Die Neurowissenschaften im Kreuzfeuer der Philosophie: Schwerpunkte der philosophischen Kritik an den Neurowissenschaften
Zusammenfassung
Andererseits unterstellen angesehene Neurowissenschaftler der Philosophie indirekt, die neuen Entwicklungen ihrer Zunft nicht schnell und umfassend genug zur Kenntnis zu nehmen.
Sie fordern die Philosophen zum Dialog über die Konsequenzen der neurowissenschaftlichen Forschung auf und melden sich mit eigenen philosophischen Überlegungen zu Wort.
Der Disput berührt mehrere Teilbereiche der Philosophie, von denen in dieser Arbeit die Philosophische Anthropologie, die Philosophie des Geistes und die Analytische Philosophie schwerpunktmäßig behandelt werden.
Damit gibt sie einen Einblick in den aktuellen Stand dieses Diskurses, vor allem im deutschsprachigen Bereich, ohne allerdings auf diesen beschränkt zu sein:
Die globale Dimension ist durch die Bezugnahme auf eine Diskussion zwischen Maxwell Bennett und Peter Hacker sowie zwischen Daniel Dennett und John Searle gegeben.
Als deutschsprachige Neurowissenschaftler kommen vor allem Wolf Singer und Gerhard Roth zu Wort, als Philosophen Hans-Peter Krüger, Thomas Fuchs, Dieter Sturma und Peter Janich.
Letztendlich zeigt die Arbeit, dass der philosophische Diskurs im Spannungsfeld zwischen der naturalistischen naturwissenschaftlichen Forschung und der um anthropologische Fundierung und wissenschaftstheoretische wie begriffliche Klarheit bemühten Philosophie mit großem Engagement und auf hohem Niveau geführt wird.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Zwischen Philosophie und Neurowissenschaft schwelt seit Jahrzehnten ein mit nicht unerheblicher Öffentlichkeitswirkung ausgetragener Konflikt: Namhafte Philosophen werfen Neurowissenschaftlern vor, in ihren Überlegungen grundsätzliche philosophische Fragen zu vernachlässigen und dadurch möglicherweise schwerwiegende Fehlschlüsse zu riskieren.
Andererseits werfen namhafte Neurowissenschaftler der Philosophie indirekt vor, die neuen Entwicklungen ihrer Zunft nicht schnell und umfassend genug zur Kenntnis zu nehmen. Sie fordern die Philosophen zum Dialog über die Konsequenzen der neurowissenschaftlichen Forschung auf und melden sich mit eigenen philosophischen Überlegungen zu Wort.
Der Disput berührt mehrere Teilbereiche der Philosophie, von denen hier die Philosophische Anthropologie, die Philosophie des Geistes und die Analytische Philosophie schwerpunktmäßig behandelt werden sollen. Folgende Fragen stehen dabei im Vordergrund:
- Wird die neurowissenschaftliche Terminologie den lebensweltlichen Verhaltensdimensionen gerecht oder ist sie übertrieben reduktionistisch?
- Können die Hirnforscher die notwendige Unterscheidung zwischen Subjekt und Geist treffen oder werfen sie beides in einen Topf?
- Gibt es den Geist als eigene Entität oder ist er nur das Produkt neuronaler Vorgänge im menschlichen Gehirn?
- Können mentale Phänomene von physikalischen eindeutig unterschieden werden?
- Sind die physikalisch messbaren Leistungen des Gehirns kausal für das Bewusstsein oder sind sie nur eine Bedingung dafür?
- Haben wir einen freien Willen oder sind wir durch die Hervorbringungen unserer Gehirne determiniert (das Thema der Willensfreiheit kann im Rahmen dieser Arbeit nur gestreift, aber keineswegs erschöpfend behandelt werden)?
Leicht ist dieser Dialog nicht zu führen: der geisteswissenschaftliche und der naturwissenschaftliche Zugang sind nicht ohne weiteres kompatibel. Hilary Putnam kritisiert die heute modischen Ansichten der Kognitionswissenschaftler und kommt zu folgendem Schluss: „Erst wenn wir einsehen, dass die heute modischen Ansichten nicht funktionieren, sind wir allmählich imstand zu erkennen, welche Aufgaben sich der Philosophie eigentlich stellen könnten“ (Putnam 1999, 9).
Die vorliegende Arbeit legt ihren Schwerpunkt auf die deutschsprachige Diskussion, ohne sich ausschließlich auf diese zu beschränken. Bevor die Schwerpunkte der Kritik an der Neurowissenschaft ausgelotet werden, soll der Standpunkt der Neurowissenschaft an Hand von Veröffentlichungen von Wolf Singer und Gerhard Roth beispielhaft dargestellt werden. Beide sind philosophisch interessierte Hirnforscher, die gemäßigt reduktionistische Positionen vertreten, wie sie für die heutige Neurowissenschaft charakteristisch sind.
Anschließend werden einige Grundfragen der philosophischen Kritik an der Neurowissenschaft angeschnitten: Menschenbild, Naturalismus, Reduktionismus und Sprachlogik sind die Stichworte zu diesem Kapitel.
Die Kritiker der Neurowissenschaft kommen dann in drei Kapiteln zu Wort:
- Kritik aus der Sicht der philosophischen Anthropologie
- Kritik aus dem Blickwinkel der Philosophie des Geistes
- Kritik unter dem Aspekt der Analytischen Philosophie.
Zur Kritik aus der Sicht der philosophischen Anthropologie wird zunächst Hans-Peter Krüger zitiert. Er sieht sich als Anthropologe in der Tradition von Helmuth Plessner und ist Gründungsmitglied der Helmuth Plessner Gesellschaft. Ein weiterer Kritiker mit anthropologischem Hintergrund ist Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph.
Die Kritik aus dem Blickwinkel der Philosophie des Geistes stützt sich vorwiegend auf eine Veröffentlichung von Dieter Sturma.
Die sprachphilosophische Kritik wird mit Überlegungen von Peter Janich eingeleitet, der mit der Hirnforschung, insbesondere mit Wolf Singer, eine heftige Diskussion hatte. Eines der Standardwerke zum Diskurs unter dem Aspekt der Analytischen Philosophie ist der Band „Philosophical Foundations of Neuroscience“ (2003) von Peter Hacker und Maxwell Bennett. Er hat zu einer bekannten Kontroverse der Autoren mit John Searle und Daniel Dennett geführt, die in einem eigenen Buch (Bennett 2007) dokumentiert ist. Aus dieser Diskussion sollen einige wesentliche Gedanken beleuchtet werden.
Insgesamt wird diese Bachelorarbeit somit versuchen, die wesentlichen Themen des Diskurses zu skizzieren und folgende Fragen zu beantworten:
- Welche Vorstellungen und Äußerungen der Neurobiologen haben den Diskurs mit der Philosophie heraufbeschworen?
- Worin bestehen die wesentlichen Konfliktfelder der Debatte?
- Welche Vorwürfe werden von verschiedenen Disziplinen der Philosophie erhoben?
- Wie werden die Vorwürfe argumentiert und begründet?
In Anbetracht der breitgefächerten Themen des angesprochenen Konfliktes kann die vorliegende Arbeit den Diskurs nicht umfassend behandeln, sondern muss sich auf beispielhafte Beleuchtung wesentlicher Schwerpunkte und eine überblicksartige Darstellung konzentrieren.
Bevor die Kritik zu Wort kommt, soll zunächst dem Standpunkt der Neurowissenschaft, vertreten durch die beiden deutschen Hirnforscher Wolf Singer und Gerhard Roth, Raum gegeben werden.
2. Der Standpunkt der Neurowissenschaft - Wolf Singer und Gerhard Roth
2.1 Die grundsätzliche Sicht von Wolf Singer
Wolf Singer ist als Mediziner auch in der Philosophie zumindest belesen und immer am Dialog zwischen Neurowissenschaft und Philosophie interessiert, wie zum Beispiel aus dieser Aussage von ihm hervorgeht: „Erkennbar ist auch, dass die Hirnforschung dort, wo sie nach den höchsten Funktionen fragt, in angestammte Territorien der Geisteswissenschaft eindringt - mit der faszinierenden Konsequenz einer erneuten Annäherung von Natur- und Kulturwissenschaften.“ (Singer 2002, 33) Wenn er schreibt, dass die Wissenschaftler im Bereich der Hirnforschung einen reduktionistischen Ansatz verfolgen, indem sie annehmen, dass sich die Funktionen eines komplexen Systems aus weniger komplexen Einzelkomponenten ergeben, dann ist er sich der erkenntnistheoretischen Problematik eines solchen Ansatzes bei der Untersuchung des Bewusstseins durchaus bewusst (vgl. Singer 2002, 39). Im Zusammenhang mit dem Bewusstsein räumt er konsequenterweise ein, „dass diese höchsten Hervorbringungen unserer Gehirne, jene, die uns die Erfahrung vermitteln, autonome, selbstbestimmte Agenten zu sein, vermutlich kulturelle Konstrukte sind und deshalb der neurobiologischen Erklärung nicht direkt zugänglich“ (Singer 2002, 62).
Die Entwicklung des Gehirns sieht Singer als Ergebnis eines evolutionären Prozesses der Anpassung an die Umgebungsbedingungen: „Unser Gehirn wiederum ist Ergebnis eines evolutionären Prozesses, der über zufällige Mutationen und Wettbewerb Strukturen hervorgebracht hat, die sich in ihrem jeweiligen Biotop behaupten konnten.“ (Singer 2002, 78). Ontogenetisch allerdings wird die strukturelle Entwicklung des Gehirns maßgeblich von den Aktivitätsmustern geprägt, die aus der Umwelt über die Sinnesorgane auf es einwirken. Diesen Prozess erklärt er so, dass zwar die Nervenzellen bei der Geburt im Wesentlichen angelegt sind, die Verbindungen aber erst nach der Geburt auf Grund der von außen einströmenden Reize geschaffen werden (vgl. 2002, 46 f). Bei fehlenden Umweltreizen können bereits hergestellte Verbindungen auch wieder vernichtet werden. Als Beispiel für dieses Zusammenspiel in der ontogenetischen Gehirnentwicklung beschreibt Singer das beidäugige Sehen. Wie konnte sich diese Fähigkeit entwickeln, wo doch der Abstand der Augen variabel ist und sich mit dem Wachstum verändert? Die Antwort ist relativ einfach, sie kann aus folgendem Satz bezogen werden: „Neurons wire together if they fire together“ (2002, 49). Verbindungen von Neuronen, die häufig gemeinsam aktiviert werden, werden bestätigt und bleiben erhalten. Dieser Mechanismus ist entscheidend für die Entwicklung des Gehirns und gilt auch – nach der von Singer vertretenen Theorie - als eine der Grundlagen für das assoziative Lernen.
2.2 Die Entwicklung des Bewusstseins nach Wolf Singer
Mit der folgenden Frage leitet Singer von den grundsätzlichen Strukturen und Arbeitsweisen des Gehirns über zur Frage des Bewusstseins:
„Wie kommt es, dass wir nicht nur das in unserem Gehirn repräsentieren können, was in der Umwelt vorhanden ist, sondern dass wir uns dessen auch bewusst sein können, dass wir uns gewahr sind, Wahrnehmungen und Empfindungen zu haben, ein Phänomen, das die Angelsachsen als phenomenal awareness ansprechen.“ (Singer 2002, 70).
Eine mögliche Antwort auf diese Frage sieht Singer in den Metarepräsentationen, Repräsentationen von Repräsentationen, zu denen das menschliche Gehirn fähig ist, wie zahlreiche Experimente unter Zuhilfenahme nicht-invasiver bildgebender Verfahren gezeigt haben. Es konnte gezeigt werden, dass es im Gehirn Areale gibt, die nur auf tatsächlich gesehene visuelle Muster reagieren, solche die ausschließlich auf nur vorgestellte Muster reagieren und solche die auf gesehene und vorgestellte Muster reagieren. Die ersteren sind die phylogenetisch alten, primären, sensorischen Areale, die direkt auf die Impulse der Sinnesorgane reagieren. Den anderen beiden fällt die Aufgabe zu, Metarepräsentationen zu bilden (vgl. Singer 2002, 71).
2.3 Wolf Singer zur Willensfreiheit
Im Hinblick auf die Freiheit des Willens bekennt sich Singer zu einem uneingeschränkten Determinismus - neuronale Vorgänge bestimmen darüber, wie wir entscheiden. Zum Prozess der Entscheidungsfindung schreibt er, dass im Gehirn ständig Verhaltensoptionen an Hand einer großen Anzahl von Variablen verglichen werden, die einerseits aus Signalen aus der Umwelt und aus dem Körper und andererseits aus dem gesamten gespeicherten Wissen einschließlich emotionaler und motivationaler Bewertungen bezogen werden. „Welches der verschiedenen möglichen Erregungsmuster die Oberhand gewinnt, ist demnach festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den jeweils unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns.“ (Singer 2004, 57). Daraus zieht er den Schluss, dass wir zwar häufig das Gefühl haben, frei nach unserem Willen entschieden zu haben, dass dies aber nicht mit den naturwissenschaftlichen Theorien über die Funktion des Gehirns in Deckung zu bringen sei. Dass der Mensch überhaupt das Gefühl entwickelt hat, Entscheidungen frei getroffen zu haben, erklärt Singer evolutionstheoretisch damit, dass sich damit die Möglichkeit einer Begründung von Handlungen eröffnet habe, die im Sinne der Stabilisierung sozialer Systeme vorteilhaft sei. Die Gesellschaft müsse zwar trotzdem bestimmte Verhaltensweisen ahnden, sollte aber dringend Überlegungen anstellen „über die Beurteilung von Fehlverhalten, über unsere Zuschreibungen von Schuld und unsere Begründungen von Strafe“ (Singer 2002, 76).
Gerade mit seinen Äußerungen zur Willensfreiheit ist Singer oft mit Philosophen in Konflikt geraten und angegriffen worden. Seine diesbezüglichen Vorstellungen scheinen tatsächlich etwas eindimensional naturalistisch und überzogen. Sie berücksichtigen meiner Ansicht nach die anthropologischen Gesichtspunkte zu wenig und lassen damit einen breiten philosophischen Horizont vermissen.
2.4 Gerhard Roth – naturalistische Theorie des Geistes
Der deutsche Biologe und Hirnforscher Gerhard Roth bekennt sich zu einer naturalistischen Theorie des Geistes in Form eines nicht reduktionistischen Physikalismus (vgl. Roth 2011, 411). Diese Einstellung begründet er mit seinen umfangreichen Forschungen zur Evolutionstheorie, durch die er glaubt, die evolutionäre Erkenntnistheorie, wie sie zum Beispiel Gerhard Vollmer vertreten hat, widerlegt zu haben. In der Evolution gebe es nämlich zwei nebeneinander wirkende Prozesse: Einerseits gebe es den kontinuierlichen „Kampf ums Dasein“ (Roth 2010, 405), der zu einer stabilisierenden Selektion führe. Daneben gebe es einen evolutionären Mechanismus, der Mutationen selektiert, die den Kampf ums Dasein vermeiden. Diese Kombination von stabilisierender Selektion einerseits und dem Vermeiden anstelle des Gewinnens von Konkurrenzsituationen könne die Evolution des Gehirns besser erklären als die herkömmliche Theorie der natürlichen Selektion. Für die Evolution des Gehirns bedeute das, dass nicht besondere Spezialisierungen, sondern allgemein einsetzbare Eigenschaften, wie „Intelligenz, Verhaltensflexibilität und Innovationskraft“ (Roth 2011, 407), die besten Voraussetzungen geboten hätten, Großkatastrophen zu überleben.
2.5 Gerhard Roth – Geist und Bewusstsein
Geist und Bewusstsein seien also Produkte dieser Form der biologischen Evolution, in der es trotz sorgfältiger Suche keine unerklärlichen Sprünge gegeben hätte. Mit einer dualistischen Auffassung von Geist und Gehirn sei diese Erkenntnis nicht vereinbar, „denn es gibt keine geistigen Leistungen ohne spezifische neuronale Strukturen und Funktionen“ (Roth 2011, 410). Die dualistische Denkweise sei allerdings „tief in unserem Denken und Fühlen verankert“ (Roth 2009, 127). Der Dualismus habe eine enge Verbindung zu religiösen Vorstellungen, sei aber für alle Naturforscher ein Ärgernis, weil er einige Dinge ziemlich unerklärlich mache (vgl. ebd.): Wenn der Geist den Körper bewegen kann, wie kann dann eine Verletzung des Gehirns eine Veränderung im Geist bewirken?
Auf die Frage, wie eng geistig-bewusste und neuronale Prozesse zusammenhängen, antwortet Roth „so eng, wie es die heutigen Messmethoden feststellen können“ (Roth 2009, 138). Die heutigen bildgebenden Verfahren seien unterschiedlich wirksam: Vorgänge in der Großhirnrinde seien schon sehr gut erfassbar, weil es sich um ausgedehnte Hirnareale handle und die entsprechenden motorischen oder kognitiven Aufgaben empirisch gut beschreibbar seien. In kleinräumigen Arealen, in denen sich psychisch-emotionale Vorgänge abspielen, sei die Erforschung der neuronalen Grundlagen noch unbefriedigend.
Auch unter den Philosophen setze sich mehr und mehr die Überzeugung durch, „dass Geistzustände wesensmäßig Hirnzustände sind“ (Roth 2009, 142), wie dies zum Beispiel bei Patricia und Paul Churchland der Fall sei, während andere Philosophen, wie Thomas Metzinger oder Michael Pauen eine solche reduktionistische Erklärung ablehnen würden, ohne aber eine neurobiologische Erklärung des Bewusstseins völlig abzulehnen. Roth zeigt sich damit gut informiert über die aktuellen Strömungen in der Philosophie des Geistes.
2.6 Gerhard Roth zur Willensfreiheit
In dieser Frage hat sich Roth zunächst am fundamentalen Unterschied zwischen Ursachen und Gründen orientiert: „Gehirne reagieren aus Ursachen, Menschen handeln aus Gründen. Der Mensch ist deshalb willensfrei, weil er aus Gründen und nicht aus Ursachen handelt“ (Roth 2004, 81). Allerdings deklariert sich Roth nicht endgültig, denn er sieht „zwei Möglichkeiten, die Beziehung von Gründen und Ursachen zu deuten, ohne in einen Dualismus und seine fatalen Konsequenzen zu verfallen“ (Roth 2004, 82): Einerseits könne man Gründe als bewusste Erlebnisform von Gehirnprozessen betrachten, andererseits könne man sie „als Erklärungsweise eigener Handlungen sich selbst und den Mitmenschen gegenüber“ verstehen. Damit lässt er in der hier zitierten Publikation die Frage, ob wir frei entscheiden können oder durch Gehirnprozesse determiniert sind, offen und begnügt sich mit einem Appell, dazu sprachkritische und begriffliche Überlegungen anzustellen.
Einige Jahre später hat Roth, in einem gemeinsam mit Michael Pauen veröffentlichten Buch (Pauen 2010), diese Überlegungen weiter entwickelt zu einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, die den traditionellen Gegensatz zwischen Freiheit und Determination überwinden soll. Hier werden zwei wesentliche Unterschiede zwischen Ursachen und Gründen genauer erklärt:
- Gründe haben – im Gegensatz zu Ursachen - einen normativen Charakter, sie können „den Vollzug bestimmter Handlungen oder das Akzeptieren von anderen Überzeugungen rechtfertigen “ (Pauen 2010, 115).
- Gründe sind „keine räumlich und zeitlich bestimmbaren Einzelereignisse, sondern Abstrakta“ (ebd.). Mehrere Personen können zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten dieselbe Überzeugung haben, die ihnen einen Grund zu einer bestimmten Art des Handelns gibt.
Gründe sind also keine Ursachen und man kann sie deshalb nicht mit neuronalen Aktivitäten identifizieren, die ja Einzelereignisse sind (vgl. Pauen 2010, 116). Damit wird letzten Endes die deterministische Argumentation, wonach unser Handeln ausschließlich von unbewussten neuronalen Aktivitäten abhänge, ausgehebelt.
Allerdings stellen Reflexionsprozesse nur eine Komponente unserer Entscheidungen dar. Daneben spielen auch „das emotionale Erfahrungsgedächtnis und letztlich die Gesamtheit unserer Persönlichkeit eine Rolle“ (Pauen 2010, 173). Erfolgreiche Entscheidungen müssen ja mit den Grundstrukturen der eigenen Persönlichkeit kompatibel sein.
Als Konsequenz für die Schuldfrage ergibt sich eine grundsätzliche Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Normverletzungen sind nicht bloßer Zufall, sondern lassen sich auf die Überzeugungen und Wünsche der Person zurückführen. Allerdings gebe es ein Schuldparadox:
„Gerade im Fall besonders brutaler Gewalttaten spielen häufig Störungen eine Rolle, die die Verantwortlichkeit des Täters einschränken. Oft fällt daher die Härte der gerichtlich verhängten Strafe umso höher aus, je eindeutiger die neuropsychologische Evidenz dafür ist, dass der Täter nicht selbstbestimmt und damit auch nicht schuldhaft gehandelt hat.“
Gerhard Roth zeigt mit diesen Überlegungen seine Ernsthaftigkeit, sich auf philosophische Fragen einzulassen und hat offensichtlich in der fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Philosophen Michael Pauen seine Gedanken entscheidend weiter entwickeln können.
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Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783863419912
- ISBN (Paperback)
- 9783863414917
- Dateigröße
- 251 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Wien
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1
- Schlagworte
- Hirnforschung Reduktionismus Naturalismus mereologischer Fehlschluss Mereologie eliminativer Materialismus