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Expressionistische Lyrik: Eine Betrachtung der Motive "Natur" und "Großstadt"

©2010 Bachelorarbeit 36 Seiten

Zusammenfassung

Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Buches besteht vor allem in den Motiven der Landschaft/Natur sowie dem Thema Großstadt in der expressionistischen Lyrik.
Für viele Deutsche ist die Großstadt im 20. Jahrhundert immer mehr zum Lebensraum geworden. Die Menschen waren somit gezwungen, sich mit den veränderten Lebensbedingungen und der fortschreitenden Industrialisierung auseinanderzusetzen. Der Erfahrungsbereich der Großstadt spielt in der Literatur und vor allem in der Lyrik insofern eine wichtige Rolle, da der Expressionismus ohne die unmittelbare Großstadterfahrung der Schriftsteller nicht möglich gewesen wäre. Das Phänomen der Großstadt bietet den Künstlern eine schier unerschöpfliche Vielfalt an Themen und Bildern, auf die sie in ihren Werken zurückgreifen können. Doch warum wird hier das Motiv der Landschaft/Natur nicht ausreichend literarisch gewürdigt? Wie wird die Darstellung dieser beiden Motive des Expressionismus in den Gedichten der damaligen Lyriker und Autoren verarbeitet?
Zum Abschluss der Arbeit wird eine genaue Untersuchung der verschiedenen Gedichte von vier ausgewählten Lyrikern (Heym, Trakl, Lichtenstein und Wolfenstein) der damaligen Zeit vorgenommen und speziell auf die Darstellungsweisen der Landschaft/Natur und der Großstadt Bezug genommen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ebenso ist, im Gegensatz zur Meinung von Fritz Martini
8
, der Expressionismus keine rein
deutsche Bewegung, sondern basiert auf einer internationalen Erneuerungsbewegung der
Künste, welche von verschiedenen Künstlergruppen getragen worden ist.
9
2.1 Expressionismus als Gegenbewegung
Ein anderer Aspekt ist, dass der Expressionismus als Gegenbewegung zu anderen Strömungen
in dieser Zeit verstanden wird. Der Expressionismus deutet sich dabei nicht nur als Reaktion
auf eine vorausgehende Kunstepoche, den Impressionismus, an. Die literaturgeschichtliche
Situation würde man unzulässig vereinfachen, wenn man den Expressionismus lediglich als
Umkehrung des Impressionismus begreift.
10
Hier sollte man sich vor Augen führen, dass eine
genaue literaturgeschichtliche Einordnung des Begriffs ,,Expressionismus" Anfang des 20.
Jahrhunderts nicht eindeutig vollzogen werden kann, da sich eine Vielzahl unterschiedlicher,
aber auch einander berührender literarischer Strömungen gebildet hat, wie z.B. den
Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil, die Neuromantik, Fin de siécle,
Neuklassizismus und Ästhetizismus. Sie alle lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen.
11
Um dieses schwierige Unterfangen der Abgrenzung anzugehen, lohnt es sich, einen Blick in
Kasimir Edschmid´s Essay ,,Expressionismus in der Dichtung" zu werfen. Edschmid entwirft
hier bereits 1917 eine erste Bilanz dieser literarischen Erscheinung, bei der er wichtige
literarische Epochen, die dem Expressionismus vorausgehen, berücksichtigt und aus ihnen
den Expressionismus herleitet.
12
______________________
8
Martini setzte die Einschränkung hinzu, dass der Expressionismus ,,Symptom und Ausdruck einer Weltkrise auf allen Gebieten
" sei,
aber sich hauptsächlich in Deutschland als Bewegung und Epoche etablierte. (Martini, F.: Was war Expressionismus, Urach 1948, S. 9).
9
Vgl. Große (2006), S. 5.
10
Vgl. Große (2006), S. 5.
11
Vietta hat versucht, diese kulturkritische Auseinandersetzung des Expressionismus mit der Moderne unter dem Begriff ,,Ichdissoziation"
zu subsumieren (Vgl. Vietta/Kemper (1985), S. 22) und hält die Abgrenzung ebenfalls für schwierig (Ebd., S. 26).
12
Vgl. Große (2006), S. 6.
5

Zum Naturalismus sagt Edschmid:
Gegen ausgepumptes Epigonentum schlug die naturalistische Welle. Aus Schminke, Fassade und Feigenblatt brach schamlos die
Tatsache. Nichts vom Wesen eines Dings. Nichts Eigentliches, was der Gegenstand unserer visuellen Welt nur zudeckt. Nur
Notiertes, nur endlich Ausgesprochenes. Aber mit grandioser Wucht lauter Dinge, belanglos für das Kunstwerk in seiner letzten
Form, aber Anstöße, Kampf: Der Naturalismus war eine Schlacht, die wenig Sinn für sich hat, aber er gab Gesinnung. Da standen
plötzlich wieder Ding: Häuser, Krankheit, Menschen, Armut, Fabriken. Sie hatten keine Verbindung noch zu Ewigem, waren nicht
geschwängert von Idee. Aber sie wurden genannt, gezeigt. Nackte Zähne der Zeit klafften und zeigten Hunger. Er warf auch
menschliche Fragen auf und brachte das Eigentliche damit näher. Er mischte sich mit Sozialem eng: schrie...Hunger, Huren,
Seuche, Arbeiten.
13
Edschmid wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die Natur wieder genau beschrieben
werden müsse, um in der Literatur ausgesparte Themenfelder mit der Darstellung moralischen
und wirtschaftlichen Elends hinzuzugewinnen. Dabei setzt er vor allem auf soziales Mitgefühl
sowie die Lenkung der Aufmerksamkeit auf Armut, Laster, Krankheit, Verbrechen. Dieser
Beschreibung zufolge, hatte der Naturalismus seinen Gegenpol im Ästhetizismus. ,,Gegen
wüste Orientierung
" ­ so fährt Edschmid fort ­ ,,gab es einen
Gegenpol voll Aristokratie. Gegen den Lärm Adel, das Asoziale, das Kunst-á tout prix."
14
Stefan George gilt für ihn als Repräsentant dieser Stilrichtung. Der Übergang von
Zweckhaftigkeit und Wirkungsabsicht hin zum Verzicht auf Wirklichkeitswiedergabe oder
konkreter Inhalte der Dichtung in Bezug auf politische, moralische und soziale
Weltanschauung, ließ den Ästhetizismus bzw. Symbolismus jedoch bald in den Hintergrund
treten wie es noch im Naturalismus der Fall gewesen ist:
Man verwechselte Dichten und Würde. Man glaubte, das Wesentliche sei das Erlauchte, und Würde sei
besser als der Mut unbedenklichen Zugriffs.
Ästhetentum verbreitete sich und traf in eine Zeit, die,
reich geworden von den Gründerjahren und dem Zustrom des Geldes übersättigt, noch völlig ohne die
Struktur eines kulturellen Zeitbodens, glaubte die schöne Dekadenz spielen zu können. Immerhin aber
hob sich das ganze Niveau. Man konnte nach George nicht mehr vergessen, dass eine große Form
unumgängig sei für das Kunstwerk. Man konnte nicht mehr nur durch Krassheit, Photographieren der
Wirklichkeit, nicht mehr mit flauen Sentiments nach dichterischen Zielen greifen.
15,
Im Impressionismus vollzieht sich, nach Edschmid, eine Synthese des Naturalismus mit dem
Ästhetizismus: ,,So kam zum Blick für die Tatsachen
der Blick für die
Form
. Der Impressionismus begann, die Synthese ward versucht."
16
______________________________________
13
Edschmid, Kasimir: ,,Expressionismus in der Dichtung 1918", In: Anz, T. und Stark, M.(Hrsg.): Manifeste und Dokumente zur deutschen
Literatur 1910-1920. Stuttgart 1982, S. 43f.. Im Weiteren werden weitere Zitate abgekürzt mit: Anz/Stark (1982).
14
Ebenda, S. 44.
15
Ebenda, S. 44.
16
Ebenda, S. 44.
6

Der Impressionismus konzentriert sich auf den sinnlich-subjektiven Eindruck. So wird ein
flüchtiger Reiz, ein einmalig unverwechselbarer Augenblick, in all seinen Nuancen und
Differenzierungen wahrgenommen und mit höchster Präzision und Intensität versucht
wiederzugeben. Das Isolieren dieser subjektiven Empfindsamkeit führt zur Auflösung der
dinglichen Einheit. Dabei wird die entmaterialisierte Welt nur noch von bestimmten
Reizwirkungen bzw. Stimmungen wahrgenommen.
17
So versucht Edschmid den
Impressionismus folgendermaßen zu fassen:
Mit nervöser Zärtlichkeit behandelte man die Objekte. Sprunghaft setzte man Stück für Stück. Mit gehobener Technik vermochte
man die Dinge anzugreifen, doch wurde es oft Deskription. Das eigentliche, der letzte Sinn der Objekte, erschöpfte sich noch nicht
ganz.
In unzählige kleine Teile zerlegte er die Welt, um ihr den tieferen Atem einzuhauchen.
Er zersetzte, löste auf und
parzellierte, formte das Zerschlagene in kleine Gefühle, nicht zu massiv verschmolzenen Zusammenhängen. Über ihn hinaus gab es
nur Anarchie.
18
Edschmid sah jede der beschriebenen Epochen als defizitär an. So dringt der Naturalismus
nicht zum Objekt selbst vor, dem Ästhetizismus gelingt es nicht ,,Tempo, Geist und Form der
Zeit zu großen umfassenden Schöpfungen zu verdichten"
19
. Der Impressionismus war zu
fixiert, die kleinen Dinge dieser Welt zu fassen und konnte so das Ganze nur als Mosaik
betrachten. Diese Mängel gleicht nun, nach Edschmid´s Meinung, der Expressionismus
wieder aus:
Die Künstler der neuen Bewegung gaben nicht mehr die leichte Erregung. Sie gaben nicht mehr die nackte Tatsache. Ihnen war der
Moment, die Sekunde der impressionististischen Schöpfungen nur ein taubes Korn in der mahlenden Zeit. Sie waren nicht mehr
unterworfen den Ideen, Nöten und persönlichen Tragödien bürgerlichen und kapitalistischen Denkens.
Ihnen entfaltete das Gefühl sich maßlos.
Sie sahen nicht.
Sie schauten.
Sie photographierten nicht.
Sie hatten Geschichte.
20
Somit setzte der Expressionismus dem sinnlich-subjektivem Erleben eine Dichtung entgegen,
die in ihren Augen die Funktion einer alles umreißenden Kraft, einer formenden und
schöpferischen Energie besaß.
______________________________
167
Walter Falk beschreibt diesen Teil als ,,die schöpferische Kraft des Menschen" (Vgl. Falk, W.: Impressionismus und Expressionismus, In:
Rothe, Wolfgang: Expressionismus als Literatur, S. 74f.).
18
Anz/Stark (1982), S. 44f.
19
Ebenda, S. 45.
20
Ebenda, S. 45f.
7

2.2 Die ,,innere Grundhaltung" des Expressionismus
Der Maler malt, was er schaut in seinen innersten Sinnen, die Expression seines Wesens,...
jeder Ausdruck von außen, wird Ausdruck von innen.
21
Diese Aussage Herwarth Waldens charakterisiert treffend den Unterschied des
Expressionismus zu seinen vorangegangenen naturalistischen Strömungen. Walden
postulierte, dass das innere Ich nach außen gekehrt wird und so wegkommt von der bloßen
Nachahmung der Natur. Diese Schwerpunktverschiebung, von der abbildenden Nachahmung
der Dinge hin zu einer Dominanz der inneren Vorgänge und Erlebnisse, hatte zur Folge, dass
dieses innerliche Sehen und Erfahren zum höchsten dichterischen Prinzip erklärt worden ist.
So lässt sich der Expressionismus als eine Antwort auf ein sich um 1910 veränderndes
Wirklichkeitsbewusstsein sowie einen sich radikal ändernden Wirklichkeitsbegriff verstehen.
Die reale Wirklichkeit, gekennzeichnet durch Oberflächlichkeit, dämonische Technik und die
durch das Bürgertum vertretenen leeren Werte und Traditionen, verlor gegenüber der
subjektiv erlebten Welt immer mehr an Einfluss.
22
Den Schaffensprozess der Dichter
beeinflusste diese neue Einstellung zur Wirklichkeit sehr:
Das Pathos aber allein genügt nicht, ein Ding aus dem Chaos zu fixieren. Man muss ein Ding noch
verwandeln, als ob es niemals mit den anderen Dingen des Chaos in Beziehung gewesen wäre, damit es
von ihnen nicht mehr erkannt wird und nicht mehr auf sie reagieren kann. Man muss abstrakt sein,
typisieren, damit das Erreichte nicht wieder ins Chaos zurückgleitet.
23
Sehr anschaulich beschreibt dieses Zitat die schöpferischen Methoden des Expressionismus.
Zum einen wird versucht, die Objektivität auf das Wesentliche der Dinge zu wahren, um es
nicht an die Relativität zu verlieren. Das ,,Ding" wird aus allen Zusammenhängen isoliert, um
dies als Methode zur Erfassung des Wesens zu etablieren. Zum Anderen wird die
Wirklichkeit als etwas Chaotisches, Unerkennbares aufgefasst, welches sich in der
Zertrümmerung der alten Gestaltungs- und Formungsweisen widergespiegelt hat, um tauglich
für das Erfassen und Gestalten ,,des Neuen" zu werden.
24
_______________________________
21
Richard (1978), S. 9.
22
Der Begriff der Wirklichkeit, der hier aufgezeigt wird, bezeichnen Benn und Pinthus als zentrale Aussagen in ihren Ausführungen zur
Grundhaltung im Expressionismus (Vgl. Benn (1968), In: Wellershoff (Hg.): Band 7, S. 1838f. sowie Pinthus (2001), S. 26).
23
Rötzer (1976), S. 52.
24
Vgl. Große (2006), S. 14.
8

Der hier umrissene Schaffensprozess verdeutlicht das Vorhaben der Expressionisten, die
äußere Wirklichkeit durch die innere Wirklichkeit des eigenen Geistes zu ordnen. ,,Die Kunst
wurde damit zur `Vor-Verwirklichung` der Idee in der Sprachwerdung des Geistes."
25
Somit
wird der Verwirklichungsprozess nicht von außen nach innen, sondern in entgegengesetzter
Richtung von innen nach außen vollzogen. Statt den Menschen zu verändern und die
Gesellschaft, in der er lebt, haben die Expressionisten versucht, die Menschheit von innen
heraus zu erneuern. Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass der Expressionismus,
wie schon angedeutet, keine einheitliche, klar abzusteckende Bewegung gewesen ist. Denn
der hier vorherrschende Subjektivismus
26
, der sich bevorzugt als innere Realität ausgedrückt
und auf die Erfassung des Wesenhaften eines Dinges beschränkt hat, ist auch in anderen
Tendenzen und Strömungen aufgetaucht. Dies trifft auch auf viele Dichter dieser Zeit zu, wie
später noch zu sehen sein wird. Durch die unsichere Lage vor dem drohenden Krieg
proklamierten die Expressionisten einerseits den Weltuntergang, andererseits sahen sie das
Kommen einer neuen Welt. So spiegeln sich zwei Grundtendenzen, die hier ihren Ursprung
haben, zum einen in der Verlagerung des Interesses im politisch-revolutionären Bereich, und
zum anderen in der Betonung eines ethisch-religiös motivierten Hintergrundes wieder.
27
Repräsentant für den erstgenannten Bereich ist vor allem Kurt Hiller. Er sah in der Literatur
ein Instrument politischer und gesellschaftlicher Veränderung.
28
Der von Johannes R. Becher
stammende Dreizeiler:
Der Dichter meidet strahlende Akkorde
Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill
Er reißt das Volk auf mit gehackten Sätzen.
29
macht ebenfalls deutlich, dass die aktivistische Richtung des Expressionismus ein politisches
________________________
25
Rötzer (1976), S. 176.
26
Der geschilderte Subjektivismus hat seinen Ursprung in Kants Aufklärungsgedanken. Dabei sieht Kant die Welt als Produkt des Geistes
und das Subjekt als Mittelpunkt der Wirklichkeit. Auf der Grundlage dieser These wird die bewusste Selbstdarstellung in der
expressionistischen Dichtung verständlich. (Vgl. dazu Vietta/Kemper (1985), S 144.).
27
Vgl. dazu auch Vietta: ,, Einige Bemerkungen zu These und Methode der Problemgeschichtlichen Darstellung des literarischen
Expressionismus". In: Vietta/Kemper (1983), S. 21ff.
28
Nachzulesen in Kurt Hiller: ,,Die Jüngst-Berliner". In: Anz, Thomas u. Stark, Michael (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente
zur deutschen Literatur1910-1920. Stuttgart 1982, S. 33ff.
29
Rötzer (1976), S. 406.
9

Bewusstsein
30
entwickelt und die Dichtung als Mittel benutzt hat, um die Öffentlichkeit aus
ihrer Passivität herauszureißen. Die Aktivisten waren aber nicht nur gewollt, das politische
Treiben voranzubringen, sondern auch, ihre Position als Volksführer mit Vorbildfunktion zu
nutzen. Es kann den Dichtern ein hoher Anteil zugesprochen werden, sie kümmerten sich
durch ihre Lyrik um die praktische Umgestaltung der Realität. Hiller beschreibt die Welt
folgendermaßen:
Sie gleicht eher einer großen Stadt als dem Garten Eden; alle könnten so leben, wie sie wollten. Sie erleben in diesem
Menschheitsparadies das Glück einer unbewußten Kreatürlichkeit, aber ohne die Langeweile der Unbewußtheit, denn hier
herrsche keine Armut, sondern nur Verschiedenheit der Bedürfnisse, keine Krankheit, nur Apathie. Es gebe auch `Feindschaft,
aber keine Bosheit, Haß um der Liebe willen, aber eine Lüge...Aktivität, aber keine Arbeit, Unternehmen, aber keine
Dienstleistung
31
Hiermit wollte Hiller den Traum einer neuen, humaneren Zukunft zum Ausdruck bringen. Die
ethisch-religiös orientierten Anhänger träumten ebenfalls von einer besseren Zukunft. Der
Unterschied liegt in dem Weg zum Erreichen des Zieles. Die ethisch-religiöse Gruppierung
zielt eher auf eine ,,sittliche und religiöse Erneuerung der menschlichen Innerlichkeit"
32
und
nicht auf eine politische Veränderung der Gesellschaft ab. Diese Anhängerschaft wurde auch
`messianische Strömung` genannt und ihre Hauptaufgabe bestand in der Errichtung eines
Reich Gottes auf Erden.
Sie setzen nicht auf politische Mittel, sondern auf unerschütterlichen
Glauben und Nächstenliebe.
33
Neben der Auflösung der ,,bisherigen Zwangsgesellschaft
zugunsten einer brüderlichen Lebensgemeinschaft aller einzelnen Menschen, Völker und der
Gesamtmenschheit"
34
forderten sie auch das Ende der wissenschaftlich gefestigten
Naturbeherrschung. Dabei setzen sie Natur mit etwas Göttlichem gleich. Diese beiden
geschilderten Haltungen repräsentieren den Zeitgeist des Expressionismus. Es ist zu beachten,
dass auch hier wieder verschiedene Strömungen und Bewegungen ineinander übergreifen.
Dadurch ist es auch so schwer, eine genaue Datierung der Epoche ,,Expressionismus"
vorzunehmen.
_______________________
30
Im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern, die in linken Parteien wie der USPD aktiv wurden, setzte Hiller politisches Bewusstsein nicht
mit dem Eintritt in eine politische Partei gleich. Er wandte sich gegen Parteien, da diese seiner Meinung nach immer auf der Herrschaft der
Mehrheit aufbauen. ,,Als Alternative zur Demokratie setzte er sich für die ´Logokratie` oder die Herrschaft durch eine intellektuelle
Herrschaft ein."(Rötzer, 1976, S.422) In dem von ihm entworfenen Programm proklamierte er einige Punkte, wie beispielsweise die Bildung
eines Weltparlaments, die Abschaffung der Wehrpflicht, das Verbot jeglicher militärischer Ordnungen, die Abschaffung
der Todesstrafe und die gerechte Verteilung des materiellen Besitzes (vgl. Rötzer, 1976, S. 422).
31
Rötzer (1976), S. 418.
32
Ebenda, S. 314.
33
Vgl. Vietta/Kemper (1985), S. 23.
34
Rötzer (1976), S. 317.
10

2.3 Historisch-geistesgeschichtliche Rahmenbedingungen
Bei solch einer Betrachtung des Expressionismus ist es unabdingbar, auch den historisch-
geistesgeschichtlichen Kontext heranzuziehen und etwas näher zu beleuchten. Der
Expressionismus lässt sich in drei Phasen gliedern: Den Frühexpressionismus von 1910-1914,
den Hochexpressionismus von 1914-1918 in der Zeit des ersten Weltkrieges sowie den
Spätexpressionismus von 1918-ca. 1925.
35
Im letzten Abschnitt sind die großen Anthologien
und Gesamtausgaben einzelner Dichter (siehe auch Fußnote 4) sowie das Theater zur
Darstellung des ,,neuen" Menschen entstanden.
36
Gleichwohl sollte man nicht glauben, der Expressionismus wäre ein Phänomen der Weimarer
Republik gewesen. Zumindest gilt dies für die Lyrik dieser Zeit. Nach Ende des ersten
Weltkrieges ist kein Gedichtband erschienen, der es mit der Bedeutung früherer Werke dieses
Jahrzehnts aufnehmen konnte (z.B. ,,Menschheitsdämmerung" von Kurt Pinthus). Auch
während des ersten Weltkrieges wurde durch die Zensur nie das Niveau früherer Anthologien
oder Gedichtbände erreicht. Somit kann als Fazit gezogen werden, dass die große Zeit der
expressionistischen Lyrik mit den letzten Jahren des Wilhelminischen Kaiserreichs
einhergeht.
37
Seit der Reichsgründung von 1871 hat sich ein tiefgreifender Wandel vollzogen.
Das Deutsche Reich wurde zu einem der führenden Industriestaaten der Welt.
37
Vor allem die
Industrialisierung und Urbanisierung nehmen zu dieser Zeit in ungeheurem Tempo zu. Dieses
eminente Wachstum lässt sich anhand von Zahlen belegen: Berlin ist zu dieser Zeit die am
schnellsten wachsende Stadt Europas. Die Einwohnerzahl, die um 1870 ca. 800000
Einwohner beträgt, überschreitet im Jahre 1910 die 2-Millionen-Grenze. 1920 sind es bereits
über 4 Millionen Einwohner.
Berlin gilt als Zentrum des deutschen Expressionismus.
38
_______________________________
35
Neben der chronologischen Gliederung gibt es noch weitere literaturhistorische Methoden, mit deren Hilfe der Expressionismus
eingegrenzt werden kann. Beispielsweise die Aufteilung in die drei Hauptgattungen Lyrik, Drama und Prosa, die Teilung in politischen und
,,einen" Expressionismus und die Untersuchung der verschiedenen geographischen Zentren (Vgl. Vietta/Kemper (1983), S. 27f.).
36
Vgl. Giese (1999), S. 12.
37
Vgl. Vietta, S.: ,,Expressionismus. Entstehungsbedingungen und Strukturmerkmale einer Kunstepoche in Deutschland", In:
Tetzlaff/Guidon (Hrsg.): An die Verstummten. Expressionismus im Unterricht. Frankfurt am Main 1988, S. 19.
38
Ebd., S. 19. Siehe dazu auch: Vietta (1999), S. 30.
11

Einer, der diese schnelllebige Zeit miterlebt hat, war Kurt Pinthus. Er beschreibt diese
soziologischen Umwälzungen der Lebensverhältnisse in ihrer Rückwirkung im Jahre 1925
folgendermaßen:
Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder!
Man male sich zum Vergleich nur aus, wie ein Zeitgenosse Goethes oder ein Mensch des Biedermeier seinen Tag in Stille
verbrachte, und durch welche Mengen von Lärm, Erregungen, Anregungen heute jeder Durchschnittsmensch täglich sich
durchzukämpfen hat, mit der Hin- und Rückfahrt zur Arbeitsstätte, mit dem gefährlichen Tumult der von Verkehrsmitteln
wimmelnden Straßen, mit Telefon, Lichtreklame, tausendfachen Geräuschen und Aufmerksamkeitsablenkungen. Wer heute
zwischen dreißig und vierzig Jahre alt ist, hat noch gesehen, wie die ersten elektrischen Bahnen zu fahren begannen, hat die ersten
Autos erblickt, hat die jahrtausendelang für unmöglich gehaltene Eroberung der Luft in rascher Folge mitgemacht, hat sich die rapid
übersteigenden Schnelligkeitsrekorde all dieser Entfernungsüberwinder, Eisenbahnen, Riesendampfer, Luftschiffe, Aeroplane
miterlebt
und die neuen Mitteilungsmöglichkeiten: Schnellpresse, Kino, Radio, Grammophon, Funktelegraphie.
39
Dieser Prozess der Industrialisierung und Technisierung der Umwelt wurde schon damals als
kritisch angesehen. Dabei ist eine gewisse Ambivalenz spürbar: Zum einen wird die Großstadt
mit ihren Maschinen und Dynamisierungsprozessen als Bedrohung angesehen, in der ein
Selbstverlust des Subjekts stattfindet. Zum anderen haben die Menschen das anonyme Leben
gegenüber der Bekanntheit auf dem ,,platten Land" genießen wollen.
Jedoch überwiegt in der
künstlerischen Darstellung die Kritik an der modernen Welt und der daraus resultierenden
Großstadterfahrung.
40
Auf die expressionistische Generation prasselte eine große Menge an Einflüssen herein: Der
Umbruch in den modernen Naturwissenschaften, die Entdeckung der Welt des Unbewussten
durch Freud sowie der Sozialismus von Gustav Landauer, um nur einige zu nennen.
41
Dabei
wird immer wieder in Zusammenhang mit diesen Einflüssen ein Name genannt: Friedrich
Nietzsche. Er gilt als einer der überragensten geistig-künstlerischen Bezugsfiguren seiner
Zeit. Gottfried Benn erinnert nach dem zweiten Weltkrieg an diese Tatsache:
Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann
sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat ­ alles das hatte sich bereits bei Nietzsche
ausgesprochen
42
_______________________________
39
aus: Vietta, S.: ,,Expressionismus. Entstehungsbedingungen und Strukturmerkmale einer Kunstepoche in Deutschland", In: Tetzlaff/Guidon
(Hrsg.): An die Verstummten. Expressionismus im Unterricht. Frankfurt am Main 1988, S. 20.
Zitiert nach Kurt Pinthus, aus einem Illustriertenartikel aus dem Jahre 1925. In: Friedrich Luft (Hg.): Fakesimile-Querschnitt durch die
Berliner Illustrierte. München u.a. 1965, S. 130.
40
Vgl. Ebenda, S. 21.
41
Vgl. Ebenda, S. 21.
42
Vietta/Kemper: Expressionismus. München 1985, S. 135.
12

Nietzsche ist dabei von den Expressionisten unmittelbar zeitgenössisch verstanden worden,
denn seine Werke spiegeln auf eine radikale und abgründige Weise Zivilisationskritik wider,
die ,,in einer ungeheuer bildkräftigen Sprache"
43
verfasst worden ist.
Doch warum sollte
Nietzsche hier erwähnt werden? Nun, es geht um zwei Haupttendenzen Nietzsches, die die
jungen Expressionisten faszinierten und sich zu Eigen gemacht haben. Einerseits der schon
erwähnte kulturkritische Psychologe und Analytiker, der Kritiker moralischer und religiöser
Werte, der Seismograph des Nihilismus
44
. Andererseits der lyrisch-rhetorische Dichter des
,,Zarathustra"
45
, der seine Botschaft zum Übermenschen in rhythmisch-melodischer,
mitreißender Rede verkündet, in Visionen, die sich rationalem Verständnis entziehen.
Diese
beiden gegensätzlichen Tendenzen entwerfen zwei verschieden Modelle: Dichter des Berliner
Frühexpressionismus bevorzugen den Gedichttypus, der den Mensch, die Natur und die
Gesellschaft in einer entlarvenden und desillusionierenden Weise darstellt und so ,,entgöttert".
Der andere Gedichttypus zielt dagegen auf einen Aufbruchs- und Erneuerungspathos, welcher
eine ekstatische Ich- und Welterfahrung zu beschwören versucht.
46
_________________________
43
Vietta, S.: ,,Expressionismus. Entstehungsbedingungen und Strukturmerkmale einer Kunstepoche in Deutschland", In: Tetzlaff/Guidon
(Hrsg.): An die Verstummten. Expressionismus im Unterricht. Frankfurt am Main 1988, S. 23.
44
Nitzsche definiert den Nihilismus folgendermaßen: ,,Was bedeutet Nihilismus? ­ Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel.
Es fehlt die Antwort auf das
>
Wozu
<
?" (aus Vietta, S.: ,,Expressionismus. Entstehungsbedingungen und Strukturmerkmale einer Kunstepoche
in Deutschland", In: Tetzlaff/Guidon (Hrsg.): An die Verstummten. Expressionismus im Unterricht. Frankfurt am Main 1988, S. 23., zitiert
nach: Schlechta, K. (Hg.): Friedrich Nietzsche Werke in drei Bänden. München 1966, Band 3, S. 557).
45
Nachzulesen in: Vietta, S.: Lyrik des Expressionismus, Tübingen 1999, S. 20ff.
46
Vgl. dazu: Vietta/Kemper, S. 136f.
13

3. Großstadt und Natur als Metaphern seelischer Zustände im Expressionismus
Die Lyrik im Expressionismus gilt als repräsentativ für ihre damalige Zeit. Kein Medium
konnte besser erfassen und ausdrücken, welche Themen und Motive die Menschen dieser Zeit
bewegt haben. Doch hier ist die Frage zu stellen, wie diese Themenkomplexe und die damit
verbundene geistige Haltung der Expressionisten Eingang in die geschaffenen Werke der
Dichter gefunden haben? Um dieser Frage nachzugehen, scheint es sinnvoll, die Thematik
etwas einzugrenzen und die damit verbundenen stilistischen Aspekte näher zu betrachten.
Eine dieser sprachlichen Ausdrucksformen war der Reihungsstil (auch Simultanstil
genannt)
47
:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
48
Auffällig ist hierbei die sinnlose Verknüpfung nicht zusammenhängender Bilder. Die Motive
fügen sich nicht in einen durchgehenden Gedankenablauf, sondern stehen isoliert und
unverknüpft nebeneinander. Hier wird ein Szenario entworfen, welches die Großstadt als ein
Phänomen darstellte, das entdeckt und adäquat gestaltet werden musste. Dabei stürzte ,,mit
jedem Gang über die
Straße, mit dem Tempo und der Mannigfaltigkeit des wirtschaftlichen,
beruflichen, gesellschaftlichen Lebens[...]"
49
eine Flut neuer Eindrücke auf den
Dichter ein,
die er - wie durch einen Schock gelähmt ­ simultan
aneinanderreiht.
Doch die Natur gilt, wie
man nach den eben geschilderten Eindrücken bemerken kann, keineswegs als Zufluchtsort. Im
Gegenteil, auch in ihrer Lyrik ist die Metaphorisierung seelischer Zustände nachweisbar. Wie
diese Metaphern seelischer Zustände sich genau in den Gedichten manifestiert haben, zeigt
dieses Kapitel.
_____________________________
47
Vgl. Paulsen (1983), S. 42, siehe auch: Vietta (1999), S. 31.
48
Zitiert nach: Van Hoddis, J: ,,Weltende", In: Silvio Vietta: Lyrik des Expressionismus 4. verb. Aufl., Hamburg 1999, S. 93.
49
Vietta/Kemper (1985), S. 34.
14

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783863419219
ISBN (Paperback)
9783863414214
Dateigröße
262 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Expressionismus Epoche Literaturgeschichte Gedicht Literatur
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