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Geliehene Biografien: Formen der Erinnerung bei Jonathan Littell und W.G. Sebald

©2011 Masterarbeit 70 Seiten

Zusammenfassung

Zwei Autoren, die den Holocaust selbst nicht erlebt haben, schildern diese Zeit und die Nachwirkungen auf die Betroffenen in einer Genauigkeit, als ob sie selbst dabei waren. Beide Autoren bedienen sich nicht ihren eigenen Erinnerungen, sondern leihen sich Erinnerungen, um daraus ihre Werke zu konstruieren. Durch die literarische Aufarbeitung werden Erinnerungen, die individuell fragmentarisch gespeichert und wiedergegeben werden, in einen neuen Kontext gesetzt. Littell schreibt die komplette Biographie eines Menschens, den es so nie gegeben haben kann. W.G. Sebald konstruiert aus Fotos und Gegenständen Lebensläufe von Personen, die man nicht mehr vergisst.
In diesem Buch wird die Arbeitsweise der beiden Autoren beschrieben und es wird der Frage nachgegangen, wie sie eine Vergangenheit literarisch aufarbeiten, die sie selbst nicht erlebt haben. Als Textgrundlage für die Untersuchung dient zum einen der Roman „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell und zum anderen die Werke „Die Ausgewanderten“ und „Austerlitz“ von W.G. Sebald.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3.1. Bricolage

Ich arbeite nach dem System der Bricolage – im Sinne von Lévi-Strauss. Da ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen.[1]

Das „intellektuelle Basteln“, auf französischbricolagewird von Lévi-Strauss in der Figur des Bastlers, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind, illustriert.[2]Der Bastler muss dabei auf das Material zurückgreifen, das ihm zur Verfügung steht. Demnach sammelt er Dinge und

je nach Bedarf löst er sie aus ihrem alten Zusammenhang, wobei sie Teile ihres ursprünglichen Verwendungszweckes bewahren können. Die Tätigkeit des Bastlers ist also ein unabschließbarer Prozess von Zerlegung und Rekombination, von Analyse und Synthese.[3]

Sebalds Texte werden immer wieder durch Fotografien oder Abbildungen von Gegenständen durchbrochen. Sebald hat Bilder und Kuriositäten offensichtlich gesammelt, wie z.B. eine Wecker-Teekocher-Kombination namens teas-maid, um Ausgangspunkte für seine Erzählungen zu finden.

Sebald bastelt intellektuell nicht nur mit abbildbaren Gegenständen, er verbaut auch Teile von authentischen Biographien. Am auffälligsten ist das bei der Figur Austerlitz, die aus zwei Lebensläufen montiert wurde. Sebald sagte dazu „daß sie sowohl auf seinem eigenen Vermieter in Manchester in den sechziger Jahren beruht als auch auf einen sehr bekannten Maler, in dem manche Frank Auerbach erkannt haben wollen.“[4]

Sebalds Art zu schreiben kann man anhand eines Ebenenmodells verdeutlichen. Es wird von einem Bild, Objekt oder Dokument ausgegangen (1.Ebene), als Basis (Denotat). Die bereits erwähnte teas-maid hat es tatsächlich gegeben. Dass dieser Gegenstand eine Geschichte hat, es Menschen gibt oder gab, die Erinnerungen mit dieser einer auf dem Foto abgebildeten teas-maid haben, wird zweitrangig, weil es nur um den Gegenstand an sich geht.

Die teas-maid wird aus ihrem eigentlichen Umfeld herausgenommen um in einer Rekombination mit anderen Gegenständen die Basis für die Geschichte des Max Aurach inDie Ausgewanderten zu bilden.

Als Endprodukt soll eine Narration (3.Ebene) auf Basis der 1.Ebene entstehen. Hier kann der teas-maid, durch den Autor, eine neue Identität oder einfach nur ein neuer Besitzer gegeben werden.

Zwischen den dem Ausgangspunkt der 1. Ebene und dem Endprodukt liegt die 2. Ebene. Man kann die sie als Lücke ansehen, die geschlossen werden muss. Dies geschieht durch Erinnerungen, die verschriftlicht werden.

Ob die Erinnerungen fiktiv sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Die Erinnerungen sind die Verbindungslinien, die die Bilder oder Objekte zueinander in Beziehung setzen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle nach Lachmann[5]

3.2. Die Ausgewanderten

Der Klappentext vonDie Ausgewandertenlautet: „W.G. Sebald schildert die Lebens- und Leidensgeschichte von vier aus der europäischen Heimat vertriebenen Juden, die im Alter an ihrer Untröstlichkeit zerbrechen.“ Das stimmt nur teilweise. Ambros Adelwarth ist weder Jude noch vertrieben worden und Paul Bereyter ist Dreiviertelarier und hat Europa nie verlassen.

InDie Ausgewandertenist die Erzählstruktur aller vier Erzählungen gleich angelegt. Ein Erzähler kommt auf verschiedene Weisen in Kontakt mit der Person, die der Erzählung den Namen gibt. In der ersten Erzählung ist es der Vermieter des Erzählers, in der zweiten der verstorbene ehemalige Volksschullehrer, in der dritten ein Großonkel und in der letzten Erzählung ein Maler, den der Erzähler zufällig kennenlernt.

Die Figuren kommen „in den Erzählungen über ihr Leben, ihre Erinnerung über weite Strecken selbst zu Wort oder aber Menschen bzw. Figuren, die die Protagonisten gekannt haben, erzählen über sie.“[6]

Der Duktus, in demDie Ausgewandertenerzählt wird, ist

häufig derjenige der Mündlichkeit[..], zumal dieser Kunstgriff der literarischen Fingierung von Mündlichkeit imstande ist, einen gesteigerten Realismus und den Eindruck der Authentizität zu erzeugen und die Illusion einer „Sprache der Nähe“ zu erzeugen.[7]

Dies geschieht vor allem dadurch, dass Sebald die direkte Rede nie kennzeichnet, sondern sie im Textverlauf einfließen lässt. Ebenso lässt Sebald fremdsprachige Passagen im Text unverändert. Dies deutet auf Unverfälschtheit hin. Dadurch, dass der Ich-Erzähler bestimmte Passagen übersetzen müsste, würde die Unterhaltung an Wert verlieren.

In den Sommermonaten machten wir Autotouren quer durch Europa. Next to tennis, sagte Dr. Selwyn, motoring was my greatest passion in those days.[...]Aber ich habe es nie fertiggebracht, etwas zu verkaufen, except perhaps, a tone point, my soul.[8]

Der Ausdruck „sagte Dr. Selwyn“, oder „sagte er“, vermittelt den Eindruck, dass man die Geschichte persönlich vom Erzähler geschildert bekommt. Da der Eindruck einer persönlichen Beziehung zum Erzähler geweckt werden soll, übersetzt er die englischen Passagen nicht neu, sondern er „weiß“, dass wir es verstehen.

3.2.1 Der Ich-Erzäher

Der Ich-Erzähler trägt starke autobiographische Züge von W.G. Sebald. So beginnt die ErzählungDr. Henry Selwynmit den Worten „Ende September 1970, kurz vor Antritt meiner Stellung in der ostenglischen Stadt Norwich“[9]. Sebald lehrte tatsächlich seit 1970 an der Universität of East Anglia in Norwich. Es kommt vor, dass der Autor die autobiographischen Fakten fast spielerisch einbaut. „Sagte man also zu Mangold, man sei am 18.Mai 1944 geboren, erwiderte er unverzüglich, das war ein Donnerstag.“[10]

Dies ist der Geburtstag Sebalds und es war tatsächlich ein Donnerstag. Der Geburtstag taucht ebenso am Ende vonAusterlitzauf. Im Verlies der belgischen Festung Breendonk ritzen die Gefangenen ihren Namen und manchmal auch das Datum ihrer Festnahme in die Kalkwand. Ein Max Stern aus Paris war demnach am 18. Mai 1944 in dem Verlies. Die Geschichte eines französischen Kriegsgefangenen ist ein Teil der Geschichte des Krieges und durch die scheinbar zufällige, aber bewusst inszenierte, Nennung von sieben Zahlen, die in eine Gefängniswand geritzt wurden, wird es zur einer Geschichte, die durch diese Überschneidung, den Autor persönlich betrifft.

Der Erzähler nimmt bei Sebald stets eine zentrale Rolle ein, er ist die „zentrale Ordnungsinstanz für die Darstellung der Geschichte in Sebalds Werk“.[11]Dieser sagt zu der Rolle des Erzählers in einem Interview: „Ich glaube auch, daß man heute nicht mehr so schreiben kann, als sei der Erzähler eine wertfreie Instanz. Der Erzähler muß die Karten auf den Tisch legen, aber auf eine möglichst diskrete Art.“[12]Die Karten sind dabei die Dokumente, die Sebald im Sinne der Bricolage in den Text einbaut.

Die Auswahl der Dokumente gibt Informationen über den Autor, da er einerseits die Dokumente auswählt und andererseits für die Herstellung der Fotografien und der abgebildeten Gegenstände verantwortlich ist. „Darin gleicht er dem Bastler, der in sein Werk immer etwas von sich hineinlegt.“[13]In derAmbros Adelwarth-Erzählung ist doppelseitig eine Kopie des Tagebuches von Ambros Adelwarth abgebildet und der Ich-Erzähler gibt die Tagebuchaufzeichnungen im Text wieder. Vergleicht man den handschriftlichen Text mit der Übersetzung des Erzählers „stellt sich jedoch heraus, daß der Erzähler Adelwarths vermeintliche Agenda im Text mit nicht markierten Zufügungen versehen hat.“[14]Ein Ausrufezeichen macht der Erzähler zu einem Punkt und fügt einen Satz hinzu, der nicht in Adelwarths Agenda steht. „Der Erzähler ist somit mehr als bloßes Medium.“[15]Er fügt dem vermeintlich authentischen Material bewusst etwas hinzu. Von Steinacker nennt den Umgang mit den Dokumenten „inszenierte Semi-Fiktion“[16], was dadurch unterstrichen wird, dass er eine auffallende Ähnlichkeit zwischen den Handschriften von Ambos Adelwarth und Sebald erkennt. Anhand dieser Inszenierung kann man davon ausgehen, „daß keine der im Buch vorgestellten Figuren tatsächlich existiert oder existiert hat und hier statt dessen repräsentative, ja exemplarische Lebensläufe vorgeführt werden.“[17]

Demnach balanciert der Ich-Erzähler auf der Grenze zwischen Realität und Fiktion und ordnet die Dokumente so, dass trotz unglaubwürdiger Zufälle die Erzählung real wirkt bzw. zu einer neuen Realität wird.

Dass ein realistischer Text mit Wirklichkeit umgeht, ist Teil seiner eigenen Konstruktion. Vom Grad der Einsicht in dieses Dilemma hängt für Sebald ab, ob es dem literarischen Text gelingt, seine Darstellung zu beglaubigen. Aus diesem Grund ist Sebalds eigene Prosa gewissermaßen an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion angesiedelt.[18]

Der Ich-Erzähler dient in den Erzählungen dazu, persönliche Katastrophen darzustellen und er weiß, dass dies seine Aufgabe ist. Die Sicht des Erzählers „markiert die Differenz zwischen historischer Realität und ihrer textlichen Reproduktion.“[19]Diese Differenz begründet „die «Gemachtheit» des Textes“[20], die „ihre eigene «Wahrheit» in der Anordnung des Materials gewinnt.“[21]

Sebald gelingt es, trotz dieser offensichtlichen Gemachtheit seiner Erzählungen, Geschichte glaubhaft darzustellen. Er versucht, mit seinen speziellen literarischen Mitteln, Wahrheit durch konkrete Einzelschicksale darzustellen. Eine möglicher Hinweis auf die Frage, warum Sebald diesen Ansatz gewählt hat, findet sich im Kapitel 3.4.

3.2.2. Bricolage in Die Ausgewanderten

Die einzelnen Erzählungen beginnen jeweils mit einer fast leeren Seite, auf der oben mittig der Name der zentralen Figur steht und darunter ein Motto. Wären noch die Lebensdaten der Figur vorhanden, sähe die Seite wie ein Grabstein aus. Ohne diese Daten wirkt es wie ein Gedenkstein, wobei das Motto sich auf die Geschichte bezieht. Die Mottos werden als Kapitelüberschriften für die nächsten drei Unterkapitel dienen. Die Erzählung Ambros Adelwarth wird erst in Kapitel 3.2.3. hinsichtlich der intertextuellen Bezüge zwischen der Erzählung Ambros Adelwarth und Vladimir Nabokov untersucht.

3.2.2.1 Zerstöret das Letzte die Erinnerung nicht

Der Eindruck, dass es sich bei der einleitenden Seite der Erzählungen um eine Art Gedenkstein handelt, wird auf der ersten Seite der Erzählung Dr. Henry Selwyn bestärkt. Die Erzählung beginnt mit der Abbildung eines Baumes, der auf einem Friedhof steht.

Die zweite Assoziation ist die Ähnlichkeit mit dem Baum, den Ferdinand de Saussure für den Zusammenhang von Signifikat und Signifikant benutzt. Diese verdeutlicht, dass, nicht nur das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant, sondern auch die Beziehung zwischen den abgedruckten Bildern und dem dazugehörigen Text arbiträr ist, aber dennoch in der Erzählung sozial und historisch konstruiert und für die Figur unveränderlich.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1 Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abb.2

Auf fast allen Bildern der ErzählungDr. Henry Selwynsieht man eine Pflanze oder einen Baum. Die Gärtnerei ist eine Leidenschaft von Dr. Henry Selwyn, er bezeichnet sich selbst als „ein Bewohner des Gartens, a kind of ornamentel hermit.“[22]Damit sind professionelle Einsiedler gemeint, die in englischen Landschaftsparks zur Belustigung der Besitzer wohnten. Wo andere sich einen feudalen Springbrunnen installieren ließen, hatte andere Adelige einen eigenen Einsiedler.

Der Garten verwildert zwar, aber er trägt immer noch Früchte, so dass bei einem Essen, bei dem „sein Freund Edward Ellis, den er uns als einen bekannten Botaniker [...] vorstellte“[23], anwesend war, „fast alles aus dem verwildertem Garten“[24]stammte.

Ein botanisches Motiv hält den ersten Teil der Erzählung bildlich und inhaltlich zusammen. Der zweite Teil bereitet auf den Zeitungsartikel vor, der am Ende der Erzählung abgedruckt wird. Dr. Selwyn war als einundzwanzigjähriger mit einem Bergführer namens Johannes Neagli befreundet. Durch den Ersten Weltkrieg verloren sich Dr. Selwyn und der Bergführer aus den Augen. Nichts ist Dr. Selwyn je „so schwergefallen wie der Abschied von Johannes Naegli“.[25]Naegli ist direkt nach Kriegsanfang verunglück. Diese Nachricht löste bei Dr. Selwyn, die ihn „als Kasernierten und Uniformierten erreichten“[26], eine tiefe Depression aus. Er beschreibt seine Gefühle als „sei ich begraben unter Schnee und Eis“[27], also so, wie sein Freund starb. Bei einem Besuch beim Erzähler gibt Dr. Selwyn mehr Details über seine Vergangenheit preis. Er und seine Frau haben sich auseinandergelebt,

Genau weiß ich es immer noch nicht, was uns auseinandergebracht hat, das Geld oder das schließlich doch entdeckte Geheimnis meiner Abstammung oder einfach das Wenigerwerden der Liebe. Die Jahre des zweiten Krieges und die nachfolgenden Jahrzehnte waren für mich eine blinde und böse Zeit, über die ich, selbst wenn ich wollte, nichts zu erzählen vermöchte.[28]

Kurz nach dieser Unterhaltung mit dem Erzähler nimmt Dr. Henry Selwyn sich mit einem Gewehr das Leben. Jahre später reist der Erzähler von Zürich nach Lausanne: „Und wie ich mich erinnere oder wie ich mir vielleicht jetzt nur einbilde, kam mir damals zum erstenmal seit langem wieder Dr.Selwyn in den Sinn.“[29]Er blättert darauf eine Zeitung durch und liest, „daß die Überreste der Leiche des seit dem Sommer 1914 als vermißt geltenden Berner Bergführers Johannes Naegli nach 72 Jahren vom Oberaargletscher wieder zutage gebracht worden war.“[30]

Die ganze Erzählung zielt auf den Zeitungsartikel am Ende ab. Im Artikel werden das Jahr 1914 und der Erste Weltkrieg erwähnt, ebenso der Name Johannes Naegli. Weitere Bastelteile im Sinne der Bricolage sind autobiographische Züge Sebalds, er hat in Norwich gelebt, sowie die „botanischen“ Fotografien. Sebald konstruiert eine fiktive Biographie eines Mannes jüdischer Herkunft, der über große Teile seiner eigenen Geschichte keine Auskunft geben möchte oder kann und der zu der im Zeitungsartikel genannten Person eine enge Beziehung unterhielt, deren Ende ihn in tiefer Depression zurückließ. Beglaubigt wird die Existenz durch den vermeintlich authentischen Zeitungsartikel.

Dr. Selwyn tritt zufällig in das Leben des Erzählers, begeht Selbstmord und taucht Jahre später in Form eines Zeitungsartikels wieder auf. Sebald gibt diesem Zeitungsausschnitt durch die Erzählung eine neue Bedeutung, die bewusst macht, dass die Toten wiederkehren.

„Manchmal nach mehr als sieben Jahrzehnten kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe.“[31]Die Toten verschwinden nie, sie tauchen in jedem noch so kleinen Detail der Gegenwart wieder auf, es muss nur jeweils jemand gefunden werden, der diesen Bezug sieht bzw. sehen möchte.

Sebald fand ein Detail, die Spur einer Erinnerung einer möglichen Vergangenheit in einem Zeitungsartikel der Gegenwart und konstruierte daraus seine Erzählung. Anhand dieser Spur inszeniert er eine unwillentliche Erinnerung bei dem Erzähler, die durch den Zeitungsartikel ausgelöst wird.

Auf der folgenden Abbildung sieht man links den Zeitungsartikel wie er im Buch abgedruckt ist und auf der rechten Seite die Erstfassung aus dem Manuskript. Die Buchversion enthält zusätzlich rechts unten einen Artikel, in dem die Wörter „Film“, „légendes“ und „l´imagination“ vorkommen. Durch die Zugabe dieser Wörter, verliert der Artikel etwas an Glaubwürdigkeit, trotzdem erfüllt dieses „mehr“ an Text eine Funktion, „die Vermischung von erinnerter «Wirklichkeit» und Einbildung, die für das gesamte Buch symptomatisch ist, wird augenscheinlich.“[32]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.3

3.2.2.2 Manche Nebelflecken löset kein Auge auf

Die Geschichte des Volksschullehrers Paul Bereyters ist untrennbar mit dem Motiv der Eisenbahn verknüpft. Die Eisenbahn als „Sinn und Abbild von Pauls deutschem Unglück.“[33]Das erste Bild der Erzählung zeigt Schienen, die in Richtung Wald führen. Die ungewohnte Perspektive ensteht dadurch, dass die Kamera direkt auf der Schiene liegt. Es stellt vermutlich das Letzte dar, was Paul Bereyter sah, bevor er sich „dort, wo die Bahnlinie in einem Bogen aus dem kleinem Weidengehölz herausführt und das offene Feld gewinnt, vor den Zug legte.“[34]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.4

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.5

Paul Bereyter, der als Dreiviertelarier im Schuldienst des Dritten Reichs „aufgrund der ihm bekannten Gesetzesvorschriften, nicht mehr tragbar“[35]war, verliert zudem seine große Liebe. Man weiß nicht genau, was es dazu kam, es

bestünde aber wenig Zweifel daran, daß sie Zusammen mit ihrer Mutter deportiert worden sei in einem dieser meist noch vor dem Morgengrauen von den Wiener Bahnhöfen abgehenden Sonderzüge, wahrscheinlich zunächst nach Theresienstadt.[36]

Schon als Kind hatte Paul Bereyter eine Art Eisenbahnmanie. Er beobachtete in den Ferien einen Sommer lang die Züge und war so gefesselt, dass er nie rechtzeitig zum Mittagessen erschien. Sein Onkel sagte dazu: „[E]r werde noch einmal bei der Eisenbahn enden“.[37]Was als vermeintlicher Hinweis auf die spätere Berufstätigkeit von Paul gedacht war, ist im Nachhinein ein Menetekel für Pauls Leben.

Sebald entwirft die Lebensgeschichte eines Volksschullehrers, der durch die Eisenbahn seine große Liebe verliert und sein Leben durch eine Eisenbahn beenden lässt. Die Biographie wird von Sebald textlich und bildlich beglaubigt. Ausgelöst wird die Erzählung bzw. die Erinnerung des Erzählers an/über Paul Bereyter dadurch, dass dem Erzähler die Nachricht erreicht, dass sein ehemaliger Lehrer gestorben ist. Die Erinnerung erfolgt also unwillentlich.

Paul Bereyter wird als ehemaliger Lehrer des Erzählers vorgestellt. Dieser interessiert sich dafür, wie es zu Bereyters Selbstmord kam und forscht nach. Als weitere Legitimationsinstanz tritt Mme. Landau auf. Der Erzähler findet heraus, dass sie das Begräbnis organisiert hat. Er spricht mit ihr und erfährt so mehr über Bereyters Leben.

Hunderttausende Menschen wurden mit der Eisenbahn in Konzentrationslager transportiert und dort ermordet. Die Zahl ist so unglaublich groß, dass das Schicksal der einzelner Personen untergehen zu scheint. In der Person von Paul Bereyter und dem Motiv der Eisenbahn, durchsetzt mit vermeintlich autobiographischen Schulerinnerungen des Autors, arbeitet Sebald die Biographie einer Person heraus, die für die Biographie vieler Menschen steht.

3.2.2.3 Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben

Für von Steinacker bilden die Dokumente, die im Buch vorwiegend als bildliche Reproduktion wiedergegeben werden, die Basis aus dessen vorherrschenden Mangel an Aussagekraft und notorischer Unzuverlässigkeit ergibt sich dann eine zweifache Konsequenz. Einerseits kompensiert die Fiktion eben diesen Mangel; andererseits ist den Texten eine medienreflexive, ja, medienkritische Ebene zu eigen, die auf das dokumentarische bzw. fotografische Defizit, d.h. seine Unzuverlässigkeit, verweist.[38]

Diese zweifache Konsequenz wird an einem Bildbeispiel ausDie Ausgewandertendeutlich. In der Max Aurach Erzählung ist ein Foto der Bücherverbrennung vom 10.Mai 1933 in Würzburg abgebildet.[39]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.6

Die Bücherverbrennung fand in den Abendstunden statt, weil man aufgrund der zu diesem Zeitpunkt herrschenden Dunkelheit keine brauchbaren Fotografien habe machen können, sei man, so behauptete der Onkel, kurzerhand hergegangen und habe in das Bild irgendeiner anderen Ansammlung vor der Residenz eine mächtige Rauchfahne und einen tiefschwarzen Nachthimmel hereinkopiert. Das in der Zeitung veröffentlichte fotografische Dokument sei somit eine Fälschung. Und so, wie dieses Dokument eine Fälschung war, sagte der Onkel, als stelle die von ihm gemachte Entdeckung den entscheidenden Indizienbeweis bei, so war alles eine Fälschung von Anfang an.[40]

Die Unzuverlässigkeit der Fotografie kommt hier in zweifacher Hinsicht zum Ausdruck. Max Aurachs Onkel Leo folgert aus der Manipulation am Bild, dassalles eine Fälschung von Anfang anwar. Ein objektiverer Blick auf das Bild lässt den Betrachter eher zu dem Schluss kommen, dass das Bild aus Propagandazwecken manipuliert wurde, damit das „Ereignis“ in der Zeitung abgedruckt werden konnte.

Das Foto für sich hätte nicht viel ausgesagt. Durch die Einbettung in die Fiktion und verbunden durch fiktive Erinnerungen, wird durch das Foto ein Bezug zu der deutschen Geschichte hergestellt. Auf historischer Ebene, die eine Bildmanipulation zu Propagandazwecken zeigt und auf persönlicher Ebene, die einem Individuum die Möglichkeit gibt, anhand einer Bildmanipulation alle Geschehnisse der Zeit ab 1933 den Stempel einer Fälschung aufzudrücken um sich so von der Erinnerung oder vielleicht der eigenen Schuld, zu befreien.

[...]


[1]W.G. Sebald im Interview mit Sigrid Löffler in : Löffler, Sigrid: „Wildes Denken“ – Gespräch mit W.G. Sebald. In: Loquai,Franz(Hg): W.G. Sebald. Porträt. Eggingen: Edition Isele 1997. S.136

[2]Vgl. Seitz, Stephan : Geschichte alsbricolage– W.G. Sebald und die Poetik des Bastelns. Göttingen: V&R unipress. 2011. S.67

[3]ebd. S.68

[4]Schedel, Suanne : „Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?“ Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald. Würzburg: Königshausen&Neumann GmbH. 2004.S.128

[5]Lachmann, Tobias: Archäologie oder Restauration In: Im Krebsgang. Strategien des Erinnerns in den Werken von Günther Grass und W.G. Sebald. Iserlohn: Tagungsprotokolle – Institut für Kirche und Gesellschaft. 2006. S.82

[6]Schedel 2004, S.129

[7]ebd.

[8]Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag. 1994. S.34

[9]Sebald 1994. S.9

[10]ebd. S.60

[11]Seitz 2011, S.110

[12]Poltronieri, Marco: Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G. Sebald. In: Loquai, Franz(Hrsg.): W.G. Sebald. Eggingen: Edition Isele 1997. S.144

[13]Seitz 2011, S.111

[14]von Steinacker, Thomas: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld: transcript Verlag. 2007.S.289

[15]ebd.

[16]ebd.

[17]ebd.

[18]Seitz 2011. S.111

[19]ebd.

[20]ebd.

[21]ebd.

[22]Sebald 1994. S.11

[23]ebd. S.21

[24]ebd. S.23

[25]Sebald 1994. S.24

[26]ebd. S.25

[27]ebd. S.25

[28]ebd. S.35

[29]ebd. S.36

[30]ebd. S.36

[31]Sebald 1994. S.36f.

[32]von Steinacker 2007. S.289

[33]Sebald 1994 . S.91

[34]ebd. S.41

[35]Sebald 1994. S.72

[36]ebd. S.73

[37]ebd. S.92

[38]Sebald 1994. S.286

[39]ebd. S.275

[40]Sebald 1994. S.274

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2011
ISBN (PDF)
9783955495961
ISBN (Paperback)
9783955490966
Dateigröße
1.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Bricolage Subjektives Erinnern Hyperrealismus Intertextualität
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