Die Rechtfertigung der Strafe: Eine gemischte Theorie
Zusammenfassung
Diese Frage ist seit der Antike zentral für die politische Philosophie. Es gibt grundsätzlich zwei Ansätze, welche die Frage auf unterschiedliche Weise beantworten. Zum einen kann die Schuld einer Person als hinreichender Grund betrachtet werden, eine Person zu bestrafen. In diesem Fall vertritt man eine retributivistische Theorie. Zum anderen kann man zeigen, dass die Bestrafung von Verbrechern für die Gesellschaft positive Konsequenzen hat. Argumentiert man so, rechtfertigt man die Bestrafung aus konsequentialistischen Gründen.
Diese Abhandlung zeigt zunächst die jeweiligen Vor- und Nachteile der Ansätze auf. Aus der Beurteilung folgt dann die Entwicklung einer Theorie, die versucht die beiden Ansätze zu verbinden und die Widersprüche aufzulösen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
II. Retributivistische Theorien
Bei retributivistischen Ansätzen handelt es sich um deontologische Theorien der Rechtfertigung von Strafe. Als solche untersuchen sie die Handlung der Bestrafung. Wie wir gesehen haben, bestehen zwei ethische Probleme, die eine Erlaubnis zur Bestrafung infrage stellen. Erstens ist die Strafe ein absichtliches Zufügen von Leid. Dadurch werden zweitens, je nach Strafe, verschiedene Rechte der Personen verletzt (unter anderem Freiheitsrechte, das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit). Geht man davon aus, dass dies zu rechtfertigen grundsätzlich möglich ist, stellt sich die Frage, unter welchen Umständen die Handlung der Bestrafung erlaubt oder geboten ist. Dabei wird jedoch nicht auf die Konsequenzen Bezug genommen, sondern die Handlung selbst und ihr intrinsischer Charakter untersucht.
Retribution (vom lat. retribuere) bedeutet „etwas, das gebührende, zurückgeben“. Bei der Retribution handelt es sich somit um eine Rückgabe, die dadurch begründet ist, dass einer Person etwas gebührt - dass sie etwas verdient. Der Begriff ist einerseits vergangenheits-orientiert indem er Bezug auf einen Verdienst nimmt, andererseits personenspezifisch, da er die Rückerstattung des Verdienstes an eine bestimmte Person bezeichnet. Bei der Strafe als Retribution wird also einerseits die Strafe zugeordnet. Die gerechtfertigte Strafe betrifft eine Person, die es verdient hat. Andererseits wird das Strafmass bestimmt. Die Strafe bestimmt sich durch die vergangene Tat.
Wie wir sehen werden gibt es so etwas wie den Retributivismus nicht. Es handelt sich dabei um eine Ansammlung verschiedener Ansätze, die aber einen gemeinsamen Kern aufweisen. Es können drei Behauptungen identifiziert werden, die von allen retributivistischen Theorien geteilt werden:
R1: Eine Person darf nur dann bestraft werden, wenn sie es verdient hat (wenn sie eines Verbrechens schuldig ist).
R1‘: Eine Person soll bestraft werden, wenn sie es verdient hat (wenn sie eines Verbrechens schuldig ist).
R2: Die angemessene Strafe bemisst sich am Verdienst (an der Schuld) einer Person.
Die erste Bedingung R1 ist eine einschränkende Bedingung. Das Verdienst einer Person wird durch sie zu einer notwendigen Bedingung für die Bestrafung. Es folgt jedoch daraus noch nicht, dass Strafe immer angewendet werden darf, wenn eine Person schuldig ist. Die zweite Bedingung R1‘ bezeichnet die normative Pflicht zur Bestrafung einer schuldigen Person. Schuld ist somit hinreichend für die Bestrafung. Die Rechtfertigung der Strafe wird durch R1’ impliziert.[1] Die dritte These stellt den Zusammenhang zwischen der Schuld und dem Strafmass her.
Augenscheinlich ist die Tatsache, dass durch die erste These R1 die Zuordnung der Strafe an die schuldige Person gemacht wird. Durch die notwendige Bedingung der Schuld ist es nicht möglich, dass eine retributivistische Theorie die Bestrafung von unschuldigen Personen rechtfertigt. Durch die beiden These R1 und R2 wird gleichsam ein Vergangenheitsbezug hergestellt. Erstens muss ein Verbrechen vorliegen, dass bestraft werden darf. Zweitens fliesst der moralische Wert der vergangenen Handlung (die Schuld) in die Ausgestaltung der Strafe mit ein. Dadurch ist auch die Rechtfertigung einer exzessiven Bestrafung einer Person ausgeschlossen, da die Strafe sich am Verschulden einer Person orientieren soll.
Es stellt sich hier erstens die Frage, wie das Verschulden einer Person gemessen werden kann. Zweitens ist unklar, ob der Wert des Verschuldens mit der Strafe verglichen werden kann. Leider kann innerhalb dieser Untersuchung die erste Frage nicht spezifischer beantwortet werden. Es muss dabei auf die jeweiligen Intuitionen in einer gegebenen Situation (bei einem vorliegenden Verbrechen) Bezug genommen werden. Weiter unten soll sie jedoch kurz wieder aufgegriffen werden. Die zweite Frage erübrigt sich durch die implizite Annahme, welche in der These R2 enthalten ist. Ihre Richtigkeit ist davon abhängig, dass es möglich ist den Wert der Strafe mit demjenigen des Verschuldens zu vergleichen.
Es gibt grundsätzlich zwei Strategien, wie die drei Thesen gestützt werden können. Einerseits kann die Bestrafung der Schuldigen wird auf die Konsistenz mit einer übergeordneten Theorie der Gerechtigkeit geprüft werden. Die Richtigkeit der retributivistischen Thesen wird dadurch von einer ihnen zugrundeliegenden Theorie abhängig. Dieser Ansatz wird prior-principle -Ansatz genannt.
Andererseits besteht die Möglichkeit die Anwendbarkeit der retributivistischen Thesen in einzelnen Fällen zu untersuchen. Die Richtigkeit der Thesen wird durch den Vergleich mit den allgemeinen moralischen Vorstellungen in der jeweiligen Situationen geprüft. Wird eine solche Analysemethode vorgezogen, handelt es sich um den sogenannten case-implication -Ansatz.
In der Folge werden drei retributivistische Theorien beschrieben. Zugleich wird jede einzelne Theorie auf die Vereinbarkeit mit den hier aufgestellten Bedingungen der Adäquatheit geprüft. Die beiden Theorien, die zunächst betrachtet werden, verfolgen einen prior-principle- Ansatz zur Herleitung der retributivistischen Thesen. Sie werden jeweils einzeln betrachtet. Danach komme ich auf die Methode des prior-principle -Ansatzes zu sprechen und werde eine mögliche Schwierigkeit in ihrer Anwendung auf das Problem der Strafe erläutern. Zum Schluss wird ein Ansatz erläutert, welcher der Methode der case-implication Herleitung folgt.
Ausgleichender Retributivismus
Ein sehr geläufiges Verständnis der Strafe ist die Rückerstattung eines ungerechtfertigten Vorteils. Dadurch, dass eine Person sich nicht an die Gesetze hält, besitzt sie einen unfairen Vorteil gegenüber den gesetzestreuen Mitgliedern der Gesellschaft. Die Funktion der Strafe besteht nun darin, diesen Vorteil der Person wieder wegzunehmen. Strafe ist somit nichts anderes als eine Durchsetzung der ausgleichenden Gerechtigkeit.
Die Theorie
Dementsprechend besteht die wohl geläufigste retributivistische Theorie aus der Auffassung, dass durch Strafe ein ungerechter Zustand beseitigt werden kann. Der ausgleichende Retributivismus rechtfertigt Strafe durch ihre Funktion des Ausgleichs eines ungerechtfertigten Vorteils.
Eine Theorie der Rechtfertigung von Strafe durch Ausgleich setzt nicht einen materiellen Vorteil (finanziell oder sonstiger Natur) für die delinquente Person voraus. Es stellt sich also die Frage, worin genau der Vorteil besteht. Herbert Morris vertritt eine Theorie der Strafe als Ausgleich. Er schreibt Folgendes:
“A Person who violates the rules has something others have – the benefits of the system – but by renouncing what others have assumed, the burdens of self-restraint, he has acquired an unfair advantage. […] Justice – that is punishing such individuals – restores the equilibrium of benefits and burdens by taking from the individual what he owes…”[2]
Durch ein Verbrechen, so seine Theorie, erlangt eine Person eine gewisse relative Freiheit gegenüber den anderen Individuen einer Gesellschaft. Während alle anderen Personen in einer Gesellschaft einen Freiheitsverzicht in Kauf nehmen, um die Gesetze aufrecht zu erhalten, weicht die Person, welche ein Verbrechen begeht, diesem aus. Daraus ergeben sich für diese Person gleich zweierlei Vorteile. Einerseits profitiert sie ohnehin bereits vom gesetzestreuen Verhalten der anderen und bezahlt den Preis dafür nicht. Andererseits besitzt sie relativ mehr Freiheit im Vergleich zu den gesetzestreuen Bürgern.[3]
Die Tatsache, dass die anderen Personen auf eine bestimmte Tätigkeit verzichten impliziert aber noch nicht, dass man selbst diese nicht ausüben darf, beziehungsweise, dass man gerechtfertigter Weise für eine Handlung belangt werden darf. Es stellt sich die Frage, inwiefern der Vorteil ungerechtfertigt ist.
Zur Herleitung der moralischen Kraft der Forderung nach einem Ausgleich eines Vorteils durch Strafe bezieht sich Murphy auf eine kontraktualistische Theorie.[4] In einem hypothetischen Urzustand würden sich die Mitglieder einer Gesellschaft darauf einigen, dass alle Personen gleichermassen auf gewisse Freiheiten verzichten sollen. Somit ist der Vorteil ungerechtfertigt, da die Individuen ihr (hypothetisches) Einverständnis zur Norm geben würden, dass niemand auf Kosten der anderen einen Vorteil erlangen darf. Die Person soll also ausgleichend auf andere Vorteile verzichten, indem sie bestraft wird.
Beurteilung
Eine moderne Theorie der Strafe als Ausgleich einer ungerechtfertigten Vorteils besteht aus zwei Elementen.[5] Erstens wird vorausgesetzt, dass ein Verbrechen ein Erlangen eines Vorteils impliziert. Zweitens wird durch Bezugnahme auf ein übergeordnetes Prinzip (in Morris Theorie das ursprüngliche, hypothetische Einverständnis der bestraften Person) die Rechtfertigung des Ausgleichs dieses Vorteils hergeleitet. Diese Theorie besitzt sowohl einige Vorteile als auch gewisse Schwächen.
Ein geläufiger Vorwurf an retributivistische Theorien, ist die Gleichsetzung der retributiven Handlung mit persönlicher Rache. Die Rechtfertigung der Strafe als Retribution impliziere gleichzeitig auch eine Erlaubnis, sich zu rächen. Eine wichtige Unterscheidung, die getroffen werden muss, um diese Gleichsetzung zu vermeiden, ist diejenige zwischen staatlicher und persönlicher Handlung. In diesem Fall muss gezeigt werden, weshalb eine staatliche Instanz den Ausgleich des Vorteils vornehmen soll.
Die Theorie des ausgleichenden Retributivismus kann jedoch aufzeigen, weshalb es der Staat sein muss, der bestraft. Der Vorteil, der aus einem Verbrechen erwächst, besteht gegenüber allen anderen Individuen, die sich gesetzestreu verhalten haben. Die Beziehung des relativen Vorteils entsteht somit zwischen der delinquenten Person und der Gemeinschaft als Ganzes. Es handelt sich also beim Ausgleich dieses Vorteils um eine Angelegenheit des Staates als Repräsentant der Gemeinschaft.
Die Theorie kann zudem eine wichtige Eigenschaft der Strafe normativ begründen. Es muss sich um ein Leid handeln, das der bestraften Person zugefügt wird. Auf eine andere Weise kann der Vorteil nicht ausgeglichen werden. Denn ein Ausgleich in der Form einer Bevorteilung aller anderen Individuen würde einer Aufhebung des Gesetzes gleichkommen, das gebrochen wurde.
Wenden wir uns nun dem eigentlichen Problem der Rechtfertigung (0) zu. Wie wir gesehen haben, besteht die Herausforderung für deonologische Ansätze unter anderem darin, dass die Rechte des bestraften Individuums verletzt werden. Eine retributivistische Theorie kann diesem Einwand nur entgehen wenn sie aufzeigt, dass die Rechte der bestraften Person nicht verletzt werden (eliminating reasons). Es muss gezeigt werden, inwiefern eine Person durch ein Verbrechen gewisse Rechte verwirkt.[6]
Morris‘ kontraktualistische Theorie tut dies in beeindruckender Weise. Der Freiheitsverzicht der Individuen in der Gesellschaft ist Voraussetzung für die Tatsache, dass die Individuen Rechte überhaupt besitzen können. Wenn eine Person diesen Verzicht nicht einhält, negiert sie dadurch implizit die Möglichkeit dafür, dass sie selbst das Recht hat, vom jeweiligen Vergehen selbst verschont zu bleiben. Deswegen besitzt sie dasjenige Recht, das sie durch das Delikt verletzt (den Freiheitsverzicht, dem sie ausweicht) nicht mehr, da sie die Bedingungen der Möglichkeit desselben negiert. Somit kann es auch nicht verletzt werden. Die Theorie kann also zeigen, dass Strafe gerechtfertigt ist, indem sie die Aufhebung eines Rechts der Bestraften Person durch das Verbrechen begründet.
Die Erlaubnis zur Bestrafung kann in einer Theorie des ausgleichenden Retributivismus also durch eine kontraktualistischen Ansatz hergeleitet werden. Der Vorteil, den eine Person durch ein Verbrechen erlangen kann, ist angesichts eines ursprünglichen Vertrages ungerechtfertigt. Es ist ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit, dass dieser Vorteil wieder ausgeglichen werden muss. In dieser Qualifikation des Vorteils als ungerechtfertigt liegt bereits ein moralisches Urteil über den Inhalt des Gesetzes, das gebrochen wird, verborgen. Die Herleitung einer Pflicht oder der Erlaubnis zur Bestrafung aus einer solchen Theorie ist wesentlich davon abhängig, ob ein Gesetz selbst moralisch (kontraktualistisch) gerechtfertigt werden kann. Weiter unten wird sich die Frage stellen, inwiefern eine solche Bezugnahme auf eine Theorie der Gerechtigkeit erfolgsversprechend ist, was die Rechtfertigung der Strafe anbelangt.
Eine Theorie, welche die Strafe durch ein Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit rechtfertigt, besitzt allerdings noch ein anderes schwerwiegendes Problem. Einerseits enthält die Theorie die These R2, dass sich die Höhe der Strafe an der Schuld einer Person bemessen muss. Andererseits wird eine substantielle Theorie vertreten, worin diese Schuld besteht. Wenn man diese beiden Faktoren zusammenfasst ergibt sich ein Problem für die Theorie. Wenn Schuld als Vorteil verstanden wird, führt dies zu einem völlig unangemessenen Strafmass. Die Theorie kann also die Bedingung (5) nicht erfüllen. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden.
Die Theorie des ausgleichenden Retributivismus, wie wir sie kennengelernt haben, beinhaltet zwei Annahmen. Erstens wird davon ausgegangen, dass Personen, die ein Gesetz einhalten, dadurch immer auch auf eine gewisse Freiheit verzichten und zweitens, dass die Schuld einer Person, die gegen ein Gesetz verstösst der Freiheit entspricht, auf welche die gesetzestreuen Individuen verzichten.
Die Schwierigkeit stellt sich ein, wenn man sich einzelne Verbrechen ansieht und sich den Vorteil (die Freiheit), der durch das Verbrechen erlangt werden kann, vergegenwärtigt. Bei kleinen Verbrechen mit kleiner Wahrscheinlichkeit, dass man erwischt wird, ist der Freiheitsverzicht grösser als bei schweren Verbrechen. Tatsächlich ist es für normale Bürger nur eine kleine Bürde, keinen Mord zu begehen, während für einen Ladendiebstahl ein grösserer Anreiz besteht. Wenn nun die Strafe dem Vorteil entsprechen soll, der aus der Freiheit, das Gesetz nicht zu befolgen, entsteht, dann müssten kleine Verbrechen stärker bestraft werden als schwere.[7]
Dieses Strafmass ist nicht angemessen und damit geht ein wichtiger Vorteil retributivistischer Theorien verloren. Die Adäquatheitsbedingung (5) kann nicht erfüllt werden. Es muss also entweder gegen die These R2 argumentiert werden, oder die Schuld einer Person besteht nicht in einem Freiheitsverzicht. Beide Optionen sind unerwünscht. Die These R2 ist Teil des Kerns einer Retributivistischen Theorie. Die Entkoppelung der Schuld vom Freiheitsverzicht käme der Aufgabe der zweiten Annahme der Theorie (und somit eigentlich der Theorie als Ganzes) gleich.
Des Weiteren ist aber auch die erste Annahme (dass gesetzestreue Personen auf Freiheiten verzichten) fraglich. Zum Beispiel ist für viele Bürgerinnen die Freiheitseinschränkung, eine Person nicht zu töten, nichtig, da sie dies ohnehin nicht tun würden. Daher hat eine Person, die einen Mord begeht, den meisten Bürgerinnen gegenüber nicht mehr Freiheiten und somit auch keinen Vorteil.[8]
Wiederherstellender Retributivismus
Eine andere Intuition, die wir bezüglich der Strafe besitzen, besteht in der Auffassung, dass Strafe eine Funktion der Wiederherstellung ausübt. Durch ein Verbrechen, so die Vorstellung, werden einerseits die Rechte des Opfers verletzt, andererseits wird der Rechtsstaat infrage gestellt. Die Strafe kann diesen Missstand auf eine gewisse Weise beheben. Durch die Strafe ist es möglich, den status quo ante wiederherzustellen.
Die Theorie
Entsprechend dieser Intuition gibt es philosophische Ansätze, die Strafe durch ihren Effekt der Wiederherstellung zu rechtfertigen. Der Ursprung dieser Ansätze wird im Allgemeinen Hegel zugeschrieben.
„Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist und dem Dasein nach das Verbrechen einen bestimmten, qualitativen und quantitativen Umfang, hiermit auch dessen Negation als Dasein einen ebensolchen hat.“
„Die Forderung, daß dieser Widerspruch […] der hier an der Art und Weise des Aufhebens des Unrechts vorhanden ist, aufgelöst sei, ist die Forderung einer […] strafenden Gerechtigkeit.“[9]
Das Verbrechen, so seine These, besteht in einer Negation des Rechts. Durch Strafe hingegen werde das Verhalten der delinquenten Person verneint. So wird durch eine Art doppelte Negation ein ungerechter Widerspruch, der durch ein Verbrechen entsteht, beseitigt und der Zustand vor dem Verbrechen restauriert. Es liegt einerseits auf der Hand, dass durch Strafe das Verbrechen nicht tatsächlich ungeschehen gemacht werden kann. Deshalb stellt sich die Frage, wie man eine solche Theorie genau verstehen muss. Andererseits ist unklar, weshalb die Pflicht besteht, den Zustand vor dem Verbrechen aufrechtzuerhalten.
Eine mögliche Interpretation der Wiederherstellung des status quo ante liefert Hempton. Sie sieht das Übel eines Verbrechens nicht darin, dass eine Person einen ungerechtfertigten Vorteil erlangt, sondern, dass durch das Verbrechen das Opfer (Einzelperson oder Staat) eine Geringschätzung erfährt. Die Person, welche ein Verbrechen begeht, setzt sich selbst durch diese Geringschätzung auf eine höhere Stufe, als das Opfer. Ein solcher Ausdruck der Überlegenheit der Verbrecherin gegenüber dem Opfer ist ungerechtfertigt. Deswegen verdient die Person, dass sie dafür bestraft wird.
Die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes verlangt, dass die Verbrecherin durch Strafe wieder zurückgestuft wird. Diese Wiederherstellung, so Hemptons Ansatz, kann nur durch Strafe vollzogen werden.
“By victimizing me, the wrongdoer has declared himself elevated with respect to me, acting as a superior who is permitted to use me for his purposes. A false moral claim has been made. The retributivist demands that the false claim be corrected. […]If I cause the wrongdoer to suffer in proportion to my suffering at his hands, his elevation over me is denied, and moral reality is reaffirmed. “[10]
Eine Theorie der Strafe als Wiederherstellung besteht also aus zwei Thesen. Erstens, dass durch die Strafe den status quo vor einem Verbrechen wiederherstellen kann. Zweitens, dass ein Verbrechen notwendigerweise zu einem ungerechten Zustand führt. Aus diesen beiden Thesen folgt, dass Strafe gerechtfertigt ist, weil sie einen ungerechten Zustand aufhebt.
Beurteilung
Wir haben mit der Theorie von Hempton einen Ansatz betrachtet, dem zufolge durch ein Verbrechen eine ungerechtfertigte Ungleichheit zwischen Täter und Opfer entsteht. Die Person, welche ein Verbrechen begeht, stellt sich auf eine höhere Stufe gegenüber der Gesellschaft und den Betroffenen. Eine Strafe könne die Gleichheit restaurieren und so das Verbrechen (zu einem gewissen Grad) ungeschehen machen.[11] Die Rechtfertigung der Strafe ist also einerseits durch die normative Kraft eines Zustandes der Gleichheit des Status der Mitglieder einer Gesellschaft gegeben. Andererseits ist sie abhängig von der Effektivität der Strafe als Mittel, diesen Zustand wiederherzustellen. Nebst der Tatsache, dass die Theorie eine intuitive Plausibilität besitzt, können ihr auch andere Vorteile zugeschrieben werden.
Der Ansatz kann im Gegensatz zum ausgleichenden Retributivismus den moralischen Unterschied zwischen schweren Verbrechen und kleineren Gesetzesverstössen gut erfassen. Je nach Schwere des Verbrechens setzt sich die Täterin durch Höherstufung mehr oder weniger von den gesetzestreuen Mitgliedern einer Gesellschaft ab. Somit betrifft das Problem der unangemessenen Höhe der Bestrafung diese Theorie nicht. Je nach Ungleichheit, die aus der Tat resultiert, wird eine entsprechende Strafe verhängt um die Person, die sie begangen hat, zurückzustufen. Und diese Ungleichheit ist intuitiv bei schweren Verbrechen grösser als bei geringfügigen. Somit kann sie die postulierte Adäquatheitsbedingung (5) erfüllen.
Wenn sich eine Theorie des widerherstellenden Retributivismus nicht auf ein Prinzip der Gleichheit bezieht, würde die Norm zur Widerherstellung des ursprünglichen Zustandes nicht notwendig nach einem Zufügen von Leid verlangen. Ein Beispiel, das den Unterschied zwischen dem bestehenden Strafrecht und den in dieser Theorie möglichen Methoden der Bestrafung erläutert, liefert Dolinko. Eine Autorin veröffentlicht ein Buch mit rassistischen Behauptungen. Die beste Möglichkeit zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes besteht darin, ein Buch zu publizieren, welches diese Widerlegung der gemachten Behauptungen enthält. Der Staat müsste somit die Produktion eines solchen Buches in Auftrag geben.[12]
Es erklärt sich nun bei Hemptons Ansatz die Tatsache, dass Strafe in einem Zufügen von Leid bestehen kann. Die Rückstufung einer Person kann nur dadurch gelingen, dass ihr Schaden zugefügt wird. Bei der Rückstufung der Verbrecherin handelt es sich um ein Leid, das ihr zugefügt wird. Es stellt sich aber die Frage, inwiefern das Zufügen von Leid tatsächlich notwendig sein muss. Es ist aber erstens nicht klar, ob es sich bei diesem Schaden tatsächlich um die in unserem Strafrecht gängigen Massnahmen, wie Freiheits -oder Geldstrafen handeln muss. So könnte die Ungleichheit auch zum Beispiel durch soziale Stigmatisierung der Personen, die ein Verbrechen begangen haben, behoben werden. Gleichheit des Status kann auf viele verschiedene Weisen realisiert werden. Je nach Auslegung der Theorie ergibt sich aus ihr eine markante Revision des Strafrechts.
Zudem ist es zweitens möglich, anhand einer solchen Theorie für die Abschaffung der Strafe zu argumentieren. Die gesetzestreuen Bürger, um den Gedankengang weiterzuziehen, könnten auch allesamt durch Belohnung höhergestuft werden. Dadurch würde Gleichheit wiederhergestellt. Auch hier zeigt sich, dass das moralische Problem, das einem Verbrechen durch die Theorie zugeschrieben wird, nicht genügt, um Strafe selbst zu rechtfertigen. Es bestehen andere Möglichkeiten um Ungleichheiten zu beheben als die Strafe. Somit greifen die Implikationen aus einer Definition des Verbrechens als ungerechtfertigte Höherstufung zu weit.
Die Strafe ist somit entweder nicht das geeignete Mittel um die Wiederherstellung eines status quo ante zu erreichen oder die Strafe muss nicht notwendig folgen. Bei den beiden angesprochenen Problemen handelt es sich jedoch um theorieinterne Probleme. Eine Pflicht zur Bestrafung wie sie in R1’ enthalten ist, kann durch eine solche Theorie nicht hergeleitet werden. Die Frage ist jedoch, inwiefern die Strafe gerechtfertigt sein kann. Auch hierbei stellen sich, wie wir sehen werden, erhebliche Probleme für die Theorie ein.
Die Kritik ist berechtigt, dass die Höherstufung, die eine Person durch ein Verbrechen erlangt, hinreichend dafür ist, ihre Rechte zu verletzen. Die beiden moralischen Prinzipien, dasjenige der Gleichheit und dasjenige der individuellen Rechte müssen, so scheint es, gegeneinander abgewogen werden können. Es gibt meines Erachtens keinen offensichtlichen Grund dafür, Prinzipien der Gleichheit als moralisch relevanter einzustufen, als die Rechte der Individuen. Damit die Theorie überhaupt zur Rechtfertigung von Strafe dienlich sein kann (0) muss sie weitere Angaben darüber machen, wie die verschiedenen moralischen Prinzipien gewichtet werden sollen.[13]
Die Theorie kann also entweder nicht erklären, inwiefern eine Person durch ein Verbrechen ihre Rechte verwirkt, oder sie setzt es bereits voraus. Letzteres wird im Wortlaut der Theorie suggeriert, indem stets von ungerechtfertigter Höherstufung die Rede ist. Damit geht die Theorie aber bereits von der moralischen Richtigkeit des mit der Strafe durchgesetzten Gesetzes aus.
Prior-Principle -Ansatz
Dieser kurze Abschnitt verfolgt den Zweck, die prior-principle -Methode als geeignetes Mittel zur Herleitung der Rechtfertigung von Strafe zu hinterfragen. Die beiden Ansätze die wir betrachtet haben, der ausgleichende und der wiederherstellende Retributivismus, referieren beide auf ein übergeordnetes moralisches Prinzip. Es handelt sich dabei jeweils um ein Prinzip, das nicht speziell für die Strafe gilt, sondern als Element einer Theorie der Gerechtigkeit fungiert.
In der angesprochenen Theorie des ausgleichenden Retributivismus muss es sich um eine ungerechtfertigte relative Freiheit gegenüber den gesetzestreuen Personen handeln. Ungerechtfertigt ist diese Freiheit dadurch, dass das Gesetz selbst moralischer Natur ist.[14] Die Frage ist nun aber, wie die Rechtfertigung von Strafe bei Verstössen gegen amoralische Gesetze gerechtfertigt sein kann.
Nehmen wir an, es existiert ein Gesetz, das nicht moralischer Natur ist. Damit sind unter anderem Gesetze gemeint, die aus rein pragmatischen Gründen gelten, wie zum Beispiel der Rechtsverkehr auf den Strassen. Solche Gesetze existieren zwar, um die Individuen zu koordinieren. Wenn das Gesetz gebrochen wird, handelt es sich aber nicht um ein moralisches Vergehen. Die Freiheit, welche sich die Person nimmt, die das Gesetz bricht, ist somit nicht ungerechtfertigt im moralischen Sinne.
In diesem Fall gäbe es zwei Arten, wie eine Vertreterin einer solchen Theorie des ausgleichenden Retributivismus reagieren kann. Erstens kann sie auf die Proposition verzichten, dass es sich um ungerechtfertigte Freiheiten handeln muss, die eine Strafe rechtfertigen. Es gibt in diesem Fall aber zwei Möglichkeinen, wie die relativen Freiheiten ausgeglichen werden können. Entweder wird die Person, die dem Freiheitsverzicht ausweicht, bestraft, indem ihr die Freiheit genommen wird. Oder alle anderen Individuen werden gleichsam von der Aufforderung zum Freiheitsverzicht erlöst – das Gesetz wird aufgehoben. Es besteht jedoch kein theorieinterner Grund, die erste Variante zu wählen. Daher kann die Theorie, so gefasst, die Strafe bei Verstoss gegen amoralische Gesetze nicht rechtfertigen und somit die Bedingung (0) nicht erfüllen.
Eine zweite Variante um die Bestrafung bei Verstoss gegen amoralische Gesetze zu begründen bestünde darin, jeglichen Verstoss gegen gesetztes Recht als ungerechtfertigt zu charakterisieren. Die Folge wäre ein moralischer (nicht nur methodischer) Rechtspositivismus. Neben grundsätzlichen Problemen des Rechtspositivismus kann man gegen diese Option einwenden, dass Strafe in dadurch notwendig gerechtfertigt ist, weil es ein Gesetz gibt. Somit ist Strafe an sich nicht rechtfertigungspflichtig und die moralische Problematik der Strafe wird durch die Theorie nicht erfasst. Die Bedingung (1) könnte nicht erfüllt werden.
Bei der vorgestellten Theorie der Wiederherstellung durch Retribution besteht ein ähnliches Problem. Damit der Ausgleich durch Strafe gerechtfertigt sein kann, muss eine ungerechtfertigte Ungleichheit vorliegen. Wiederum bestehen zwei Arten, wie man diese These zu verstehen kann.
Zum einen können Ungleichheiten in dieser Theorie kategorisch als ungerechtfertigt angesehen werden. Dann greift die Theorie aus zwei Gründen zu weit. Einerseits impliziert sie neben der Strafe eine Vielzahl anderer egalitaristischen Normen. Bei Annahme des Prinzips des wiederherstellenden Retributivismus wäre man somit auch zu weitreichenden Umverteilungen verpflichtet, sofern diese zu einem Ausgleich des sozialen Status führen würden. Andererseits ist die Strafe nicht notwendig eine adäquate Reaktion auf ein Verbrechen, da Ungleichheiten verschiedentlich beseitigt werden können. Wie wir im Beispiel des rassistischen Buches gesehen haben, rechtfertigt die Theorie nicht nur Strafe, sondern auch andere Mittel, solange sie dem Zweck der Herstellung von Gleichheit zwischen Verbrecherin und Opfer dienlich sind. Zum anderen kann die Theorie „ungerechtfertigt“ mit einem Verstoss gegen geltendes Recht gleichsetzen. Diese Option hätte ebenfalls die unerwünschten Konsequenzen einer rechtspositivistischen Position zur Folge.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit für Prior-Principle -Ansätze liegt also zusammengefasst in der Tatsache, dass sie der Rechtfertigung von Strafe nicht den Stellenwert eines als isolierten philosophischen Problems einräumen. Die Rechtfertigung der Strafe ist davon abhängig, dass das Gesetzt, das mit ihr durchgesetzt werden soll, selbst gerecht ist. Deshalb genügt die Tatsache, dass ein Gesetz gerecht ist bereits, um zu sagen, dass die Strafe gerechtfertigt ist. Somit wird die Strafe nicht als eigenes moralisches Problem behandelt. Die Bedingung (2) wird nicht erfüllt.
Dieses Problem taucht dann auf, wenn ein Gesetz nicht moralischer Natur ist, sondern durch reine Setzung als Element des positiven Rechts besteht. In diesem Fall sind beide Theorien entweder nicht hinreichend zur Rechtfertigung von Bestrafung, weil Ausgleich und Wiederherstellung nicht nur durch das Zufügen von Leid bewerkstelligt werden können. Oder die Theorien rechtfertigen die Strafe mit der Tatsache, dass geltendes Recht gebrochen wurde.
Ich wende mich deswegen einer Theorie zu, welche die andere mögliche Strategie zur Rechtfertigung von Strafe verfolgt. Es handelt sich dabei um den intuitionistischen Ansatz, der nicht mit Bezug auf die Gerechtigkeit des Gesetzes argumentiert, sondern die Bestrafung als Handlung selbst betrachtet und somit unmittelbar auf die Frage antwortet, ob Strafe gerechtfertigt ist.
Intuitionistischer Ansatz
Bei den zwei oben behandelten Theorien des Retributivismus haben wir eine Art top-down -Argumentation mitverfolgt. Die Rechtfertigung der Strafe, beziehungsweise ihr moralischer Wert, leitet sich bei diesen Theorien aus einem übergeordneten (Gerechtigkeits-) Prinzip ab. Dies ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, wie moralphilosophisch Gebote, Verbote oder Erlaubnisse Abgeleitet werden können. Eine andere Möglichkeit stellt die bottom-up- Analyse dar. Die Idee dabei ist es, unsere gängigen moralischen Urteile und Vorstellungen -unsere Intuitionen - bezüglich eines Sachverhaltes zu untersuchen. Dabei wird auf einzelne Situationen Bezug genommen und die jeweilige moralische Intuition als Datum genommen, um daraus eine konkrete Norm abzuleiten (oder die Normen einer Theorie auf ihre Richtigkeit zu überprüfen).
Die Theorie
Zumal es teilweise widerstreitende Intuitionen gibt, besteht die philosophische Herausforderung darin, ihren logischen Zusammenhang zu überprüfen. Tatsächlich besteht das Problem, dass wenn sich zwei Intuitionen widersprechen, es nicht offensichtlich ist, wie sie gewichtet werden sollen, beziehungsweise, welche von beiden als massgebend anerkannt wird, um daraus eine Norm abzuleiten. Um diesem Problem entgegenzukommen, besteht die Möglichkeit, aus einem gegebenen Set von Intuitionen eine kohärentistische ethische Theorie abzuleiten. Wählt man diese Strategie, sucht man nach einer möglichst grossen Menge von logisch zusammenhängenden (nicht-widersprüchlichen) moralischen Überzeugungen (Intuitionen). Diese Menge wird mit anderen Überzeugungs-Sets im Hinblick auf ihre Erklärungskraft verglichen.
Dieser Form der Analyse bedient sich Michael Moore.[15] Er untersucht verschiedene Einzelfälle, in denen die Bestrafung intuitiv gerechtfertigt (gesollt) ist. Er kommt zum Schluss, dass retributivistische Intuitionen, in den meisten dieser Fälle unsere moralischen Urteile begründen (im Gegensatz zu konsequentialistischen Intuitionen). Er zeichnet daraus ein kohärentistisches Bild, bestehend aus retributivistischen moralischen Urteilen. Dieses ist erstens nicht fundamentalistisch im Sinne, dass es nicht auf gewisse grundsätzliche Überzeugungen rekurriert, die nicht weiter hinterfragt werden. Zweitens ist es radikal holistisch. Das bedeutet, dass alle im Set von Überzeugungen enthaltenen moralischen Überzeugungen miteinander konsistent sein müssen. Drittens misst sich seine kohärentistische Theorie an der Erklärungskraft im Vergleich zu anderen Theorien und nicht ausschliesslich an der Menge zusammenhängender Überzeugungen.[16]
Anhand eines Schlusses auf die beste Erklärung für die Herkunft der Intuitionen leitet er einen intrinsischen Wert ab, der retributiven (Bestrafungs-) Handlungen innewohnt.[17] So können gemäss seiner Auffassung unsere moralischen Intuitionen am besten erklärt werden.
„If the best explanation for why we have such responses is that we are caused to have them by the truth of retributivism – that is, by the existence of entities and qualities to which the retributive principle refers – then we have good reason to believe the retributive principle.”[18]
Es wird somit durch Bezug auf unsere Intuitionen in den Einzelfällen die moralische Richtigkeit der Bestrafung der Schuldigen hergeleitet.
Beurteilung
Ein intuitionistischer Ansatz betrachtet unsere Intuitionen in einzelnen Situationen, in denen Strafe angewendet werden soll. Somit bezieht er sich unmittelbar auf die Handlung des Bestrafens, unabhängig von einem übergeordneten Prinzip (der Gerechtigkeit). Dadurch lässt sich zeigen, wie Strafe gerechtfertigt sein kann, ohne dass das zugrundeliegende Gesetz selbst gerecht sein muss.
Wie die Theorie vorschlägt, besteht die beste Erklärung für unsere moralischen Intuitionen bezüglich der Strafe darin, dass in der Bestrafung der Schuldigen ein intrinsischer Wert liegt.[19] Tatsache aber ist, dass ein intrinsischer Wert niemals hinreichend dafür sein kann, eine Erlaubnis oder ein Gebot für eine Handlung (all things considered) herzuleiten. Noch immer existiert das Problem der individuellen Rechte, die durch die Strafe verletzt werden können. Aus der intuitiven Richtigkeit einer Handlung lässt sich aber nicht folgern, dass eine Person durch ein Verbrechen ihre Rechte verlieren kann. Wieder befindet sich die retributivistische Theorie in einer Patt-Situation zwischen der intuitiven Richtigkeit einer Handlung und dem Respekt gegenüber den Rechten einer Person. Diese kann nur dadurch aufgelöst werden, dass die moralische Relevanz abgewogen wird.
Eine mögliche Antwort auf das Problem könnte die These liefern, dass der intrinsische Wert hinreichend dafür ist, dass die Pflicht zur (mindestens die Rechtfertigung der) Bestrafung der Schuldigen zu begründen.[20] Wenn jedoch angenommen wird, dass ein intrinsischer Wert selbst genügt, um die Strafe zu rechtfertigen und wir uns aufgrund unserer Intuitionen einig sind, dass ein solcher Wert der Bestrafung innewohnt, weshalb sollte die Strafe dann überhaupt rechtfertigungspflichtig sein? Die Behauptung, der intrinsische Wert der Strafe sei hinreichend für deren Rechtfertigung, kann der Intuition bezüglich der Strafe als grundsätzliches Übel nicht gerecht werden. Das Problem wird dadurch zu trivial beschrieben.
Entweder kann ein intuitionistischer Ansatz also die eigentliche Aufgabe der Rechtfertigung der Strafe nicht (hinreichend) erfüllen (0), oder er kann nicht zeigen, weshalb die Strafe eine moralisch problematische Handlung ist (1).
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Retributivistische Theorien versuchen, wie wir gesehen haben die Strafe als eine eigene Kategorie von Handlungen zu qualifizieren, welche sich hinreichend von sonstigem Zufügen von Leid abgrenzt. Wie wir gesehen haben, besitzen die retributivistischen Theorien jeweils Probleme damit, die philosophische Problematik der Strafe richtig zu erfassen. Entweder wird unter dem Gesichtspunkt einer solchen Theorie, das Problem marginalisiert, indem ihm kein eigenes Gewicht beigemessen wird. Oder sie erfüllen ihre eigentliche Aufgebe der Rechtfertigung der Strafe nicht. Wir wenden uns also einem anderen Ansatz zu. Wir betrachten nun nicht mehr die Handlung als solche, sondern richten unseren Fokus auf die Wirkung der Handlung auf die betroffenen Individuen und die Gesellschaft.
Das folgende Kapitel bezweckt die Darstellung des konsequentialistischen Ansatzes der Rechtfertigung der Strafe. Es soll einen Überblick über die möglichen positiven Konsequenzen der Strafe verschaffen und den Ansatz kritisch würdigen. Dann wird der Ansatz mit den zwei prominentesten Einwänden konfrontiert und es wird aufgezeigt, wie er auf diese reagieren kann.
[...]
[1] Der Unterschied zwischen R1 und R1‘ entspricht, meines Erachtens, der Unterscheidung zwischen dem modest und dem bold Retributivismus. Dolinko, 1991, S. 542. Es kann aber auch zwischen negativem und positivem Retributivismus unterschieden werden. Siehe Duff, A.: Legal Punishment in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Zalta, E. N. ed., 2008.
[2] Morris, S. 33/34.
[3] Vgl. Burgh, R. W.: Do the Guilty Deserve Punishment? In: The Journal of Philosophy, Vol. 79, 1982, S. 200.
[4] Siehe Murphy, J. G.: Marxism and Retribution in: Philosophy and Public Affairs, Vol. 2, No. 3, 1973, S. 225-228.
[5] Unter modern verstehe ich die angesprochenen Theorien von Morris, beziehungsweise Murphy. Siehe unter anderem auch Sher, G.: Desert, Princeton University Press, Princeton, 1987, S. 69-90. und Dagger, R.: Playing Fair with Punishment in: Ethics Vol. 103, S. 473–488.
[6] Goldman, A. H.: The Paradox of Punishment in: Philosophy & Public Affairs, Vol. 9, 1979, S. 43.
[7] Dolinko, D.: Some Thoughts about Retributivism in Ethics Vol. 101, 1991, S. 545/546.
[8] Siehe Duff, A.: Trials and punishments, Cambridge University Press, 1986, S. 203.
[9] Hegel, G. W. F.: Zwang und Verbrechen in: Grundlinien der Philosohpie des Rechts, Gesammelte Werke, Gotsch, K. / Weisser-Lohmann, E. (hrsg.), Bd.14, Vol.1, Felix Meiner Verlag Hamburg, 2009, §101/102, S. 87.
[10] Hempton, J.: The Retributive Idea in: Murphy, J. G./Hampton, J.: Forgiveness and Mercy, Cambridge University Press, 1988, S. 125/126.
[11] Um die Theorie so stark, wie möglich darzustellen, nehmen wir an, dass immer (notwendig) eine ungerechtfertigte Ungleichheit zwischen Täter und Opfer in einem Verbrechen enthalten ist.
[12] Dolinko, 1991, S. 551.
[13] Gesetzt, man kann sie überhaupt bezüglich ihrer moralischen Relevanz vergleichen.
[14] Im Falle von Morris‘ Theorie durch eine kontraktualistische Theorie begründet.
[15] Moore, M. S.: The Moral Worth of Retribution in: Placing Blame: A General Theory of Criminal Law, Oxford University Press, Oxford, 1997, S. 104-152.
[16] Nach ebd. S. 108-109.
[17] Bezüglich des intrinsischen Wertes der Bestrafung der Schuldigen siehe: Davis, L. H.: They Deserve to Suffer in: Analysis, Vol. 32, 1972, S. 136-140.
[18] Moore, 1987, S. 109.
[19] Der Schluss auf einen intrinsischen Wert wird hier als gültig vorausgesetzt.
[20] Ein Vorteil der kohärentistischen Theorie unserer moralischen Überzeugungen bezüglich der Strafe besteht darin, dass sie (ebenso wie die beiden besprochenen Theorien zuvor) einen Zirkelschluss vermeiden kann. Es ist nicht der bereits normativ aufgeladene Begriff der Strafe, der seine Rechtfertigung auf eine tautologische Wahrheit reduziert. Moore’s Ansatz untersucht ein wertneutral konzipiertes Phänomen und kommt zum Schluss, dass es moralisch richtig ist.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783863419363
- ISBN (Paperback)
- 9783863414368
- Dateigröße
- 337 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Bern
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Schlagworte
- Retributivismus Konsequentialismus Schuld Staat
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing