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Die lyrische Form und das metaphysische Konzept Brochs in dem Roman "Die Verzauberung"

©2012 Examensarbeit 68 Seiten

Zusammenfassung

Der Roman Die Verzauberung teilt wie kein zweites Werk des österreichischen Autors Hermann Broch die Meinungen seiner Leserschaft innerhalb und außerhalb der Forschung. Der Roman bleibt in seiner Popularität hinter der drei Jahre zuvor abgeschlossenen Romantrilogie Die Schlafwandler und noch weiter hinter Brochs berühmtestem Roman Der Tod des Vergil zurück. Die Rezeption schlägt sich auch in der Verteilung des Forschungsinteresses nieder, was sich an konkreten Zahlen belegen lässt: So verzeichnet die Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft momentan zum Tod des Vergil 70 Einträge, zur Schlafwandler-Trilogie 93 Einträge und zur Verzauberung nur 24 Einträge. Gründe für die geringe Resonanz liegen sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene. Julia Mansour bezeichnet in ihrem Aufsatz den „Denk- und Darstellungsstil“ Brochs in der Verzauberung als „befremdlich, nicht selten unzugänglich“.
Gegenstand dieser Untersuchung ist eine Besonderheit in Brochs Roman: Die Verseinlagen innerhalb des epischen Textes. Zu den in der Verzauberung auftretenden lyrischen Einlagen existiert bisher in der Forschung noch keine gesonderte Analyse. Das ist, sowohl aufgrund der formalen Unterschiedlichkeit und Ungewöhnlichkeit der Einlagen in gebundener Rede, als auch aufgrund ihrer Auftretenshäufigkeit erstaunlich. Selbst wenn Passagen, die man als Grenzerscheinungen zwischen Epik und Lyrik ansehen kann, unbeachtet bleiben, beinhaltet der Roman 15 Einlagen in gebundener Sprache. Die Analyse dieser Einlagen zeigt, dass die beiden populären Deutungsrichtungen des Romans – die Auslegung unter historischer Perspektive als symbolisch-parabelhafter, antifaschistischer Roman oder geistesgeschichtlich als religiös-mythischer Roman - nur einen unzureichenden Horizont eröffnen. Die Abschnitte in gebundener Rede erhellen die enge Verwebung zwischen dem Roman und den ästhetischen Schriften Brochs und verkörpern in überraschender Art und Weise selbst das in Letzteren ausgedrückte metaphysische Konzept.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


II. Hauptteil

1. Gattungstheoretische Einordnung

Da die versifizierten Abschnitte in der Verzauberung in unterschiedlichen Formen auftreten, von denen einige nicht mehr mit einem konventionellen Begriff von Lyrik zu erfassen sind, ist es sinnvoll, die in dieser Arbeit verwendete Definition des Gattungsbegriffes im Voraus kurz zu klären.

Die Verseinlage ist zur Lyrik zu rechnen, auch wenn sie durch ihre besondere Form aus rezeptionsästhetischer Sicht natürlich mit dem sie umgebenden Prosatext zusammenwirkt.[1] Innerhalb der drei Gattungen Epik, Drama und Lyrik stellt die Lyrik die Gattung dar, welche die meisten Probleme bereitet bei der Formulierung übergreifendend wirksamer und gleichzeitig konkreter Merkmale. Der Begriff von Lyrik als eigenständiger und gleichwertiger Gattung neben Epik und Drama besteht erst seit Beginn des 18. Jahrhunderts. Definitionen von Opitz (Liedhaftigkeit),

Gottsched, Schlegel und Herder (Grundstimmung) bis Goethe (Attribut der enthusiastischen Aufgeregtheit) tragen nicht wirklich zu einer Konkretisierung des Begriffs bei, sondern fördern eher das „verschwommene Verständnis des Lyrischen als eines stimmungsvollen Zustandes“, dem auch das alltagssprachlich gebrauchte Attribut ,lyrisch‘ in seiner Bedeutung als ,stimmungsvoll‘ oder ,gefühlsbetont‘ entspricht.[2] Ein Problem dieser Ansätze besteht unter anderem darin, dass sie die Gattung stark über Inhalte zu definieren versuchen, so beispielsweise die zahlreichen Konzepte, die durch ihre Kriterien ausschließlich auf Erlebnis- und Stimmungslyrik abheben. Die Lyrik der Moderne führt schließlich zu einer Infragestellung aller bisher angenommenen Gattungskriterien. Sie lässt sich inhaltlich nicht mehr festlegen (obwohl es natürlich wie zu jeder anderen Zeit populärere und weniger populäre Themen gibt) und löst sich formal immer stärker von den traditionellen Merkmalen des Reims und des Metrums, die seit Klopstock bereits nicht mehr obligatorisch sind. Theoretiker wie Asmuth versuchen, das ursprünglichste Kriterium, die Liedhaftigkeit, zu verteidigen, scheitern jedoch aufgrund des „Verzicht[s] auf Metrum und schnelle Verstehbarkeit“ von großen Teilen moderner Lyrik.[3] Es stellt sich dabei jedoch die Frage, in welcher Form sich Liedhaftigkeit überhaupt aufgrund bestimmter Merkmale beweisen oder widerlegen lässt und ob es sich nicht eher um eine Bezeichnung handelt, die allenfalls graduelle Abstufungen identifiziert. Eine exakte Abgrenzung lyrischer von nicht-lyrischen Texten aufgrund des Kriteriums der Liedhaftigkeit ist wegen der unscharfen Merkmalskriterien jedenfalls schwer vorstellbar. Dieselbe Problematik ergibt sich für das Kriterium der Kürze: Auf welche Weise soll festgelegt werden, wann ein Text nicht mehr liedhaft oder nicht mehr kurz (genug) ist?

Neue Theorieversuche, beispielsweise unter dem Begriff der „Differenzqualität“, welcher das besonders stark vorhandene Abweichen von der Alltagssprache bezeichnen soll, oder der „Offenheit des Wirklichkeitsbezuges lyrischer Texte“ kritisiert Burdorf zu Recht als ebenfalls nicht trennscharf genug.[4] Beide Merkmale erfassen zwar einen Großteil von lyrischen Texten, gewährleisten jedoch keine ausreichende Abgrenzung zu Texten anderer Gattungen – so weichen auch zahlreiche moderne Romane stark von üblicher Sprachverwendung ab und einige epische Kurzformen unterbieten umfassendere lyrische Werke bei weitem.[5] 1993 entwirft Lamping eine Definition, die sich ausschließlich auf das Merkmal der Versstruktur stützt und damit den Großteil der aktuell als Gedichte angesehenen Texte abdeckt:

Als Versrede soll hier jede Rede bezeichnet werden, die durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht. Das Prinzip dieser Segmentierung ist die Setzung von Pausen, die durch den Satzrhythmus der Prosa, und das heißt vor allem: durch die syntaktische Segmentierung des Satzes nicht gefordert werden.[6]

Im Schriftbild lässt sich diese Segmentierung in der Regel durch eine Anomalie des Satzspiegels erkennen, also durch nicht vollgeschriebene Zeilen. Kayser formuliert dazu sehr pragmatisch: „Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind. Wenn auf einer Seite um das Gedruckte herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.“[7] Diese Definition trifft natürlich nicht zu, wenn Verse, wie häufig im 17. Jahrhundert, nicht durch Zeilenumbrüche, sondern stattdessen durch Schrägstriche voneinander abgesetzt sind. Diesem Einwand kann entgegengehalten werden, dass die Schrägstriche dem Zeilenumbruch strukturell entsprechen und das Kriterium bestehen bleibt, dass die Segmentierung rhythmisch, nicht syntaktisch motiviert ist. Die Definition von Lamping soll daher grundsätzlich zur Identifikation von Verseinlagen für die folgende Untersuchung gelten.

Einen Sonderfall, der bei Burdorf nicht berücksichtigt wird, stellen die Verseinlagen des Kapitelpunktes „Mutter Gissons Tod“ dar. Es handelt sich dabei um Textabschnitte, die zwar nicht das Äußere von Versen besitzen, also keine Segmentierung durch Zeilenumbrüche, dafür aber über die konventionellen Kriterien des Metrums und des Reimes verfügen. Burdorf hält streng an der Definition Lampings fest, was solche Mischformen angeht: „Entweder ein Text ist in Versen gefasst: dann ist er ein Gedicht; oder er ist nicht in Verse gegliedert: dann ist er Prosa und eben kein Gedicht“.[8] Tatsächlich ist aber dieser Textabschnitt gerade aufgrund seiner Grenzhaftigkeit zwischen gebundener Sprache und Prosa für das Gesamtkonzept der lyrischen Einlage in der Verzauberung zentral und soll deshalb, allerdings genau unter dieser Definition als formale Grenzerscheinung, Teil der folgenden Analyse sein.

Abschließend muss in Bezug auf die Gattungsfrage noch darauf hingewiesen werden, dass die Gattungsbegriffe ,Lyrik‘ und ,lyrisch‘ von Broch selbst auf sehr undifferenzierte Weise verwendet werden. Loos schreibt zu diesem Problem in Mythos Zeit und Tod:

„die Vokabel ,lyrisch‘ […] scheint für ihn [Broch] nicht fixiert in einem streng gattungspoetischen Sinn, demzufolge auch nicht an bestimmte metrisch-rhythmische Formen gebunden“.[9] So verwendet Broch in seinen kunstästhetischen Essays und Briefen häufig diffuse Begrifflichkeiten wie den „lyrischen Ausdruck“ oder gar die „musikalisch[e] Komposition des Gesamtwerks“,[10] unabhängig von der äußeren Form jener Texte, und bezeichnet zuweilen sogar seinen Roman Tod des Vergil als ,Gedicht‘.[11] Beim Hinzuziehen solcher Aussagen des Autors als Beleg von Thesen über die lyrischen Einlagen ist also große Vorsicht geboten. Auch die vorliegende Arbeit wird unterstützend Ausschnitte aus Schriften von Broch zitieren und deuten, in denen er die Begriffe ,Lyrik‘ und ,lyrisch‘ verwendet. Besondere Aufmerksamkeit wird jedoch darauf verwendet werden, die Bedeutung der Autoraussagen immer aus dem jeweiligen Kontext heraus zu erschließen.

2. Die Abschnitte in gebundener Rede

Die Verseinlagen des Romans lassen sich in fünf Gruppen untergliedern, die jeweils einem Kapitel (oder, in Kapitelpunkt 2.3, zwei zusammenhängenden Kapiteln) des Romans zuzuordnen sind. Diese Gruppen von Verseinlagen werden im Folgenden nicht nach der Reihenfolge ihres chronologischen Auftretens im Roman analysiert, sondern in der Weise geordnet, dass die Strophen, die stärker das konventionelle Äußere von Versen aufweisen, zu Beginn stehen, während die komplexeren Formen in den Kapitelpunkten 2.4 und 2.5 behandelt werden. Diese Ordnung ist sinnvoll, weil die beiden letzten Kapitelpunkte, obwohl sie im Roman weit voneinander entfernt sind, eine andere Form der Analyse benötigen als die übrigen Versgruppen. Die weltanschauliche Nähe der Hauptfiguren der Kapitelpunkte 2.4 und 2.5 unterstützen zudem auf inhaltlicher Ebene das formale Argument.

Jedes der Kapitel, das eine Verseinlage beinhaltet, wird zunächst nach den allgemeinen Methoden der Romananalyse untersucht, dann folgt eine reine Analyse der auftretenden Verse. Die auf das Kapitel bezogenen Funktionen werden in einem dritten Abschnitt dargelegt. Treten in einem Kapitel mehrere Verseinlagen auf, so werden diese mit kursiven römischen Ziffern durchnummeriert.

Diese Aufteilung mag an manchen Stellen künstlich und im Vergleich mit einer synthetischen Abhandlung nachteilig erscheinen. Sie gewährt jedoch zu jedem Zeitpunkt Übersichtlichkeit, die bei einer synthetischen Analyse (das zeigt sich in Abschnitten von Bachleitners Abhandlung, in denen beispielsweise der Inhalt des Prosakontexts und die Form der Verseinlage gleichzeitig untersucht werden) leicht verloren geht.

2.1 Gebete und Gesänge während des Steinsegens

2.1.1 Romananalyse

Die Verseinlagen dieses Kapitelpunkts stehen im Kontext eines religiösen Dorfrituals, des Steinsegens. Es handelt sich um ein jährliches Fest, das zeitlich auf den „ersten Donnerstag zwischen dem letzten Neumond und der Sonnenwende“ festgelegt ist.[12] Neumond und Sonnenwende sind Naturphänomene, es offenbart sich also bereits im Termin des Festes dessen Ursprung in vorchristlichen „Naturbeschwörungen“.[13] Die aktuelle Umsetzung stellt eine christliche Adaption dieser alten Riten dar, die jedoch nicht ohne innere Widersprüche ist:

Vor diesen Gegenständen zelebrierte der Pfarrer, und was er tat, mußte ihm, dem kirchlichen Priester, als ein Vorgang erscheinen, der sich hart am Abgrund verdammungswürdigen Aberglaubens bewegte.[14]

Die Entfernung der Festlichkeit von ihrer ursprünglichen Form wird vom Erzähler indirekt negativ bewertet durch die Feststellung, dass der Steinsegen inzwischen „zu einem recht kümmerlichen Fest geworden“ sei.[15] Inhalt des Segens ist die allegorisch dargestellte Rettung der Bergbraut aus der Gefangenschaft des Drachens, mit der auch die symbolische Erlaubnis des Berges einhergeht, Mineralien abbauen zu dürfen. Die Umsetzung erfolgt durch die Dorfkinder in der Art einer Laienschauspielgruppe. Zum Ablauf des Festes gehört eine längere Wanderung aus dem Dorf zur Bergkapelle, die dem Erzähler mehrere Anlässe gibt, das Geschehen mit bizarren, humoristischen Zügen darzustellen.

Die zentralen Themen des Kapitels sind die Unzeitgemäßheit und damit seltsame Wirkung des Festes sowie der Hinweis auf seine vorchristlichen, naturreligiösen Wurzeln. Die Kompositionsstruktur stellt, ähnlich wie im gesamten Roman, eine ausgewogene Mischung aus Aktions-, Deskriptions-, Dialog- und Reflexionssequenzen dar, was sich günstig auf die Lesermotivation auswirkt. Auffällig ist allerdings die lange Reflexionssequenz zu Beginn des Kapitels. Diese hebt die Fokalisierung auf die Figur des Erzählers hervor und stärkt seine Position.

Die wichtigsten Figuren des Textabschnittes sind der Landarzt, Mutter Gisson, der Pfarrer und Mutter Gissons Enkelin Irmgard. Nach der Form des Festes müssten eigentlich der Pfarrer und die Bergbraut Irmgard im Zentrum der Figurenkonstellation stehen. Beide werden jedoch als schwach und teilweise sogar lächerlich dargestellt: Irmgard sagt ihre Verse im Tonfall „eines Dorfschulmädchens“ auf und ist nach Erzählereinschätzung auf eine oberflächliche Weise froh, sich in „solchem Schmuck“ zeigen zu können.[16] Der spirituelle Leiter ist ein unsicherer Blumenfreund, der aufgrund seiner Schwäche auf den Berg geschoben werden muss und bei einer Zwischenpause „mit der Bewegung von Bäuerinnen, die ihre Röcke schonen wollen“ hinten sein Ornat aufhebt, wodurch seine „geflickte Hose“ sichtbar wird.[17] Die beiden eigentlichen Hauptpersonen der Handlung füllen also ihre Positionen aufgrund ihres Charakters und ihrer Verfassung nicht ausreichend aus, wodurch die stark angelegten Figuren Mutter Gisson und der Landarzt in den Mittelpunkt rücken. Diese Beobachtung lässt sich auf den gesamten Roman übertragen: Es handelt sich bei den Nebenfiguren zwar nach der Kategorisierung Edward Forsters nicht um ,flat charakters‘, also stark typisierte Figuren,[18] aber es besteht ein deutliches Gefälle zwischen den drei Hauptfiguren - Mutter Gisson, Landarzt und Marius - und allen anderen im Roman auftretenden Charakteren.

In der Figur des Landarztes überschneiden sich Aspekte der Figurenkonstellation und der Narrativik, da es sich nach Stanzels Kategorisierung um eine Ich-Erzählung handelt. Der Erzähler berichtet von seinen eigenen Erlebnissen aus einer zeitlichen Distanz heraus. Durch die Beschreibung der Erzählsituation zu Beginn des Romans: „Hier sitze ich, […] ein alter Landarzt, und will etwas aufschreiben, das mir zugestoßen ist“ entstehen die Ebenen von Rahmen- und Binnenerzählung, die räumlich und zeitlich voneinander differenzierbar sind, jedoch dadurch verschwimmen, dass sie dieselbe Erzählerfigur besitzen, die sich zudem in langen Reflexionssequenzen jeweils von der situativen Umgebung löst.[19] Auf beiden Ebenen ist der Erzähler durch häufige Wertungen des Geschehens stark angelegt und tritt kaum je hinter das Erzählte zurück, sondern stellt sich in dessen Zentrum. Übereinstimmend damit handelt es sich nach Genette in Bezug auf die Perspektive um eine Fokalisierung, die sich (mit einer Ausnahme, auf die ich am Ende dieses Abschnitts eingehe) auf die Hauptfigur beschränkt.

Im gesamten Roman ist der Erzähler in die Welt der anderen Figuren eingebunden, also homodiegetisch, und legt seine Wertung der Geschehnisse offen. Diese eigentlich starke Position wird allerdings durch seine charakterliche Anlage geschwächt. Aus der innerlichen Zerrissenheit zwischen dem Streben, mit kognitiv-logischen Mitteln die Welt zu erfassen und seiner gleichzeitig empfundenen Sehnsucht nach einer metaphysischen Einheit mit seiner Umwelt,[20] resultiert ein häufig schwankendes Urteilsvermögen. So erscheinen sowohl der Dorfritus als auch Mutter Gissons Individualreligion dem Landarzt durch seine akademische Prägung ursprünglich suspekt, zu beiden nimmt er jedoch im Kapitelverlauf widersprüchlich Stellung. Die Feierlichkeit während des Gottesdienstes in der Bergkapelle erscheint ihm plötzlich überaus positiv:

Denn so irdisch die Gebärde des Gebetes auch sein mag, […] sie ist die wirkliche Gewähr, daß der Mensch, der aus der Unendlichkeit stammt und ohne sie nicht leben kann, sich zu ihr zurückzuwenden vermag.[21]

Kurz darauf kehrt er jedoch zu seiner nüchternen, ursprünglichen Sichtweise zurück:

[D]er Gottesstreiter, den uns die Kirche geschickt hatte, war unser kleiner Gärtner-Pfarrer […] und sogar der Lobgesang ob der Niederwerfung des Heidnischen war zu einem Kinderstubenliedchen geworden.[22]

Trotz dieser inneren Unsicherheit lässt der Landarzt gegenüber den anderen Figuren nur die Urteile erkennen, die einer aufgeklärten und humanistischen Denkweise entsprechen, wie seine Wertung des brutalen, sexistischen Pfarrers Arlett als „Unmenschen“.[23] Im Schwanken des Erzählers drückt sich seine Sehnsucht nach einer kraftvollen, urwüchsigen Glaubensform als Alternative zu der ursprungsfernen, ausgewaschenen Feierlichkeit des Steinsegens aus. Diese Sehnsucht ist kongruent mit der des Verfassers, wie sich an zahlreichen Stellen in Brochs Schriften belegen lässt:

Möge die Wertzersplitterung noch weiter fortschreiten […] die Erkenntnis ist es, die immer wieder, zumindest potentiell, in jeden Wertzerfall […] die Kraft zur Umbildung in neue Ordnungen legt, den Keim zu einer neuen religiösen Ordnung […], denn an ihrem Ende ist der neue Mythos sichtbar.[24]

Mutter Gisson wird durch eine Art Hellsichtigkeit vom Erzähler als über dem Geschehen stehend dargestellt: „[D]as Fabelhafte drang immerzu zu ihr aus einem Einst, das vor jeder Erinnerung liegt und das ihr beinahe ebenso viel galt wie die Gegenwart“.[25] Da sie über diesen besonderen Zustand immer verfügt, sind Rituale jeder Form, die transzendente Wirkungen hervorbringen wollen, für sie nicht von Bedeutung, weswegen sie im weiteren Handlungsverlauf der ,Verzauberung‘ durch den Marius als einzige Dorfbewohnerin widerstehen kann.

Zentrale Themen von Mutter Gissons Weltsicht überschneiden sich mit Themen, die auch den Landarzt und Marius beschäftigen, zum Beispiel die Einheit des Menschen mit der Natur und die Verbindung zu einer metaphysischen Ebene. Sie stellt keine rationale, humanistische Antipode zum durch mystische Denk- und Sprachweise ausgezeichneten Marius dar, viele ihrer Ansichten stehen ebenso im krassen Gegensatz zum aufgeklärten Menschenbild. So drückt sie in diesem Kapitel ihre Sympathie zum ehemaligen Pfarrer Arlett aus, der offenbar Mädchen während der Beichte sexuell bedrängt hat:

„Und der Pfarrer Arlett, der war ein Bräutigam?“

„Das will ich meinen…das war ein schrecklicher Kerl, dem hat man kein Mädel zur Beicht schicken dürfen…“[26]

[…]

„Aber, Mutter Gisson, das war doch ein Unmensch.“

„Nein, das war er nicht… dumpf war er, und gut war er, und groß war er, auch in seinem Glauben […] und die Männer waren wie Weiber vor ihm“.[27]

Mutter Gissons Stellungnahme erregt hier sichtlich die Irritation des Landarztes, in der sich der durchschnittliche modern-aufgeklärte Rezipient gespiegelt sehen kann. Durch diese charakterliche Anlage Mutter Gissons wird jedoch auch deutlich, dass das Konzept des Romans nicht in der Gegenüberstellung rational und irrational besteht. Was Mutter Gisson und Marius letztlich zu Antagonisten werden lässt, muss auf einer anderen Ebene begründet liegen. Dieser Frage wird im Verlauf der Untersuchung noch gesondert nachgegangen werden.

Stilistisch handelt es sich im gesamten Roman um eine virtuose Mischung zahlreicher Sprachregister (beispielsweise ärztliche Fachsprache, dialektale Ausdrücke, Hochsprache und Abschnitte von derbem Humor), eine Besonderheit, auf die Winkler mit seinem in der Einleitung erwähnten Urteil Bezug nimmt. Zu dieser Mischung treten ein dichtes Netz aus rhetorischen Figuren sowie zahlreiche Anspielungen auf verschiedene Denkkonzepte.[28] Anstoß für diese Form, das geht aus Brochs theoretischen Schriften hervor, ist der neuartige Stil von Joyces Ulysses:

Die Joycesche Stilagglomeration ist, technisch gesehen, ein Verfahren, das das Objekt von einer Stilbeleuchtung in die andere rückt, um es völlig auszuschöpfen und ihm das höchste Maß an Wirklichkeit, einer übernaturalistischen Wirklichkeit abzugewinnen.[29]

Im Hinblick auf die rhetorischen Mittel sind am stärksten Personifikationen oder Antropomorphisierungen von Teilen der Natur vertreten. So bezeichnet der Erzähler die Felswand als „schrundig“, ein Adjektiv, das auch für die Oberflächenbeschreibung von Haut verwendet wird und fragt sich, ob „sich […] der Fels nicht den Spaß machen [durfte], sich mit einer Schlange zu gürten?“ Sowohl „Spaß machen“ als auch „gürten“ sind menschliche Verhaltensweisen, die hier der Felswand zugesprochen werden. Relativ häufig treten auch Synästhesien auf: „in der Musik des scheidenden Lichts“,[30] und sogar das in Prosatexten eher ungewöhnliche Mittel der Hypallage findet sich im Text: „ ,Ja‘, sagte er mit seinem leisen […] Gesicht“.[31]

Die verwendeten Vergleiche sind bildhaft und können aufgrund der fehlenden Verknüpfungspunkte der Vergleichsbegriffe häufig nur noch assoziativ verstanden werden: „Die Gesichter der Menschen waren wie huschende weiße Nebel“,[32] oder: „Da stand die Felswand, […] wie […] ein uraltes Lächeln der Erde“.[33]

All diese Stilmittel haben die Funktion, Grenzen zu verwischen: Zwischen Mensch und Natur, zwischen den Sinnesorganen, zwischen nicht mehr in kohärente Sinnzusammenhänge zu bringenden Bereichen. In ihrer Versinnbildlichung der Nähe und geistigen Verbundenheit von Mensch und Natur lassen sie den Zustand der ,Unio mystica‘, der mystischen Einheit des Menschen mit dem Göttlichen, und das heißt bei Broch: mit der ihn umgebenden Natur, als möglich erscheinen.

Abschließend möchte ich noch einmal auf die Fokalisierung eingehen, da dieser Bereich eine nicht leicht zu deutende Besonderheit aufweist. In die ansonsten ausschließliche Fokalisierung auf den Landarzt, also die Ich-Figur, ist eine weitere Figur mit einbezogen, nämlich der Hund des Arztes. Dafür finden sich in jedem Kapitel zahlreiche Belege, in dem hier untersuchten beispielsweise die Feststellung: „[E]r ist nicht fröhlich oder nur sehr selten […] unentwegt und überall sucht er sich, sucht den Schimmer der Unendlichkeit in seinem Kopf“[34] oder: „Er gehorchte angeekelt von der unverständlichen Dummheit des Menschen.“[35] Diese Einblicke in den Tiergeist als einen Anhaltspunkt der geistigen Einheit von Landarzt und Trapp oder als Marotte des alternden Erzählers zu werten, bleibt dem Leser überlassen. Beide Deutungen lassen sich schlüssig in das Gesamtkonzept des Romans einbinden: Die erste Auslegung sieht in der geistigen Einheit eine bereits früh vorhandene Evokation des mystischen Aspekts, der vor allem für die Kapitel fünf, zwölf und vierzehn zentral ist. Nach der zweiten Deutung wäre das Phänomen Erzählerkritik, die geistige Zurechnungsfähigkeit des Landarztes wäre in Frage gestellt. Auch diese Deutung ist durch weitere erzählerkritische Implikationen im weiteren Handlungsverlauf plausibel zu machen. Im Hinblick auf das im Laufe der Analyse deutlich werdende gedankliche Modell, das der Verzauberung zugrunde liegt, könnte man auch vermuten - quasi als dritte Deutung – dass die Divergenz beider Deutungsmöglichkeiten bewusst angelegt ist. In diesem Fall wäre das Phänomen dem Begriff der Unkonkretheit zuzuordnen, der für Brochs religiöses Verständnis von Bedeutung ist.

2.1.2 Formale Versanalyse

Die erste Verseinlage des Kapitels ist die Begrüßungsstrophe, mit der Irmgard als Bergbraut den Pfarrer willkommen heißt:

I. „Gelobt sei Jesus Christ

Was im Berg gefangen ist

Durch ihn befreit werden solle

Vertrieben Satan und Unholde

Alles Böse weiche von dannen

In Jesu und Marien Namen.“

Äußerlich auffällig an der Verseinlage ist zunächst die Abwesenheit von Satzzeichen, ein Merk­mal, das in unregelmäßiger Weise auch bei anderen Verseinlagen auftritt. Nach Burdorf ist das Fehlen von Satzzeichen ein Indiz dafür, dass ein „Text […] als Sprechvorlage, als eine Art Par­titur, konzipiert“ ist.[36] Innerhalb der drei Möglichkeiten der Umsetzung von gebundener Spra­che – still gelesen, laut rezitiert oder gesungen – stellt diese Darstellungsform also eine Schwerpunktsetzung zur auditiven Umsetzung dar. Da der Gesamtroman jedoch offensichtlich nicht auf die Form der auditiven Umsetzung hin angelegt ist (dagegen spricht schon die bloße Länge sowie die an anderen Stellen übliche Interpunktion) handelt es sich offenbar um eine Besonderheit, die auf die Rezeptionswirkung abzielt. Die Assoziation des Lesers verursacht in dessen Vorstellung den Eindruck von vorgetragenen Versen, der natürlich fiktiv bleibt. Dieser in seinen Folgewirkungen phantasieanregende Formaspekt verringert die Distanz zwischen Leser und Text, da jener die subjektive sprachliche Ausdeutung des Lesers an dieser Stelle miteinbezieht.

Der Verzicht auf Satzzeichen hat neben dieser bereits abstrakteren auch eine pragmatische, konkrete Rezeptionswirkung: Die Verse eins und zwei werden beim Lesen sehr wahrscheinlich zu einer Einheit zusammengefasst, die sie jedoch semantisch nicht darstellen. Das Reimschema des Paarreims und die Kadenzen (2x männlich, 4x weiblich) unterstützen diese, der Sinnstruktur des Textes zuwiderlaufende, Strukturierung in Zweiversgruppen. Tatsächlich bilden die Verse 1, 2-4 und 5-6 Sinneinheiten. Die fehlende Symmetrie dieser Konstruktion wirkt auf den durchschnittlichen Rezipienten sicher irritierend, da sie seiner kulturellen Prägung zuwiderläuft. Auffällig ist weiter die ungewöhnliche Syntax der Verse zwei und drei. Sowohl die Verbform („solle“) als auch die ungewöhnliche Verbletztstellung sind nicht semantisch, sondern ausschließlich durch die Reimerzeugung motiviert. Die klarere, grammatisch korrektere Form dieses Verses wäre schlicht: „soll durch ihn befreit werden“.

Die Verse des Sechszeilers schwanken zwischen drei und vier Hebungen bei unregelmäßigem Metrum, was keiner traditionellen deutschen Versform entspricht. Durch die Gestaltung der Kadenzen und Versanfänge ergibt sich dreimal die Form des ungefugten oder asynaptischen Versüberganges, bei dem jeweils zwei Hebungen oder Senkungen aufeinandertreffen, beispielsweise von Vers eins auf zwei die Hebungen der Wörter „Christ“ und „was“:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[37]

Der Hebungsprall verhindert hier die regelmäßige Alternation und führt zu einem stockenden Leseeindruck. Ähnlich wie die semantische Struktur und die ungewöhnliche Syntax verhindert dieser Gestaltungsaspekt einen ,runden‘ Gesamteindruck. Burdorf beschreibt die Wirkung asynaptischer Versübergänge so, dass (vor allem bei dem Aufeinandertreffen zweier Hebungen) „die Bewegung […] [ge]hemmt und die Verse voneinander isoliert“ werden.[38] Ungefugte Verse bewirken also ein ,Auseinanderfallen‘ des Textes, das in dieser Strophe mit der ungleichen Einteilung durch Reim- und semantische Struktur zusammenwirkt.

In Bezug auf den Reim fällt neben dem schlichten Schema der Paarreimbildung vor allem der unreine Reim zwischen Vers drei und vier auf. Dieses Merkmal darf nicht vorschnell für eine Abwertung des Textabschnitts verwendet werden. Burdorf weist darauf hin, dass das Deutsche als prinzipiell eher ,reimarme‘ Sprache (beispielsweise im Vergleich mit dem Italienischen) des Rückgriffs auf Assonanzen, unreine oder identische Reime häufig bedarf. Unreine Reime können zudem, wie beispielsweise in Gedichten der Romantik oder des Expressionismus, besonderes Stilmittel mit bestimmten Wirkungsabsichten sein, beispielsweise eine schwebende Klangwirkung erzeugen oder im klanglichen Konflikt einen Konflikt auf inhaltlicher Ebene verdeutlichen. Burdorf erläutert in diesem Zusammenhang die Relevanz des Kontexts folgendermaßen:

Es ist jeweils danach zu fragen, welche Funktion der Reim in dem einzelnen Gedicht hat, welche Wirkung mit ihm beabsichtigt und erzielt wird. So wirkt die korrekte Einhaltung der Reinheit des Reims in geselligen Liedern unnötig penibel und gestelzt, während schiefe, mißratene oder abgenutzte Reime ein feierliches Gedicht ins Lächerliche ziehen können.[39]

Eben Letzteres ist jedoch in diesem Fall zutreffend: es handelt sich um eine feierliche Strophe religiösen Inhalts, deren Wirkung durch den unreinen Reim geschmälert wird. Dieser Mangel läuft mit einem anderen zusammen, der auch in Vers vier auftritt, nämlich dem brachialen Zuwiderlaufen von Versakzent und Wortakzent in dem Wort „Unholde“. Einem alternierenden, jambischen Metrum entsprechend müsste die zweite Silbe von „Unholde“ betont sein, während der natürliche Wortakzent die Form eines Daktylus fordert. Es ließe sich alternativ auch eine, dem alternierenden Eröffnungsrhythmus entgegenlaufende Lesart denken, bei der bereits die Wörter „Satan und“ daktylisch gedacht werden. Vers vier stellt eine metrisch unklare Stelle dar, die jedoch in beiden Umsetzungsformen rhythmisches Konfliktpotential beinhaltet: In der ersten durch einen Gegensatz auf Wortebene, in der zweiten durch einen Gegensatz auf Versebene. Zentrales Formmerkmal dieser Verseinlage ist das des Gegensatzes, des Widerstrebenden.

Bei der zweiten Verseinlage handelt es sich um die Prozessionslitanei. Diese Strophe wird während der Festlichkeit immer wieder von der Gemeinde und den Geistlichen wiederholt, unter gelegentlicher Abänderung des Heiligen im letzten Vers:

II.Der Herr hat auf dem Berg geredet

Stern und Mond haben gewehet

Und die Gnade hat er gesähet

Vor Tau und Tag

Emporgestiegen auf den Turm der Welt

Auf den Berg des Lebens hell

Gelobt sei Maria auf dem Berge.“

Noch ungewöhnlicher als bei der vorangegangenen Strophe, deren sechs Zeilen mit der populärsten deutschen Form, der vierzeiligen Paarreimstrophe, zumindest noch die gerade Anzahl an Versen gemeinsam hatte, handelt es sich hier um einen Siebenzeiler. Bachleitner weist zwar darauf hin, dass die siebenzeilige Strophe eine Tradition im Meistersang besitzt,[40] allerdings hat sich der deutsche Meistersang relativ schnell in den Dienst der Reformation gestellt und daher das opitzsche Regelwerk befolgt,[41] das jedoch in dieser Strophe nicht umgesetzt wird. So widerspricht beispielsweise der Hebungsprall im zweiten Vers Opitz‘ Forderung nach alternierenden Versen. Auch diese Strophe lässt sich also nicht in eine Strophentradition einordnen.

Formal auffällig ist, dass die vierte Zeile aufgrund ihrer Kürze herausgestellt ist und graphisch als eine Art Spiegelachse wirkt. Abgesehen von diesem zweihebigen Vers sind alle übrigen Verse vierhebig. Ebenso wie in der ersten Strophe besteht ein unregelmäßiger Wechsel von jambischem und trochäischem Metrum, was wiederum ungefugte Versübergänge zur Folge hat. Die regelmäßige Alternation wird noch stärker als in der ersten Verseinlage durch dreisilbige Versfüße unterbrochen, beispielsweise bei den Worten „Gelobt sei Maria“ und „haben gewehet“. Im zweiten Fall bewirkt der metrische Umbruch sogar einen Hebungsprall innerhalb des Verses:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dieser Spondeus verhindert das flüssige Lesen der Einheit durch Setzung einer semantisch nicht motivierten Zäsur. Dieselbe Wirkung hat das Aufeinandertreffen von jambischem und trochäischem Rhythmus, beispielsweise von Vers eins auf zwei. In Vers fünf ergibt sich eine weitere rhythmische Problematik: Der Abschnitt „ Emporgestiegen auf den “ lässt sich ohne brutale Tonbeugung nur durch drei aufeinanderfolgende Senkungen umsetzen, eine sehr ungewöhnliche metrische Form. All diese Merkmale stehen einem flüssigen, liedhaften Charakter im Wege.

Ebenso wie die rhythmische weist auch die strukturelle Ebene Widersprüche auf. Die Kadenzen der Strophe (3 weiblich, 3 männlich, 1 weiblich) durchbrechen die durch die Hebigkeit der Verse bestehende Struktur 3 – 1 – 3.

Letztere korrespondiert eher mit der Struktur der Reimform a-a-a-b-c-c-d. Die Reime des Gesanges sind durchgehend unrein und können ähnlich wie in der ersten Strophe als formaler Mangel gedeutet werden.

Bei einer inhaltlichen Analyse fällt auf, dass sich die Verse in alternierender Weise zwei Themenbereichen zuordnen lassen: Einem biblisch-christlichen und einem naturbezogen-kultischen. Bei einer solchen Unterteilung ergäbe sich die folgende Verszusammengehörigkeit:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der ersten Gruppierung finden sich biblische Bilder, wie das des Sämanns (Matt. 13, 1-9), hier in einer metaphorischen Verbindung mit dem zentralen christlichen Begriff der Gnade. Der erste Vers ist eine recht eindeutige Anspielung auf das zweite Buch Mose: „Der Herr war auf den Sinai, auf den Gipfel des Berges, herabgestiegen. Er hatte Mose zu sich auf den Gipfel des Berges gerufen und Mose war hinaufgestiegen. […] Und Gott redete alle diese Worte“. (Mo. 19,20; 20,1)

Die zweite Versgruppe weist hingegen einen starken Bezug zu Erscheinungen in der Natur auf, was beispielsweise an den Begriffen „Stern und Mond“ sowie „Tau und Tag“ deutlich wird. Auch der Ausdruck „Berg des Lebens“ lässt eher Assoziationen auf naturreligiöse, vorchristliche Kulte zu.[42] Der zentrale, durch seine Kürze herausgestellte Vers „Vor Tau und Tag“ kann als Rückverweis auf die Wurzeln des Festes in naturkultischen Bräuchen gedeutet werden.

In Bezug auf rhetorische Mittel ist der erste Vers, „Stern und Mond haben gewehet“, auffällig, ein Stilmittel, das noch an anderen Stellen im Roman auftritt. Es handelt es sich um die Verbindung eines oder mehrerer Nomen mit einem semantisch unpassenden Verb. Die Verbindung ist hier nicht mehr eindeutig entschlüsselbar: Haben Stern und Mond geschienen und dabei der Wind geweht? Oder wird betont, dass Mond und Gestirne durch ihren Einfluss auf die Gezeiten auch das Wetter beeinflussen? Auffällig ist zudem der unklare Bezugspunkt des Adjektivs „hell“ in Vers sieben, das sowohl als Beschreibung des Bergs als auch des Herrn gelesen werden kann. Es entsteht ein schwebender Leseeindruck.

Wie lassen sich diese Erkenntnisse nun mit Bezug auf den Text deuten? Drei Aspekte sind relevant: Wie in der ersten Verseinlage treten auch hier formale Brüche und Mängel auf, die rezeptionsästhetisch als weiches Mittel der Sympathielenkung gedeutet werden können, sowie inhaltlich als Mittel der Charakterisierung des Festes. Die rhetorischen Figuren dienen der Erzeugung von diffuser, übersinnlicher Stimmung. Sie sind bezeichnenderweise in den Naturbeschreibungen wesentlich stärker vorhanden als in den Abschnitten eindeutig christlicher Inhalte. In der graphischen Anlage wird der Ursprung des Festes in Naturbeschwörungen betont, was der Sehnsucht des Erzählers nach einer ursprünglichen, inhaltlich widerspruchsfreien Glaubensform entspricht.

Bei der dritten Verseinlage handelt es sich um die Gesänge der Kindergruppe, die symbolisch die Bergbraut gefangen hält. Sie erhalten Antwort von der Dorfgemeinschaft, die weiterhin die Prozessionslitanei betet. In der zweiten Strophe wechselt die Gruppe gemäß des geplanten Ablaufes die Seiten, von bösen Wächtern zu guten Christen, die auf die Erlösung warten. Die dritte und vierte Strophe besingen schließlich die Befreiung der Bergbraut aus der Gewalt des Drachens.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Strophengruppe besteht aus zwei Vierzeilern und zwei Achtzeilern, die jedoch offensichtlich zusammengesetzt sind und sich ebenfalls in Vierzeilengruppen unterteilen lassen. Die Verse sind unschwer dem Formschema des Volksliedverses zuzuordnen. Es handelt sich um jambische, vierhebige Verse mit alternierenden Kadenzen. Dem Volksliedvers entsprechend handelt es sich um eine Kreuzreimform mit nicht immer reinen Reimen.[43] So besteht zwischen Vers zwei und vier in der ersten Strophe lediglich eine Assonanz durch den Vokal „u“. Innerhalb der Achtzeiler, bei denen jeweils eine Hälfte der Strophe einen Refrain darstellt, wird das Kreuzreimschema leicht abgewandelt: a-b-a-b-c-c-a-c. Es handelt sich insgesamt, im Vergleich zu der Begrüßungsstrophe und der Prozessionslitanei, um eine formal weniger problematische Konzeption, die auch inhaltlich keine vergleichbaren Brüche aufweist.

Doch auch diese Strophen enthalten in der formalen Darstellung eine implizite Wertung, die mit der expliziten des Erzählers zusammenfällt. So deutet nämlich die Wiederholung der von Bindestrichen getrennten Vokale auf eine laienhafte Sängerpraxis hin, bei der für einen Tonwechsel auch der Vokal neu angestoßen wird, statt für die melismatischen Abschnitte das professionellere Legato zu singen.[44] Diese Darstellungsweise spiegelt die vom Erzähler gegebene negative Wertung wider, die Sänger „plärrten es wie in der Schule“.[45] Eine weitere Information im Prosatext rückt die Strophe in ein humoristisches, sogar lächerliches Licht, nämlich die Angabe, dass sie „auf die Melodie des ,Weißt du wie viel Sternlein stehen‘“ zu singen sei.[46] Rhythmisch besteht auch in dieser Strophengruppe der seit der opitzschen Versreform verpönte Gegensatz von Vers und Wortakzent, der bei den Reimworten „Rachén“ und „Drachén“ sogar durch graphische Akzente hervorgehoben wird.

[...]


[1] Vgl. Bachleitner (1985), S. 67.

[2] Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. Zweite Auflage. Stuttgart 1997. S. 4.

[3] Ebd., S. 7.

[4] Burdorf (1997), S. 9 f.

[5] Vgl. Ebd., S. 8.

[6] Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 1993. S. 24.

[7] Burdorf (1997), S. 12.

[8] Burdorf (1997), S. 15.

[9] Loos, Beate: Mythos Zeit und Tod. Zum Verhältnis von Kunsttheorie und dichterischer Praxis in Hermann Brochs Bergroman. Frankfurt a.M. 1971. S. 41.

[10] Zitiert aus den Briefen, Gesammelte Werke Band 8. In: Loos (1971), S. 40.

Arendt (1955), S. 271.

[11] Vgl. Loos (1971), S. 40.

[12] Broch (1986), S. 85.

[13] Ebd., S. 88.

[14] Ebd., S. 102.

[15] Broch (1986), S. 88.

[16] Ebd.,S. 90, 102.

[17] Ebd., S. 96.

[18] Vgl. Schneider (2006), S. 20.

[19] Broch (1986), S. 9.

[20] Vgl. Ebd., S. 85, 87.

[21] Ebd., S. 102.

[22] Ebd., S. 106.

[23] Broch (1986), S.107.

[24] Arendt (1955), S. 210.

[25] Broch (1986), S. 95.

[26] Ebd., S. 93.

[27] Broch (1986), S. 107.

[28] Vgl. beispielsweise die Bezugnahme sowohl auf die sich verändernde Individualitätsauffassung um 1900, die den Menschen als multiples, gespaltenes und zerrissenes Wesen ansieht als auch auf das romantische Leitbild der Verbundenheit aller Dinge auf den Seiten 86 f.

[29] Arendt (1955), S. 191.

[30] Broch (1986), S. 87.

[31] Ebd., S. 98.

[32] Broch (1986), S. 102.

[33] Ebd., S. 100.

[34] Ebd., S. 87.

[35] Ebd., S. 90.

[36] Burdorf (1997), S. 40.

[37] Versakzente werden hier und im Folgenden durch die Zeichen Hebung = X und Senkung = x angegeben. Es handelt sich dabei, im Gegensatz zu Burdorfs zwar exakten, aber nicht unbedingt intuitiv erfassbaren Darstellungsweise um eine pragmatische Lösung, deren Aussagekraft für ihre Zwecke in dieser Arbeit ausreichend ist.

[38] Burdorf (1997), S. 78.

[39] Burdorf (1997), S. 32 f.

[40] Vgl. Bachleitner (1985), S. 36.

[41] Vgl. Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff. 3. Auflage. Stuttgart 2007. S. 487.

[42] Zwar sind auch im Christentum bestimmte geographische Orte heilig, die Zuschreibung „Berg des Lebens“ ist jedoch bereits in ihrer Namensgebung viel zu stark losgelöst von den christlichen Fixpunkten Gott und Christus und würde von konservativen Christen wahrscheinlich als heidnischer Ausdruck abgelehnt werden.

[43] Vgl. zum Volksliedvers: Burdorf (1997), S. 80.

[44] Melismatisch: mehrere Töne werden auf der selben Textsilbe gesungen.

[45] Broch (1986), S. 104.

[46] Ebd., S. 103 f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783955496067
ISBN (Paperback)
9783955491062
Dateigröße
318 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität des Saarlandes
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Verseinlage lyrische Einlage Epik Lyrik Hermann Broch

Autor

Britta Baier wurde 1988 in Bad Bergzabern geboren. Sie studierte gymnasiales Lehramt für die Fächer Deutsch und Musik an der Universität des Saarlandes sowie an der Hochschule für Musik Saar und schloss dieses Studium im November 2012 mit dem Akademischen Grad des Ersten Staatsexamens erfolgreich ab. Eine anhaltende Faszination für Hermann Brochs Werk sowie eine persönliche Vorliebe für die sprachlich konzentrierte Form der Lyrik führten zur ungewöhnlichen und fruchtbaren Fragestellung der vorliegenden Untersuchung.
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Titel: Die lyrische Form und das metaphysische Konzept Brochs in dem Roman "Die Verzauberung"
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