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Der Kult des Organischen: Psychedelische Kunst und Jugendstil im Bildvergleich

©2011 Bachelorarbeit 32 Seiten

Zusammenfassung

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist durch tiefgreifende Veränderungen geprägt. Neue Denkweisen in moralischen, sozialen, religiösen und naturwissenschaftlichen Fragen erschüttern den Menschen. Die Seele des Menschen, Ängste, Sehnsüchte, Phantasien und das Irrationale geraten zunehmend in den Mittelpunkt. Diese Erscheinungsformen finden vor allem Ausdruck in der Kunst.
Künstler des Jugendstils wollten neue Wege in der Kunst gehen und der Nachahmung vergangener Stile einen Riegel vorschieben. Kaum eine Epoche verinnerlichte die Einheit von Mensch und Umwelt so sehr wie die Jugendstilkünstler und deren Anbetung der vegetabilen und organischen Formen. Intellektuelle Vorbilder waren etwa die Taoisten oder die Buddhisten. Künstlerisches Vorbild und Orientierung boten japanische Künstler, welche die symmetrische Bildgestaltung ablehnten, da sie leblos sei und in der organischen Welt nicht vorkäme. Das Unvollkommene ist hingegen die Triebfeder der Phantasie.
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts feierte der Jugendstil in der Psychedelischen Kunst seine Reinkarnation. Auch die Künstler der Psychedelischen Kunst ließen sich vom Zen-Buddhismus beeinflussen, himmelten die organische Farben- und Formenwelt an und rebellierten gegen die vorherrschende bürgerliche Moral. Zwischen Sex, Drugs and Rock´n´Roll versuchten diese ihre psychedelischen Erlebnisse und die Erlebnisintensität in das Zentrum ihrer Kunst zu stellen. Drogen wie LSD sollten die visuelle Wahrnehmung steigern und das Bewusstsein erweitern.
Beide anti-akademischen Strömungen, sowohl der Jugendstil als auch die Psychedelische Kunst, ernteten Spott und Verachtung. Nicht zuletzt wird einer ihres charakteristischsten Merkmale, die geschwungene Linie, als Ausdruck von Genuss und Leidenschaft in der heutigen Konsumwelt eingesetzt.
Das vorliegende Buch widmet sich anhand eines Bildvergleiches zwischen einem Jugendstilkünstler und einem Vertreter der psychedelischen Kunst beiden Phänomenen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

Wer an den Jugendstil denkt, dem fallen in erster Linie Frauen mit langem, welligem Haar ein, die man unter anderem mit dem Künstler Alfons Mucha in Verbindung bringt. Andererseits denkt man an vegetabile, organische und fließende Formen, die für den Jugendstil charakteristisch sind.

Dabei hatte der Jugendstil etwa zwischen 1890 und 1910 nur eine kurze Hochphase. Er wurde durch den darauf folgenden „Geometriekult“ und die Forderungen nach sachlichen, klaren, und geometrischen Formen in den Hintergrund gedrängt. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass Wesensmerkmale des Jugendstils bis in die Moderne fortgetragen wurden und seine Rehabilitierung in der psychedelischen Kunst der Sechziger in einen neuen Höhepunkt gipfelte. Der Jugendstil und die psychedelische Kunst hatten vor allem eines gemeinsam, sie suchten nach etwas Neuem und Ungewöhnlichem, ernteten dafür aber auch Spott und Verachtung.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht ein interpiktoraler Vergleich zwischen dem Jugendstilkünstler Alfons Mucha und Rick Griffin, einem Vertreter der psychedelischen Kunst. Es soll untersucht werden, welche gestalterischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede beide Künstler aufzeigen und wie diese in ihren Grafiken zum Ausdruck kommen.

Die Arbeit geht von dem Standpunkt aus, dass der Jugendstil nicht, wie oft angenommen, mit dem Ersten Weltkrieg endete, sondern viele gestalterische Gemeinsamkeiten mit der psychedelischen Kunst der Sechziger aufweist und dort in weiten Zügen wieder aufgegriffen wurde. Ein Zusammenhang zwischen dem Jugendstil und der psychedelischen Kunst fand in der kunsthistorischen Forschung und in der Literatur kaum Beachtung. Insbesondere die psychedelische Kunst wurde in den Diskursen über die Sechziger weitestgehend vernachlässigt.

Dementsprechend wird der Versuch unternommen, anhand eines Vergleichs zwischen Alfons Mucha und Rick Griffin, den Zusammenhang zwischen dem Jugendstil und der psychedelischen Kunst zu verdeutlichen.

Zunächst wird auf den Begriff des Jugendstils eingegangen und das Bild Chocolat Idéal von Mucha besprochen. Darauf aufbauend soll der Begriff der psychedelischen Kunst thematisiert und das Bild Aoxomoxoa von Rick Griffin bewertet werden. Der Fokus wird hier auf das Frontcover der LP Aoxomoxoa gerichtet. Im Zusammenhang mit dieser Bildbeschreibung wird an den entsprechenden Stellen ein interpiktoraler Vergleich gezogen.

Außerdem soll die Entwicklung der psychedelischen Kunst und ihre Einflüsse in den Sechzigern kurz umrissen werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit stützt sich der Bildervergleich auf wesentliche Vergleichskriterien, wie etwa die von beiden Künstlern verwendeten Farben und der Einfluss des Zen-Buddhismus auf diese Kunstströmungen.

Das von Malcolm Haslam herausgegebene Werk Jugendstil. Seine Kontinuität in den Künsten., wagt als eines der wenigen einen Bezug zur psychedelischen Kultur der Sechziger und lieferte in Bezug auf Rick Griffin wesentliche Anhaltpunkte. Die Begriffsbildung des Jugendstils, geschichtliche Hintergründe und Zusammenhänge spiegeln sich in den Werken Jugendstil. Der Weg ins 20. Jh. von Helmut Seling, Jugendstil. von Mieczysław Wallis und Kunst um 1900. München. von Maurice Rheims wider. Der Einfluss der fernöstlichen Kunst und des Zen-Buddhismus auf den Jugendstil und die psychedelische Kunst zeigt sich in dem von Hugo Munsterberg publizierten Werk Zen-Kunst. und Zen Buddhismus. Bd. 129/130 . von Alan W. Watts. Hauptquelle für die Entwicklung der psychedelischen Kultur in den Sechzigern sind die relativ neu erschienenen Werke Politik, Pop & Afri-Cola, 68er-Plakate. von Christoph Grunenberg . Als Grundlage für den im zweiten Kapitel aufgeführten Zusammenhang zwischen der psychedelischen Kunst und der Droge LSD dienten vor allem Hans Leuenbergers Im Rausch der Drogen. Hasch, LSD und andere Drogen. und Brigitte Marshalls Die Droge und ihr Double: zur Theatralität anderer Bewusstseinszustände.

Die Schlussbetrachtungen in der vorliegenden Arbeit beleuchten die Kritik am Jugendstil und der psychedelischen Kunst und weisen darauf hin, wie Elemente aus diesen beiden Strömungen in der heutigen Konsumwelt aufgegriffen werden.

II. Hauptteil

1. Der Begriff Jugendstil

Der Jugendstil ist eine Kunstrichtung um die Wende zum 20. Jahrhundert, über die es unzählige, mitunter sogar die meisten Bezeichnungen gibt.

In deutschsprachigen Gebieten wurde dieser unter anderem auch Lilienstil oder Wellenstil genannt. Ein Grund dafür ist die Verehrung der organischen Welt und das Aufgreifen von Formen aus der Welt der Flora und Fauna. In Italien wird er entsprechend Stile Flore genannt , das in etwa mit Pflanzenstil übersetzt werden kann.[1]

In Frankreich nannte man ihn S tyle Nouille, da die Haartracht der Mädchen, die die meisten Art Nouveau[2] Plakate verzierten, an Nudeln erinnerte.[3] Frauen mit langem, welligem Haar, waren ein beliebtes Jugendstilmotiv. In Großbritannien war dieser auch unter den Namen s tyle Morris, Liberty, style 1900 oder Glasgow style, bekannt.[4]

Ein Wegbereiter für diese Strömungen war der englische Dichter, Denker und Maler William Blake (1757 - 1827). Seine Werke sind geprägt von an eine Peitschenschnur erinnernde s-förmige Linie[5], Asymmetrien[6] und die Vorliebe für schlanke Gestalten. Diese Merkmale nahmen einige Züge des Jugendstils vorweg und hinterließen große Wirkungen bei vielen Jugendstilkünstlern.[7]

Einen weiteren entscheidenden Einfluss übte William Morris (1834 - 1896) auf den Jugendstil aus. Die unter anderem von Morris ins Leben gerufene Arts and Crafts ( Kunst und Handwerk) Bewegung im viktorianischen England in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bildete eine der wichtigsten Grundlagen des Jugendstils. Morris´ Bestreben war es, eine Synthese aus Kunst und Handwerk herzustellen. Er besann sich auf das mittelalterliche Handwerkertum zurück und erhob die gotische Kunst zum Vorbild, in der nach Morris die Handwerker ihre Arbeiten noch selbst entwarfen und ausführten.[8]

Morris´ Vorwurf war gegen die fortschreitende Industrialisierung und die Maschine als Instrument der Massenproduktion gerichtet, welche die Handarbeit mehr und mehr verdrängte.[9] Ihm gelang es, in einigen Gebieten in England das Kunsthandwerk neu aufleben zu lassen. Seine Kunst war jedoch nicht für jeden erschwinglich und fast ausschließlich reichen Personen vorbehalten, da Morris mit der Hand nicht ausreichend produzieren konnte.[10] Um die Kunstobjekte für alle preisgünstig anbieten zu können, war man dennoch gezwungen, sich der Massenproduktion zu öffnen und die Maschine als ein Instrument der künstlerischen Produktion anzuerkennen.[11] Neue Wege wollte man auch auf künstlerischem Gebiet im Jugendstil gehen.

Dies äußerte sich in dem Wunsch der Jugendstilkünstler am Ende des 19. Jahrhunderts mit der akademischen Kunst zu brechen.[12] Des Weiteren wollte man über den Historismus hinausgelangen und der Nachahmung vergangener Stile entgegenwirken. Durch das Streben nach einer Synthese der Künste, wollten die Jugendstilkünstler in die Richtung einer gänzlich neuen Einheit gelangen.[13]

Das Verlangen nach einem einheitlichen Stil, welches die Jugendstilkünstler beabsichtigten, ist Richard Wagner nachempfunden. Er erhoffte sich eine Verschmelzung von Schauspielkunst, Musik, Poesie, Malerei und Bildhauerei.[14]

Die Zeit des Fin de siècle, in der der Jugendstil seine Hochphase hatte, war geprägt durch tiefgreifende Veränderungen im religiösen, naturwissenschaftlichen und politischen Denken. Neben moralischen, sozialen und materiellen Fragen war es unter anderem Sigmund Freud, der mit der Begründung der Psychoanalyse und der Entdeckung des Unterbewusstseins nicht nur Wohlwollen, sondern Angst und Verwirrung verbreitete.[15] Außerdem wirkte die Entwicklung der Massenkommunikation und der Anstieg des Informationsflusses um die Jahrhundertwende zunehmend belastend auf die Menschen.

Die Psyche des Menschen, Ängste, Phantasien und Sehnsüchte rückten mehr und mehr in den Mittelpunkt.[16]

Nicht nur Seelenzustände, sondern auch das Thema der Frau und der Sexualität prägten das Denken um die Jahrhundertwende und spiegeln sich beispielsweise in den Bildern von Alfons Mucha, Gustav Klimt und Aubrey Beardsley wider.

Der Jugendstil wurde zudem stark vom Positivismus geprägt, demnach das menschliche Verhalten und menschliche Erfahrung sich der Logik der Naturwissenschaften zu unterwerfen hatten. Einfluss hatten Anhänger von Charles Darwin wie Thomas Huxley in England und Ernst Haeckel in Deutschland, die sich mit Meeresbiologie beschäftigten, wobei vor allem Haeckels Illustrationen[17] von Mikroorganismen eine große Inspirationsquelle für viele Jugendstilkünstler darstellten.[18]

Der Jugendstil war ein paneuropäisches Phänomen. Zur Verbreitung des Jugendstils trugen unter anderem zahlreiche internationale Ausstellungen, wie z.B. die Weltausstellung von 1900 in Paris, bei.[19] In Deutschland waren es insbesondere illustrierte Zeitschriften. Ab 1895 erschien in Berlin der Pan und ab 1896 in München die Jugend, der Namensgeber des Jugendstils, in gewaltigen Auflagen. Diese hatten eine große Bedeutung, da sie die Vermittlung von Künstlern, Künsten und Ländern wesentlich beeinflussten.[20]

Im Folgenden soll das Werk Chocolat Idéal von Alfons Mucha näher analysiert und in seinen Einzelheiten erläutert werden.

1.1 Alfons Maria Mucha: Chocolat Idéal

Bei der hochformatigen[21] Farblithografie Chocolat Idéal (Abb.1) des tschechischen Künstlers Alfons Maria Mucha (1860 - 1939) handelt es sich um einen Werbedruck, der um 1896 entstand.

Der künstlerische Durchbruch und Erfolg gelang Mucha im Dezember 1894 durch einen Plakatentwurf für Gismonda, einem Theaterstück, welches für die Schauspielerin Sarah Bernhardt geschrieben wurde. Darüber hinaus wurden die Plakate in hoher Stückzahl produziert und fanden enorme Verbreitung auf öffentlichen Plätzen, wo sie jeder sehen konnte. Er wurde daraufhin in nahezu ganz Paris berühmt und erhielt unzählige Werbeaufträge. Mucha machte sich vor allem mit Werbung für Bier, Seife, Fahrräder und Schokolade, wie bei der Grafik Chocolat Idéal, einen Namen.[22]

Das Bild zeigt im Vordergrund eine junge, grazile Frau in einem Ganzkörperportrait, welche achsensymmetrisch beinahe die ganze Höhe des Bildes einnimmt. Sie trägt ein orangenfarbiges Kleid mit auffallendem Faltenwurf und offenem, welligem Haar, welches an der Stirn durch eine Schleife verziert wird.

Das wellige Haar, oft in Verbindung mit nackten Frauen, bezieht sich auf die sexuell-erotische Thematik[23], die im Jugendstil eine große Rolle gespielt hat. Der Jugendstil wurde sogar als ein erotischer Stil bezeichnet.[24]

Das Kolorit ihres Kleides ähnelt sehr dem Inkarnat der jungen Frau. Ihr Blick ist zu dem Mädchen mit kurzem Haar und weißem Kleid geneigt, welches an ihrem Kleid zerrt und vermutlich ihre Ungeduld bezüglich der heißen Schokolade ausdrückt. Auffällig ist, dass dieses Mädchen nur einen Schuh trägt.

Das Mädchen zu ihrer anderen Seite führt ihre linke Hand zum Mund und guckt ebenso erwartungsvoll wie das andere. Im Gegensatz zu den anderen zwei weiblichen Personen trägt sie langes, dunkles, welliges Haar. Auch ihr Kleid ist dunkler als das der anderen.

Mucha setzt für die weiblichen Personen sehr warme, sanfte und zarte Farben ein. Weiß gehörte zu den beliebtesten Farben des Jugendstils und wurde aufgrund seiner sinnlichen und stimmungsvollen Wirkung häufig eingesetzt.[25]

Mucha verwendete diese beispielsweise bei dem Kleid des einen jungen Mädchens und der Schleife der jungen Frau. Die Farben der weiblichen Personen stellen zum Bildhintergrund einen starken Hell-Dunkel Kontrast dar, wodurch sie in den Bildmittelpunkt gerückt werden. Dadurch, dass sich der Bildhintergrund zur oberen Bildhälfte hin verdunkelt, erzeugt Mucha Tiefenwirkung im Bild. Auch die unterschiedlich im Bild angeordneten Schriftzüge heben sich stark vom Hintergrund ab, wie beispielsweise der gebogene braunfarbene Chocolat Idéal Schriftzug auf weißem Untergrund über der jungen Frau. Durch den Hell-Dunkel Kontrast wird der Blick des Betrachters auf den Namen des Produktes gelenkt.[26] Die Frau und die beiden Mädchen erscheinen durch das beinahe frontal auf sie ausgerichtete Licht am hellsten. Dadurch, dass sie im Gegensatz zu den Schriftzügen mehr Bildraum einnehmen, wird der Blick zunächst über den Reiz der jungen Frau auf das Bild und dann das eigentliche Produkt gerichtet.

Das helle Kolorit der drei Personen trägt dazu bei, dass sie kompositorisch eine Einheit bilden. Die junge Frau stützt mit ihrer linken Hand und mit gespreizten Fingern ein Tablett, auf welchem sich ein Löffel und drei Tassen befinden, aus denen Wasserdampf emporsteigt. Die Wasserdampfwolken sind dabei bewusst übertrieben dargestellt. Sie bilden ein organisches Gefüge, wirken sinnlich und verführerisch zugleich und werden durch blaue und ockerfarbene Töne abstrahiert. Der Wasserdampf gleicht einem Nebel aus ätherischen Ölen, die die Sinne des Betrachters betäuben sollen. Sinnlichkeit wird als Element von Mucha verstanden, die Begierde auf heiße Schokolade zu steigern.

Entscheidendes Gestaltungselement ist die fließende, geschwungene Linie.[27] Die schlängelnde Linie scheint sich wie in Bewegung zu befinden. Einer der Gründe, warum der überwiegende Teil der Jugendstilkünstler die gerade Linie ablehnte ist, dass sie eine unnatürliche Abstraktion für sie darstellte und in der organischen Welt, die die Künstler anbeteten, nicht vorkommt.[28]

Im linken unteren Bild sind drei Verpackungen mit dem bereits im Bildtitel angelegten Schriftzug Chocolat Idéal versehen. Auf der vorderen, diagonal versetzten Verpackung ist der Schriftzug en Poudre Soluble (dt.: als lösliches Pulver)zu erkennen, der auch über dem Mädchen mit dem rotfarbenen Kleid auftaucht. Auf einer von den gestapelten Schokoladenverpackungen befindet sich an der Seite der Verpackung der Schriftzug Pour Cacao (dt.: Kakao) und 6 Double Tasses (dt.: 6 Doppeltassen). Unter dem Mädchen mit dem roten Kleid hebt sich ein brauner Schriftzug auf weißem Untergrund ab, auf dem Donne P´tit´ Maman! (dt.: Gib es uns kleine Mutter) steht.

Die einzelnen Schriftzüge sind dabei so klein, dass, wenn sie als größer angelegtes Werbeplakat fungieren müssten, kaum aus der Entfernung lesbar sein dürften. Am unteren Bildrand befinden sich ebenfalls Verpackungen, die aufgrund der ornamentalen Rahmung und der Bildfläche verdeckt und somit nicht vollständig zu erkennen sind. Der Rahmen ist von Mucha so gesetzt, als würden die Schokoladenverpackungen einen eigenen Bildraum einnehmen und aufgrund der Schattenwirkung hinter der Bildfläche mit den drei weiblichen Personen liegen. Mucha spielt mit Vorder- und Hintergrundwirkung und dem Phänomen der Figur-Grund-Beziehung, wodurch der Betrachter verwirrt wird, was vorne und hinten ist. Der sichtbare Fuß der jungen Frau und der rechte Fuß des Mädchens mit dem langen dunklen Haaren ragen über die ornamentale Begrenzungsfläche hinaus und suggerieren einen Vordergrund. Es hat den Anschein, dass durch die Andeutung eines Bildvordergrundes, in dem sich der Betrachter befindet, Mucha nicht nur perspektivische Verwirrung stiften, sondern dadurch gezielt eine Nähe zum Betrachter und zum damaligen Konsumenten schaffen wollte. Das Spiel mit der Perspektive und die Auseinandersetzung mit der Fläche hat im Jugendstil eine wesentliche Bedeutung. Auf der Suche nach Vorbildern richtete sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts das Interesse der Jugendstilkünstler insbesondere auf die fernöstliche Kunst.[29] Vor allem die japanische Kunst erzielte die Aufmerksamkeit der Jugendstilkünstler. Der traditionellen Perspektive schenkten japanische Künstler wenig Beachtung. Die Vorliebe für die asymmetrische Gestaltung der Fläche war hingegen von großer Bedeutung in der fernöstlichen Kunst.[30] Dies lag daran, dass die ideale Symmetrie auf der einen Seite zwar als etwas Vollkommenes empfunden wurde, auf der anderen Seite aber etwas Lebloses sei, das nur in der „anorganischen“ Welt vorkomme. Die Asymmetrie hingegen hat gegenüber der Symmetrie den Vorrang, da sie folglich etwas Unvollkommenes ist, die Phantasie des Betrachters anregt und ihm erlaubt, die Gedanken zur Vollkommenheit zu führen.[31] Auch Muchas Chocolat Idéal trägt deutliche Früchte der asymmetrischen Gestaltung.

Intellektuell fühlten sich die meisten Jugendstilkünstler von dem Gedankengut der Taoisten und Buddhisten angezogen und deren Einheitsgedanken von Mensch und Umwelt. Diese Kultur und Kunst erschien den Jugendstilkünstlern zunehmend als ein Ideal, dessen theoretisches Fundament im Zen-Buddhismus[32] begründet ist.[33]

Als Begründer des Zen-Buddhismus wird Hui-nệng (637-713) angesehen. Nach den Lehren des Zen-Buddhismus gelangt man zur Wahrheit, wenn man in sein eigenes Buddha-Wesen schaue. Ziel des Zen-Buddhismus ist es, sich von den Täuschungen der Welt zu lösen, um zum Frieden zu gelangen. Dazu müsse man sich selbst verlieren, um sich zu wieder zu finden.[34]

Zen wurde im Jahre 845 die vorherrschende Form des Buddhismus und übte einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der chinesischen Kultur aus. Zen-Klöster waren führende Zentren chinesischer Gelehrsamkeit, wobei das Schreiben und das Dichten zu den Hauptaufgaben der Gelehrten gehörten.

Da das Schreiben und das Malen eng miteinander verknüpft waren, gab es zwischen den Gelehrten und den bildenden Künstlern kaum Unterschiede. Dies führte zu einem Anreiz in philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bereichen.[35] Eine besondere Wertschätzung der fernöstlichen Künstler galt der Leere. Zeichnete sich die europäisch dekorative Kunst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. noch durch eine Angst vor der leeren Fläche aus[36], bevorzugten auch viele Jugendstilkünstler die leere Fläche als wesentliches Element ihrer Kunst.

Eine Parallele lässt sich in Muchas Chocolat Idéal nachweisen. Der Bildhintergrund und der Bildraum ist bei Mucha kaum definiert. Der Raum, bzw. die leere Hintergrundfläche, in dem die drei weiblichen Personen stehen, geben keinen konkreten Hinweis darauf, wo sie sich befinden. Der dunkle Bildhintergrund streckt sich nahezu über die gesamte Bildfläche und ist im Wesentlichen nur durch einige Farbakzente bestimmt, die Räumlichkeit und Tiefe suggerieren sollen.

Der Hintergrund steht damit konträr zu der detaillierten Ausarbeitung des Bildvordergrundes, wie beispielsweise bei den Schokoladenverpackungen und dem wehenden Haar der jungen Frau.

Darauf folgend soll im nächsten Abschnitt der Begriff der psychedelischen Kunst näher besprochen werden.

[...]


[1] HASLAM, Malcolm: Jugendstil. Seine Kontinuität in den Künsten. Stuttgart 1990, S. 7.

[2] Art Nouveau ist die französische Bezeichnung für Jugendstil. Siegfried Bing, ein Hamburger Kaufmann, der sich um 1860 in Paris niederließ, eröffnete um 1895 das Maison de l´Art Nouveau, in dem er vor allem fernöstliche Kunstwerke anbot (Vgl. HASLAM 1990, S. 113.).

[3] WALTERS, Thomas: Jugendstil-Graphik. Köln 1980, S. 7.

[4] RHEIMS, Maurice: Kunst um 1900. München, Wien 1965, S. 7.

[5] Vgl. HASLAM 1990, Abb. S. 23.

[6] Die Asymmetrie ist einer der einflussreichsten Aspekte der fernöstlichen Kunst auf den Jugendstil. Mitte der Fünfziger Jahre des 18. Jh. setzte der Handelsverkehr mit Japan ein und im Austausch für europäische Investitionen im Fernen Osten strömten japanische Drucke, Holzschnitte, usw. nach Paris und London.(Vgl. WALTERS 1980, S. 9.)

[7] WALLIS, Mieczysław: Jugendstil. Dresden 1975, S. 16.

[8] SELING, Helmut: Jugendstil. Der Weg ins 20. Jh. Heidelberg 1979, S. 12f.

[9] WALLIS, 1975 S. 180f.

[10] WALLIS 1975, S. 17.

[11] WEISSER, Michael: Ornament und Illustration um 1900: Handbuch für Bild- und Textdokumente bekannter und unbekannter Künstler aus der Zeit des Jugendstils. Frankfurt 1980, S. 14.

[12] RHEIMS 1965, S. 10.

[13] WALLIS 1975, S.7.

[14] Ebd., S. 163.

[15] RHEIMS 1965, S. 9.

[16] GLASER, Hermann: Sigmund Freuds zwanzigstes Jahrhundert. Seelenbilder einer Epoche. München/Wien 1976, S. 53.

[17] Vgl. HAECKEL, Ernst: Kunstformen der Natur. Leipzig 1899-1904.

[18] HASLAM 1990, S. 19.

[19] WALLIS 1975, S. 22.

[20] SELING 1979, S. 29. ovalen Form untergliedert wurde, wodurch er Dynamik in der Komposition erzielen wollte. (Vgl. HUSSLEIN-ARCO, Agnes u. a. (Hg.): Alfons Mucha. Ausst. Kat. Belvedere Wien, 2009, Musée Fabre Montpellier, 2009, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München 2009. München 2009, S. 70)

[22] Ebd., S. 70.

[23] Die Verwendung von sexuell-erotischen Inhalten um die Wende des 19. Jahrhunderts zum 20. Jahrhundert ist durch ein gesteigertes Interesse für Psychologie und Psychopathologie begründet. Der Geschlechtstrieb und die Fortpflanzung galten als Mysterien der Natur und geheimnisvolles Phänomen. (HASLAM 1990, S. 198.)

[24] KRAMER, Hilton.: The Erotic Style. Reflections on the Exhibition of the „Art Nouveau“, „Arts“(New York) XXXIV, No. 10, September 1960, S. 22.-26.

[25] HASLAM 1990, S. 174.

[26] Der eigentliche Zweck der Plakate war es, mit grellen Farben und auffallender Typografie so werbewirksam wie möglich die neue Warenwelt der Industrieprodukte anzupreisen. (Vgl. HUSSLEIN-ARCO 2009, S. 70.)

[27] Da der Jugendstil vor allem mit der Linie operiert, wird er auch „Kunst der Linie“ genannt. Sie bedeutete für viele nicht nur Bewegung, sondern auch Flüchtigkeit und Veränderlichkeit (HASLAM 1990, S.166.)

[28] Neben den sinnlich geschwungenen Formen des Jugendstils setzte sich gegen Ende des 19. Jh. in Glasgow, Wien, Darmstadt und Chicago auch eine geometrische Variante des Jugendstils durch. (HASLAM 1990, S. 90.)

[29] HASLAM 1990, S. 159.

[30] Ebd., S. 18f.

[31] Zen-Meister behaupten, dass Zen in Worten zu beschreiben, unmöglich sei. (MUNSTERBERG, Hugo: Zen-Kunst. Köln 1978, S.9)

[32] KAKUZO, Okakura: Das Buch vom Tee. Leipzig 1919, S. 49-52.

[33] HASLAM 1990, S. 159.

[34] MUNSTERBERG 1978, S. 15.

[35] WATTS, Alan W.: Zen Buddhismus. Bd. 129/130. Reinbek bei Hamburg 1961, S. 217f.

[36] WALLIS 1975, S. 178f..

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863419486
ISBN (Paperback)
9783863414481
Dateigröße
5.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Rick Griffin Alfons Mucha Psychedelic Art LSD-Kunst Lithografie Buddhismus Sechziger

Autor

Norman Conrad wurde 1984 in Potsdam geboren, studierte nach einer Ausbildung zum Produktdesign-Assistenten an der TU Berlin Kultur und Technik mit der Fachrichtung Kunstwissenschaft. In seiner Freizeit beschäftigt er sich neben Kalligraphie mit Collagen, die er in zwei selbstveröffentlichten Kunstbänden herausgegeben hat.
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