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Der Satiriker und der Theoretiker: Karl Kraus und Roland Barthes als Ideologiekritiker

©2012 Masterarbeit 47 Seiten

Zusammenfassung

Karl Kraus, der Satiriker der Apokalypse (Edward Timms), veröffentlichte mit der Fackel von 1899 - 1936 in Wien eine Zeitschrift, in der er die mannigfachen Zerfallserscheinungen der mitteleuropäischen Zivilisation um die Jahrhundertwende insbesondere auf ihre Sprachverwendung zurückführt und anhand dieser sichtbar macht und kritisiert.Als ein wesentlicher Aspekt der herrschenden Sprachverwendung Sprache zu funktionalisieren sei einerseits Ausdruck als auch Ursache eines verkümmernden Bewusstseins, dem Vorstellungskraft sowie Geist fehlten. Die Phrase als zu einer leeren Form erstarrten Sprache ist die fortgeschrittenste Manifestation dieses Bewusstseins. Die von Kraus exzessiv geübte Kritik an der Phrase ist somit nicht bloß abstrakte Sprachkritik, sie hat vielmehr stets auch einen gesellschaftskritischen Gehalt. Sie kritisiert Ideologie als Ausdruck des herrschenden Bewusstseinszustands einer Gesellschaft, die beinahe bewusstlos ihren eigenen Untergang - den Millionen Tote fordernden 1. Weltkrieg - tausendfach in ihren Presseerzeugnissen heraufbeschwört. Neben einem kurzen Überblick über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Wien/Österreich-Ungarn um die Jahrhundertwende gibt die Arbeit einen knappen Eindruck von der enormen Bedeutung und Verantwortung des damaligen Pressewesens, um sich dann dem Begriff der Phrase zu widmen.
Ideologiekritik zu üben ist ebenfalls ein wesentlicher Aspekt der Schriften des französischen Theoretikers Roland Barthes. In dem 1957 veröffentlichten Text Mythen des Alltags kritisiert Barthes die zu diesem Zeitpunkt herrschende Ideologie in ihren vielfachen Ausprägungen anhand des (von ihm theoretisch entwickelten Begriffs des) Mythos. Der Mythos kann - ebenso wie die Phrase - als erstarrte Sprache bezeichnet werden; darüber hinaus übt er bestimmte Funktionen aus, insbesondere das, wovon er handelt, als naturgegeben erscheinen zu lassen; 'Geschichte in Natur zu verwandeln', wie Barthes es ausdrückt. Der Mythos als eine Form kollektiver Vorstellungen hat somit in Bezug auf die Ideologie einer Gesellschaft eine stabilisierende Funktion. Die Arbeit stellt kurz die Mythen des Alltags, den Begriff des Mythos sowie die Semiotik als Methode vor, um schließlich nach einer etwaigen Anwendung des Mythos-Begriffs auf die Satire von Karl Kraus zu fragen und mögliche Parallelen zwischen beiden Kritikern bzw. ihren Schriften zu ermitteln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3
Weil die Form der Satire und Polemik keine wissenschaftliche Theorie darstellt, genügt die
Pressekritik von Kraus keinen wissenschaftlichen Standards,
,,selbstverständlich ist die Pressekritik der Fackel keine zureichende Grundlage für irgendeine
wissenschaftliche Perspektive der massenmedialen Wirkunsgforschung ­ schon wegen der sozusagen
produktiv bösartigen Einseitigkeit nicht".
15
Ob ihre ,Einseitigkeit` tatsächlich als bösartig zu bewerten ist und zwingendermaßen ein
Ausschlusskriterium darstellt, um als Grundlage für eine wissenschaftliche Perspektive zu dienen,
sei dahingestellt; vielmehr scheint es problematisch zu sein, dass die wissenschaftliche Perspektive
selbst, die Ansetzung wissenschaftlicher Kriterien an eine Kritik in satirischer Form die
Erkenntnisse, die in dieser gewonnen werden ­ z. B. in Bezug auf massenmediale Wirkungs-
forschung ­ gar nicht ,sichtbar` machen kann, weil sie die Methode zu deren Gewinnung verwirft.
Die Fackel stellt einen enormen Fundus an Erkenntnissen über die Sprache und ihre Verwendung,
über Anspruch und Realität von Politik, über Kultur, Kunst und vieles andere mehr dar,­
Erkenntnisse jenseits einer Erfassung durch das, was Reinhard Merkel eine ,,wissenschaftliche
Perspektive" nennt. Sie werden methodisch anders gewonnen und dargestellt als durch begriffliche
Definitionen, Schemata oder falsifizierbare Aussagen. Kraus kritisiert die Verhältnisse immanent ­
,,der Satiriker Kraus reflektierte nicht über dem Konkreten, sondern aus diesem und durch dieses"
16
­ und er transportiert sie in Form von Polemik und Satire.
Mit dem Verhältnis von aphoristischen Texten und Ordnungsystemen, wie die Wissenschaft eines
darstellt, beschäftigt sich Thomas Stölzel. Er weist darauf hin, dass das Verhältnis zwischen beiden
oft von ,,Polarisierungen und wechselseitigen Abwertungen"
17
begleitet ist und plädiert dafür,
anstatt einer Dichotomisierung (Aphorismus ­ System) beider Textformen (Aphorismus ­
wissenschaftlicher Text) den Systembegriff zu überdenken und stattdessen von Texten mit
,,festere[n] und weniger festere[n] Ordnungstechniken"
18
zu sprechen.
Ein Teil der Erkenntnisse in der Fackel betrifft die Sprache der zeitgenössischen Presse. Anhand
von Kraus` Reflexion im Zusammenhang mit einem Justiz-Prozeß (dem große Aufmerksamkeit
gewidmeten Dreyfuß-Prozeß) stellt Helmut Arntzen heraus, dass diese sich nicht lediglich darauf
beziehe, ob die Presse falsche oder fehlerhafte Informationen vermittelt, sondern dass sie die
15
Merkel: Strafrecht und Satire im Werk der Fackel. S. 152.
16
Naumann, Michael: Der Abbau einer verkehrten Welt. Satire und politische Wirklichkeit im Werk von Karl Kraus.
München 1969. S. 16.
17
Stölzel, Thomas: Rohe und polierte Gedanken. Studien zur Wirkungsweise aphoristischer Texte. Freiburg im Breisgau
1998. (Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss. 1998) S. 31.
18
Stölzel: Rohe und polierte Gedanken. Studien zur Wirkungsweise aphoristischer Texte. S. 32.

4
,,Presse als Redestruktur" begreift: ,,In und an ihr erscheinen nicht gewissermaßen innersprachliche
Probleme, sondern gerade gesellschaftliche und politische"
19
Auf die Verknüpfung der Krausschen
Sprachkritik mit Gesellschaftskritik wurde bereits hingewiesen. Weiter kennzeichnet Arntzen
Kraus` satirisches Vorgehen als eine ,,literarische[...] Darstellung [...], in dem das Besondere völlig
erhalten bleibt und gleichzeitig ein Bedeutendes ist"
20
, dieselbe könnte also allgemein bezeichnet
werden als eine Kritik, die reflektiert, dass (Presse)Texte semantisch gesehen mehrere Ebenen
aufweisen. Diese Reflexion wird satirisch verarbeitet und dargestellt.
Wenn dies als eine sehr allgemeine Kennzeichnung der Krausschen Satire insgesamt gelten kann,
wenn also für Kraus ,,das Nichtssagende des Journalismus zugleich ein Etwassagendes ist"
21
, wenn
also in der Kritik allgemein verschiedene semantische Ebenen differenziert werden, dann gilt dies
vielleicht auch für eines ihrer spezifischen Elemente ­ die Kritik an der Phrase. Diese wird nicht als
bloße sprachliche Form behandelt, sondern ihr wird eine weitgehende gesellschaftliche Bedeutung
zugemessen:
,,Wenn der junge Kraus Phrase als das begreift, was sich vor die Sache stellt, was Information verhindert, so
ist für ihn Phrase nun die Beherrschung der Sprache um bloßer Effekte Willen, die nicht mehr die Sache als
das Wichtige verdrängen, sondern die die Erkenntnis verhindern sollen, daß es allein um Nichtiges noch
geht. Das journalistische Sprechen, die Phrase, ist eine Metasprache. [...] Der bestimmende Sprachgebrauch
einer Epoche bestimmt darum aber auch, wie Wirklichkeit erscheint und aufgefaßt wird und verfügt über
unsere Anschauungs- als Erkenntnisformen. So ist die Phrase, die sich an die Stelle bewußten Sprechens
setzt, dessen, was Kraus »den Gedanken« nennt, immer auch Bericht von der Wirklichkeit. [...] [Die Phrase
ist] ,,die Weise [...], wie Wirklichkeit [...] sich zeigt."
22
Aber auch der Gesellschaftskritik von Kraus liegt kein theoretisches Modell zugrunde, ,,der Blick
des Satirikers geht durch die »systemischen« Zusammenhänge der Politik als der Formen und
Mechanismen sozialer Steuerung hindurch auf die Mikroebene der lebensweltlichen
Einzelereignisse"
23
, man warf Kraus Unkenntnis theoretischer Zusammenhänge vor, sich ,,in
seinem ganzen Leben nie mit politischer Theorie auseinandergesetzt"
24
zu haben und ,,mit seiner
Sprach-, Presse- und Kunstkritik lediglich im gesellschaftlichen Überbau herumzuirren".
25
Ideologiekritik ist der Begriff, mit dem die Kraussche Kritik vielleicht am ehesten bezeichnet
werden kann; als solche kritisiert sie kollektive Vorstellungen, die innerhalb der zeitgenössischen
Gesellschaft kursierten. Diese kollektiven Vorstellungen, die auch als ,öffentliche Mei-
19
Arntzen, Helmut: Karl Kraus und die Presse. München 1975. S. 22.
20
Arntzen: Karl Kraus und die Presse. S. 24.
21
ebd. S. 43.
22
ebd. S. 41 ff.
23
Merkel: Strafrecht und Satire im Werk der Fackel. S. 132.
24
Pfabigan, Alfred: Karl Kraus und der Sozialismus. Wien 1976. S. 43.
25
Schubert: 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus. Wien 2008. S. 120.

5
nung` bezeichnet werden könnten, wurden maßgeblich von der Presse geformt ­ und dies, wie
Kraus kritisiert ­ unter anderem in Form von Phrasen. Ein Abschnitt der Arbeit wird sich daher
diesem Kontext des Krausschen Schreibens widmen ­ der Bedeutung der zeitgenösssischen Presse,
ihrer Stellung innerhalb der Österreichisch-Ungarischen und der Wiener Gesellschaft.
Kraus selbst hatte keinen spezifischen oder systematischen Ideologiebegriff, ,,seine Mission als
Satiriker bestand darin, alle Formen ideologischen Denkens anzugreifen, nicht nur diejenigen, die
ihm aus persönlichen Gründen mißfielen."
26
Ebensowenig ist ein bestimmter durchgängiger
politischer Standpunkt erkennbar; die Debatten hierüber wurden ausgiebig geführt
27
. Dennoch wäre
dieser Begriff legitim, wenn er als eine allgemeine Kennzeichnung verwendet wird, etwa in dem
Sinne, wie Terry Eagleton Ideologie versteht, als kollektive Vorstellungen eben, als Weltan-
schauungen, Ideen: ,,Ideologische Diskurse [weisen] gewöhnlich ein bestimmtes Verhältnis von
empirischen Aussagen und dem [auf], was man grob als »Weltanschauung« bezeichnet, in dem die
Weltanschauung meistens das Übergewicht hat."
28
Wenn also verallgemeinernd die Kraussche Satire als Ideologiekritik bezeichnet werden kann, die
kollektive sprachliche Phänomene (wie die Phrase) behandelt, die Form der Darstellung aber eine
satirische ist, dann könnte gefragt werden, mit welchen Mitteln diese Kritik dann wissenschaftlich
untersucht werden kann, so, dass der kritische Gehalt derselben erhalten bleibt. Welche
wissenschaftliche Methode behandelt ähnliche Gegenstände wie Kraus? Wenn Kraus sich nicht
wissenschaftlich-theoretisch beschäftigt hat mit den Gegenständen seiner Satire, wenn er stattdessen
deren Bedeutung untersucht hat, dann könnte gefragt werden nach einer Methode, die sich
ebenfalls, zusätzlich zu einer formalen oder exakten Analyse, mit der Bedeutung ihrer Gegenstände
beschäftigt. Als eine solche Methode könnte die Semiotik bezeichnet werden. Diese behandelt nicht
nur sprachliche Phänomene, sondern zugleich deren gesellschaftliche Bedeutung.
Die Mythen des Alltags
29
von Roland Barthes als ein beispielhaftes semiotisches Werk behandeln
ideologiekritisch mit dem Mythos ein kollektives sprachliches Phänomen samt seiner
gesellschaftlichen Bedeutung. Barthes verbindet ebenfalls Sprach- mit Gesellschaftskritik. Er geht
dabei allerdings systematisch vor beziehungsweise ist den essayistischen Texten des ersten Teils,
die einzelne Mythen konkret (und zum Teil polemisch) behandeln nachgestellt ein theoretischer
zweiter Teil. Darin werden Erkenntnisse aus den Essays in eine Ordnung gebracht und es findet eine
Begriffsbestimmung des Mythos statt.
26
Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. S. 66.
27
vgl. hierzu z. B.: Pfabigan: Karl Kraus und der Sozialismus; Scheichl, Sigurd Paul: Karl Kraus und die Politik.
Innsbruck, Univ,. Diss. 1971.
28
Eagleton, Terry: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar 1993. S. 31.
29
Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964.

6
Mit den Mythen des Alltags verfolgt Barthes ­ gewissermaßen analog zu Kraus ­ ideologiekritische
Intentionen.
30
Dieses Werk stellt mehr dar als eine sogenannte ,strukturalistische` Sprachkritik, es
handelt sich um Kulturkritik, die
,,sich mit Phänomenen der Kultur in einem weiten Sinne auseinandersetzt. Zugleich öffnet er [Barthes] mit
den Texten des ersten Teils seinem eigenen Schreiben ein neues Experimentierfeld. Was sich in Am
Nullpunkt des Schreibens
31
bereits als kulturelles Projekt mit ideologiekritischer Stoßrichtung abzeichnete,
wird hier auf den gesamten kulturellen Raum übertragen. [...] Die Fragestellung ist soziologisch, ideologie-
und kulturkritisch bestimmt."
32
Konkret ,entmystifiziert` Barthes darin kollektive Phänomene des Alltags, deren sprachliche
Vermittlung durch die Massenmedien er untersucht, ähnlich wie Kraus medial (beziehungsweise
durch die Zeitungen) vermittelte Phänomene in Form der Phrase kritisiert.
Dem Mythos werden von Barthes ideologische Funktionen zugeschrieben, genau wie der Phrase
solche zugeschrieben werden. Die wesentliche Funktion des Mythos ist, gesellschaftliche
Widersprüchlichkeiten zu verdecken und den Verhältnissen den Anschein von Natürlichkeit zu
geben. Auch die von Kraus so kritisierte Phrase weist ähnliche Merkmale und Funktionen auf,
nämlich über tatsächliche Realitäten hinwegzutäuschen und diese als harmlos erscheinen zu lassen
(insbesondere im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, bei dem die von den Zeitungen
verbreiteten Phrasen den Eindruck eines quasi mittelalterlichen Kampfes erweckten, während es
sich tatsächlich um einen der ersten hochtechnologischen Kriege des Jahrhunderts handelte).
Der Begriff des Mythos ist also ein theoretisches und analytisches Instrument, um kollektive
sprachliche Phänomene zu analysieren und zu kritisieren ­ kollektive sprachliche Phänomene, die
in ihren Merkmalen und Funktionen denen ähnlich sind, die Karl Kraus als Satiriker kritisiert.
Zugespitzt formuliert könnte der Mythos als das theoretische Äquivalent zur Phrase bezeichnet
werden.
Zunächst wird also der gesellschaftliche Kontext der Fackel [1.1] sowie die Bedeutung der
zeitgenössischen Presse [1.2] dargestellt. Im Anschluss daran erfolgt eine allgemeine Darstellung der
Mythen des Alltags [2 - 2.1] sowie der ihnen zugrunde liegenden semiotischen Methode [2.2 - 2.2.1].
Danach folgt eine Erläuterung des Mythos-Begriffs [2.4 - 2.4.3] und einiger konkreter Beispiele aus
30
vgl. dazu die Vorbemerkung in: Barthes: Mythen des Alltags. S. 7: ,,Der Anlaß für eine solche Reflexion war meistens
ein Gefühl der Ungeduld angesichts der »Natürlichkeit«, die der Wirklichkeit von der Presse oder der Kunst
unaufhörlich verliehen wurde, einer Wirklichkeit, die, wenn sie auch die von uns gelebte ist, doch nicht minder
geschichtlich ist. Ich litt also darunter, sehen zu müssen, wie »Natur« und »Geschichte« ständig miteinander
verwechselt werden, und ich wollte in der dekorativen Darlegung dessen, »was sich von selbst versteht«, den
ideologischen Mißbrauch aufspüren, der sich meiner Meinung nach darin verbirgt."
31
Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. Frankfurt am Main 1982.
32
Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main 1998. S. 110 f.

7
der französischen Gesellschaft [2.5]. Der Mythos-Begriff soll dann als ein Instrument der Analyse und
Interpretation in Bezug gesetzt werden zu zwei ausgewählten Glossen von Karl Kraus [3].
Die Idee, die Satire von Karl Kraus in Bezug zu setzen zu einer systematischen Analyse (von
Hermann Broch), taucht auf in einem Werk von Joachim Stephan zur Satire und Sprache von Kraus:
,,Die Sätze von Kraus lesen sich wie die Illustration zu der systematischen Analyse Brochs, oder
umgekehrt: dieser liefert die Theorie zu dem bunten Gewimmel in der Fackel."
33
Meines Wissens
gibt es allerdings bislang keine Arbeit, die Karl Kraus in Beziehung setzt zu Barthes` Mythen des
Alltags. In einer Dissertation Volker Schmidts findet zwar eine Inbeziehungsetzung statt, aber mit
einer anderen Intention ­ Kraus sowie Barthes jeweils als eigenständige Bezugspunkte der
Sprachkritik Elfriede Jelineks darzustellen. Dennoch scheint es möglich, beide sozusagen
vergleichsweise zusammenzubringen. Ein Versuch soll hier jedenfalls unternommen werden.
Eine erste, sehr allgemeine Analogie zwischen Krausscher Pressekritik und Barthesscher
Mythenkritik ist ihr jeweiliger Status als Ideologiekritik.
Die Phrase als ein zentraler Bestandteil der Kritik von Kraus wird nicht lediglich behandelt als
bloße sprachliche Form, sie wird kritisiert im Hinblick auf ihre Verwendung, ihre gesellschaftliche
Bedeutung. Sie ist kaum losgelöst zu denken vom Kontext ihrer Verwendung. Während ganz
allgemein ,,der Umgang mit der Sprache [...] für Kraus die zentrale Voraussetzung für den Zustand
einer Gesellschaft"
34
war, so hat der spezifische Umgang mit der Sprache ­ die Verwendung von
Phrasen ­ ideologische Funktionen. Eine Kritik an der Phrasenverwendung ist damit nicht nur
Sprach- sondern zugleich Ideologiekritik. Kraus kennzeichnet die Phrase insbesondere dadurch,
dass sie keine ,,Identität von Wort und Realität"
35
aufweist, es also einen Widerspruch zwischen der
durch sie bezeichneten Sache und den verwendeten Worten gibt. Um vorhandene gesellschaftliche
Widersprüche zu überdecken, um ,,wie im Ersten Weltkrieg [...] die schreckliche Realität zu
übertünchen"
36
, kann die Phrase somit als ein ideologisches Instrument genutzt werden: ,,Die
Phrase in der Hand des Mächtigen dient zur Verschleierung der realen Macht."
37
Inwiefern war die
Gesellschaft Österreich-Ungarns widersprüchlich? Um die These nachvollziehen zu können, dass
die Phrase von Kraus als ein ideologisches Instrument kritisiert wird, mithilfe dessen Wider-
sprüchlichkeiten sprachlich geglättet werden, ist es notwendig, sich die zeitgenössischen gesell-
schaftlichen Strukturen überblicksartig bewusst zu machen.
33
Stephan, Joachim: Satire und Sprache. Zu dem Werk von Karl Kraus. München 1964.
34
Bertsch: Wider die Journaille. Aspekte der Verbindung von Sprach- und Pressekritik in der deutschsprachigen
Literatur seit Mitte des 19. Jahrhunderts. S. 83.
35
ebd. S. 82.
36
ebd. S. 93.
37
Ederer, Hannelore: Die literarische Mimesis entfremdeter Sprache. Zur sprachkritischen Literatur von Heinrich Heine
bis Karl Kraus. Köln 1979. (Zugl.: Mannheim, Univ., Diss. 1977) S. 376.

8
1. Hintergründe der Pressekritik von Karl Kraus
1.1 Gesellschaftliche Verhältnisse Österreich-Ungarns und Wiens
Der geschichtliche Kontext der Fackel und der in ihr enthaltenen Kritik ist eine zutiefst
widersprüchliche Gesellschaft. Interessanterweise sprechen Allan Janik und Stephen Toulmin im
Zusammenhang mit dieser Widersprüchlichkeit ausdrücklich von einem ,,Mythos"
38
Wien, den es in
Bezug auf die Wahrnehmung dieser Stadt gäbe; der Begriff wird allerdings nicht weiter analytisch
verwendet, er ist lediglich eine Umschreibung für ,,geläufige Vorstellung".
39
Deutlich wird an dieser
Stelle zumindest das Vorhandensein einer Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Realität und der
Wahrnehmung derselben. Die Widersprüchlichkeit, die die Österreichisch-Ungarische und die
Wiener Gesellschaft zu Kraus` Lebzeiten kennzeichnet, findet sich auf verschiedenen Ebenen; auf
der politischen Ebene betrifft der vielleicht grundsätzlichste Widerspruch die staatliche Ordnung
selbst ­ die Monarchie ­ deren Grundprinzipien gewissermaßen kollidierten mit den Prinzipien der
zwei größeren geistigen Strömungen Europas beziehungswweise diesen nicht entsprachen:
,,Da die beiden entscheidenden geistigen Bewegungen des modernen Europa ­ Reformation und Aufklärung
­ das dynastische System der Habsburgermonarchie unberührt gelassen hatten, überlebte ein auf
anachronistischen Prinzipien aufgebauter Vielvölkerstaat bis in ein Jahrhundert, das diesen Prinzipien von
Grund auf feindlich gesinnt war."
40
Die staatliche Ordnung Österreich-Ungarns ­ die konstitutionelle Doppelmonarchie ­ beinhaltete
dennoch gewissermaßen ,demokratische` Strukturen, die wiederum nicht widerspruchsfrei
funktionierten. Das Parlament wurde in seiner Funktion stark beeinträchtigt einerseits durch den
jahrelangen Streit um die Stellung und Autonomie der einzelnen Nationalitäten (Nationali-
tätenstreit), andererseits durch Obstruktionstaktiken Einzelner.
41
Auch die Einführung des
allgemeinen Wahlrechts für Männer führte nicht zu einer ,demokratischen` Verteilung der
Machtverhältnisse Österreich-Ungarns, vielmehr verblieb ,,die Kontrolle über den immer stärker
auseinanderstrebenden Staat in den Händen der alten herrschenden Klasse".
42
,,Das vielzungige
Reich der Donaumonarchie hat sich niemals als eine politisch kohärente Gesellschaft konsolidieren
können."
43
Es ist der ,,Wechsel von einer mittelalterlichen zu einer modernen Gesellschaft"
44
, der in
Österreich-Ungarn sich nicht widerspruchsfrei vollzog.
38
Janik, Allan; Toulmin, Stephen: Wittgensteins Wien. München, Wien 1984. S. 41.
39
Janik, Toulmin: Wittgensteins Wien. S. 41.
40
Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. S. 27.
41
vgl. ebd. S. 29.
42
ebd. S. 30.
43
Naumann: Der Abbau einer verkehrten Welt. Satire und politische Wirklichkeit im Werk von Karl Kraus. S. 97.
44
Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. S. 28.

9
Innerhalb der verschiedenen sozialen und politischen Gruppierungen gab es tiefgreifende
Spaltungen; so etwa innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, deren Mitglieder zwischen Aufgabe und
Bewahrung der eigenen kulturellen Identität hin- und her tendierten. Kraus` Text Eine Krone für
Zion
45
thematisiert satirisch unter anderem diesen Widerspruch, der sich durch diesen Teil der
Österreichisch-Ungarischen Bevölkerung zog. Zudem herrschte ein stark verbreiteter Antisemitis-
mus, mit dem Angehörige des jüdischen Glaubens konfrontiert waren.
46
Die Sozialdemokratie,
deren Maxime unter anderem eine internationale Geschlossenheit war, stand vor dem Dilemma,
einzelne nationale Bestrebungen mit dieser Maxime zu vereinbaren.
Eine der bedeutendsten politischen Ideologien, der Liberalismus (von Kraus wohl am heftigsten
angegriffen), wies den Widerspruch auf, dass die von ihm propagierten Werte wie Freiheit,
Gleichheit und Fortschritt die Welt, die zu beschreiben sie ursprünglich mal gedacht gewesen sein
mögen, nicht mehr beschreiben konnten; dass liberale Prinzipien, die ihrem Wesen nach für alle
gelten, für die Lebensrealität von z. B. Arbeitern in den Vorstädten keine Bedeutung hatten. Die
Fackel Nr. 6 enthält eine Beschreibung der Verhältnisse, in denen Arbeiter aus Brünn ­ ,,ein von
Schloten umsäumtes, rauchverdüstertes Häusermeer, dem man kaum einen Blick aus dem
Coupéfenster gönnen will, wenn man im Schnellzug gegen Norden fährt, die industrielle Vorstadt
von Wien, in die sich die Invaliden des österreichischen Liberalismus zurückgezogen haben"
47
­
sich befanden. Für Reinhard Merkel besteht dieser Widerspruch in einem Auseinandertreten des
,,wirtschaftliche[n] und [des] aufgeklärt-gesellschaftliche[n] Liberalismus", die ,,in ihren
Wertorientierungen gegeneinander in Bewegung gerieten."
48
Eklatant waren die Widersprüche auch
in dem Bereich, den man vielleicht das ,öffentliche Leben` nennen könnte:
,,Die konstitutionellen und sozialen Widersprüche der habsburgischen Monarchie und ihrer Hauptstadt
könnten kaum knapper dargelegt werden [als in einer zitierten Beschreibung Wiens in Robert Musils Der
Mann ohne Eigenschaften
49
; C. E.]. Die gleichen Dinge, die an der Oberfläche sinnenfroher Weltlichkeit
Glanz und Gloria aufwiesen, waren untergründig der Ausdruck des Elends. Die Stabilität der Gesellschaft
mit ihrer Freude an Pomp und Aufwand war nur der Ausdruck eines versteinerten Zeremoniells, das kaum
das kulturelle Chaos verhüllen konnte. Bei näherer Betrachtung verkehrte sich all die oberflächliche
Herrlichkeit in ihr Gegenteil. Das ist eine Art grundlegender Wahrheit über die Doppelmonarchie, nimmt
man alle ihre Aspekte zusammen. Die gleiche Widersprüchlichkeit spiegelte sich auch in der Politik und in
den Sitten, in der Musik, der Presse und den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen."
50
45
Kraus, Karl: Eine Krone für Zion. Wien 1898.
46
vgl. hierzu: Schnitzler, Arthur: Antisemitismus in Wien. In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Literatur,
Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 2000. S. 116 ff. Schnitzlers Text gibt einen Einblick in den
Antisemitismus an den Universitäten.
47
Kraus, Karl: Die Fackel. Wien 1899-1914. Nr. 6 (Mai 1899). München 1968-1976. S. 6.
48
Merkel: Strafrecht und Satire im Werk der Fackel. S. 124.
49
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1987.
50
Janik; Toulmin: Wittgensteins Wien. S. 45.

10
Einerseits wurden hochkulturelle Werke verfasst, die eine gewisse positive gesellschaftliche
Stimmung zum Ausdruck brachten, andererseits entsprachen die tatsächlichen gesellschaftlichen
Ereignisse durchaus nicht dieser Stimmung oder gaben keinen Anlass zu einer solchen.
51
Eine der
bekannten Wiener Institutionen, das Kaffeehaus, war unter anderem deshalb so beliebt, weil die
Wohnsituation in Wien sehr ungünstig war. Insgesamt standen sich sozusagen Glanz und Elend, der
Luxus zum Beispiel der Ringstraße, der Kaiserlichen Oper oder des Burgtheaters und die Armut der
Arbeiterquartiere einander gegenüber, wobei sich das wohl in jeder größeren Stadt ähnlich verhält.
Das, was in der Kunst oder in den Wissenschaften heute als Avantgarde oder Elite bezeichnet und
größtenteils anerkannt wird, traf in der damaligen Gesellschaft auf erheblichen Widerstand und
Verkennung. Oft genannte Beispiele hierfür sind der Architekt Adolf Loos oder der Begründer der
Psychoanalyse Sigmund Freud. Der Gesetzgebung lag der Widerspruch zugrunde, kirchliche und
zivile Normen miteinander in Einklang bringen zu sollen
52
; bei staatlichen und gesellschaftlichen
Institutionen gab es enorme Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der Versuch, diese
zu überbrücken scheiterte oftmals: ,,Anstrengungen zur Modernisierung der gesellschaftlichen
Institutionen und Denkweisen hinkten allerdings weit hinterher und wurden durch parlamentarische
Obstruktion und die anachronistische Einstellung der staatlichen Verwaltung behindert."
53
Das
Duell als eine verbreitete gewalttätige Form der Konfliktlösung stellte die Beteiligten vor den
Widerspruch, entweder den Regeln des Duells sowie einem militärischen Kodex oder der
herrschenden Gesetzgebung gehorchen zu müssen. Selbst in der Mode drückten sich erhebliche
Widersprüche aus.
54
Ein Ort, an dem diese gesamtgesellschaftliche Widersprüchlichkeit symbolisch
sich ausdrücken konnte, war das Theater.
Etwas allgemeiner ausdrücken und zusammenfassen ließe es sich folgendermaßen:
,,Diese Wiener Situation ist durch eine Reihe von Vorgängen gekennzeichnet, die teils allgemeiner Natur,
teils aber spezifisch österreichisch sind und deren Zusammentreffen die Sonderstellung dieser Stadt
begründet. Es sind dies die Auflösung der Habsburgischen Monarchie, die wachsende Zahl von jüdischen
Intellektuellen in bestimmten Bereichen von Wirtschaft und Kultur ­ ein Vorgang, der durch die besondere
Lage in Österreich begünstigt wird ­, die fortschreitende Technisierung, die Erschöpfung der produktiven
Kräfte und das Erstarken der Journalistik."
55
Um Letztere wird es im nächsten Kapitel gehen.
51
vgl. hierzu und auch für das Folgende: ebd. S. 41 f.
52
vgl. Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. S. 39 f.
53
ebd. S. 38.
54
vgl. ebd. S. 42.
55
Stephan: Satire und Sprache. Zu dem Werk von Karl Kraus. S. 160.

11
Grundsätzlich gab es also einen Widerspruch zwischen ,,der bestehenden Gesellschaftstruktur und
den Bewusstseinsformen, mit denen sie wahrgenommen wurde."
56
Die tatsächlichen Zusammen-
hänge zwischen beidem exakt herauszuarbeiten mag sehr schwierig sein. Moritz Csáky stellt diesen
Versuch für die sogenannte Wiener Moderne an und stellt fest, dass ,,eine der unleugbar
schwierigsten Aufgaben bei der historischen Rekonstruktion von Bewusstseinsinhalten einer
vergangenen Epoche wohl die verständlich-schlüssige Darstellung der sozialen Voraussetzungen und
Bedingtheiten eben dieser Bewusstseinsinhalte sein [dürfte]."
57
Deutlich dürfte jedoch zumindest die
Widersprüchlichkeit der Österreichisch-Ungarischen und der Wiener Gesellschaft geworden sein.
Diese Widersprüchlichkeit drückt sich aus in den kollektiven Bewusstseinsformen, den kollektiven
Vorstellungen, die Kraus anhand der Phrase satirisch kritisiert. Maßgeblich geformt wurden diese
Vorstellungen von den Zeitungen, die in Wien erschienen; um die Rolle und die Bedeutung des
Pressewesens als den spezifischen Hintergrund der Kritik von Karl Kraus geht es im Folgenden.
1.2 Das Pressewesen in Wien
,,Austria in orbe ultima: in einer Welt, die betrogen wird, glaubt Österreich am längsten. Es ist das
willigste Opfer der Publizität, indem es nicht nur glaubt, was es gedruckt sieht, sondern auch das
Gegenteil davon glaubt, wenn es auch dieses gedruckt sieht."
58
Abgedruckt im pressekritischen
Aufsatz Prozess Friedjung drückt dieses Zitat nicht nur Kraus` Geringschätzung gegenüber der
Wiener beziehungsweise der Österreichisch-Ungarischen Öffentlichkeit aus, sondern lässt auch
erahnen, welchen Einfluss die zeitgenössische Presse auf die Bevölkerung gehabt haben muss. Um
diesen immensen Einfluss, um die Stellung, die Bedeutung und die Charakteristik des Pressewesens
als ein weiterer Hintergrund der Kritik von Karl Kraus geht es im Folgenden.
Wenn gesagt wurde, dass die Kraussche Pressekritik ­ und im Speziellen die Kritik an der Phrase ­
Ideologiekritik ist und Ideologiekritik verstanden wird als Kritik an kollektiven Vorstellungen, an
der ,öffentlichen Meinung`, dann ist es zum Verständnis des Kontextes der Fackel und auch der
Heftigkeit dieser Kritik notwendig zu wissen, wie sehr die ,öffentliche Meinung` von den Zeitungen
dominiert wurde. Die kollektiven Vorstellungen der Bevölkerung, die Kraus kritisiert, wurden
maßgeblich geformt von den verschiedenen Zeitungen, die in Wien und Österreich-Ungarn
erschienen; in Anbetracht der Tatsache, dass es andere Quellen der Informationsbeschaffung wie
Radio oder Fernsehen nicht gab, stellten die Zeitungen die Hauptquelle für Informationen über das
gesellschaftliche Geschehen dar.
56
Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. S. 37.
57
Csáky, Moritz: Die sozial-kulturelle Wechselwirkung in der Zeit des Wiener Fin de siècle. Versuch einer Deutung. In:
Berner, Peter; Brix, Emil; Mantl, Wolfgang (Hrsg.): Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne. München 1986. S.
139 f.
58
Kraus, Karl: Prozess Friedjung. In: Wagenknecht: Karl Kraus: Schriften, Bd. 4. Untergang der Welt durch schwarze
Magie. S. 21.

12
,,Ihrem Eigenanspruch nach ist die Presse in der bürgerlichen Gesellschaft ein zentrales Forum der
öffentlichen Urteilsbildung, indem sie wichtige Informationen aus Politik, Wirtschaft und Kultur verbreitet.
Gerade dazu aber taugt die zeitgenössische Presse, Kraus zufolge, aufgrund der ihr eigenen Struktur
grundsätzlich nicht."
59
Einerseits also hat die Presse die Aufgabe und die Verantwortung für die Urteilsbildung der
Öffentlichkeit, andererseits gibt es erhebliche Zweifel daran, ob sie dieser Aufgabe gerecht werden
könne. Der Korrespondent der Londoner Times spricht von den Wiener Zeitungen als ,,Werkzeuge,
die daran arbeiten, die öffentliche Meinung in erster Linie nach den Wünschen der staatlichen
Behörden zu formen [...]."
60
Es gibt also hier einen Zweifel an der Objektivität der Zeitungen.
Dass die Zeitungen überhaupt in diese einflussreiche Position gelangen konnten, lag an diversen
sozialen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen:
,,Die Einführung der Rotationspresse und der Linotype-Setzmaschinen hatte die Drucktechniken revolutio-
niert. Eisenbahn, Telefon, Telegramm und Fernschreiber veränderten das Verkehrs- und Fernmeldewesen.
Nachrichtenagenturen und amtliche Pressebüros begannen mit der systematischen Erfassung von
Meldungen, während über die Börse ausreichend Gelder für eine gewaltige Ausweitung des journalistischen
Betätigunsfeldes zur Verfügung standen. Der Bevölkerungszuwachs und die Abnahme des Analphabetentums
machten Massenauflagen möglich, und es wurden Zeitschriften neuen Typs eingeführt, um das Interesse
eines Massenpublikums von halbgebildeten Lesern zu gewinnen."
61
Der Zweifel an der Objektivität der Presse wird noch dadurch genährt, dass es eine Verquickung
dieser mit dem Staatsapparat gab. Aufgrund der schlecht funktionierenden parlamentarischen
Institutionen waren die Regierungen gewissermaßen auf die Presse angewiesen, und zwar
dahingehend, dass Maßnahmen in den Zeitungen ,diskutiert` wurden und nicht im Parlament.
62
Anders herum ordnete sich die Presse dem ,,vermeintlichen staatspolitischen Interesse"
63
unter,
anstatt ihre Aufgabe der ,,faktengetreuen Berichterstattung"
64
zu erfüllen. Dieselbe wurde natürlich
durch die amtliche Zensur erschwert, die herrschte. Die Verquickung beider bestand aber nicht nur
in einer Einflussnahme der Regierungen auf die Presse, sondern auch in einer Einflussnahme der
Presse auf die Politik. Sie hatte die Funktion eines ,,Stichwortgeber[s] der Regierung."
65
,,Für Kraus war die Presse das Paradigma jener »wirklichen« Herrschaftsmächte hinter den »Scheinmächten«
des Staates und der Politik; die eigentliche gesellschaftsformende und -deformierende Gewalt, gegenwärtig
und wirksam in allen Bereichen des sozialen Lebens, aber jenseits und außerhalb eines regulierenden
Zugriffs der nominellen Inhaber der politischen Macht."
66
59
Djassemy, Irina: Der »Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit«. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theoder W.
Adorno. Würzburg 2002. S. 221.
60
Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. S. 57.
61
ebd. S. 55.
62
vgl. ebd. S. 57.
63
ebd. S. 39.
64
ebd. S. 39.
65
ebd. S. 57.
66
Merkel: Strafrecht und Satire im Werk der Fackel. S. 149.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783863419318
ISBN (Paperback)
9783863414313
Dateigröße
328 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Satire Semiotik Ideologiekritik Medienkritik Pressekritik
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Titel: Der Satiriker und der Theoretiker: Karl Kraus und Roland Barthes als Ideologiekritiker
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