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Und wenn sie nicht gestorben sind…: Die Darstellung von Tieren in der Romantik anhand der Brüder Grimm und E.T.A. Hoffmann

©2012 Bachelorarbeit 86 Seiten

Zusammenfassung

„Es war einmal…“ ist wohl eine der bekanntesten einleitenden Satzkonstruktionen in der Literatur. Keine andere literarische Gattung nutzt einen solch prägenden Auftakt wie das Märchen. Von klein auf wird man mit dem Märchen konfrontiert, lernt Prinzen und arme, unglückliche Mädchen kennen, taucht in eine Welt ein, in der Tiere sprechen können und Schwache über Starke triumphieren. Der Begriff ‚Märchen‘ scheint all dies zu vereinen. Doch obwohl der Begriff vertraut erscheint, ist es schwierig ihn genau zu erfassen und einzugrenzen. Das ‚Märchen‘ ist sehr weitläufig und umfasst viele kleinere Subgruppierungen. Die zwei größten Untergattungen sind das ‚Volksmärchen‘ und das ‚Kunstmärchen‘, die im frühen 18. Jahrhundert einen wahren Märchentrend auslösten. Mit diesen beiden Untergattungen wird sich das vorliegende Buch eingehend befassen. Das Augenmerk soll dabei auf Märchen liegen, in denen Tiere in einer handelnden Rolle fungieren. Dieses Hauptthema soll anhand eines Vergleiches zwischen dem ‚Volksmärchen‘ und dem ‚Kunstmärchen‘ des frühen 19. Jahrhunderts herausgearbeitet werden. Die Sammlung der Brüder Grimm vertritt dabei die Gattung der ‚Volksmärchen‘ und die Werke von E.T.A. Hoffmann sollen exemplarisch für die Gattung der ‚Kunstmärchen‘ verwendet werden.
Die Methodik, auf die sich die Tabellen stützen, wird ebenso beschrieben, wie auch die Vorgehensweise bei der Auswahl der Kategorien und der Katalogisierung. Am Ende des zweiten Teils werden die erstellten Tabellen des Volksmärchens und des Kunstmärchens miteinander verglichen, um so die Unterschiede der Gestaltung der Tiere bei der Sammlung von Grimm und den Werken von Hoffmann deutlich zu machen. In einer Einführung wird die Bedeutung der Tiere für das Märchen verdeutlicht. Anschließend wird die Gestaltungen der Tiere im Volksmärchen und im Kunstmärchen herausgearbeitet, mit Hilfe einer tabellarischen Gegenüberstellung soll ein genauer Vergleich zwischen den beiden Gattungen ermöglicht werden.
In der Märchenforschung ist das Thema „Tier“ bis jetzt nur oberflächlich untersucht worden, meist gab es lediglich Versuche die Tiere innerhalb ihrer Art zu charakterisieren, eine tiefergehende Analyse fand nur begrenzt statt. Diese Studie hat den Anspruch die Tiere im Märchen stärker in den Vordergrund zu rücken und ihrer Gestaltungsart auf den Grund zu gehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.3. Zusammenfassung der Untersuchung

Obwohl nur wenige Jahre zwischen der Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und der Entstehung der Kunstmärchen von Hoffmann liegen, weisen die Werke doch große Unterschiede in ihrer Darstellung auf. Die Märchensammlung der Brüder Grimm hält sich strikt an Jolles ‚einfache Form‘, in ihrer einsträngigen Handlungsstruktur und dem einfachen Weltbild. Die Charaktere sind Stereotypen, entweder gut oder böse, eine Psychologisierung der Figuren findet nicht statt. Dagegen stehen die Kunstmärchen, die eine „komplexere Form“ aufweisen. Die Handlung ist origineller, mehrsträngig und kunstvoller aufgebaut. Die Figuren sind entwicklungsfähig und vielschichtig und existieren in einem komplexeren Weltbild. Gerade mit dieser mehrsträngigen Handlungsstruktur weiß Hoffmann gut umzugehen. Durch vermehrte diegetische Erzählerwechsel baut Hoffmann eine komplexe Darstellung der erzählten Welt, die Diegese, auf, in der Rahmen- und Binnenerzählungen einander wechselseitig enthalten:

Noch manches hatten die Freunde gesprochen und miteinander verabredet, als Fabian eintrat mit vor Freude glänzendem Gesicht. „Die Kraft“, sprach er, „die Kraft des Rocks, der der schildkrötenen Dose entquollen, hat sich herrlich bewährt. Sowie ich eintrat bei dem Rektor, lächelte er zufrieden. ‚Ha‘, redete er mich an, ‚ha! – ich gewahre, mein lieber Fabian, daß Sie zurückgekommen sind von Ihrer seltsamen Verirrung! – Nun! Feuerköpfe lassen sich leicht hinreißen zu dem Extremen! […]Bleiben Sie treu, Fabian, bleiben Sie treu solcher Tugend […]‘ – Der Rektor umarmte mich, indem helle Tränen ihm aus den Augen traten. […] – Ihr seht, Freunde, all mein Leiden hat ein Ende, und gelingt uns heute, wie es anders gar nicht zu erwarten steht, die Entzauberung Zinnobers, so seid auch ihr fortan glücklich!“-SPW 1/1053f

Die Rahmen- und Binnenerzählungen weisen auch unterschiedliche Wahrnehmungsebenen auf, in denen das Wunderbare erscheint, wobei nicht jeder Charakter die Fähigkeit besitzt, das Wunderbare als solches wahrzunehmen. Diese Wahrnehmungsebenen können durch Traumsequenzen ausgelöst werden oder auch ohne irgendeine physische Veränderung auftreten. Solche Wahrnehmungsebenen finden sich bei den Brüdern Grimm sehr selten, ebenso Binnenerzählungen, eine Ausnahme wäre hier beispielsweise Der gläserne Sarg (KHM 163), in der die erlöste Tochter eines Grafens ihre Leidensgeschichte erzählt, in der ihr Bruder zu einem Hirsch verzaubert wurde. Sie hat diesen Vorfall bewusst miterlebt, befand sich auf dessen Wahrnehmungsebene, wobei ihr Retter, der den Hirsch zuvor kennen gelernt hatte, den verwunschenen Bruder nur als Tier wahrnahm.

Neben den Unterschieden in ihrer Struktur und ihrem Aufbau, zeigen sich in ihrer Funktion und Wirkung doch große Parallelen. Diese Parallelen sind wohl ihrer gemeinsamen Epoche, der Romantik, zuzuschreiben. Die Hochphase der Französischen Revolution und die Auflösung des gegebenen Ordnungssystems initiieren eine ‚Kulturrevolution‘, so Oesterle, die emphatisch gegen alles nützliche Prosaische protestiert und sich gegen die poesiesträubende Lebensweise der sogenannten Philister wendet.[1]

Die Romantiker entwickelten in dieser Zeit des bürgerlichen Umbruchs ein großes Interesse an dieser Gattung. Denn mithilfe des Märchens war der Autor in der Lage gesellschaftliche Tabus anzusprechen, er hatte die Möglichkeit andere Gattungen zu integrieren und eine neue Schreibart zu entwickeln.[2] Während die Brüder Grimm versuchten dem Bürgertum einen Halt in ihrer Orientierungslosigkeit zu bieten, suggerierte Hoffmann ein Verständnis für die Poesie. Karlinger beantwortet die Frage nach der Stellung Hoffmanns zu Märchen und seiner Bedeutung für das Genre mit einem Paradoxon: seine Kunstmärchen stehen einerseits eng an der Peripherie des Komplexes ‚Märchen‘ überhaupt, und erfassen anderseits wesentliche Grundstrukturen und Basiselemente des Volksmärchens wie nur wenige andere Märchen schreibende Dichter.[3] Hoffmann war sich dieser Wirkung bewusst. Zwar hatte er seine Werke selbst zum Märchen deklariert, die für Kinder zugängig sein sollten, bemerkte aber, dass „unerachtet Kinder die tiefere Tendenz unmöglich auffassen können, ihre Phantasie doch durch manche Szene angeregt wird.“[4] Durch die Rahmenhandlung der Serapions-Brüder nimmt Hoffmann dieses Thema erneut auf, die Brüder führen nach der Erzählung Nußknacker und Mausekönig ein hitziges Gespräch darüber, ob es sich hierbei um ein Kindermärchen handeln kann. Diesen Begriff hat sich Hoffmann wohl von den Brüdern Grimm geliehen, der von diesen bereits hervorgebracht wurde. Ein Blick ins Hoffmann’sche Werk zeigt jedoch, dass hier der Begriff anders verwendet wird. Hoffmann lässt seine Definition der Kindermärchen durch seine Figur Lothar erklären: es sei ein Märchen, dass für „fantasiereiche Kinder, von denen hier nur die Rede sein kann“ SPW 2/247, geschrieben wurde. Mit dieser Aussage zeigt sich, dass nicht nur die Figuren im Kunstmärchen unterschiedliche Wahrnehmungsebenen für das Wunderbare aufweisen, sondern auch der Leser selbst. Gerade durch diese Überschreitung der Grenzen zwischen Realität und Phantasie werden Hoffmanns Märchen in der Forschung auch als Wirklichkeitsmärchen bezeichnet.[5] Hoffmann spricht als Erzähler den Leser direkt an und beharrt auf dem Wahrheitsanspruch seiner Märchen, deren Inhalt er aus erster Hand erfuhr oder den er selbst miterlebte. Dieses Spiel mit der Erzählerfiktion ist neben der durchgängig auftretenden Ironie ein Gestaltungsmittel des ‚romantischen‘ Erzählens. Durch diese Gestaltungsmittel stellen Hoffmanns Märchen das Gegenmodell zu dem eher naiven und einfachen Gattungstypus der Brüder Grimm.[6] Hoffman legte ebenso einen großen Wert auf die poetisch-ästhetische Darstellung in seinen Werken und schuf dadurch allegorische und metaphorische Meisterwerke (Der goldene Topf).

Die vorgenommene Untersuchung der beiden Gattungen hat deren Unterschiede herausgearbeitet und festgehalten. Im nächsten Teil der Arbeit wird auf deren gemeinsames Motiv ‚das Tier‘ eingegangen. Es wird untersucht inwieweit sich hier in der Gestaltung des Tieres Unterschiede im Volksmärchen und im Kunstmärchen zeigen und ob es eine Verbindung zwischen den Ergebnissen der Begriffsuntersuchung gibt.

Tiere haben eine wichtige Rolle im Märchen inne, die nicht durch menschliche Figuren ersetzt werden können. Wie würde ansonsten Aschenputtel zu ihrem Prinzen kommen, was wären die Bremer Stadtmusikanten für eine armselige Truppe? Allein diese Überlegungen zeigen, was für eine wichtige Stellung die Tiere im Märchen einnehmen. Durch sie meistert der Dümmling seine Aufgaben und das arme Mädchen gelangt zu ihrem Recht. Die enge Verknüpfung von Tier und Mensch wird in der Mensch-Tier-Verwandlung deutlich zum Ausdruck gebracht. Das Tier prägt eine animistische Weltansicht des Märchenbildes und zeigt sich in seiner Gestaltungsart äußerst vielseitig. Mit Hilfe des Tiers kann das Märchen verschiedene gesellschaftliche und soziale Tabus ansprechen und hinterfragen, wie beispielsweise Hochzeitsitten[7] und deutet immer wieder auf den respektvollen Umgang mit der Natur hin.

Anhand der folgenden Märchen von Hoffmanns Der goldene Topf und dem Grimm’schen Märchen Der Spielmann wird die unterschiedliche Gestaltung des Tieres im Kunstmärchen und im Volksmärchen verdeutlicht:

„Es war einmal ein wunderlicher Spielmann, der ging durch einen Wald mutterselig allein und dachte hin und her, und als für seine Gedanken nichts mehr übrig war, sprach er zu sich selbst: „Mir wird hier im Walde Zeit und Weile lang, ich will einen guten Gesellen herbeiholen.“ Da nahm er die Geige vom Rücken und fidelte eins, daß es durch die Bäume schallte. Nicht lange, so kam ein Wolf durch das Dickicht dahergetrabt. „Ach, ein Wolf kommt! Nach dem trage ich kein Verlangen.“, sagte der Spielmann; aber der Wolf schritt näher und sprach zu ihm: „Ei, du lieber Spielmann, was fidelst du so schön! Das möchte ich auch lernen.“ „Das ist bald gelernt“, antwortete ihm der Spielmann, „du mußt nur alles tun, was ich dich heiße.“ „o Spielmann“ sprach der Wolf, „ich will dir gehorchen wie ein Schüler seinem Meister.“ Der Spielmann hieß ihn mitgehen, und als sie ein Stück Wegs zusammen gegangen waren, kamen sie an einen alten Eichenbaum, der innen hohl und in der Mitte aufgerissen war. „Sieh her“, sprach der Spielmann, „willst du fideln lernen, so lege die Vorderpfoten in diesen Spalt.“ Der Wolf gehorchte, aber der Spielmann hob schnell einen Stein auf und keilte ihm die beiden Pfoten mit einem Schlag so fest, daß er wie ein Gefangener da liegenbleiben mußte. „Warte da so lange, bis ich wiederkomme“, sagte der Spielmann und ging seines Weges. […]“ KHM 8.

„[…] Hier wurde der Student Anselmus in seinem Selbstgespräche durch ein sonderbares Rieseln und Rascheln unterbrochen, das sich dicht neben ihm im Grase erhob, bald aber in die Zweige und Blätter des Holunderbaumes hinaufglitt, der sich über seinem Haupte wölbte. Bald war es als schüttle der Abendwind die Blätter, bald als ko’sten Vögelein in den Zweigen, die kleinen Fittiche im mutwilligen Hin- und Herflattern rührend. – Da fing es an zu flüstern und zu lispeln, und es war, als ertönten die Blüten wie aufgehangene Kristallglöckchen. Anselmus horchte und horchte. Da wurde, er wußte selbst nicht wie, das Gelispel und Geflüster und Geklingel zu leisen halbverwehten Worten: „Zwischendurch – zwischenein – zwischen Zweigen, zwischen schwellenden Blüten, schwingen, schlängeln, schlingen wir uns – Schwesterlein – Schwesterlein, schwinge dich im Schimmer – schnell, schnell herauf – herab – Abendsonne schießt Strahlen, zischelt der Abendwind – raschelt der Tau – Blüten singen – rühren wir Zünglein, singen wir mit Blüten und Zweigen – Sterne bald glänzen – müssen herab – zwischendurch, zwischenein, schlängeln, schlingen, schwingen wir uns Schwesterlein.“ – So ging es fort in Sinne verwirrender Rede. Der Student Anselmus dachte: „Das ist denn doch nur der Abendwind, der heute mit ordentlich verständlichen Worten flüstert.“ – Aber in dem Augenblick ertönte es über seinem Haupte wie ein Dreiklang heller Kristallglocken; er schaute hinauf und erblickte drei in grünem Gold erglänzende Schlänglein, die sich um die Zweige gewickelt hatten und die Köpfchen der Abendsonne entgegen streckten. […]“SPW 1/184f.

Unterschiedlicher kann der Auftritt eines Tieres wohl nicht inszeniert werden, wie diese Beispiele anschaulich zeigen. Während bei Grimm der Wolf von der Musik angelockt in die Erzählung ‚trabt‘ und nach seinem Erscheinen den Spielmann im gewöhnlichen, nicht sprachlich poetischen, Ton anspricht, so wird der Auftritt der Schlangen bei Hoffmann dramaturgisch und sprachlich auf höchstem Niveau dargestellt. Das Rascheln und Lispeln der Blätter erzeugt einen magischen Moment, welcher durch das Klingen der Kristallglocken noch verstärkt wird. Die Wahrnehmungsebene verschiebt sich, das Wunderbare, welches so unverkennbar ‚eingeläutet‘ wurde, findet seinen ekstatische Ausbruch durch die zischelnden Schlangen. Die Wahrnehmungsebene ändert sich jedoch nicht für den Spielmann, für ihn scheint die Begegnung mit dem Wolf nichts Ungewöhnliches darzustellen. Trotz der natürlichen Gefahr, die in einer Begegnung mit einem Wildtier liegt, zeigt sich der Mensch davon nicht beeindruckt, sondern provoziert das friedliche Mensch-Tier-Verhältnis auf das Äußerste.

Eine solche Analyse der unterschiedlichen Gestaltung der Tiere soll im Folgenden anschaulich durch eine Tabelle erläutert werden. Dazu wird zuvor die Methodik der Tiertabelle beschrieben und im weiteren Verlauf werden diese Tabellen ausgewertet und verglichen.

3.1. Zur Methodik der Tiertabellen

Die Gestaltung der Tiere wurde in der Märchenforschung bis jetzt nur begrenzt analysiert. Sie konzentrierte sich meist auf die Untersuchung eines bestimmten Tieres, wie auf den Fuchs oder auf ein bestimmtes Märchen. Den Anstoß zur Tierforschung gaben wohl Antti Aarne und Stith Thompson, die mit ihrer Charakteristik erste Abgrenzungen vornahmen. Hier wurden die Tiere jedoch nur nach ihrer Art untergliedert und diese im Vergleich zu anderen europäischen Märchen analysiert. Dabei wurde festgestellt, dass bestimmte Märchenstrukturen auch bestimmte Tiere aufweisen. Auf diesen Ansatz baut diese Arbeit auf, die Tiere werden ebenfalls in Tabellen aufgeführt, jedoch sind die Tabellen nach dem Hauptthema des Märchens ausgerichtet. Wie die ‚Mensch-Tier-Verwandlung‘ oder ‚Tiere unter Menschen‘. Rudolf Schenda arbeitete in seiner Monographie „Das ABC der Tiere“ die anthropologischen und kulturellen Hintergründe der jeweiligen Tiere heraus und veranschaulichen damit die Entwicklung des Tier-Mensch-Verhaltens.[8] Diese spezielle Beziehung zwischen Mensch und Tier wird auch in der Tabelle genauer untersucht, dabei wird auch auf die Beziehung zwischen den Tieren untereinander eingegangen. Wie im Einzelnen die Tabellen aufgebaut sind, zeigen die beiden nächsten Abschnitte.

3.1.1. Funktion und Rolle der Tiere

Im Märchen tritt das Tier entweder als Hauptakteur oder als Nebenakteur auf. Den Status als Hauptakteur erhalten die Tiere, die sich durch ihr Handeln und ihr Verhalten von den anderen Tieren oder dem Menschen abheben. Der Nebenakteur ist dagegen ein Tier, das dem Hauptakteur (Mensch/Tier) zur Seite gestellt wird und in der Handlung aktiv auftritt. Eine andere Art des Nebenakteurs ist der Gegenspieler, ein Tier, welches sich gegen den Hauptakteur zu behaupten versucht, wie beispielsweise der Wolf bei Rotkäppchen. Da die Tabelle nur die Tiere aufführt und diese hervorhebt wird der Status des Menschen durch die Mensch-Tier-Differenz verdeutlicht.

Manche Tiere werden zwar im Märchen genannt, ihnen wird allerdings keine Rolle zugewiesen. Trotz dieser Rollenlosigkeit können diese Tiere in seltenen Fällen einen Status einnehmen, sie können einen Auslöser oder ein Lockmittel mimen oder zum Schutz dienen. Mit dem Status Auslöser bringt das Tier die Handlung ins Rollen, wie Der goldene Vogel (KHM 57) nachdem der König suchen lässt, weil er ihm habhaft werden will. Tiere können auch als Lockmittel eingesetzt werden, Hirsche nehmen diesen Status des Öfteren ein (KHM 60) und locken den Menschen in eine gefährliche Situation. Tiere, die dem Schutz dienen, werden vom Menschen getötet, der ihre Organe als menschliche Organe ausgibt, um damit den menschlichen Hauptakteur vor dem Tode bewahrt (KHM 53). Neben dem unterschiedlichen Status werden die Tiere in eine Zugehörigkeit eingeteilt, entweder gehören sie in die Umgebung des Menschen und zu dessen Haus - Inventar (Mäuse und Fliegen werden in dieser Arbeit als Zugehörige vom Haus angesehen.) oder sie gehören in die Wildnis der Wälder, Gewässer und Lüfte. In den Märchen, in denen die Mensch-Tier- und die Tier-Tier-Differenz besonders hervorgehoben wird, unterscheidet die Tabelle zudem ob das Tier, den anderen Figuren unter- oder überlegen ist.

Durch diese erste Unterteilung der tierischen Rollen soll der spätere Vergleich zwischen den Tieren im Volksmärchen und dem Kunstmärchen vereinfacht werden. Die Bildung zweier Gruppen ermöglicht im Folgenden auch eine Untersuchung im Miteinander der Tiere.

1988 fand ein Kongress der Europäischen Märchengesellschaft mit dem Thema „Tiere und Tiergestaltige im Märchen“ statt, der das Märchenmotiv Tier auf seine Funktion im Märchen hin behandelte.[9] Hildegunde Wöller setzte sich dabei mit den helfenden Tieren auseinander und Hermann Bausinger mit den moralischen Tieren, deren Überlegungen hier zum Teil mit eingearbeitet werden. Aufbauend auf diese Funktionen der Tiere wurden in der vorliegenden Arbeit weitere Funktionen festgestellt, wie: das listige Tier, das lasterhafte Tier, das verwunschene Tier, das Zaubertier und das Ursprungstier.

Wöller baut ihre Arbeit auf die These von Lutz Röhrich[10] auf, dass das Motiv des helfenden Tieres auf die Erinnerung an eine längst vergangene Epoche der Menschheitsgeschichte hinweist, in der es keine Niveauunterschiede zwischen Mensch und Tier gab, sondern sie auf einer gemeinsamen Ebene respektvoll miteinander umgingen. Der Anlass zur Hilfe wird unterschiedlich ausgelöst, in vielen Fällen hilft das Tier aus Dankbarkeit, weil der Mensch dessen Leben verschont oder gerettet hat. In anderen Fällen hilft das Tier freiwillig ohne bindenden Zwang, wie die Vögel bei Aschenputtel. Die Beobachtung, die Wöller gemacht hat und von der vorliegenden Arbeit unterstützt wird, ist, dass die helfenden Tiere der menschlichen Heldin freiwillig zur Hilfe kommen und dem menschlichen Helden meist aus Dankbarkeit helfen.[11] In seltenen Fällen hilft das Tier dem Menschen unabsichtlich, in dem es sein Wissen äußert und dabei vom Menschen belauscht wird. (KHM 6) Das helfende Tier kann somit aktiv, als auch passiv fungieren. Die Funktion des helfenden Tieres kann jedes Tier übernehmen. Es fällt jedoch auf, dass, wenn es sich um eine Gruppe von helfenden Tieren handelt, die Tiere den unterschiedlichen Elementen von Luft, Erde und Wasser zuzuordnen sind. Diese elementare Zuordnung wird in den Tabellen durch farbige Akzente verdeutlicht. Im Märchen helfen Tiere nicht nur dem Menschen, sondern in einigen Fällen helfen sie sich gegenseitig, wie im Märchen Der Fuchs und das Pferd. Der Fuchs hilft dem Pferd einen Löwen zu fangen, damit dieses nicht von seinem Menschen verstoßen wird. Interessant an dieser Konstellation ist, dass die beiden Tiere sich in ihrer natürlichen Form eher meiden würden.[12]

Von Bausinger dagegen leiht sich diese Arbeit nur den Begriff des moralischen Tieres, da seine Ansichten, dass ein moralisches Tier nur ein Mensch im Tierkörper sein kann und kein natürliches Tier, da diese nicht zum moralischen Handeln fähig seien, nicht geteilt werden können. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff der Moral stammt aus der Definition: „Die Moral ist die Gesamtheit von ethischen-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten in einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden.“[13] Das moralische Tier nimmt somit die Funktion als Hüter der Verhaltensrichtlinien ein und weist den Menschen (oder in manchen Fällen ein anderes Tier) durch sein Handeln auf dessen falsches Benehmen hin. Der alte Sultan (KHM 48) ist hier ein geeignetes Beispiel, es zeigt dass ein Tier zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann. Der Hund kann dank des Wolfs länger bei seinem Herren bleiben, als aber der Wolf als Gegenleistung ein Schaf seines Besitzers fressen will, handelt der Hund moralisch und hält an der Treue zu seinem Herren fest. Der Wolf muss sich geschlagen geben. Ebenso der Hund Sultan in Das fremde Kind, der nicht nur seinem Spielgefährten Felix zur Hilfe (helfendes Tier) kommt, als dieser vom Magister Tinte angegriffen wird, sondern er weist mit seinem Eingreifen auch auf das hier geschehene Unrecht hin und handelt somit moralisch (moralisches Tier).

Im Gegensatz zu den helfenden und moralischen Tieren, die zumeist eine positive Funktion übernehmen, gibt es auch Tiere, die sich eher durch ihre Negativität auszeichnen. Dazu gehören das listige und das lasterhafte Tier. Das listige Tier ist vorwiegend auf seinen Vorteil aus und hintergeht dafür auch andere Tiere und Menschen. Listige Tiere können aber auch durch ihre List und Klugheit anderen Tieren behilflich sein, meist zum Nachteil für den Menschen. Sie betrügen, um für sich einen Vorteil zu verschaffen, wie die Katze im KHM 2. Im Kunstmärchen treten im engeren Sinn keine listigen Tiere auf. Die Tiere, die gegen eine der sieben Todsünden[14] (Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit) verstoßen, wurden in dieser Arbeit als die lasterhaften Tiere bezeichnet. Sie frönen ihrem Laster bis zum Äußersten und werden letztlich immer zu Fall gebracht, wenn nicht sogar getötet. Wie der gefräßige Wolf in Rotkäppchen (KHM 26) oder der rachsüchtige Mausekönig im Nußknacker und Mausekönig. Das Ende des lasterhaften Tieres unterscheidet sich vom listigen Tier. Dieses handelt zwar auch aus Selbstsucht, ist aber schlussendlich das triumphierende Tier und geht immer gewinnend aus dem Märchen hervor.

Das verwunschene Tier bezeichnet im engeren Sinne kein natürliches Tier, sondern einen Menschen, der in ein Tier verwandelt wurde. Das Zaubertier dagegen kann sowohl ein Mensch sein, der sich aus eigener Kraft in ein Tier verwandeln kann und auch wieder zurück oder es handelt sich dabei um ein natürliches Tier, das eine magische Fähigkeit besitzt, wie der Goldesel im KHM 36. In den Kunstmärchen von Hoffmann treten häufig Zaubertiere auf, die aus der jenseitigen Welt stammen und im Diesseits nach Schutz suchen oder der Liebe wegen zugezogen sind. (Der goldene Topf; Klein Zaches; Meister Floh) Sie gehören einer eigenen Welt an, in der sie Fürsten und Könige von Tieren und Elementen und mit der Natur sehr eng verbunden sind.

Als Ursprungstier werden in der vorliegenden Arbeit die Tiere bezeichnet, deren ethnologische Herkunft oder ein körperliches Merkmal mithilfe des Märchens erklärt wird. Dieser spezielle Fall tritt in den Grimm’schen Märchen selten auf, genau genommen handelt es sich dabei um fünf Märchen, die Bezug auf den Ursprung des Tieres nehmen. Es wird dabei meist auf die Herkunft eines körperlichen Merkmals eingegangen, dass sich meist aus einer Tugendlosigkeit entwickelt hat. Ein Ursprungstier kann damit auch gleichzeitig ein lasterhaftes Tier sein.

Auf diese Einteilung in die Funktionen der Tiere im Märchen basiert die weitere Untersuchung, in der die Gestaltung der Tiere im Volksmärchen und im Kunstmärchen verglichen wird. Durch ihre verschiedenen Funktionen werden die Tiere in sieben Gruppen eingeteilt, dies ermöglicht eine genauere Betrachtung auf die inhaltliche Struktur der Märchen. In den angefügten Tabellen kann man die jeweiligen Funktionen herauslesen, die Märchen sind dabei nach einem bestimmten Schema geordnet, das im Folgenden erläutert wird.

3.1.2. Katalogisierung und Kategorisierung

Das Volksmärchen und das Kunstmärchen werden getrennt voneinander in den Tabellen untersucht. Die Volksmärchentabelle umfasst dabei von den insgesamt 200 Kinder- und Hausmärchen, die 152 Märchen, in denen Tiere auftreten. Diese Tiere wurden wiederum nach folgenden sechs Kategorien in sechs Tabellen unterteilt: Tiere unter sich; Tier unter Menschen; Tier-Mensch-Verwandlung; Rollenlose-Tiere; Ethnologische Märchen; Lügenmärchen.

In der Tabelle Tiere unter sich befassen sich die Märchen ausschließlich mit Tiermärchen, in denen kein Mensch auftritt oder allenfalls eine sehr kleine Rolle einnimmt. Dabei wird der Fokus auf den inhaltlichen Ausgang des Märchens gelegt. Welche Tiere triumphieren über die anderen, bzw. war ihr Zusammenschluss erfolgreich oder nicht?

Die Tabelle Tiere unter Menschen ist mit 42 Märchen die umfangreichste Tabelle. Hier wird der inhaltliche Ausgang der Tiere in Verbindung mit dem Menschen untersucht. Wer ist die triumphierende Partei, Mensch oder Tier? Wie verhält sich das Tier gegenüber dem Menschen und andersherum?

In der Tabelle Tier-Mensch-Verwandlung dagegen ist der inhaltliche Ausgang des Märchens bereits bekannt, der Mensch in der Tiergestalt verwandelt sich wieder in einen Menschen zurück. Die Tiere mit der Funktion des verwunschenen Tieres kommen ausschließlich nur in der Tier-Mensch-Verwandlung Tabelle vor, das Zaubertier kann allerdings auch in anderen Märchen vorkommen.

Diese drei Tabellen stehen im Vordergrund der Arbeit, die anderen drei dienen zur Vollständigkeit der Tiergestaltung im Grimm’schen Märchen. Die Tabelle der Rollenlosen-Tiere zeigt die Häufigkeit, in der die Tiere zwar im Märchen auftreten, aber dabei keinen handelnden Status aufweisen. Von den insgesamt 152 Märchen, in denen Tiere auftreten, sind es 58 Märchen, in denen die Tiere nur zur künstlerischen Darstellung beitragen. Das Ethnologische Märchen wird durch seine Tiere in doppelter Funktion (Ursprungstier / lasterhaftes Tier) in der folgenden Untersuchung weiterhin berücksichtigt. Die Tiere im Lügenmärchen dagegen werden nicht beachtet, sie haben keinerlei Funktion und dienen nicht zum Vergleich, da sie sich völlig gegen ihre Natur verhalten.

Die sechs Kunstmärchen von E.T.A. Hoffmann werden in ihren Tabellen nicht einer bestimmten Kategorie zugeordnet, sondern jedes Kunstmärchen hat für sich eine eigene Tabelle. Eine Kategorisierung wie bei den Volksmärchen wäre nicht übersichtlich, da der Umfang der Kunstmärchen deutlich größer und die inhaltliche Struktur komplexer ist. Die Kunstmärchen werden innerhalb der Tabelle in ihre jeweiligen Kapitel unterteilt. In jedem Kapitel werden die auftretenden Tiere genannt und kategorisiert. Durch die eingeflochtenen Nebenhandlungen ergeben sich verschiedene Ausgänge der Kapitel, auch die Funktion der Tiere kann sich durch deren Entwicklung stets verändern. Aus diesem Grund ist es aussagekräftiger, wenn die Kunstmärchen für sich betrachtet werden und mit passenden Volksmärchen verglichen werden. Das Kunstmärchen erhält zudem die zusätzliche Kategorie der Wahrnehmungsebene. Das Volksmärchen in seiner einfachen Form benötigt diese Kategorie nicht. Mit der Unterscheidung der Wahrnehmungsebene wird der Auftritt des Tieres genauer betrachtet. Die Figuren im Kunstmärchen nehmen das Wunderbare unterschiedlich wahr, einige von ihnen erleben das Wunderbare in ihren Träumen oder innerhalb einer intradiegetischen Erzählung. Verliebte und Berauschte, sowie Kinder haben eine besondere Gabe für die Wahrnehmung des Wunderbaren. Diese weitere Kategorie ermöglicht eine Grenze zwischen Phantasie und Realität aufzuzeigen, die zur weiteren Untersuchung der Gestaltung der Tiere beiträgt, wie die Auswertung der Tabelle zeigen wird.

Neben den genannten Funktionen der Tiere und der Unterteilung der Tabellen liegt wohl der wichtigste Vergleichspunkt der Märchen auf der Gestaltung der Mensch-Tier- und der Tier-Tier-Differenz. Sie verdeutlicht den Umgang zwischen Mensch und Tier. Interessant zu beobachten ist, dass Tiere sich öfter zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, obwohl zwischen ihnen eine natürliche Feindschaft herrscht (KHM 2). Diese Beobachtung wird vor allem in der Volksmärchen Tabelle Tiere unter sich untersucht. Das Verhältnis zwischen Tier - Tier und Mensch - Tier wird durch eine unterschiedliche farbige Gestaltung verdeutlicht.

Der Charakter der Tiere findet in der Tabelle auch eine kurze Darstellung, wobei sich deren Eigenschaft in der jeweiligen Funktion des Tieres widerspiegelt. Diese Angaben dienen daher nur zum besseren Verständnis der Tabelle. Diese Kategorie wird ebenfalls durch farbliche Akzente vervollständigt, diese zeigen die jeweilige Stärke des Tieres an, ob es sich um ein überlegenes oder ein unterlegenes Tier handelt.

Die Ergebnisse der Untersuchung der vorliegenden Arbeit nach diesen Kriterien werden im Folgenden aufgeführt und analysiert.

3.2. Tiere im Volksmärchen der Brüder Grimm

Im Zirkularbrief von 1815 ruft Jacob Grimm dazu auf, besonders solche „Tierfabeln, worin zumeist Fuchs und Wolf, Hahn, Hund, Katze, Frosch, Maus, Rabe, Sperling, usw. auftreten“ zu suchen. Er vermutet darin Spuren von germanischer Mythologie und Hinweise darauf, dass diese Märchen aus mündlicher Überlieferung stammen.[15] Diese Vermutung entstand unter anderem aus seinen Studien zum ‚Reinhart Fuchs‘, einem mittelhochdeutschen Fuchsepos.[16] Ein Blick in die Kinder- und Hausmärchen zeigt, dass der Fuchs und seine Kameraden in einer besonderen Häufigkeit auftreten. In 18 verschiedenen Märchen tritt der Fuchs auf und hat in 17 davon einen handelnden Status, ebenso sieht es bei Wolf, Rabe und Sperling aus. Wobei Hahn, Katze, Hund und Maus nur bei der Hälfte ihrer Auftritte aktiv werden. Insgesamt kommen 56 verschiedene Tierarten in den Kinder- und Hausmärchen vor. Davon stammen 42 von ihnen aus der Kategorie Wildnis und 14 sind dem Haus zuzuordnen. Die enge Verbindung zur Natur wird durch die große Anzahl der Wildnis Tiere hervorgehoben, wobei die Haus Tiere eher als Nutztiere des Menschen angesehen werden. Im Vergleich nehmen die Wildnis Tiere häufiger einen aktiven Rollenstatus ein, als die Tier des Hauses. In Prozentwerten ausgedrückt, liegt die Übernahme einer Funktion bei den Wildnis Tieren bei 59% ihrer Auftritte und bei den Haus Tieren nur bei 28% ihrer Auftritte. So tritt das Pferd zwar im Märchen am häufigsten auf, nämlich in 49 der 152 „Tier“-Märchen, hat davon aber nur in sechs einen handelnden Status. Dieses Ergebnis verdeutlicht die enge Verknüpfung mit den Wildnis Tieren und dem Wunderbaren. Die Tiere selbst könnte man auch durch einen archetypischen Deutungsprozess analysieren,[17] davor warnt jedoch Rölleke, da sich die Tierarten im Verlauf der Texterfassung öfter änderten. Der Frosch in Dornröschen, der der Königin prophezeit bald ein Kind zu bekommen, war beispielsweise in früheren Versionen ein Krebs.[18] Auch für den Ansatz dieser Arbeit ist diese Art der Analyse nicht aussagekräftig, da es in erster Linie nicht um die Tierart selbst geht, sondern um deren Funktion und deren Verhältnis zu anderen Tieren und dem Menschen. Die Einteilung in Wildnis und Haus wurde dagegen während der Texterfassung nicht stark verändert und bleibt somit erhalten und für den Vergleich relevant.

Zum besseren Verständnis werden nun die im Anhang aufgeführten Tabellen besprochen, bewertet und deren Resultate gesichert.

3.2.1.Die Bewertung der Tiertabelle der Brüder Grimm

Die Auswahl der Tiere bei Grimm spiegelt den volkstümlichen Charakter wider, die Häufigkeit der ländlichen Tiere, die ausschließlich als Nutztiere des Diesseits fungieren, weisen auf das einfache Leben der Märchenzuhörer hin. Dagegen stehen die Tiere der Wildnis, die mit ihren meist wunderbaren Fähigkeiten der Welt des Jenseits angehören. Diese dem Menschen sonst nicht in dieser Art und Weise zugänglichen Tiere sind im Märchen eng mit ihm verbunden. Zwischen dem Menschen und dem wilden Tier herrscht eine wechselseitige Beziehung, in der meist respektvoll miteinander umgegangen wird. Diesen Respekt genießen die Haus -Tiere in diesem Sinne nicht. Sobald die Tiere ihren Nutzen nicht mehr erfüllen, werden sie vernachlässigt oder verjagt, wie die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27). So wundert das Ergebnis nicht, dass von insgesamt 21 helfenden Tierarten, nur drei aus der Kategorie Haus dem Menschen zur Seite stehen. Ebenso sind es genau jene Tiere, die dem Haus zugehören, die sich gegen den Menschen auflehnen und über ihn triumphieren. Im Märchen Herr Korbes (KHM 41) fahren Hahn, Huhn, Katze und Maus ohne ersichtlichen Grund zum Haus von Herrn Korbes und spielen ihm einen Streich nach dem anderen, bis er schließlich stirbt. Das Märchen endet mit dem prägnanten Satz: „Der Herr Korbes muß ein recht böser Mann gewesen sein.“ Daraus lässt sich schließen, dass Herr Korbes wohl ein Mensch war, der mit seinen Haus -Tieren nicht respektvoll umgegangen ist.

Die Tabelle Tiere unter sich geht vor allem auf das Verhältnis zwischen den Tieren ein. Die Tiere, die sich hier zusammenschließen, würden in ihrem natürlichen Erscheinen die Bekanntschaft der anderen wohl eher meiden und unter ihresgleichen bleiben. So wirbt ein Hasenmann um die Gunst der schönen Füchsin (KHM 38 II) oder ein Wolf und ein Hirsch kämpfen gemeinsam gegen den Zaunkönig und seine geflügelte Armee (KHM 102). Diese Tierverbindungen können funktionieren, in der Regel scheitern sie jedoch, da eines der Tiere ein listiges oder lasterhaftes Verhalten an den Tag legt. Von den 15 Märchen, in denen die Tiere unter sich sind, bleibt die Gemeinschaft nur bei dreien erhalten. Wobei es sich in zwei davon um Tiere einer Gattung handelt (KHM 38 II/157). Alle handelnden Tiere sprechen und über 30% begleiten eine Funktion. Dabei tritt das lasterhafte Tier am Häufigsten auf und das helfende Tier am Seltensten. In den drei Auftritten des helfenden Tieres, verliert das Tier dabei in zwei Fällen sein eigenes Leben. Das moralische Tier verteidigt in zwei von seinen drei Auftritten die eigene Familie (KHM 5/102), nur bei Katze und Maus in Gesellschaft weist die Maus, als moralisches Tier, auf das ungerechte Verhalten der Katze innerhalb ihrer Gemeinschaft hin und verliert dabei ihr Leben. Die Katze triumphiert mit ihrer List über das unterlegene Tier und beweist damit, dass trotz aufgestellter Regeln jeder sich selbst der Nächste ist: „Siehst du, so geht’s in der Welt.“ In den Ethnologischen Märchen 171 und 172 handelt es sich auch um die Tiere unter sich Kategorie. Hier haben die Ursprungstiere eine weitere Funktion und zwar die der lasterhaften Tiere. Der Zaunkönig und die Eule zeichnen sich durch ihre Trägheit aus und verlieren dadurch den Respekt der anderen Tiere. Deshalb muss sich der Zaunkönig seitdem versteckt halten und die Eule darf nur noch in der Nacht fliegen, damit sie nicht von den anderen Vögeln für ihre Lasterhaftigkeit gerichtet werden.

Die umfangreichste Tabelle ist wohl die der Tiere unter Menschen in der die Mensch-Tier-Differenz im Vordergrund steht. Es gibt darin drei mögliche Ausgänge des Märchens: Erstens: das Tier triumphiert über den Menschen; Zweitens: Der Mensch triumphiert über das Tier; und Drittens: Der Mensch triumphiert mit Hilfe der Tiere. Knapp über die Hälfte der 42 „Mensch und Tier“- Märchen handeln von Tieren, die dem Menschen zur Hilfe kommen und dieser dadurch seine Aufgaben mit Bravour löst. Wie in der Kapiteleinführung bereits genannt, sind es vor allem die Tiere der Wildnis, die den Menschen unterstützen. Eine solche Verbindung ist im Märchen nichts Unnatürliches, sie unterstützen im Gegenteil das Wunderbare und festigen den Glauben an eine gesellschaftliche Utopie, die über den Menschen hinausgeht.[19] Die Zaubertiere, die nur in diesem Märchenausgang auftauchen, heben zusätzlich den großen Einfluss des Wunderbaren hervor, der im Zusammenhang von Mensch und Tier auftritt. Sie nehmen selten eine handelnde Rolle ein, sondern dienen eher als ein magisches Requisit und sind Auslöser oder Lockmittel der Erzählung. In einigen Märchen bieten gleich drei helfende Tiere ihre Unterstützung an. Wenn das der Fall ist, verkörpern die Tiere immer die drei Elemente Luft, Wasser und Erde. Nach Ovid sind diese drei Elemente die Sphären der drei Tierreiche, die die Tiere in ihren Lebensbereich einteilen.[20] So helfen beispielsweise im Kinder- und Hausmärchen 17 Die weiße Schlange, Ameisen (Erde) beim Auflesen der Hirsekörnchen, die Fische (Wasser) beim Tauchen nach einem Goldring und die Raben (Luft) bringen den gewünschten Apfel vom Baum des Lebens. Diese starke Präsenz der Elemente lässt wieder auf die enge Verbindung mit der Natur schließen. Wenn der Held im Einklang mit der Natur steht, dann kann selbst die schwerste Aufgabe ihn nicht erschüttern. Bevor der Märchenheld endlich die Aufgaben löst, gab es zuvor bereits andere Jünglinge, die bei dem Versuch, die Aufgaben zu bewältigen, ihr Leben lassen mussten. Diese hatten sich nicht die Zeit genommen die Tiere und damit die Natur wahrzunehmen, so dass sie nicht in Einklang mit ihnen gekommen sind. Die Macht der Elemente entfaltet sich erst, wenn sich die Natur im Gleichgewicht befindet, so das mythische Bild.[21] In den anderen Märchen, in denen einzelne helfende Tiere auftreten, sind diese Tiere meistens der Luft oder der Erde zuzuordnen, während es nur vereinzelt helfende Wasser tiere gibt. Der Mensch dagegen gehört keinem Element an, sondern wird von Ovid als eine Ausnahme im Reich der Natur gesehen, die den göttlichen Funken besitzt und über die Tiere herrschen soll.[22] Gerade dieser Herrschaftsanspruch über die Tiere wird im Märchen diskutiert. Es zeigt sich, dass derjenige, der auf die Tiere eingeht und ihnen hilft oder ihnen Gnade zuteil werden lässt, ihre Hilfe als Gegenleistung erhält. Ein Mensch, der als herrschender Tyrann seinen Tieren gegenüber auftritt, erhält keine Hilfe und findet meist sein Unglück. Im Märchen Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19) zeigt sich dieser Fall: Der Fischer fängt den Fisch und verschont ihn nur, wenn dieser ihm dafür Wünsche erfüllt. Als der Fischer und seine Frau immer maßloser werden und sich selbst über Gott setzen möchten, wird das dem Fisch zu viel und er macht alle Wünsche wieder rückgängig, so dass sich der Fischer und seine Frau in ihrem armseligen Fischerhaus wiederfinden. Der Fisch, der hier neben der helfenden Funktion auch magische Fähigkeiten aufweist, ist ein Zaubertier. Der Fisch greift durch seine Wunscherfüllung in die Natur ein, dass das nicht ohne Konsequenzen bleibt, ist an der Wetterveränderung abzulesen. Bei einer unerzwungenen Hilfe kommt es zu keinen solchen Wetterphänomenen (KHM 17).

In den Märchen, in denen der Mensch über das Tier triumphiert, handelt es sich bei den Tieren meistens um ein überlegenes Tier (Wolf oder Bär), in seltenen Fällen um ein unterlegenes Tier (Kröte, Eule, Hühner). Die Funktionen, die die Tiere bei diesem Märchenausgang einnehmen, sind die des lasterhaften Tieres oder die des moralischen Tieres. Das lasterhafte Tier bringt sich durch sein hochmütiges oder gieriges Verhalten in die prekäre Situation, Opfer des Menschen zu werden. In diesem Fall nimmt der Mensch die moralische Funktion ein und weist auf das negative Verhalten des Tieres hin, welches sich nicht an den Verhaltenscodex gehalten hat. Das lasterhafte Tier wird durch den Menschen bestraft, der hier als Herrscher über die Tiere auch Recht spricht. Das Tier erhält seine gerechte Strafe für seine Sünden durch den ihm übergestellten Menschen. Das moralische Tier richtet dagegen indirekt über den Menschen. In dem Märchen von der Unke I. (KHM 105 I.) freunden sich ein Mädchen und eine Kröte an. Das Mädchen teilt täglich mit der Kröte ihr Essen, als die Mutter dies sieht, schätzt sie die Situation falsch ein und erschlägt die Kröte aus Angst. Kurz darauf stirbt auch die unglückliche Tochter. Das Tier fungiert hier nur passiv als ein moralisches Tier, der Tod der Tochter macht auf das vorgefallene Unrecht aufmerksam. In diesem speziellen Fall kann man davon sprechen, dass Mutter und Tochter sich auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen befanden. Für das Kind war die Begegnung mit dem Tier eine positive Situation, für die Mutter jedoch war es eine gefährliche und sie griff ein, um ihr Kind zu schützen. Durch den ihr unrechtmäßig zugefügten Tod, klagt die Kröte den Menschen still an, genauso wie die Eule in KHM 174.

Im dritten Ausgang triumphieren die Tiere über den Menschen. Es handelt sich dabei vor allem um Tiere, die dem Menschen unterlegen sind und dem Haus zugeordnet werden. Mit ihren listigen und moralischen Eigenschaften revanchieren sie sich bei dem Menschen für das durch ihn erlittene Unglück. Das moralische Tier nimmt dabei wieder die Rolle des Hüters der Verhaltensregeln ein. In dem Märchen Der Hund und der Sperling (KHM 58) übernimmt der Sperling diese Rolle. Der Sperling versucht den Fuhrmann vor dem Mord an dem Hund abzuhalten. „Fuhrmann tu’s nicht, oder ich mach dich arm.“, warnt ihn der Sperling, aber trotz der Warnung fährt der Fuhrmann den Hund tot. Der Sperling richtet nun selbst über den Fuhrmann, nimmt ihm die Kutsche, die Ladung und die Pferde, lässt von seinen Vogelfreunden des Fuhrmanns Felder leer fressen. Doch diese Strafen reichen ihm nicht aus, der Fuhrmann ist ihm „noch nicht arm genug.“ Mit seinen Taten weist der Sperling den Fuhrmann nicht nur auf das Unrecht hin, welches dieser begangen hat, sondern bestraft darüber hinaus dessen Uneinsichtigkeit. Bis der Sperling schließlich den Hund durch den Tod des Fuhrmanns gerächt hat. Die listigen Tiere sind in diesen Märchen wiederum nur auf ihren Vorteil aus und überlisten den Menschen (KHM 10).

Wie bereits zu Beginn der Bewertung angesprochen, wird das Thema Respekt und Revanche besonders in den Tabellen Tiere unter Tieren und Tiere unter Menschen angesprochen. Eine funktionierende Beziehung zwischen Tier - Tier oder Tier - Mensch basiert auf dem Gleichgewicht der Reziprozität. Wie die eine Partei agiert, reagiert die andere darauf und umgekehrt. In der Soziologie ist die Reziprozität ein gut untersuchter Aspekt und behandelt die Logik des Gebens, Nehmens und Erwiderns.[23] Die Differenz zwischen Mensch und Tier greift diesen Sachverhalt auf und verarbeitet ihn im Märchen. Das helfende Tier hilft meist aus Dankbarkeit bzw. bietet seine Hilfe als Gegenleistung für die Verschonung seines Lebens an: „Schieß nicht, ich will dir’s vergelten!“ (KHM 191). Durch diesen Zuspruch der Hilfe und der damit verbunden Verschonung entsteht ein Vertrag zwischen den beiden Parteien, der mit der Ausübung der Hilfe als erfüllt angesehen wird. Das Tier verschwindet nach der erbrachten Hilfe und findet im Märchen keine weitere Erwähnung. Der soziale Austausch, der hier stattfand, war für beide Parteien von Vorteil und auf eine bestimmte Zeit begrenzt. Bei der Annahme von Hilfe handelt es sich um einen extrinsisch motivierten Austausch, das heißt, dass die Figur keinen dauerhaften Austausch sucht, sondern im Wesentlichen davon geleitet wird, ein bestimmtes Ziel zu erreichen,[24] beispielsweise das Bestehen der Aufgaben. Solche reziproke Verhältnisse finden sich im Märchen sehr häufig, nicht nur in Bezug auf die helfenden Tiere, sondern auch in Bezug auf negative Figuren. Diese erhalten in der Regel auch eine negative Behandlung durch die anderen Figuren, die deren schlechtes Verhalten widerspiegeln. Wenn man die Märchen nicht nur im Einzelnen betrachtet, sondern in der Gesamtheit sieht, findet man diese wechselseitigen Verhältnisse auch zwischen den Märchen. Märchen, in denen der Mensch über Tiere triumphiert, stehen Märchen, in denen Tiere den Menschen besiegen, gegenüber. In manchen Fällen lässt sich auch eine Kette aus den Verhältnissen im Märchen bilden. Das Märchen Die Eule (KHM 174) baut beispielsweise auf dem Märchen Der Zaunkönig (KHM 171) auf. Die Eule vernachlässigt im Märchen „der Zaunkönig“ ihre Pflichten und wird dadurch von den anderen Vögeln verstoßen und darf sich ab diesem Zeitpunkt an nur noch nachts zeigen. Im Märchen „die Eule“ sucht sie daraufhin ein Versteck vor den anderen Vögeln und findet eines in einer Scheune. Die Menschen, die das ihnen unbekannte Tier entdecken, halten es für ein Ungeheuer und brennen die Scheune ab. Die Reaktion der Vögel auf das nachlässige Handeln der Eule hat weitreichende Konsequenzen für das Tier, das durch sein Tagesflugverbot nicht aus der Scheune darf und somit den Menschen ausgeliefert ist. Diese beiden Märchen haben eine reziproke Rollenbeziehung, das Märchen 171 bildet den Gegenpart zum Märchen 174 und erhält somit die Funktion eines aufbauenden Märchens.

Die Tabelle der Mensch-Tier-Verwandlung lässt sich in diesem Zusammenhang auch erörtern. In einigen Fällen handelt es sich bei den verwunschenen Tieren um Familienangehörige der Hauptfigur, diese steht im engen intrinsischen Austausch mit ihren Verwandten. Die soziale Beziehung, die sie mit ihnen verbindet, lässt sie schwere Prüfungen bestehen, die zu der Erlösung der Geschwister führen (KHM 25). Der Reziprozitätsgedanke beruht hier eher auf einer freiwilligen Basis bzw. wird aus Schuldgefühlen geformt, da die Geschwister fast immer durch das Handeln der Hauptfigur verwünscht wurden.

Ein weiteres Thema, welches in dieser Tabelle aufgegriffen wird, ist die Verschmelzung von Mensch und Tier. Dieses Maximun an Verbundenheit mit dem Tier erinnert den Mensch an eine frühere Zeit der Naturvölker, als der Mensch und das Tier in einer gleichberechtigten Beziehung lebten.[25] In den Naturvölkererzählungen gelangt der Mensch durch den Erwerb eines tierischen Schutzgeistes zur Vollkommenheit. Erst in der Verbindung mit dem Tier erreicht der Mensch die höchste Stufe des Seins. Dieses Verständnis für die Natur verliert sich im Laufe der Zeit. Während der Aufklärung war das Tier nicht mehr als eine Maschine, die funktionieren musste.[26] Erst in der Romantik wird das Motiv Tier wieder positiv ausgelegt, Tiere gelten als Verbündete der Natur und Träger des Wunderbaren. Die Verwandlung vom Menschen in ein Tier ist zum größten Teil auf eine Verwünschung eines Drittens zurückzuführen. Das verwunschene Tier muss nun entweder selbst aktiv werden und jemanden suchen, der es erlöst oder die Hauptfigur sucht nach einer Lösung für das verwunschene Tier. Ein Zaubertier dagegen ist selbst für seine Verwandlung verantwortlich und kann sich nach Belieben wieder in einen Menschen verwandeln.

Das häufige Auftreten von Mensch-Tier-Verwandlungen im Märchen geht aus dieser Tabelle deutlich hervor. In insgesamt 30 Märchen kommt es zu einer solchen Verwandlung und schließlich zu deren Erlösung. Dies zeigt das starke Interesse an diesem Motiv und der damit verbundenen Sehnsucht nach einer Verschmelzung mit der Natur.

In der Märchensammlung der Brüder Grimm finden sich unterschiedliche Tierdarstellungen. In manchen Märchen ist die menschliche Sprache der Tiere eine Selbstverständlichkeit, in anderen kann der Mensch die Tiere nur mithilfe von magischen Requisiten verstehen (KHM 17). Diese unterschiedliche Auffassung lässt sich durch die Entstehungsgeschichte der Märchensammlung erklären. Die Brüder sammelten sowohl ältere Erzählungen als auch neuere. In den neueren Märchen sind die Tiere der Wildnis weniger gefährlich dargestellt und die Haus Tiere rücken mehr in den Vordergrund. Das Tier selbst bleibt aber in seiner natürlichen Umgebung bestehen und übersteigt nicht seine wirklichen Fähigkeiten. Der Fisch taucht nach einem verlorenen Gegenstand, der Vogel fliegt zu einem weitentfernten Baum und Ameisen helfen beim Aufsammeln von kleinen Körnchen.[27] Dass das Tier eine wichtige Rolle im Volksmärchen der Brüder Grimm einnimmt, ist nicht zu bestreiten. Dies soll nun in den Kunstmärchen von E.T.A. Hoffmann untersucht werden.

3.3. Tiere im Kunstmärchen von E.T.A. Hoffmann

Die Tiere im Kunstmärchen von Hoffmann zeichnen sich nicht nur durch die Fähigkeit die menschliche Sprache zu sprechen aus, sondern viel mehr durch ihre eigene Darstellung in Gestik, Mimik und Verhalten, so Beardsley.[28] Die hier behandelten Kunstmärchen bestätigen diesen Sachverhalt. In den sechs Märchen treten insgesamt 56 verschiedene Tierarten auf, das ist exakt die Anzahl der Tierarten, die in den 200 Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm vorkommt. Von diesen 56 Tierarten sind 46 Tiere der Wildnis und 10 Tiere dem Haus zuzuordnen. Das Pferd taucht als einziges Tier in jedem der sechs Märchen auf, übernimmt aber nie einen handelnden Status. Die Katze dagegen, die in vier von sechs Märchen auftritt, hat verschiedene Funktionen vorzuweisen (Zaubertier / helfendes Tier). Hoffmanns Tiere der Wildnis sind vor allem Tiere, die dem Element der Luft angehören. Vögel verschiedenster Art und geflügelte Insekten prägen das Märchenbild. Die Tiere gestalten mit ihrem Brummen, Zirpen und Gesang eine ästhetische Sphäre der paradiesischen Natur. Hoffmann verwendet vor allem Tiere exotischer Natur wie der Vogel Strauß und der Kolibri in Klein Zaches. Durch die Gestaltung der Tiere transportiert Hoffmann verschiedene Atmosphären, sie unterstreichen wie in Der goldenen Topf das Magische und heben das Wunderbare hervor. Eine entspannte Situation spiegelt sich in den bunt schillernden Vögeln wider, die fröhlich und kichernd aus den Zweigen den Studenten Anselmus necken. SPW 1/214 Im Gegensatz zu dieser Szene findet sich Anselmus, in seiner Liebe zu Serpentina verunsichert, wenig später in dem Garten des Archivarius wieder:

„[er konnte] sich nicht genug wundern, wie ihm das alles sonst so seltsam und wundervoll habe vorkommen können. Er sah nichts als gewöhnliche Scherbenpflanzen, allerlei Geranien, Myrtenstöcke u. dergl. Statt der glänzenden bunten Vögel, die ihn sonst geneckt, flatterten nur einige Sperlinge hin und her.“ SPW 1/238f

Die ganze Gestaltung der Szene wirkt ernüchtert, die wunderbaren und sonderbaren Vögel sind verschwunden, stattdessen fliegen nun gewöhnliche Vögel umher. Durch die Liebe zu Serpentina befand sich Anselmus auf einer anderen Wahrnehmungsebene und war offen für das Wunderbare, nun von dieser Liebe verlassen, hat er diese Fähigkeit eingebüßt.

In den Tabellen der Kunstmärchen wird eben diese Ebene der Wahrnehmung besonders hervorgehoben und dient zum besseren Verständnis der Gestaltung der Tiere.

3.3.1. Die Bewertung der Tiertabelle von E.T.A. Hoffmann

Jedes der sechs Kunstmärchen ist für sich in einer eigenen Tabelle aufgeführt und in seine Kapitel eingeteilt. Die Tiere kommen meist in ihrer natürlichen Funktion vor, nur 26,5% aller auftretenden Tiere übernehmen eine handelnde Funktion. Von den 10 Haus Tieren sind es 40% und von den 46 Wildnis Tieren sind es 37%.[29] Obwohl es weniger Haus Tiere gibt, sind sie im doch Verhältnis gleichgewichtet. Beide Gruppen werden eng verbunden mit der Natur dargestellt. Der Mensch hält seine Haus Tiere zwar als Nutztiere, aber er hat eine über die Nutzung hinausgehende Beziehung zu ihnen. Der Hofhund Sultan wird in seinem Nutztierstatus als Wachhund eingeführt, erhält aber im selben Satz auch die Funktion des Spielgefährten von Felix. SPW 2/461 In Die Königsbraut empfindet Fräulein Ännchen eine tiefe Freude bei der Pflege ihrer tierischen Schützlinge, sie stehen für sie an erster Stelle. SPW 2/919

Die einzelnen Funktionen der Tiere werden nun in der Untersuchung der Tabellen aufgeführt.

In der Tabelle Der goldene Topf treten die meisten handelnden Tiere auf. Fast jedes zweite Tier nimmt eine handelnde Funktion ein, wobei hier angemerkt werden muss, dass einige Figuren wiederholt in anderen Tiergestalten auftreten. Der Archivarius beispielsweise verwandelt sich in einen Geier, in einen Adler und in einen Salamander. All diese Tiere haben die Funktion eines Zaubertieres inne. Serpentina zeichnet sich durch die Funktion des verwunschenen Tiers aus. Sie wurde durch die verbotene Liebe zwischen ihren Eltern, einem Salamander und einer Schlange, zur ewigen Tiergestalt verwunschen, nur die Liebe kann sie davon erlösen. In der 8. Vigilie zeigt sich Serpentina durch die Liebe zu Anselmus gestärkt, in ihrer menschlichen Gestalt und erzählt ihm die Geschichte ihrer Eltern. In dieser intradiegetischen Erzählung ändert sich die Wahrnehmungsebene, Anselmus nimmt das Wunderbare passiv wahr, er ist nicht darin involviert. Er zweifelt jedoch nicht an dessen Existenz, da das Produkt dieser verbotenen Liebe direkt vor ihm sitzt. In der 3. Vigilie erzählt der Archivarius ebenfalls eine intradiegetische Episode aus dem Leben seines Bruders, die Zuhörer, wie der Registrator Heerbrand, können das Wunderbare der Geschichte nicht begreifen und halten es für einen „orientalische[n] Schwulst“. SPW 1/195 Sie verschließen sich vor der Möglichkeit der wunderbaren Phänomene. Hier übt Hoffmann unterschwellig Kritik an Menschen, beispielsweise durch den Registrator Heerbrand, der keinen Sinn für Kunst und ästhetische Werte hat. Ein zentrales Thema in den Werken Hoffmanns findet sich auch im Der goldene Topf wieder, nämlich das der Gesellschaftskritik. Hoffmann prangert die Philistertypen an, die sich von der Poesie distanzieren und sich gegen sie stellen. Er stellt den gebildeten Studenten Anselmus dieser Gesellschaft entgegen. Diese Figur ist durch seinen Stand und durch seine emotionale Unordnung fähig, sich der Poesie zu öffnen.[30] So fordert Hoffmann den Leser auf, sich auch auf die wahre Poesie einzulassen, da sie unsere Wahrnehmung für das Wunderbare erweitert: „Ist denn überhaupt des Anselmus‘ Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heiligen Einklang aller Wesen als tiefes Gefühl der Natur offenbaret?“ SPW 1/255 Die Tiere sind die Träger dieser Poesie, ihrer Erscheinung wird in ästhetischer und höchst poetischer Weise dargestellt. Die Schlangen Schwestern schlängeln, schlingen, schwingen, der Abendwind lässt kristallene Glocken läuten. SPW 1/184 Hoffmann gestaltet mit lyrischen Mitteln eine Atmosphäre des Wunderbaren im positiven, wie auch im negativen Sinn. Der Kater der Rauerin fungiert ebenfalls als Zaubertier, er kann Funken sprühen und leuchten. In der 7. Vigilie hilft der Kater der Hexe bei der Zauberei gegen Anselmus, die Stimmung ist düster und geheimnisvoll und wirkt durch den magischen Kater angsteinflößend. Der Kater ist das helfende Tier der Rauerin, wie der Papagei das helfende Tier des Archivarius‘ ist. Die Beziehung zwischen dem Archivarius und seinem Papagei ist aber kein Herrscher - Untertan - Verhältnis, wie zwischen dem Kater und seiner Besitzerin. Der Papagei steht zwar im Dienst des Archivarius‘ und ist für die Ordnung im Garten zuständig, wird aber für seine gute Leistung und Freundschaft belohnt. Der Papagei nennt den Archivarius seinen „verehrungswürdigen Freund und Gönner“, SPW 1/245 er stellt sich freiwillig in dessen Dienst. Die äußerliche Wahrnehmung der einzelnen Figuren für den Papagei verhält sich sehr unterschiedlich. Anselmus und der Achivarius erkennen dessen Potenzial des Wunderbaren von Beginn an. Die anderen Herren nehmen sein Wunderbares nur in Verbindung mit Alkohol wahr und halten den Papagei ansonsten für ein „gravitätisches Männlein“. SPW 1/238

Das lasterhafte Tier kommt in Der goldene Topf nur in den intradiegetischen Erzählungen vor, als wütender Drache oder als wolllüstiger Salamander, und gehört dem Element „Feuer“ an. In der eigentlichen Erzählung bleiben die funktionstragenden Tiere entweder auf der „Erde“ oder in der „Luft“, sie verbinden die Phantasie mit der Realität und die Poesie mit der Natur.

In der Tabelle Nußknacker und Mausekönig sind nur wenige Tiere mit einer Funktion vorhanden, dafür spielen diese eine sehr große Rolle. Die Tiere nehmen nicht nur eine, sondern meist mehrere Funktionen ein und entwickeln sich im Laufe des Märchens stetig weiter. Im fünften Kapitel hat der Mausekönig als lasterhaftes Tier seinen Auftritt. Er kämpft gegen eine Armee aus Spielzeug, unter ihnen die helfenden Tiere Löwe, Tiger und Affe. In der Welt der Märchen ist die Vorstellung möglich, dass ein schwaches Tier es mit Raubtieren aufnimmt. Zeuge dieses Kampfes ist Marie, die all das Wunderbare wahrnimmt und der Spielzeugarmee zur Hilfe kommt, indem sie mit ihrem Schuh die bösartigen Mäuse vertreibt. SPW 2/210 Sie hat die Wahrnehmungsebene eines Kindes und besitzt noch ihre volle Phantasie, die einem während des Älterwerdens abhanden kommen kann. Für sie existiert die Welt des Nußknackers mit all seinen wunderbaren Eigenschaften. Fritz dagegen nutzt eine weltlicher orientierte Phantasie. Er ist Befehlshaber einer Armee von Spielzeugsoldaten, die auch nur diese Rolle einnehmen können. Sein Stockpferd lässt er durch seine Phantasie zwar zum Leben erwachen, spielt mit ihm aber nur wie mit einem natürlichen Pferd. Beide Kinder bekommen das Märchen von der harten Nuß erzählt, aber nur Marie hält die Erzählung für wahr. In der intradiegetischen Erzählung von Onkel Droßelmeier werden das Motiv des Mausekönigs psychologisiert, dessen Mutter, Frau Mauserinks erfuhr unter den Menschen viel Leid. In der Funktion des lasterhaften Tieres fraß Frau Mauserinks all den Speck des Königs auf, der aus Rache anschließend ihre Familie töten ließ. Frau Mauserinks verwandelte (Zaubertier) daraufhin die Tochter des Königs in eine Puppe und wurde letztlich vom Neffen des Droßelmeiers zertreten. In ihrem Tod verflucht sie den Neffen zum Nußknacker und weist durch dieses Handeln noch einmal auf das große Leid hin, dass ihr wiedererfahren ist (Moralisches Tier). Frau Mauserinks tritt nur in der intradiegetischen Erzählung auf, ihre Funktion ändert sich dabei, wie auch ihre Persönlichkeit. Von der freundlichen Maus, die vom Topf der Königin naschen durfte, bis zur rachsüchtigen Furie, die den Nußknacker verflucht. Der Ausgang dieser Erzählungen wechselt zwischen dem Triumph der Tiere und dem Triumph der Menschen, bis schließlich die Tiere endgültig verloren haben. Marie entschließt sich, den Nußknacker zu schützen und opfert dem Mausekönig ihr ganzes Zuckerwerk. Ihre Eltern nehmen die angeknabberte Süßigkeit wahr und schließen auch auf eine Maus als Übeltäter, bezweifeln aber, dass es den siebenköpfigen Mausekönig gibt. SPW 2/232 Die Eltern haben die Fähigkeit für das Wunderbare verloren. Die Maus als phantastisches Tier scheint Hoffmann hier bewusst gewählt zu haben, für die erfolgreiche Verschmelzung von Phantasie des Kindes und Realität der Eltern.

Die Tabelle Das fremde Kind weist ähnliche Verschmelzungen durch die Figur des Magisters Tinte auf. Die Kinder Felix und Christlieb erfahren aus der Erzählung des fremden Kindes von der Identität des Gnomen Pepser, der wenige Tage später als Magister Tinte zu ihnen als Lehrer ins Haus kommt. Der Gnom kann die Gestalt einer Fliege annehmen, die die Funktion des lasterhaften Tieres innehat. Auch in der menschlichen Gestalt legt Magister Tinte seine tierischen Eigenschaften nicht ab, er schwirrt unversehens wie das brummende Insekt auf den Milchtopf zu und frisst ihn leer. In diesem Moment verschiebt sich auch die Wahrnehmungsebene der Eltern und sie nehmen das Wunderbare teilweise wahr, so dass der Vater den Magister Tinte mit einer Fliegenklatsche davonjagt. SPW 2/490 Der Fasanenfürst kommt den Kindern, genauso wie der treue Hofhund Sultan, im Kampf gegen den Magister Tinte zur Hilfe (helfende Tiere). Der Hund bleibt dabei auf einer gemeinsamen Wahrnehmungsebene, wobei der Fasanenfürst nur von den Kindern als dieser identifiziert wird. Obwohl die Kinder den Magister Tinte als Gnom Pepser wahrnehmen können, befinden sich die Figuren nicht auf einer Ebene. Der Magister kann beispielsweise das Wunderbare in der Natur nicht sehen. Er reißt Blumen aus der Erde und tötet einen Vogel, da dieser nur hässliches Gekreisch von sich gibt und nicht vernünftig sprechen kann. SPW 2/485f Er zerstört ganz im Sinne der Aufklärung alles poetisch-ästhetische.[31]

Die meisten Tiere, die in diesem Märchen auftreten, haben keine Funktion, nehmen aber eine wichtige Rolle für die Welt des Wunderbaren ein. Im Spiel mit dem fremden Kind treffen die Kinder auf einen sprechenden Storch und einen sprechenden Geier. Goldkäfer errichten mit ihren Flügeln ein Dach, die Vögel suchen die Nähe der Kinder und singen für sie. SPW 2/472f Das fremde Kind beschreibt in einer intradiegetischen Erzählung seine phantastische Heimat, in der Kinder mit zahmen Rehen spielen und auf Goldfasanen reiten. Aber nur die Kinder, die Phantasie in sich tragen, können diese Welt auch wahrnehmen. SPW 2/480

Klein Zaches genannt Zinnober weist in seiner Tabelle nur Zaubertiere auf. Die Frösche im Garten von Prosper können sich nach Belieben in Menschen verwandeln. Und Prosper selbst verwandelt sich im Kampf gegen das Fräulein Rosenschön ebenfalls in verschiedene Tiere, genau wie die Fee. Zinnober, der hier als aufklärerischer Wechselbalg fungiert, versucht jegliche Poesie zu vernichten.[32] Die Tiere stellen sich Zinnober in ihrer poetisch-ästhetischen Darstellung erfolgreich entgegen, mit ihren schillernden Flügeln und ihrer exotischen Gestalt treiben sie den Moment des Wunderbaren auf die Spitze. Es sind vor allem Insekten, Schmetterlinge und goldene Käfer die hier ihren Auftritt finden. Hoffmann legt ein großes Augenmerk auf die wunderbare Welt der Insekten und lässt Prosper seine große Vorliebe für diese Tiere teilen, so reitet Prosper beispielweise auf Libellen. Das Tier selbst tritt meist nur in der Begleitung seines Besitzers bzw. Liebhabers auf. Im Garten von Prosper schwirren die Insekten und seine Einhörner grasen auf den Wiesen, sein Portier ist ein Vogelstrauß und der Kutscher ein Silberfasan, nur im Bezug zu Prosper treten die Tiere auf. Die Tiere scheinen aus der natürlichen Natur verbannt zu sein egal, ob phantastisch oder nicht. Diese Verbannung lässt sich auf das Edikt des jungen Paphnutius zurückführen, welches das Wunderbare verbietet und alles was mit ihm in Zusammenhang steht:

„Was übrigens die Utensilien der Feen und Zauberer betrifft, so fallen sie der fürstlichen Schatzkammer heim, die Tauben und Schwäne werden als köstliche Braten in die fürstliche Küche geliefert, mit den geflügelten Pferden kann man aber Versuche machen, sie zu kultivieren und zu bilden zu nützlichen Bestien, indem man ihnen die Flügel abschneidet und sie zur Stallfütterung gibt, die wir doch hoffentlich zugleich mit der Aufklärung einführen werden.“ SPW 1/991

So deutlich, wie in diesem Werk kritisiert Hoffmann die Aufklärung in keinem anderen Märchen. Auf satirische Weise wird ein Weg der „Besserung“ vorgeschlagen. Die Tiere, die die Träger des Wunderbaren sind, werden aufgegessen oder mit Gewalt in die neue Epoche gezwungen. Fräulein Rosenschön und Prosper, selbst mit dem Wunderbaren sehr eng verstrickt, müssen sich eigene Inseln für dieses Ausleben erschaffen. Für den jungen Studenten Balthasar öffnet sich, durch seine Liebe zu Candida und durch seine starke Neigung für die Poesie, die Welt des Wunderbaren. Er ist fähig alles Magische wahrzunehmen und befindet sich somit auf derselben Wahrnehmungsebene wie Prosper und Fräulein Rosenschön. Balthasars Freund Fabian ist Zeuge vieler wunderbarer Ereignisse, nimmt diese aber ganz anders wahr als Balthasar. Fabian sucht sich diese mit nüchternen Überlegungen zu erklären. Für diese Verblendung wird er schließlich von Prosper bestraft und verzaubert. Erst durch seine Erlösung erkennt er das Wunderbare.

In der Tabelle Die Königsbraut treten nur funktionslose Tiere auf, keines der Tiere übernimmt eine handelnde Rolle. Die Tiere fungieren alle als natürliche Tiere, wobei die Haus Tiere stark hervorgehoben werden. Fräulein Ännchens größte Sorge ist es, dass es ihren Tieren an etwas mangeln könnte. Alle Beteiligte nehmen die Tiere auf derselben Wahrnehmungsebene wahr, sie erhalten nur von Fräulein Ännchen einen höheren Stellenwert. Die gelben Pferde, die die Gnome tragen, fallen lediglich durch ihr Verhalten und ihre Begleiter seltsam auf. Selbst die Käfer, Regenwürmer und Schnecken, die massenhaft aus der Erde hervorkrabbeln, dienen nur zur Übertragung der düsteren und widerlichen Atmosphäre. SPW 2/956

In der Tabelle Meister Floh übernehmen Tiere wieder handelnde Funktionen. Zum einen ist es der Meister Floh selbst, der sich in Peregrinus Schutz begibt. Zum anderen sind es zwei von Gamahehs Freiern, der Egelprinz und der schöne Geist Monsieur Legénie, der die Gestalt eines Vogelstraußes annehmen kann. Die beiden Freier nehmen die Funktion des Zaubertiers ein, wobei der Egelprinz sich in der intradiegetischen Erzählung von Leuwenhoek auch von seiner lasterhaften Seite präsentiert, da er nicht aufhören kann Gamahehs Blut zu trinken. SPW 3/400f Der Meister Floh dagegen bietet sich Peregrinus als helfendes Tier an, da dieser ihn aus seiner Sicht vor Gamaheh gerettet hatte. Als Dank für diese Rettung überlässt Meister Floh Peregrinus ein mikroskopisches Glas, welches magische Fähigkeiten besitzt und ihm die wahren Gedanken seines Gegenübers aufdeckt, sobald er das Glas in sein Auge wirft. Durch dieses Glas erhält Peregrinus eine weitere Wahrnehmungsebene, die allein er durch die Unterstützung des Meisters Floh erlangen kann. Peregrinus nimmt das Wunderbare durch viele verschiedenen Auslöser wahr. Obwohl er bereits älter als 30 Jahre ist, hat er noch die Phantasie eines Kindes. An die verstorbenen Eltern und ihre gemeinsame glückliche Zeit erinnernd, feiert er nach wie vor die Familienfeste nach alter Tradition und spielt dabei voller Enthusiasmus mit seinem Spielzeug. Das Stockpferd erweckt er in seinem Spiel zum Leben und reitet darauf wie wild durch das Zimmer. Die alte Aline ermutigt ihn in seiner Phantasie und fordert ihn geradezu heraus. SPW 3/376 Diese kindliche Gabe ermöglicht ihm die Wunderdinge zu begreifen und zu glauben, die ihm Meister Floh erzählt. Die Beziehung zwischen Peregrinus und dem Meister Floh basiert auf der Ebene der Reziprozität. Zwar ist Peregrinus zu Beginn nicht klar wie er den Meister Floh gerettet haben soll, aber zu einem späteren Moment entscheidet er sich aktiv dazu den Freund zu schützen, selbst wenn es sein eigenes Unglück bedeuten würde. SPW 3/464 Meister Floh steht Peregrinus nicht nur helfend zur Seite, sondern berät ihn auch in unsicheren Situationen. Der Rat des Flohs scheint Peregrinus sehr wichtig, er legt großen Wert auf dessen Meinung. Peregrinus ist ein introvertierter Einzelgänger, der sich erst durch die Hilfe des Flohs wieder traut hinaus zu gehen und in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Diese menschliche Gesellschaft, die er fürchtet, wird zunehmend interessanter für ihn, spätestens dann, als er Röschen kennenlernt. Er trauert nicht weiter seiner Vergangenheit nach, sondern findet nun auch Wunderbares in der Wirklichkeit und in mitten des Bürgertums. Anders als in Der goldene Topf, als sich Poesie und Bürgertum noch gegenseitig ausschlossen, findet Peregrinus, der sein kindliches Gemüt stets behielt, seine große Liebe Röschen und entdeckt damit für sich eine weitere Welt des Wunderbaren.

Die restlichen Tiere die im Märchen vorkommen tragen nur zur Gestaltung der Atmosphäre und zu poetisch-ästhetischen Zwecken bei. Der Insektenauflauf im zweiten Abenteuer beispielweise im Haus von Leuwenhoek beispielsweise wird mit ähnlichen Kontrastierungen geschildert, wie der unheimliche Auftritt der Regenwürmer und Schnecken in Die Königsbraut.

Die herausgearbeiteten Ergebnisse des Volksmärchens und des Kunstmärchens werden nun einander gegenübergestellt und verglichen.

[...]


[1] Oesterle, Günter: Einheit in der Differenz. Kunstmärchen versus Volksmärchen in der Romantik. In: Ortvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.v. (Hrsg.): Aspekte einer Epoche 2009, S. 9 -22, hier S. 9. Ab sofort zitiert als: Oesterle: Einheit in der Differenz.

[2] Oesterle: Einheit in der Differenz, S.14.

[3] Karlinger, Felix: Geschichte des Märchens im deutschen Sprachraum. Darmstadt 19882, S. 65. Ab sofort zitiert als: Karlinger: Geschichte des Märchens.

[4] Schnapp, Friedrich (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann s Briefwechsel. Ges. und erl. Von Hans von Müller und Friedrich Schnapp, Bd. 2 (1967), S. 47. (Brief vom 28. April 1815)

[5] Neuhaus: Märchen, S. 10.

[6] Steinecke, Hartmut: E.T.A. Hoffmann. In: Bunzel, Wolfgang (Hrsg.): Romantik. Epoche - Autoren - Werke. Darmstadt 2010, S. 168-182. Hier S. 174.

[7] Dazu mehr in: Röhrich, Lutz: Tabus in Bräuchen, Sagen und Märchen. In: Röhrich, Lutz (Hrsg.): Sage und Maerchen. Erzählforschung heute. Herder, Freiburg im Breisgau u. a. 1976, S. 125–142.

[8] Hierzu mehr in: Schenda, Rudolf: Das ABC der Tiere. München 1995.

[9] Esterl, Arnica; Solms, Wilhelm(Hrsg.):Tiere und Tiergestaltige im Märchen. Regensburg 1991, Vorwort S. 7.

[10] Hier mehr dazu in: Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. Baltmannsweiler 20015.

[11] Wöller, Hildegunde: Die hilfreichen Tiere. In: Esterl, Arnica; Solms, Wilhelm(Hrsg.):Tiere und Tiergestaltige im Märchen. Regensburg 1991, 146-161, hier S. 149f.

[12] Hierzu mehr in der Bewertung der jeweiligen Tabellen.

[13] Duden. Bd. 5: Das Fremdwörterbuch. „Moral“, S. 688.

[14] Mehr dazu in: Medina, John: Am Tor zur Hölle. Die Biologie der sieben Todsünden. Berlin 2002.

[15] Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm, S.45f.

[16] Dazu mehr in: Düwel, Klaus: Reineke Fuchs. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 11. Berlin/ New York 2004, Sp. 488–502.

[17] Mehr hier dazu: Jung, Carl, Gustav: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Breisgau 19928.

[18] Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm - Quellen und Studien. Gesammelten Ausätze. Trier 2000, S. 234.

[19] Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S. 84.

[20] Böhme, Gernot: Böhme Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996, S. 44. Ab sofort zitiert als: Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft.

[21] Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 41.

[22] Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 45.

[23] Adloff, Frank; Mau Steffen (Hrsg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt 2005, Vorwort S. 9.

[24] Blau, Peter M.: Sozialer Austausch. In: Adloff, Frank; Mau Steffen (Hrsg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt 2005, S. 125-137, hier S. 125.

[25] Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. Baltmannsweiler 2001, S. 84. Ab sofort zitiert als: Röhrich: Märchen und Wirklichkeit.

[26] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 86.

[27] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 82

[28] Beardsley, Christa-Maria: E.T.A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik. Die poetisch-ästhetische und die gesellschaftliche Funktion der Tiere bei Hoffmann und in der Romantik. Bonn 1985, S. 23. Ab sofort zitiert als: Beardsley, Christa-Maria: E.T.A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik.

[29] Die hier aufgeführten Daten stammen aus eigner Berechnung. (B.E.)

[30] Beardsley, Christa-Maria: E.T.A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik, S. 46.

[31] Beardsley, Christa-Maria: E.T.A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik, S. 58.

[32] Hier ist das Gedicht von Balthasar und dem Klavierkonzert von Sbioccia (SPW 1/1013,1016)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783955496098
ISBN (Paperback)
9783955491093
Dateigröße
375 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Stuttgart
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Märchenforschung Volksmärchen Kunstmärchen Tier Ernst Theodor Amadeus Hoffmann

Autor

Bianca Elser, B.A., wurde 1987 in Stuttgart geboren. Ihr Studium der Germanistik und der Geschichte schloss die Autorin im Jahre 2012 erfolgreich als Bachelor of Arts ab.
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Titel: Und wenn sie nicht gestorben sind…: Die Darstellung von Tieren in der Romantik anhand der Brüder Grimm und E.T.A. Hoffmann
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