[51] in Sachen Zärtlichkeit und dem anderen Geschlecht gegenüber führen seine Entwicklung eindeutig Richtung Sexsucht und zur ausschließlichen Begierde nach reiner Körperlichkeit.[52] Dabei ist Bruno vor allem darauf aus, mit möglichst jungen Mädchen Sex zu haben. Seine Sehnsucht zielt auf die Jugendlichkeit: « Jusqu’au bout il souhaiterait vivre, jusqu’au bout il serait dans la vie, jusqu’au bout il se battrait contre les indices et les malheurs de la vie concrète et du corps qui décline. »[53] Diese Sehnsucht nach Körperlichkeit und Jugend geht so weit, dass er aus Hass und Neid[54] sogar ra-ssistische Pamphlete verfasst: « Nous envions et nous admirons les nègres parce que nous souhaitons à leur exemple redevenir des animaux, des animaux dotés d’une grosse bite et d’un tout petit cerveau reptilien, annexe de leur bite. »[55]

Sein Drang und die starke sexuelle Unerfülltheit zwingen ihn zu exhibitionist-ischen Aktionen in der Öffentlichkeit[56], und schließlich zeigt er sogar einer seiner fünfzehnjährigen Schülerinnen sein Glied, woraufhin ihn die Normen der Gesellschaft zum ersten Mal in die Psychiatrie zwingen.[57]

Überraschend findet Bruno die Geborgenheit, den Halt und das Verständnis, nach denen er sich sehnt, doch noch in der Beziehung zu Christiane. In ihr findet er eine gewisse Erfüllung. Plötzlich entpuppen sich all die früheren Probleme, Christiane hat die ersehnte Jugendlichkeit längst hinter sich gela-ssen[58], als sekundär:

En arrivant à l’étage il prit conscience qu’il était bronzé, en pleine forme, et que le situation était ridicule ; il prit également conscience qu’il s’en foutait. Ses collègues, leurs séminaires de réflexion, la formation humaine des adolescents, l’ouverture à d’autres cultures… tout cela n’avait plus la moindre importance à ses yeux. […] Christiane était importante.[59]

Doch diese Liebe, die, wie er erkennt, auch für ihn die einzige Möglichkeit darstellt, die innere Leere und Verlorenheit in einer kalten, konsumbestimmten Welt mit Sinn zu füllen, wird ihm auf tragische Weise genommen. Nachdem Christiane aufgrund einer fortgeschrittenen Nekrose im Wirbelsäulenbereich an den Rollstuhl gefesselt ist, bringt sie sich um und Bruno, dem sein Anteil an diesem Selbstmord sehr wohl bewusst ist, liefert sich nach diesem Verlust wieder in die psychiatrische Klinik ein, die er letztlich für den Rest seines Lebens nicht mehr verlässt. Er hat versagt, seine Fähigkeit zu wahrer Liebe wurde auf die Probe gestellt und er war nicht fähig, nach dem Krankenhausaufenthalt zu Christiane zu stehen. Er schafft es nicht einmal, ihr in die Augen zu sehen:

Il l’embrassa sur les joues, puis sur les lèvres. « Maintenant, dit il, tu peux venir t’installer chez moi. À Paris. » Elle leva son visage vers lui, le regarda dans les yeux ; il ne parvint pas à soutenir son regard. « Tu es sûr ? demanda-t-elle doucement, tu es sûr que c’est ce que tu veux ? » Il ne répondit pas ; du moins il tarda à répondre.[60]

Bruno sieht die Chancen, die ihm ein Leben mit Christiane im Rollstuhl böte, sehr wohl. Er weiß auch um die Loyalität[61], die er dieser Frau schuldet, jedoch fehlt ihm die Tatkraft, diese Chancen zu ergreifen. Dem gegenüber steht die Tatkraft Christianes, die mit ihrem Selbstmord die Gewissensnot Brunos beheben will.

Il avait hésité quelques secondes de trop; pauvre Christiane. Il avait encore hésité quelques jours de trop avant d’appeler ; il savait qu’elle était seule dans son HLM, il l’imaginait dans son fauteuil roulant, non loin de son téléphone. […]Il n’y avait plus aucun destin possible pour ce corps et c’était entièrement de sa faute. Cette fois toutes les cartes avaient été tirées, tous les jeux avaient été joués, la dernière donne avait eu lieu et elle s’achevait sur un échec définitif. Pas plus que ses parents avant lui, il n’avait été capable d’amour.[62]

Dieser sieht sein Versagen: seine Liebe zu Christiane hat nicht ausgereicht und die ihm fehlende Liebesfähigkeit macht ihm ein normales Leben unmöglich. Er resigniert. Er lässt diese Welt hinter sich, indem er seinen Geist mit Medikamenten betäubt und seinen Körper der Nervenheilanstalt überantwortet.

Die Tatsache, dass es Bruno in einem absoluten Sinne nicht gelingt, sich aus seinen “alten Mustern“[63] zu befreien, wird deutlich, als er anlässlich des Todes seiner Mutter die Anstalt ein letztes Mal verlässt. Für die Sterbende, die nach seinen eigenen Maximen gelebt hat, kennt er nichts anderes als vulgären und hasserfüllten Spott[64], und bevor er in die Klinik zurückkehrt, zieht es ihn in ein Bordell: « Je vais pas rentrer tout de suite à la clinique. J’ai une nuit de battement. Je vais aller dans un bar à putes, […]. Avec le lithium je bande plus du tout, mais ça fait rien, j’aime bien quand même. »[65]

3.1.2 Die Sehnsucht bei Michel Djerzinski

Der Roman beginnt mit dem Ausstieg Michels, der im Alter von vierzig Jahren seinen Job als sehr erfolgreicher Institutsleiter aufgibt, um ein Sabbatjahr einzulegen. Die Frage, die sich unweigerlich stellt, ist die nach den Gründen für diese Entscheidung:

Il [son chef] était certes courant qu’un chercheur prenne une année sabbatique pour aller travailler dans une autre équipe […]. D’autres […] se mettaient en quête de capital-risque et fondaient une société afin de commercialiser telle ou telle molécule. Mais la disponibilité de Djerzinski, sans projet, sans but, sans le moindre début de justification, paraissait incompréhensible.[66]

Auf die direkte Nachfrage seines Vorgesetzten, was er denn vorhabe, antwortet Michel lediglich, er wolle nachdenken.

Das zweite Kapitel berichtet von den Physikern Planck, Einstein und Bohr, hierin findet sich der erste Hinweis auf den Kulminationspunkt des Romans, hier setzt der Bogen an, der sich bis hin zum Ende des Romans spannt. Auch Michel, der als Mikrobiologe arbeitet, ist ursprünglich Physiker und ahnt eine Revolution der Biologie aufgrund der Anwendung der Erkenntnisse der modernen Physik innerhalb der Mikrobiologie.[67]

Seine Sehnsucht galt schon immer dem Denken. Seine Körperlichkeit erhält eher den Stellenwert eines Anhängsels:

Depuis des années, Michel menait une existence purement intellectuelle. Les sentiments qui constituent la vie des hommes n’étaient pas son sujet d’observation ; il les connaissait mal. La vie de nos jours pouvait s’organiser avec une précision parfaite ; […]. Lui-même ne demandait qu’aimer, du moins il ne demandait rien. Une vie sans enjeux, et sans drames. […] Encore jeune homme, Michel avait lu différents romans tournant autour du thème de l’absurde, du désespoir existentiel, de l’immobile vacuité des jours ; cette littérature extrémiste ne l’avait que partiellement convaincu. À l’époque, il voyait souvent Bruno. Bruno rêvait de devenir écrivain ; il noircissait des pages et se masturbait beaucoup ; […]. À titre personnel, il se masturbait peu ; les fantasmes qui avaient pu, jeune chercheur, l’assaillir au travers de connexions Minitel, voire d’authentiques jeunes femmes […] s’étaient progressivement éteints. Il gérait maintenant paisiblement le déclin de sa virilité au travers d’anodines branlettes, pour lesquelles son catalogue 3 Suisse […] s’avérait un support plus que suffisant. Bruno par contre, il le savait, dissipait son âge mur à la poursuite d’incertaines Lolitas aux seins gonflés, aux fesses rondes, à la bouche accueillante ; Dieu merci, il avait un statut de fonctionnaire. Mais il ne vivait pas dans un monde absurde : il vivait dans un monde mélodramatique composé de canons et de boudins, de mecs top et de blaireaux ; c’était le monde dans lequel vivait Bruno. De son côté Michel vivait dans un monde précis, historiquement faible, mais cependant rythmé par certaines cérémonies commerciales […].[68]

Er sucht die Tiefe und das Geistige in dem Verhältnis zu seinen Mitmenschen, da ihm die Sensitivität für das Körperliche nicht gegeben ist. Gleich in den er-sten Zeilen des Romans ist er nicht in der Lage, seiner Nachfolgerin die Hand zu schütteln.[69] Selbst in der einzigen wahren Verbundenheit zu seiner Jugendfreundin Annabelle ist ihm jeder Gedanke der Körperlichkeit fremd. Ebenso bewundert er die freundschaftliche Atmosphäre zwischen den Physikern um Nils Bohr seinerzeit in Kopenhagen, er selbst in seinem Labor kann jedoch nicht annähernd ein ähnlich freundschaftliches Klima schaffen.[70]

Seiner Einsamkeit will er mit einem Haustier entgegenwirken, seine Wahl fällt jedoch nicht auf Hund oder Katze oder andere Kuscheltiere, sondern er entscheidet sich für einen Kanarienvogel. Ziel ist auch hier nicht die Körperlichkeit, sondern Zweisamkeit mit einem Lebewesen.[71]

Schon früh zeigt sich des Weiteren eine Sehnsucht nach Harmonie und nach einer Welt ohne Aggressionen und Brutalität:

Michel frémissait d’indignation, et là aussi sentait se former en lui une conviction inébranlable : prise dans son ensemble la nature sauvage n’était rien d’autre qu’une répugnante saloperie ; prise dans son ensemble la nature sauvage justifiait une destruction totale, un holocauste universel – et la mission de l’homme sur terre était probablement d’accomplir cet holocauste.[72]

In dem Gedankengang des Jugendlichen, dass der Mensch das Wunderwerk der Natur auslöschen sollte, um eine Welt vollkommener Harmonie zu schaffen, spannt sich der Bogen des Romans weiter zu der späteren Lösung des genannten Kernproblems der Gesellschaft, der Egozentrik des Menschen.

Am Sterbebett seiner Mutter fühlt Michel anders als sein Bruder keinerlei Zorn, sondern erkennt, dass auch diese Frau sich lediglich jung fühlen wollte[73], und ihr Tod stellt eine der Dissonanzen dieser Welt dar, die ihm so zuwider sind.

Dieses Motiv einer Harmoniesehnsucht, die durch den Tod einer nahe stehenden Person gestört wird, wird im Folgenden um ein Vielfaches verstärkt durch das tragische Schicksal seiner Beziehung zu Annabelle. Dass ihr Tod die Konsequenz nach sich ziehen wird, die den mehrfach genannten Bogen der Romanhandlung zu Ende spannt, deutet sich in dem Brief aus Irland an, den Michel, nach Paris heimgekehrt, vorfindet. Dieser Brief ruft ihn zurück zu seiner Arbeit. Während eines Abendessens erläutert Michel seiner Freundin « de manière synthétique et précise »[74] warum er Frankreich erneut verlassen müsse. Annabelle reagiert erstaunt, enttäuscht und ist schließlich sehr traurig darüber, dass Michel anscheinend nicht einmal daran gedacht hat, dass dies eine erneute Trennung bedeutet. « Tu n’as pas prévu de m’emmener… […] Tu n’y as même pas pensé… »[75] Er erwidert nichts darauf, geht dann nach kurzen logischen Erwägungen über die Zeugung eines Kindes jedoch auf ihren Vorschlag ein, ihr zumindest noch ein Baby zu machen, da sie nicht wieder allein sein möchte.[76] Statt einer Schwangerschaft diagnostiziert der Gynäkologe jedoch Gebärmutterhalskrebs, und Annabelle kommt dem natürlichen Tod durch Selbstmord zuvor, um ihrem Leiden, innerhalb dessen der Krebs lediglich den Höhepunkt darstellt, ein Ende zu machen.

Für Michel bildet diese erneute Konfrontation mit dem Tod und dem Leiden in der Welt einen Punkt, an dem er endgültig die Flucht nach vorn antritt, um die Grundsehnsucht seines Lebens in die Tat umzusetzen. Ihm war klar, dass sie nicht in einer harmonischen Welt lebten, und der einzige Versuch etwas zu ändern, war die Absicht, ein Kind zu zeugen, was misslungen war.[77] Den Versuch aber hatte er unternommen, und der Gedanke machte ihn glücklich:

Il comprit alors la paix et la douceur qui l’avaient envahi ces dernières semaines. Il ne pouvait plus rien maintenant, personne ne pouvait rien à l’empire de la maladie et de la mort; mais au moins pendant quelques semaines, elle aurait eu la sensation d’être aimée.[78]

In seiner unbegreiflich systematischen, nahezu sterilen Art verläuft seine Abreise nach Annabelles Beerdigung beinahe teilnahmslos. Während der Trauerfeierlichkeiten im Garten ihrer Eltern erinnert sich Michel an früher, er sieht die Natur, verfolgt mit abgewandtem Gesicht die Einäscherung Annabelles und kann es nicht ertragen:

Annabelle et lui s’étaient promenés dans cette même allée, vingt-cinq ans auparavant, après la sortie des cours. […] Michel se souvint des après-midi de ses quinze ans, quand Annabelle venait l’attendre à la gare, et se serrait dans ses bras. Il regarda la terre, le soleil, les roses ; la surface élastique de l’herbe. C’était incompréhensible.[79]

Dieses Nichtverstehen-Können beschäftigte ihn zeitlebens. Er sehnte sich stets nach einer Lösung der Probleme der Welt, die aus der Natur und deren Gesetzen resultierten. Michels Sehnsucht zielt auf eine Welt ohne Konfrontation, und diese Sehnsucht wird er jetzt umsetzten, indem er die Theoreme schafft, die die Mikrobiologen in die Lage versetzten, eine neue Art des Menschen zu schaffen, die durch ihr Sein wiederum eine bessere Welt, eine Welt ohne Konfrontationen schaffen - eine Welt, in der es auch die Konfrontation mit dem Tod nicht mehr gibt.

Dann verschwindet Michel spurlos. Außer seinem Auto findet man nichts und so heißt es zum Schluss: « Nous pensons aujourd’hui que Michel Djerzinski a trouvé la mort en Irlande. […] Nous pensons aujourd’hui que Michel Djerzinski est entré dans la mer. »[80] Mit der Erfüllung seiner Aufgabe konnte Michel seinen Seelenfrieden finden[81], konnte seine Sehnsucht stillen. Die Last, die das Leben für ihn bedeutet hatte, war nun von ihm genommen. Dies beteuert auch sein Chef:

J’ai toujours eu l’impression que la vie lui était à charge, qu’il ne se sentait plus le moindre rapport avec quoi que ce soit de vivant. Je crois qu’il a tenu exactement le temps nécessaire à l’achèvement de ses travaux, et qu’aucun d’entre nous ne peut imaginer l’effort qu’il a eu à accomplir.[82]

Damit Michel seine Aufgabe beenden konnte, musste es neben all der Gewalt den Engel Annabelle an seiner Seite geben, der ihm, der ansonsten keine Sensorik dafür besaß, klarmachte, dass es die Liebe gab:

Hubczjak note avec justesse que le plus grand mérite de Djerzinski n’est pas d’avoir su dépasser le concept de liberté individuelle […], mais d’avoir su […] restaurer les conditions de possibilité d’amour. Il faut à ce propos évoquer encore une fois l’image d’Annabelle : sans avoir lui-même connu l’amour, Djerzinski avait pu, par l’intermédiaire d’Annabelle, s’en faire une image ; il avait pu se rendre compte que l’amour, d’une certaine manière, et par des modalités encore inconnues pouvait avoir lieu.[83]

3.2 Der Autor

3.2.1 Die Sehnsucht des Schreibens

Wie Robert Menasse in seiner Poetikdozentur sagte, sei jegliche Literatur in Form und Inhalt gültiger Ausdruck ihrer Zeit.[84] Was die inhaltliche Ebene betrifft, wurde bereits ausgeführt, dass dies auf Houellebecqs Arbeit zutrifft – Les particules élémentaires[85] gilt als ein Gesellschaftsroman des ausgehenden 20. Jahrhunderts.[86] Dazu ist anzumerken, dass der logische Schluss, den der Autor aus dem diagnostizierten Zerfall der westlichen Gesellschaft zieht, zwar den Ursachen, die es ihm dort aufzudecken gelingt, gerecht wird, die Problemsituation an sich jedoch aus einer Übertreibung heraus geboren wurde. Seiner eigenen Übertreibung,

die […] nebenbei die Bedingungen der Möglichkeiten des Autors freilegt: den Narzissmus und die Selbstgerechtigkeit eines Depressiven, die Anmaßung, die darin besteht, das eigene Elend zum Elend der Welt zu erklären, die Angst vor echter Auseinandersetzung, die all jene umkleidet, die sich selbst die Aura des brutalen Wahrsagers geben.[87]

Olivier Bardolle erklärt jedoch, dass den Romanciers dieses Jahrhunderts nur die Möglichkeit der Übertreibung bliebe; im Gegensatz zu den großen Autoren der vergangenen Jahrhunderte erlebten sie nichts.[88] « Ils vivent trop confortablement, ils n’ont pas de vécu à raconter, ni sur le plan de l’originalité ni sur le plan du tragique. Il ne leur est rien arrivé, et Mai 68 ne constitue pas une tragédie bien exploitable. »[89] Das heißt, auf der einen Seite wäre da das zu erzählende Nichts[90] und auf der anderen Seite die Übertreibung, die inhaltliche Zuspitzung, die aus einem unglücklichen Einzelschicksal den Untergang aller generiert, und die exagération als stilistischer Prozess, womit sich Houellebecq wiederum in die Tradition des französischen Romans einreiht.[91] Denn anstatt innerhalb seiner Romane die positiven Errungenschaften seiner Zeit zu beschreiben, die es unumstritten gibt,

[sont ses romans] des textes au réalisme ambitieux, où les considérations sexuelles et politiques font partie intégrante d’un projet de mise en scène globale, à travers le portrait de vies très ordinaires, des problèmes du monde contemporain.[92]

Dies haben andere vor ihm ebenso getan. Es kann dem Autor nicht vorgeworfen werden, dass er, anstatt auf die positiven Dinge unserer Zeit aufmerksam zu machen, den Blick auf die ‚dunklen Seiten’ unserer Gesellschaft richtet.[93] Dies ist ein unabdingbares Moment jeder grande littérature, die die empirische Realität in Frage stellt. Das Motiv der Übertreibung bietet dem Autor die Möglichkeit die Realität auf Distanz zu halten, nur auf diese Weise gelingt es ihm, die ihm eigene Sensibilität auszuhalten, weiter zu machen und nicht aufzugeben: « Écrire lui permet de tenir sa peine à distance, il met son chagrin sur le papier, ce faisant il s’en débarrasse un peu. »[94]

Dabei habe Houellebecq, wie Zola, Maupassant und Flaubert vor ihm, nur ein einziges Tabu gebrochen – die Behauptung, dass bestimmte Wirklichkeitsbereiche der Literatur nicht angemessen seien, erklärt Wolfgang Matz.[95] Niemand habe zu Zolas Zeiten bestritten, dass es die in Nana[96] beschriebene Form der höheren, bürgerlichen Prostitution tatsächlich gäbe, so wenig, wie heute die Existenz von Houellebecqs sexuellen Ferienclubs in Frage stünde; bestritten werde der Literatur nur das Recht, sich derart niedrigen Themen zu widmen.[97]

Im Grunde gebe es, so Bardolle, nur zwei große Kategorien von Literatur: Le roman de la mort und le roman d’amour.[98] Kategorien, die die zwei tiefen, vitalen Sehnsüchte des Menschen, das Überleben und die Reproduktion ansprechen.[99] Und die zweite der « deux grandes affaires humaines »[100] betreffend, sei es vor allen Dingen die tragische Liebe, so analysiert Bardolle weiter, die die grande littérature ausmache: « Le tragique constitue la toile de fond de la littérature, et les chansons douces font rarement de grands textes. »[101]

Charles Baudelaire habe schließlich auch nicht « Les Fleurs du Bien » geschrieben.[102] Für ihn bot das Schreiben die Möglichkeit « de surmonter l’existence, de la rendre possible.»[103] Gleiches gilt in gewisser Weise sicher auch für Houellebecq.[104]

Es ist die « nécessité intérieure tenaillante »[105], der er sich nicht entziehen kann und die es ihm gleichzeitig ermöglicht zu (über)leben, malgré tout. Sie ist Teil seiner Sehnsucht.

Und noch etwas ist Houellebecq mit dem vom Spleen zerrissenen Autor des 19. Jahrhunderts, einem der ersten großen exaspérés der Moderne, gemeinsam: die misanthrope, innere Wut[106], die im houellebecqschen Roman aus jeder einzelnen Seite trieft, – kalt, klinisch, absolut wirkungsvoll.[107]

Selon le tempérament des uns et des autres, cette nostalgie muée en colère, en esprit de résistance, est plus ou moins froide. Chez Houellebecq, elle est assurément froide, figée dans la glace d’une écriture clinique, digne d’un médecin légiste. C’est ce que l’on appelle le style.[108]

Womit der zweite von Menasse angesprochene Punkt, die Formfrage getroffen ist.

3.2.2 Der houellebecqsche Stil – le poète maudit

Steinfeld schreibt in seiner Einleitung zu Das Phänomen Houellebecq[109], dass die Elementarteilchen[110] nicht nur ein Buch des Hasses, sondern auch der Verzweiflung seien, ein Buch, das absichtlich alle poetischen Standards unterliefe, weil es dem Leser so nahe wie möglich an Auge und Ohr rücken wolle.[111] Diese Aussage darf man sowohl den Stil als auch die autoriale Intention be-treffend kritisieren. Der Leser bedeutet Houellebecq nichts. Ähnlich wie Louis-Ferdinand Céline schreibt er nicht für ihn.[112]

Ils n’écrivent pas pour les lecteurs, ils n’établissent aucun dialogue avec eux. […] Ils ont une mission qui les dépasse. C’est bien pour cela qu’ils ne se soucient jamais de plaire, ni même de savoir si leurs lecteurs sont contents de lire leurs textes.[113]

Und die Form? Einen anstößigen, vulgären Ton anzuschlagen ist weder neu[114], noch macht er alleine einen Stil aus, geschweige dass er allein einen Roman erschafft.[115] Entgegen dem, was Steinfeld über die houellebecqsche Schreibweise erläutert, klärt Bardolle am besten darüber auf, was genau den houellebecqschen Stil ausmacht: « On pourrait dire que c’est ni bien ni mal écrit, mais pas écrit du tout, il s’agirait en quelque sorte d’une ‘écriture absente’, dont on ne sait plus les ‘effets’. »[116] Es geht darum, beim Schreiben seinem inneren Instinkt zu folgen. « Le style vient du plus profond de soi. Le style s’impose de l’intérieur, il s’impose sans même consulter son auteur, il ne procède pas une réflexion, il est éruption. »[117] Wer glaubt denn, dass Houellebecq sein Buch tatsächlich in diesem Tonfall, der derweil als platt, flach, vulgär oder obszön bezeichnet wurde, geschrieben hat, um zu gefallen? Nein, dieser Stil ist einzig die beste Möglichkeit, das auszurücken, was Houellebecq in seinem Roman zu beschreiben sucht und sollte er als flach zu bezeichnen sein, dann nur deshalb, weil seine Epoche sich durch eben diese Flachheit auszeichnet.[118]

La disparition des mots, l’extrême appauvrissement du langage populaire ne peuvent aboutir qu’à Houellebecq, tel qu’il [le monde] est. Ce n’est pas lui qui est antipathique, c’est l’époque.[119]

Houellebecq wolle sein Buch flach, grob und hässlich machen, so Steinfeld, sodass es sich zum großen Roman verhalte, wie die schmutzigen Graffiti auf einem Brückenpfeiler an der Autobahn zu den bedeutenden Werken der bildenden Kunst.[120] Auch hier ist zu widersprechen, denn so erläutert der Autor selbst: « Le roman traditionnel n’est plus la forme qui convient à l’effacement progressif des relations humaines, de l’indifférence et du néant contemporain. »[121] So wie in den 1960er und 1970er Jahren die nouveaux romanciers feststellen mussten, dass der traditionelle Roman à la Balzac die Wirklichkeit, die sie erlebten, nicht mehr wiedergeben konnte, so stellt auch Houellebecq fest, dass die “alte“ Form nicht ausreicht, um seine Epoche zu beschreiben. « Comment en effet entreprendrait-on la narration de ces passions fugueuses […]? Il faudrait inventer une articulation plus plate, plus concise et plus morne. »[122] Um das Leben, das wirkliche Leben, das erlebte Leben zu schreiben, das nicht mehr mit der konventionellen romanesken Form zu beschreiben ist, schreibt Houellebecq seinem natürlichen, inneren Stil nach, den Andreas Isenschmid wie folgt zusammenfasst:

Während er sich auf dem Fremdheitsweg von uns weg bewegt, bewegt er sich auf mehreren anderen Wegen zugleich wieder auf uns zu. Er holt das Fremde immer wieder ins Bekannte zurück. Etwa durch […] akkurate Kurzportraits ultra-unwirtlicher Innenstädte. Er bricht den Ernst, der sich durch die depressive Thematik einstellt, durch satirische Zwischenstücke […] und durch eine gefriergetrocknete Ironie. Den stärksten Effekt erzielt Houellebecq aber, indem er den Roman durch essayistische Passagen bricht – die ihrerseits in sich sehr überraschend schillern.[123]

Nur auf diese Weise, durch Irritation, Wiedererkennung gemischt mit philosophischen Diskursen und der Geschichte an sich, gelingt der Roman. Die konventionellen psychologischen Erzählungen, die schlichtes Verstehen suggerieren, würden hier nicht greifen. Der Roman ist nicht mehr Spiegel der Gesellschaft, er ist vielmehr Antwort oder Re-aktion, wobei es nicht die postulierten Ideen sind, die als reaktionär zu betrachten sind,[124] sondern die Suche nach neuen Methoden des Erzählens, die sich (ähnlich wie einst der nouveau roman) der Komplexität der Zeit verdankt. Houellebecq reagiert auf seine Zeit, in der die Individualisierung der westeuropäischen Gesellschaft zur Zerstörung der traditionellen Familienstruktur, der mehr und mehr fehlenden Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und der damit einhergehenden immer schwieriger werdenden Wertevermittlung geführt hat. Der viel zitierte Satz aus seinem Werk Extension du domaine de la lutte [125] « Je n’aime pas ce monde. Décidément, je ne l’aime pas. La société dans laquelle je vis me dégoûte, la publicité m’écœure ; l’informatique me fait vomir, »[126] wurde in der Sekundärliteratur meist als autobiographische Aussage aufgefasst.[127] Nein, Houellebecq liebt diese Welt nicht und die Vision, die er von der zur Kampfzone mutierten Liebe hat, lässt sich anders nicht schreiben:

[…] Houellebecq [pratique] la langue qui convient le mieux à ce qu’[il] [ressent], et dans une certaine mesure , cette langue s’impose à [lui], elle vient de l’intérieure, elle colle parfaitement à [son] propos, le style et l’idée ne font plus qu’un.[128]

Die Produktion dieser Idee, dieses Realismus’ ist unweigerlich mit der Sprache verbunden. Welt kann nur über dieses künstliche, zwischengeschaltete, auf Konventionen beruhende System wahrgenommen werden. Es handelt sich um etwas Untrennbares: Welt und Sprache, Sprache und Mensch. Welt kann sich selbst durch das Bewusstsein des Autors schreiben, das bedeutet, Sprache ist Welt- und Selbstausdruck zugleich. Ein Paradoxon, denn unsere Sprache ist begrenzt; einzig in der grande littérature gibt es eine durch Sprache hindurch gesagte Wahrheit, die im Kern des Werkes verborgen liegt. Der Autor möchte auf diese außersprachliche Wirklichkeit hinweisen, kann dies aber nur über oder durch Sprache tun. Die Suche nach einer Ausdrucksweise bringt ihn an den Rand des konventionellen Sprachsystems: Er will etwas mitteilen, das nicht in Worte übertragbar ist, er will etwas erklären, das nicht erklärbar ist und er kann so diesem Kreisgeschehen – diesem Paradox, in dem Sprache immer nur die Oberfläche berühren kann, gleichzeitig aber die einzige Möglichkeit ist, Tiefe zu erfassen – nicht entfliehen. Das Werk ist wie eine beschriebene Glasscheibe, auf der man das lesen kann, was geschrieben steht und durch die man hindurch blicken kann, um dahinter eine andere Sprache wahrzunehmen, welche uns eine Vision von Realität eröffnet, die eine andere ist als jene, die wir mit Worten erklären und erschließen können.

À partir où il y a littérature, il y a vision conjuguée de la réalité du monde et de celle du moi, la vision du monde ne pouvant pas être qu’une fonction des structures internes du moi.[129]

Dadurch wird das empirisch Wahrnehmbare, das mit Worten Beschreibbare in Frage gestellt und eine Pluralität von möglichen Weltzugängen eröffnet, die erst ein Verständnis der Komplexität von Welt ermöglicht; vor dem Hintergrund dieser Komplexität stellt sich die lebensweltliche Realität als unzulänglich heraus, was mit dem Empfinden desjenigen, der ein literarisches Werk schafft, übereinstimmt und was der Rezipient eben “durch die Glasscheibe hindurch“ wahrnehmen kann.

Die Sprache, die Angelpunkt der modernen Literatur ist, ist es, die das Anstößige der Particules élémentaires[130] ausmacht:

Ce n’est pas tant l’idée qui soulève le cœur que la manière d’exprimer l’idée, c’est-à-dire le style. C’est son style, qui rend Houellebecq à la fois fascinant et répugnant, parce que ce style est efficace, et il est efficace parce qu’il génère l’émotion.[131]

Es ist die Sprache, die den Leser trifft, « la formule qui frappe directement au plexus, aux centres nerveux sans passer par la tête »[132]. Daraufhin erfolgt ein Zusammenspiel von Empfindung und Ratio. Sprache drückt hier nicht das aus, was ihre scheinbar offensichtliche Bedeutung ist, sondern nimmt hier eine Bedeutung an, die sich auf die außersprachliche Wirklichkeit bezieht und eben nicht auf einer starren Konvention beruht. D. h. auch das Nicht-Sagbare wird mit Sprache gesagt, es ist jedoch der Leser, der sich beim Lesen durch die Sprache hindurch selbst vernehmlich wird und auf diese Weise seine eigene subjektive Realität schafft.

Hier wird deutlich, dass die Literatur von zwei verschiedenen Punkten aus zu betrachten ist, einmal von Seiten des Autors und das andere mal von Seiten des Lesers. Das Verhältnis der beiden ist ein unechtes, der Text, der sie verbindet, bedeutet keinen Dialog.[133] Houellebecq schreibt nicht für seine Leser, er schreibt für sich selbst, um seine innere Wut und sein Missfallen los zu werden, um seiner Sehnsucht de « surmonter la vie »[134] nachzukommen, und seine Arbeit ist beendet, wenn die des Lesers beginnt.

[...]


[1] Im Folgenden nach Wolfgang Pfeiffer [Hrsg.], Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin, Akademie, Berlin (1993).

[2] Nach Platon, „Symposion – das Gastmahl, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher bearbeitet von Dietrich Kurz“, in: Eigler, Günther [Hrsg.]: Platon. Werke in 8 Bänden. Griechisch und Deutsch, Primus, Darmstadt (1974): Bd. 3.

[3] Platon, „Symposion – das Gastmahl, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher bearbeitet von Dietrich Kurz“, in: Eigler, Günther [Hrsg.]: Platon. Werke in 8 Bänden. Griechisch und Deutsch, Primus, Darmstadt (1974): Bd. 3.

[4] Michael Bordt, „Worauf zielt unsere Sehnsucht? Oder: Was wir von Platon lernen können“, in: Sánchez de Murillo, José/ Thurner, Martin [Hrsg.]: Aufgang Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Kohlhammer, Stuttgart (2005): 154.

[5] Vgl. ibid.: 157f.

[6] Ibid.: 157.

[7] Im Folgenden referiert nach Karl Heinz Witte, „Trieb, Begehren, Streben. Versuch einer tiefenpsychologischen Revision“, in: Sánchez de Murillo, José/Thurner, Martin [Hrsg.]: Aufgang Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Kohlhammer, Stuttgart (2005): 205-216.

[8] Karl Heinz Witte, (2005): 205.

[9] Ibid.: 208.

[10] Ibid.

[11] Karl Heinz Witte, „Trieb, Begehren, Streben. Versuch einer tiefenpsychologischen Revision“, in: Sánchez de Murillo, José/Thurner, Martin [Hrsg.]: Aufgang Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Kohlhammer, Stuttgart (2005).

[12] Karl Heinz Witte, (2005): 211.

[13] Vgl. ibid.: 214.

[14] Michel Houellebecq, Extension du domaine de la lutte, J’ai lu, Paris (1997).

[15] Ibid.: 43.

[16] Michel Houellebecq, (1998).

[17] Ibid.: 9f.

[18] Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, Piper & Co, München/Zürich, (1981).

[19] Vgl. Werner Heisenberg, (1981): 16.

[20] Michel Houellebecq, (2001): 2.

[21] Vgl. Michel Houellebecq, (1998): 27, 72f., 189.

[22] Vgl. ibid.: 28ff.

[23] Vgl. ibid.: Kapitel 8.

[24] Vgl. ibid. : 30f.

[25] Vgl. ibid.: 61f.

[26] Vgl. ibid.: 35f., 38.

[27] Ibid.: 213.

[28] Vgl. z.B. ibid. : 77.

[29] Vgl. ibid. : 84f.

[30] Ibid. : 102.

[31] Ibid. : 142.

[32] « Je n’avais jamais rencontré une femme comme toi auparavant. Je n’espérais même pas qu’une femme comme toi puisse exister. » Michel Houellebecq, (1998) : 200.

[33] Vgl. Michel Houellebecq, (1998) : 188 ff.

[34] Ibid.: 202.

[35] Vgl. ibid.: 200.

[36] Vgl. ibid.: 162.

[37] Vgl. ibid.: 187.

[38] Ibid.: 223.

[39] Vgl. ibid.: 214.

[40] Ibid.: 141.

[41] Ibid.: 223.

[42] Siehe dazu auch: Marianne Wellersdorf/Rainer Traub: „Überall Bilder vom perfekten Sex. Die Autoren Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq über Moral, Gewalt und Schönheitsterror“, in: Der Spiegel, (25.10.1999).

[43] « Tu n’es pas humain, […]. Je l’ai senti dès le début, en voyant comment tu te comportais avec Annabelle. » Michel Houellebecq, (1998) : 180.

[44] Michel Houellebecq, (1998): 237.

[45] « […] dans la douceur, dans la chaleur, il était au début du monde. » Michel Houellebecq, (1998) : 235.

[46] Vgl. Michel Houellebecq, (1998): 239.

[47] Ibid.: 38.

[48] Vgl. ibid.

[49] Vgl. ibid.: Kapitel 8.

[50] Vgl. ibid. : 194.

[51] Vgl. ibid.: 52.

[52] « Il avait maintenant quarante-deux ans […], Bruno se laissait gagner par une détente attristée. L’objectif principal de sa vie avait été sexuel ; il n’était plus possible d’en changer. Il le savait maintenant. » Michel Houellebecq, (1998) : 63.

[53] Michel Houellebecq, (1998): 121.

[54] Vgl. ibid.: 191f.

[55] Ibid.: 195.

[56] Vgl. ibid.: 64.

[57] Vgl. ibid.: 198.

[58] « J’ai bien vu tout à l’heure que tu n’étais pas vraiment attiré par ma chatte ; c’est déjà un peu la chatte d’une vielle femme. » Michel Houellebecq, (1998) : 142.

[59] Michel Houellebecq, (1998): 240.

[60] Ibid.: 247.

[61] Mit dem Begriff der Loyalität wird eine andere Nuance der Gegenüberstellung von Körperlichkeit und Geist aufgeboten. Pascal Mercier stellt in seinem Roman Nachtzug nach Lissabon Vergängliches und Ewiges gegenüber: „Daran [an die Liebe] glaubte er nicht. Mied sogar das Wort. Hielt es für Kitsch. Es gebe diese drei Dinge, und nur sie, pflegte er zu sagen: Begierde, Wohlgefallen und Geborgenheit. Und alle seien sie vergänglich. Am flüchtigsten sei die Begierde, dann komme das Wohlgefallen, und leider sei es so, dass die Geborgenheit, das Gefühl, in jemandem aufgehoben zu sein, irgendwann auch zerbreche. Die Zumutung des Lebens, all die Dinge, mit denen wir fertig werden müssten, seien einfach zu zahlreich und zu gewaltig, als dass unsere Gefühle sie unbeschadet überstehen könnten. Deshalb komme es auf Loyalität an. Sie sei kein Gefühl, meinte er, sondern ein Wille, ein Entschluss, eine Parteinahme der Seele. Etwas, das den Zufall von Begegnungen und die Zufälligkeit der Gefühle in eine Notwendigkeit verwandle. Ein Hauch von Ewigkeit, sagte er, nur ein Hauch, aber immerhin.“ (Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, btb, München (2006): 256f.) Selbst wenn Brunos Liebe nur eingebildet gewesen wäre, was bliebe, wäre die Forderung der Loyalität.

[62] Michel Houellebecq, (1998): 248 f.

[63] « L’objectif principal de sa vie avait été sexuel ; il n’était plus possible d’en changer. » Michel Houellebecq, (1998) : 63.

[64] Vgl. Michel Houellebecq, (1998): 256f.

[65] Ibid.: 263.

[66] Ibid.: 19.

[67] Vgl. ibid.: 20f.

[68] Ibid.: 119f f.

[69] Vgl. ibid.: 14.

[70] Vgl. ibid.: 16f.

[71] Vgl. ibid.: 15.

[72] Ibid.: 36.

[73] Vgl. ibid.: 257.

[74] Ibid.: 274.

[75] Ibid.

[76] Vgl. ibid.: 275.

[77] Vgl. ibid.: 284.

[78] Ibid.

[79] Ibid.: 288.

[80] Ibid.: 304.

[81] Vgl. ibid.: 303.

[82] Ibid.: 304.

[83] Ibid.: 302 f.

[84] 24. Paderborner Gastdozentur – Deutsche Literatur der Gegenwart 2005/2006: 09.01.2006 zu Gast: Robert Menasse.

[85] Michel Houellebecq, (1998).

[86] Vgl. dazu z.B. Wolfgang Matz, „Von der Abschaffung des Menschen. Michel Houellebecqs Asketik der Liebe“, in: Steinfeld, Thomas (2001): 117.

[87] Mirjam Schaub, „Die Feigheit des Affekts. Bei Houellebecq kommt das Ressentiment wieder zu seinem Recht“, in: Steinfeld, Thomas, (2001): 49.

[88] Vgl. Olivier Bardolle, La littérature à vif. (Le cas Houellebecq), L’esprit des péninsules, Paris (2004) : 7-14.

[89] Olivier Bardolle, (2004) : 11.

[90] « Le rien est le thème de notre époque, il domine tout, il est le concept majeur du marché littéraire. Nous sommes passés, il y a peu, au troisième millénaire, il se pourrait donc que le climat apocalyptique soit dû à ce passage, nous serions en proie à des délires eschatologiques comme le furent en leur temps les sectes millénaristes. » Olivier Bardolle, (2004) : 50.

[91] „Gerade in Frankreich besteht eine lange und bedeutende Tradition, die den Sittenroman als Gesellschaftsroman versteht, die im Erotischen das Denken und Handeln der Epoche deutlich macht […]. Und wie Houellebecq haben auch Zola, Maupassant, Flaubert und unzählige andere den Vorwurf auf sich gezogen, sie hätten einem kruden und vulgären Realismus zuliebe die literarische Gestaltung ihres Stoffes ganz und gar verraten, hätten gar unmoralische Stoffe einzig um der Tagesaktualität willen gewählt, um auf diesem zynischen Wege zu unverdientem Ruhm zu kommen.“ Wolfgang Matz, (2001): 117.

[92] Olivier Bardolle, (2004) : 59.

[93] Phillipe Muray schreibt dazu: « Le monde s’est tellement identifié au Bien en soi que la moindre hésitation de l’aimer est déjà une sorte de crime. » Phillipe Muray, On ferme, Les Belles Lettres, Paris (1997) : 201.

[94] Olivier Bardolle, (2004) : 54.

[95] Vgl. Wolfgang Matz, (2001) : 117.

[96] Emile Zola, Nana. Éd. Présenté, établie et annot. par Henri Mitterand, Gallimard, Paris (2003).

[97] Vgl. Wolfgang Matz, (2001): 117.

[98] Vgl. Olivier Bardolle, (2004) : 10.

[99] Vgl. ibid.

[100] Ibid.

[101] Ibid.: 11.

[102] Vgl. ibid.: 76.

[103] Ibid.: 52.

[104] Vgl. dazu: Peter Henning, „Ist dieser Mann ein Erlöser?“, in: Die Zeit, ( 35/1999).

[105] Olivier Bardolle, (2004): 16.

[106] « Baudelaire, qui écrivait à sa mère : ‘Mais si jamais je peux rattraper la verdeur et l’énergie dont j’ai joui quelquefois, je soulagerai ma colère par des livres épouvantables. Je voudrais mettre la race humaine toute entière contre moi. Je vois là une jouissance qui me consolerait de tout.’ » Olivier Bardolle, (2004) : 76.

[107] « Elle [la colère] transpire à chaque page, froide, clinique, absolument efficace. » Olivier Bardolle, (2004) : 74.

[108] Olivier Bardolle, (2004): 53.

[109] Thomas Steinfeld [Hrsg.]: Das Phänomen Houellebecq, DuMont, Köln (2001).

[110] Michel Houellebecq, (2004).

[111] Vgl. Thomas Steinfeld, (2001): 12.

[112] « Céline n’écrit pas pour ses lecteurs, il se fout de leur opinion. » Olivier Bardolle, (2004): 18.

[113] Olivier Bardolle, (2004): 53.

[114] « Comme le disait déjà Morand : ‘Les jeunes romanciers d’aujourd’hui : Je bande, je jouis, j’éjacule. Comme c’est nouveau!’ […] Ils confondent le léger avec le superficiel, le léger et la vanne de potache, car la légèreté est certainement ce qu’il y a de plus difficile à atteindre. » Olivier Bardolle, (2004) : 13.

[115] Vgl. hierzu auch: Olivier Bardolle, (2004): 87.

[116] Ibid.: 87 f.

[117] Ibid.: 53.

[118] Vgl. ibid.: 58

[119] Ibid.: 59.

[120] Vgl. ibid: 14.

[121] Michel Houellebecq, zit. nach Olivier Bardolle, (2004): 88.

[122] Michel Houellebecq, zit. nach Olivier Bardolle, (2004): 55.

[123] Andreas Isenschmid, „Roman und antiliberales Manifest“, in: Steinfeld, Thomas (2001): 57.

[124] Z.B. wird Houellebecqs Idee des Neuen-Menschen oft mit Aldous Huxleys Brave New World verglichen. Siehe dazu: Norbert Niemann, „Korrekturen an der schönen neuen Welt“, in: Steinfeld, Thomas (2001): 82-90. Siehe außerdem: Olivier Bardolle, (2004): 62 f.

[125] Michel Houellebecq, Extension du domaine de la lutte, J’ai lu, Paris (2000).

[126] Ibid. : 82f.

[127] Vgl. Ieme van der Poel, „Michel Houellebecq et l’esprit « fin de siècle »“, in: Schuerewegen, Franc/Smeets, Marc [Hrsg.] : CRIN 43-2004: Michel Houellebecq. Études réunies par Sabine van Wesemael, Rodopi, Amsterdam/New York (2004): 48, und Sabine van Wesemael, „Michel Houellebecq et l’effacement de la diversité exotique“, in: Schuerewegen, Franc/Smeets, Marc [Hrsg.] : CRIN 43-2004: Michel Houellebecq. Études réunies par Sabine van Wesemael, Rodopi, Amsterdam/New York (2004) : 67, sowie Olivier Bardolle, (2004) : 65.

[128] Olivier Bardolle, (2004) : 88.

[129] Ursula Reckermann, « Le roman du 19e siècle », in: Epochen der französischen Literaturgeschichte, Romanistik-Seminar des Sommersemesters 2006 an der Universität Paderborn. [Bisher unveröffentlichte Mitschrift].

[130] Michel Houellebecq, (1998).

[131] Olivier Bardolle, (2004): 63.

[132] Ibid.: 17.

[133] Vgl. hierzu Roland Barthes, « La mort de l’auteur », in: Ders.: Le bruissement de la langue, Seuil, Paris (1984) : 61-67.

[134] Olivier Bardolle, (2004): 52.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2008
ISBN (PDF)
9783863418816
ISBN (Paperback)
9783863413811
Dateigröße
239 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Paderborn
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,8
Schlagworte
Philosophie Literaturwissenschaft französische Literaturgeschichte Sinnfrage metaphysische Wende
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Anna Bockhoff, M.A., wurde 1983 in Steinheim (Westfalen) geboren. Nach dem Abitur zog die Autorin zunächst nach Frankreich, wo sie an der Université d'Orléans moderne Literaturwissenschaft studierte. 2008 schloss sie ihr Studium mit einem Bachelor in Romanistik und germanistischer Linguistik an der Universitär Paderborn ab. Ihre Masterarbeit schrieb sie 2011 zu einem vergleichenden kunst- und kulturwissenschaftlichen Thema bei Prof. Dr. Hartmut Böhme an der Humboldt Universität zu Berlin. Die Autorin lebt und arbeitet bis dato in Berlin, Prenzlauer Berg.
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Titel: Vom Sinn der Sehnsucht: Michel Houellebecq - Les particules élémentaires: Zerrbild oder Zeitbild - Houellebecqs Elementarteilchen
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