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Sozioemotionale Dimension der Onlinebefragung: Eine methodenanalytische Betrachtung der Onlinebefragung in Abgrenzung zur Face-to-Face-Befragung

©2011 Diplomarbeit 86 Seiten

Zusammenfassung

Diese praktische Arbeit behandelt die sozioemotionalen Aspekte der Onlinebefragung, die in der Methodenliteratur kaum Beachtung finden. Ein Großteil der Methodenliteratur, die ihre Aufmerksamkeit auf die soziale Situation der Befragungsmethoden richtet, beschränkt sich auf die Analyse des persönlichen Interviews. Dabei wird die Tatsache vernachlässigt, dass auch bei der Onlinebefragung die soziale Situation auf die Güte der erhobenen Daten auswirkt. Die soziale Interaktion der Onlinebefragung findet wiederum im Rahmen der computervermittelten Kommunikation statt, die in dieser Arbeit zur Analyse der sozioemotionalen Dimension der Onlinebefragung herangezogen wird.
Die Analyse erfolgt durch den Vergleich der Onlinebefragung mit dem persönlichen Interview. Durch einen abgrenzenden Vergleich beider Methoden soll der enge Zusammenhang zwischen der verwendeten Kommunikationsform und der Methodeneffekte hervorgehoben werden. Die Arbeit mündet in einem psychologischen Experiment, bei dem Aspekte wie soziale Erwünschtheit, Rücklaufquoten, Abbruchquoten, Commitment oder Engagement, gemessen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3.4. Effekte der sozialen Situation im Forschungskontext

Der Umgang mit der sozialen Situation der Befragung gestaltet sich in Abhängigkeit von dem vertretenen Forschungsparadigma unterschiedlich. Atteslander (vgl. 2006, S. 121) unterscheidet zwischen den Instrumentalisten und den Interaktionisten:

Die Instrumentalisten sehen die soziale Situation des Interviews als ein Störfaktor an, der im höchsten Maße auszublenden ist. Nach dem watzlawickschen Verständnis wird die Hervorhebung der Inhaltsebene der Befragungskommunikation angestrebt. Daher legen die Instrumentalisten den Fokus auf die Perfektionierung des Fragebogens, der den Verlauf des Interviews möglichst genau festlegen soll. Dieser Vorgehensweise liegt das Stimulus-Response-Modell (S-R-Modell) zugrunde, bei dem die gegebenen Antworten (Reaktionen) auf die vorformulierten Fragen (Stimuli) zurückgeführt werden (vgl. Atteslander, 2006, S. 105). Dabei steht vor allem die Vergleichbarkeit der Messungen im Vordergrund, die durch den Rückgriff auf das stark strukturierte Interview erstrebt wird. Durch die Neutralität des Interviewers, der ja ein Teil des Stimulus ist, soll der Einfluss der sozialen Situation des Interviews minimiert werden.

Bei einer genaueren Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es sich bei der Neutralität um ein nicht vollständig realisierbares Ideal des wissenschaftlichen Forschens handelt: Zum Einen entziehen sich die Komponenten des nonverbalen Verhaltens des Interviewers der bewussten Kontrolle und enthalten zwangsweise sozioemotionale Informationen. Zum Anderen wird das angestrebte neutrale Verhalten des Interviewers - selbst bei einer noch so großen bewussten Regulierung - vom Befragten in irgendeiner Art als sozialer Hinweisreiz wahrgenommen und konnotativ verarbeitet. Verbale und nonverbale Reaktionen des Interviewers variieren in der Befragungssituation und werden in Abhängigkeit von Befragtenmerkmalen zu einem ‚Metastimulus‘ weiterverarbeitet. Bei der Beantwortung der Fragen stehen dem Befragten mehrere Antwortmöglichkeiten zur Verfügung, von denen er sich schließlich für eine entscheidet, um die gestellte Frage nach eigenem Ermessen adäquat zu beantworten. Dabei wird der Stimulus in die persönlichen Erinnerungen, Vorstellungen, Erwartungen, Ängste und Urteile eingebunden und zu einer Antwortreaktion geführt:

Not surprisingly, respondents first task consists in interpreting the question to understand its meaning. If the question is an opinion question, they may either retrieve a previously formed opinion from memory or may “compute” an opinion on the spot. To do so they need to retrieve the relevant Information from memory to form a mental representation of the target they are to evaluate. In most cases they also need to retrieve or construct some standard against which they can evaluate the target. After they form a “private” judgement they have to communicate it to the researcher. To do this, they may need to format the judgement to fit the response alternatives provided as a part of the question. In addition, they may wish to edit their response before they communicate it because of social desirability and situational factors. (Sudman, Bradburn, & Schwarz, 1996, S. 56-57)

Die Antworten des Befragten entsprechen also nicht immer der Realität. Sie werden im sozialen Kontext der Befragungssituation durch die Merkmale des Interviewers und des Befragten verzerrt. So können spontane Reaktionen des Interviewers vom Befragten als Hinweise der Zustimmung oder Missbilligung gedeutet werden (vgl. Diekmann, 2007, S. 440). Die Strukturierung des Interviews kann insofern nur auf den Fragebogen und nicht auf die soziale Situation der Befragung bezogen werden. Aus diesem Grund plädiert Atteslander dafür, grundsätzlich von teil-standardisierten Interviews zu sprechen, die sich lediglich im Grad der Strukturierung unterscheiden (vgl. Atteslander, S. 121).

Ein weiterer Schwachpunkt der starken Strukturierung ist die hohe Künstlichkeit der Kommunikationsform. Je neutraler der Interviewer sich verhält, umso mechanischer und künstlicher wird sein Verhalten. Dadurch kann es zu Kommunikationsstörungen kommen, die nicht bereinigt werden können (vgl. Möhring & Schlütz, 2010, S. 47): Sollten während der Befragung Missverständnisse auftauchen oder sozial heikle Themen angesprochen werden (z.B. extreme politische Positionen oder sexuelle Praktiken), so werden dem Interviewer kaum Freiheiten gewährt, um auf eine adäquate Art zu intervenieren. Aus diesem Grund muss der Fragebogen resistent gegenüber eventuellen Kommunikationsstörungen sein. Er sollte in höchstem Maß selbsterklärend sein und in einer Ausdrucksform verfasst sein, die für die Mitglieder des Befragtenpools gleichermaßen verständlich ist. Unter Umständen eignen sich stark strukturierte Interviews nicht für heikle Themen, die das Eingreifen des Interviewers erfordern.

Die Interaktionisten legen großen Wert auf die Erhebung der Daten im sozialen Kontext der Befragungssituation. Sie gehen davon aus, dass die Reaktionen der befragten Person nur im Zusammenhang der sozialen Situation zu verstehen seien (vgl. Atteslander, 2006, S. 121). Die soziale Situation wird nicht als Störfaktor, sondern als Bedingung der Reaktionsmessung angesehen. Bei diesem Ansatz werden auch Wirkfaktoren berücksichtigt, die über die Beziehung zwischen dem Interviewer und dem Befragten hinausgehen. Nach diesem Verständnis setzt sich der Stimulus der Befragung aus dem Fragebogen, dem Interviewer und aus den gegebenen Raum-Zeit-Faktoren wie der Umgebung und der Atmosphäre der Befragung zusammen. Diese Faktoren werden innerhalb des Stimulus-Response-Person-Modells (S-P-R-Modell) als Faktor ‚Person’ (P) berücksichtigt (vgl. Abb. 1). Die komplexe Situation der Befragung wird von Atteslander als ein Reaktionssystem beschrieben (2006, S. 104-106).

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Abb. 1: Interviewsituation als Reaktionssystem.

Gezeigt wird die Stimulusverarbeitung unter Berücksichtigung der kognitiven Informationsverarbeitung auf Seiten des Befragten. Quelle: Atteslander (2006, p. 106)

„Die im Fragebogen fixierte Sprache ist nicht nur soziale Realität, sondern sie schafft auch soziale Realität beim Befragten, indem sie das verbale Verhalten des Befragten steuert“ (Atteslander, 2006, S. 106, Hervorhebungen im Original). Die soziale Realität des Interviews kann nur unter den Bedingungen des wenig strukturierten Interviews annähernd erfasst und kontrolliert werden. Der Interviewer kann die Kommunikation mit dem Befragten in Gang bringen und darüber hinaus mögliche Verständnisprobleme klären. In einem vertrauen persönlichen Verhältnis kann er bei heiklen Fragen und sozial unerwünschten Themen einfühlsame Unterstützung anbieten, bei Äußerungsbarrieren und Hemmnissen unterstützend eingreifen. Der Nachteil dabei ist, dass trotz der aufwendigen Schulung des Interviewers, seine Persönlichkeitsmerkmale sein Verhalten mitbestimmen (vgl. Bortz & Döring, 2006, S. 238-239). Vor allem gestische und mimische Reaktionen des Interviewers können so in die soziale Situation des Interviews einfließen und Antwortverzerrungen bedingen.

Ein weiterer Faktor, der in der vorliegenden Arbeit bislang nicht ausreichend Erwähnung gefunden hat, ist die Umgebung, in der die Befragung durchgeführt wird. Je nachdem, wo das Interview stattfindet, (z.B. Zuhause, im Café, am Arbeitsplatz) umfasst die soziale Situation auch die Anwesenheit dritter Personen (vgl. Atteslander, 2006, S. 104; Möhring & Schlütz, 2010, S. 47; Diekmann, 2007, S. 468-469). So kann beispielsweise die Anwesenheit des Ehepartners bei der Beantwortung der Fragen zur Ehe-Zufriedenheit eine gewisse Zurückhaltung hervorrufen, wenn der Befragte bei bestimmten Antworten soziale Sanktionen fürchtet. Nimmt man dies alles zusammen, so wird deutlich, dass die Befragungsmethode kein neutrales Datenerhebungsverfahren sein kann und dass die soziale Situation der Befragung selbst unter Laborbedingungen in ihrer Komplexität nie vollständig erfasst und kontrolliert werden kann (vgl. Atteslander, 2006, S. 104). Die gegebenen Antworten entsprechen insofern nicht immer der wahren Ausprägung des interessierenden Merkmals. Sie sind vielmehr als Indikatoren des zu messenden Merkmals zu begreifen, die durch die soziale Situation verzerrt werden können. Als Antwortverzerrung bezeichnet Cronbach „any tendency causing a person consistently to give different responses to test items than he would when the same content is presented in a different form“ (1946, S. 24) definiert. Sie werden von Reinecke (vgl. 1991, S. 24-25) als Response-Set unter folgenden Arten zusammengefasst:

- Tendenz zu raten
- Tendenz zu lügen
- Tendenz zur Vollständigkeit
- Bevorzugung von mittleren und neutralen Antwortkategorien
- Bevorzugung von Extremkategorien
- Bevorzugung von Geschwindigkeit vor Genauigkeit
- Beurteilungsunterschiede bezüglich Kategorien
- Die inhaltsunabhängige Zustimmungstendenz
- Die Tendenz, sozial erwünscht zu antworten

Die Zustimmungstendenz und die Tendenz zur sozial erwünschten Antworten treten in der Befragungssituation systematisch auf, während die restlichen Arten von ‚ Response-Sets ’ unsystematisch auftreten (vgl. Reinecke, 1991, S. 24-25).

3.5. Zusammenfassung

Im Kapitel drei wurde die Reaktivität in Abhängigkeit vom Strukturierungsgrad die Künstlichkeit der Kommunikation vom persönlichen Interview dargelegt. Dabei wurden Vor- und Nachteile des persönlichen Interviews in Bezug zu interaktionistischen und instrumentalistischen Forschungsparadigmen behandelt. Als Besonderheit des persönlichen Interviews gilt - wie es auch schon die Bezeichnung ‚persönlich’ andeutet - die interpersonale Beziehung zwischen dem Interviewer und dem Befragten. Diese ist vom instrumentellen Charakter des Interviews abzugrenzen. In Anlehnung an Watzlawicks Kommunikationstheorie wurden die sozioemotionale Dimension des Interviews zur Beziehungsebene und die instrumentelle Dimension zu der Inhaltsebene der Befragung zugeordnet. Auf der Inhaltsebene geht es darum, Antworten auf sozialwissenschaftlich relevante empirische Fragen zu generieren. Auf der Beziehungsebene werden die Bedeutungen der inhaltlichen Kommunikation ausgehandelt.

Die beiden Ebenen stehen in einem engen Verhältnis zueinander und ergeben im Zusammenspiel die Metakommunikation des persönlichen Interviews. Die Kommunikation auf der Metaebene ist von der verbalen Kommunikation abzugrenzen, die nur einen Teil der Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Befragten abbildet. Auf der Metaebene fließen die nonverbalen Zeichen in die Kommunikation ein und werden zusammen mit der gestellten verbalen Frage zu einem „Metastimulus“ weiterverarbeitet. Bei diesem Prozess spielen die Merkmale des Befragten eine große Rolle und entscheiden maßgeblich über seine Kooperation mit dem Interviewer. Die Befragungssituation kann als ein multifaktorielles Reaktionssystem beschrieben werden, das aufgrund seiner Komplexität nie vollständig kontrolliert werden kann.

4. Grundlagen der Onlinebefragung

Die Online Befragung ist eine internetbasierte Form der Befragungsmethode, die neben der Beobachtungsmethode und der Inhaltsanalyse zu den drei wichtigsten Instrumenten der empirischen Sozialforschung zählt (vgl. Schnell, Hill, & Esser, 2008, S. 319; Taddicken, 2008, S. 37). Weitere Formen der webbasierten Datenerhebung lassen sich in reaktive und nicht-reaktive Verfahren unterscheiden. So differenziert Batinic (vgl. 2004, S. 252) auf Seiten der reaktiven Verfahren zwischen Onlinebefragungen, Web-Experimenten, Online-Interviews und Gruppendiskussionen im Web-Chat und auf Seiten der nicht-reaktiven Verfahren zwischen der Server-Log-Analyse und der Beobachtung in virtuellen Welten. Die Datenerhebung bei reaktiven Verfahren wird bedingt durch die Interaktion mit dem Untersucher und beeinflusst das (Antwort-) Verhalten. So tritt der Fragebogenteilnehmer in eine bewusste Interaktion mit dem Untersucher. Die erhobenen Daten müssen deshalb immer auf die Eigenschaften der sozialen Situation bezogen werden.

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Abb. 2: verbale und schriftliche Befragungsarten

Die Onlinebefragung wird als eine Unterart der schriftlichen Befragung dargestellt. Quelle: Taddicken (2008, p. 38)

Bei der Server-Log-Analyse werden hingegen die webbasierten Protokolldateien ausgelesen, die das Nutzungsverhalten der Untersuchungsteilnehmer im Web aufzeichnen. So werden Daten wie Zugriffe Downloads und Verweildauer auf den Webseiten gemessen und analysiert. In dieser Form der Datenerhebung tritt der Untersucher nicht in eine direkte Interaktion mit dem Untersuchungsteilnehmer. Deshalb handelt es sich bei der Server-Log-Analyse um ein nicht-reaktives Datenerhebungsverfahren. Taddicken (vgl. 2008, S. 37) beschreibt die Onlinebefragung als eine Unterart der schriftlichen Befragung (vgl. Abb. 2). Bei beiden Befragungsmethoden kommt kein Interviewer zum Einsatz, weshalb diese auch als ‚selbstadministrierte Befragung‘ bezeichnet werden.

4.1. Kommunikationsform der Onlinebefragung

Taddicken (2008) beschreibt die Befragung als „eine systematische, zielgerichtete und kontrollierte Kommunikation, die in klar definierten Frager- und Antwortrollen stattfindet [...]. Wie und über welches Kommunikationsmedium Interviewer und Proband kommunizieren, repräsentiert damit ein wesentliches Merkmal einer Befragung“ (S. 29). Sie hebt damit die Bedeutung des verwendeten Kommunikationsmediums hervor, das für die Kommunikation der Befragung maßgeblich ist. Die Onlinebefragung wird computervermittelt durchgeführt. Für das Zustandekommen von cvK sind mindestens zwei Computergeräte samt Ein- und Ausgabegräte (z.B. Monitor, Tastatur und Maus) erforderlich, die an getrennten Orten miteinander verbunden sind. Darüber hinaus ist auch der Einsatz von mobilen Endgeräten (z.B. Laptops, Smartphones, Tablet PCs) möglich. Wie es bereits der Begriff ‚computervermittelt’ verrät, besteht der Unterschied zu der Face-to-Face-Situation darin, dass die Kommunikation computerbasiert stattfindet. Im weitesten Sinne spielt es keine Rolle, ob die Verbindung beider Computer über das Internet oder über ein lokales Netzwerk realisiert wird. Die Onlinebefragung wird jedoch aufgrund der größeren Reichweite üblicherweise über eine Internetverbindung durchgeführt. Darüber hinaus können Befragungen über lokale Netzwerke (z.B. Mitarbeiterbefragungen in firmeneigenen Netzwerken) durchgeführt werden.

Internetdienste werden hinsichtlich zeitlicher Merkmale und Adressierungsmöglichkeiten unterschieden (vgl. Döring, 2004, S. 772; Misoch, 2006, S. 53; Hartmann, 2004, S. 675-676). Die zeitlichen Merkmale betreffen die Synchronizität der Kommunikation, bei der ein zeitgleicher Austausch zwischen den Beteiligten stattfindet. Als Paradebeispiel für die synchrone cvK dürfte der WWW-Chat gelten, bei dem die Beteiligten zur gleichen Zeit Informationen austauschen können. Bei der Email-Kommunikation und bei Foren oder Newsgroups werden die verfassten Texte dagegen zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgerufen und erwidert. In diesem Fall spricht man von asynchroner Kommunikation.

Die Unterscheidung der Internetdienste nach der Adressierungsmöglichkeit betrifft die Reichweite der Botschaften, die in drei Kategorien unterschieden wird:

- One-to-one: Gemeint ist die dyadische Kommunikationsstruktur, bei der zwei Personen miteinander kommunizieren.
- One-to-many: Wie es am Beispiel von Webseiten der Fall ist, adressiert der Kommunikator (Webseitengestalter) die Besucher seiner Homepage. Es gibt keinen Rückkanal, über den Mitteilungen empfangen werden können.
- Many-to-many: Bei dieser Art der Adressierung werden kollektive Botschaften ins Netz gestellt, die von allen Besuchern des Forums gelesen und beantwortet werden können (wie z.B. bei Internet-Foren).

4.2. Die Entkörperlichung der cvK

Die Alokalität und die Asynchronität der cvK ermöglichen die zeitliche und räumliche Flexibilität der Kommunikation. Die Kommunikation ist nicht mehr an Kopräsenz gebunden. Sie wird auf einen Web-Server verlagert und durch Computer vermittelt. Die Vermittlung durch den Computer hat dabei weitreichende Folgen für die Kommunikation. Die nonverbalen Kommunikationskanäle, die bei der Face-to-Face-Kommunikation greifen (vgl. Kap. 2.1), sind bei der cvK nicht in ihrer vollen Bandbreite verfügbar. Je nach Ausstattung des Computergeräts und der Auswahl des Internetdienstes (z.B. Chat) können zwar visuelle und auditive Kanäle angesprochen werden. Doch taktile, olfaktorische oder gustatorische Austauschformen sind nicht möglich. Sofern die notwendige Hardware (Webcam, Monitor, Mikrofon, Lautsprecher) verfügbar ist, können durch die Audiovisualität para-, und nonverbale Informationen wie Mimik oder Stimmeigenschaften beteiligter Personen vermittelt werden. Die Audiovisualität ist jedoch nach Qualität und Positionierung der Hardware in großem Maße eingeschränkt (vgl. Taddicken, 2008, S. 85). Die Körperlichkeit des Kommunikationspartners wird technologisiert. Die unmittelbare, lokale Interaktion findet mit dem Computer statt, wodurch bei der cvK die Aspekte der Mensch-Computer-Interaktion (MCI) und relevant werden (vgl. Krämer, 2004; Wandke, 2004).

4.3. Modelle der computervermittelten Kommunikation

Die Beschaffenheit und die Wirkungsaspekte der cvK sind wichtige Gegenstandsbereiche der Sozialpsychologie, die aus unterschiedlichen Ansätzen kontrovers diskutiert werden. Im Folgenden werden einige dieser Ansätze vorgestellt, die für die soziale Situation der Onlinebefragung relevant sind.

4.3.1. Kanalreduktionsmodelle

Die Kanalreduktionsmodelle lassen sich im Kern durch den Bezug auf textbasierte cvK erklären, bei der die Kommunikationsinhalte in Form von getippten Texten visualisiert werden. Aus heutiger Sicht sind diese Annahmen zu relativieren, da die cvK durch die zunehmende Multimedialität sich immer weiter von der Textlichkeit entfernt. Bei den Kanalreduktionsmodellen wird die Face-to-Face-Kommunikation als die idealtypische Form der menschlichen Kommunikation angesehen, die durch Emotionalität, Ambiguität, Unkalkulierbarkeit und durch Stimmungen geprägt ist (vgl. Döring, 2003, S. 149-150). Die Entkörperlichung der cvK führt nach Kanalreduktionsmodellen zum Verlust des sozialen Kontexts und zur Entmenschlichung der Kommunikation. In Folge dessen wird die Kommunikation entsinnlicht. Aus dieser Perspektive wird die cvK im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation als defizitär angesehen. Diesen Ansätzen liegt das S-R-Modell zugrunde, wonach alleinig die Eigenschaften des Kommunikationsmediums die Beziehung zwischen den Kommunikatoren bestimmen (vgl. Hartmann, 2004, S. 678). In Adaption zu Watzlawicks Kommunikationstheorie wird hier von Ausblendung der Beziehungsebene bei der cvK ausgegangen. Differenziertere Ansätze der Kanalreduktionsmodelle bilden die Filtertheorien „ Social Presence Theory“ (Short, Williams, & Christie, 1976), „ Social Cues Filtered out Approach“ (Kiesler, Siegel, & McGuire, 1984; Kiesler, 1986). Bei diesen Ansätzen wird nicht pauschal von einem Informationsverlust bei der cvK ausgegangen. Viel mehr nimmt man die Reduktion von sozialen Hinweisreizen in der cvK an, die mit der Herausfilterung von nonverbalen Informationen begründet wird.

In Bezug auf die sozioemotionale Dimension der cvK bildet die Social Presence Theory (Short, Williams, & Christie, 1976) einen wichtigen Ansatz, der sich mit der sozialen Präsenz der Kommunikationspartner beschäftigt. Die Autoren entwickelten ihren Ansatz im Kontext von medienvermittelten Konferenzen, bei denen Telefon- und Video-Kommunikation eine große Rolle spielen. Short et al. (1976) definieren die soziale Präsenz als „the degree of salience of the other person in the interaction and the consequent salience of the interpersonal relationships„ (S. 64). Die soziale Präsenz wird demnach als das Ausmaß verstanden, in dem die gefühlte Gegenwart einer Person wahrgenommen wird. Bei dieser Theorie handelt es sich, ähnlich wie bei der Social-Cues-Filtered-Out-Approach um einen technikzentrierten Ansatz. Die soziale Präsenz wird nicht als ein Konstrukt der Wahrnehmung, also als eine psychologische Größe, sondern als eine stabile Eigenschaft des Kommunikationsmediums verstanden:

We regard social presence as being a quality of the communications medium. Although we would expect it to affect the way individuals perceive their discussions, and their relationships to the persons with whom they are communicating, it is important to emphazise that we are defining social presence as a quality of the medium itself. We hypothesize that communications media vary in their degree of social presence, and that these variations are important in determining the way individuals act. (Short, Williams, & Christie, 1976, S. 65)

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Tab. 2: Rangfolge von Kommunikationsmedien bezüglich verfügbarer Kommunikationskanäle

Die cvK die besitzt die geringste Anzahl verfügbarer Kommunikationskanäle. Quelle: Taddicken (2008, p. 86)

Soziale Präsenz ist demzufolge eng an die Anzahl der Kommunikationskanäle geknüpft, die das Kommunikationsmedium zur Verfügung stellt. Dementsprechend kann bei der cvK kaum Intimität aufgebaut werden. Als Idealform der menschlichen Kommunikation wird die Face-to-Face-Kommunikation betrachtet, bei der alle Kommunikationskanäle zur Verfügung stehen. Die Kommunikationsmedien können nach den zur Verfügung stehenden Kommunikationskanälen in eine Rangfolge gebracht werden (vgl. Tab. 2) Diese Sicht von Short et al. wird allerdings im Kontext unterschiedlicher Nutzugsszenarien abgemildert. So kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Medien mit geringer sozialer Präsenz sich durchaus für Prozesse der Informationsvermittlung sowie für simple Aufgaben eignen (vgl. Short, Williams, & Christie, 1976, S. 158).

Beim Social-Cues-Filtered-Out-Approach wird von der Ausfilterung sozialer Hinweisreize ausgegangen, die in der Face-to-Face-Situation durch die Kopräsenz übertragen werden. Durch die Herausfilterung von sozialen Hinweisreizen kommt es bei der cvK zum Verlust von Informationen wie Alter, Aussehen, Status oder Körpersprache des Kommunikationspartners. Dieser Verlust führt schließlich zu Fehlinterpretationen und Abstimmungsschwierigkeiten. Darüber hinaus kommt es zu gefühlter persönlicher Anonymität, bei der die Ausrichtung des eigenen Verhaltens an sozialen Normen vermindert wird. Der Verlust von sozialen Informationen hat weitreichende Konsequenzen für das Kommunikationsverhalten:

When communication lacks dynamic personal information, people focus their attention on the message rather than on each other. Communicators feel a greater sense of anonymity and detect less individuality in others than they do talking on the phone or face-to-face. They feel less empathy, less guilt, less concern over how they compare with others, and are less influenced by norms. (Kiesler, 1986, S. 48)

In der anonymen Situation der cvK verschiebt sich der Aufmerksamkeitsfokus vom Kommunikationspartner auf den Kommunikationsinhalt. Die geringe soziale Präsenz des Kommunikationspartners führt dabei zur ungehemmten und antisozialen Verhaltensweisen. Weisband und Kiesler (1996) stellen fest, dass Probanden stärker zur Selbstoffenbarung neigen, wenn sie alleine vor dem Computerbildschirm sitzen, als wenn sie in Gesellschaft anderer Personen sind. Auch Kiesler (1986), konnte in Gruppeninteraktionen feststellen, dass bei cvK im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation mehr ungehemmte Äußerungen benutzt werden: „In all our experiments, group members spoke uninhibitedly when they used the computer, engaging in name calling or making personal remarks to others (computer buffs call this "flaming")“ (Kiesler, 1986, S. 53, Klammern im Original). Die ungehemmten, antisozialen Verhaltensweisen werden von den Autoren durch die Deindividuation in anonymen Situationen erklärt: „Indeed, computer-mediated communication seems to comprise some of the same conditions that are important for deindividuation-anonymity, reduced self-regulation, and reduced self-awareness” (Kiesler, Siegel, & McGuire, 1984, S. 1126). Kiesler et al. beziehen sich bei ihrem Ansatz auf eine pessimistische Auslegung der Deindividuation, die als die Ursache von antisozialem Verhalten angesehen wird. Es gibt jedoch andere Ansätze, die prosoziales Verhalten mit Deindividuation erklären. Die unterschiedlichen Auslegungen der Deindividuation bilden den Kern der Divergenz zwischen dem Social-Cues-Filtered-Out-Approach und dem Social-Identity-/Deindividuation-Modell, das im Folgenden vorgestellt wird. Daher erscheint es sinnvoll, sich vorher ausführlicher mit der Deindividuation zu befassen.

4.3.2. Deindividuation

Die Deindividuationsforschung erklärt in ihren Ursprüngen das aggressive Verhalten im Gruppendasein. Demnach verlieren Individuen in Gruppen das Gefühl der Individualität und vermindern ihre Selbstaufmerksamkeit und Selbstbeherrschung (vgl. Taddicken, 2008, S. 135-136). Im Zustand der verminderten Selbstaufmerksamkeit wird aggressives Verhalten (flaming) begünstigt. Diese Auslegung der Deindividuation konnte im Rahmen einer Metaanalyse von Postmes & Spears (1998) nicht belegt werden. Nach neueren Erkenntnissen ist die Deindividuation weniger mit Selbstaufmerksamkeit verbunden, als mehr mit dem „Untergehen in der Menge“ (Aronson, Wilson, & Akert, 2004, S. 330). Das Individuum orientiert sich dabei an den sozialen Normen dieser Gruppe. Entsprechend einer Metaanalyse von Postmes & Spears (1998) führt die Anonymität in der Gruppensituation zur Verringerung des Verantwortungsgefühls (vgl. auch Aronson, Wilson, & Akert, 2004, S. 330-331; Taddicken, 2008, S. 139-140). Das (aggressive) Verhalten wird durch die Übernahme von Normen der situativ salienten (antisozialen) Gruppennormen erklärt. Das Ausführen des aggressiven Verhaltens wird durch die Anonymität begünstigt.

Moreover the SIDE model predicts conformity to norms associated with the specific social identity of the group, rather then conformity to any general norms” (Postmes & Spears, 1998, S. 697).

Sind die Gruppennormen prosozial, so wird das Verhalten auch prosozial ausfallen.

4.3.3. Reproduktionshypothesen

Die Reproduktionshypothesen untersuchen die Mediennutzungsaspekte und bilden den Gegenpool zu den Filtertheorien, die sich mit den Aspekten der Medienwirkung befassen. Auch bei den Reproduktionshypothesen bleibt die Annahme der ‚schlanken’ Medienkommunikation erhalten, wonach bei der cvK nicht alle Kommunikationskanäle der Face-to-Face-Kommunikation zur Verfügung stehen. Bei den Reproduktionshypothesen wird jedoch der Faktor Mensch (Person; P) nach dem S-P-R-Modell (vgl. Kap. 3.4) stärker berücksichtigt. Die aktive Nutzung der Medien durch Menschen wird angenommen, bei der defizitären Eigenschaften der cvK durch konstruktive Leistungen des Nutzers kompensiert werden (vgl. Hartmann, 2004, S. 679-680).

Nach dem Social-Identity-/Deindividuation-Modell (SIDE-Modell) von Postmes, Spears & Lea (1998) führt die Filterung von sozialen Informationen zur Anonymität und zur Deindividuation der Kommunikationssituation. Die Deindividuation führt jedoch nach diesem Ansatz zur stärkeren Orientierung an sozialen Normen. Dieser Ansatz wird folgendermaßen erklärt: Die geringe soziale Präsenz des Interaktionspartners hat eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit des Nutzers zur Folge. Das Selbst wird jedoch durch die saliente soziale Gruppe (z.B. als Angehöriger einer bestimmten Altersgruppe oder einer beliebigen Interessengemeinschaft) definiert, zu der sich eine Person situativ zugehörig fühlt. Die Autoren erklären diesen Umstand mit dem Begriff der Depersonalisation:

Depersonalisation refers to the tendency to perceive the self and others not at individuals with range of idiosyncratic characteristics and ways of behaving, but as representatives of social groups or wider social categories that are made salient during interaction. (Postmes & Spears, 1998, S. 698).

Als Folge dessen richtet sich das Verhalten nach den Normen der situativ salienten sozialen Gruppe.

Nach dem Ansatz der sozialen Informationsverarbeitung (Social Information Processing Theory; SIPT) von Walther (1992) eignet sich die cvK durchaus für den Aufbau von sozialen Beziehungen. Der Autor kritisiert die Filtertheorien dahingehend, dass konkrete Nutzungsmotive und Nutzungsszenarien der cvK nicht berücksichtigt werden. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass die cvK aus unterschiedlichen Motiven unterschiedlich genutzt wird. Man geht von einem grundsätzlichen Motiv der Affiliation (Verbrüderung) und Nähe des Menschen aus (Walther, 1992, S. 68-69). Um diesen Motiven nachzukommen nutzen Menschen die wenigen sozialen Hinweisreize, die die cvK zur Verfügung stellt. Der Autor fasst seinen Ansatz folgendermaßen zusammen:

(a) certain drives, or relational motivators, may prompt communicators to (b) develop distinctive impressions of other interactants by decoding text-based cues and (c) derive psychological-level knowledge about other actors from CMC interaction. As this occurs, they (d) manage relational changes and encode relational messages in CMC.(Walther, 1992, S. 67, Hervorhebung im Original)

Zwar werden bei dieser Hypothese die technischen Defizite der cvK in Bezug auf die Beziehungsentwicklung nicht bestritten, doch es wird davon ausgegangen, dass diese im Rahmen der vorgegebenen technischen Bedingungen kompensiert werden. Nach diesem Ansatz kommt in der anonymen Situation der cvK das Gefühl der Unsicherheit auf, die ein Bedürfnis nach persönlicher Beziehung hervorruft. Dieses Bedürfnis wird durch die Reproduktion von sozialen Hinweisreizen und durch die Personifizierung des Kommunikationspartners anhand der zur Verfügung Informationen befriedigt. Dabei werden sozioemotionale Botschaften textbasiert enkodiert, computerbasiert vermittelt und vom Empfänger dekodiert (vgl. Walther, 1992, S. 70-80). So wird beispielsweise das Fehlen von unmittelbaren Mimiken in Form von ‚Emoticons’ (zusammengesetzt aus Emot ion und Icon wie z.B. Smiley :-) oder Frowny :-( sowie lol (l aughing o ut l oud)) in Textzeichen kompensiert und computervermittelt kommuniziert. Das Nutzungsverhalten des Kommunikationspartners, das sich im Schreibstil, in Antwortzeiten, und im Wortschatz niederschlägt, wird zur Eindrucksbildung und Personenwahrnehmung herangezogen. Gemäß dem watzlawickschen Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawick, 2007, S. 31) wird selbst die Antwortdauer oder das Nicht-Antworten in Form von chronometrischen Informationen als Hinweis auf Dringlichkeit, Pünktlichkeit, Unverbindlichkeit oder persönliche Distanz interpretiert.

Des Weiteren werden Kommunikationsmissverständnisse bei entsprechender Motivation durch erneutes Nachfragen reduziert. Es wird also insgesamt mehr Aufwand als bei der Face-to-Face-Kommunikation betrieben, um einen sozialen Kontext zu schaffen. Dieser Aufwand ist zum Teil an die Kompetenzen im Umgang mit dem Kommunikationsmedium gekoppelt. So muss der Nutzer eine gewisse Zeit aufwenden, um sich den Umgang mit der Technik und der Sprache von ‚neuen’ Kommunikationsmedien anzueignen.

4.3.4. Modelle der Auswahl

Die bisher genannten Theorien der cvK beziehen sich im Kern auf die sozioemotionale Nutzung des Internet (socio-emotional internet use) die sich mit den menschlichen Aspekten der Mediennutzung beschäftigen. Drüber hinaus gibt es auch Ansätze, die sich in Informations- und aufgabenbezogenen Nutzungskontexten (task-orinented/task-related internet use) mit der cvK auseinandersetzen (vgl. zur Übersicht Döring, 2004, S. 771; Hartmann, 2004, S. 685-687; Schaumburg & Issing, 2004; Weidemann, Paechter, & Schweizer, 2004). Diese Ansätze sind in organisatorischen oder lerntheoretischen Kontexten angesiedelt und beschäftigen sich damit, inwiefern die cvK innerbetriebliche Kommunikationsprozesse oder das Lernen effektiver und effizienter machen kann. Dabei kommt es mehr auf die optimale Passung von Kommunikationsmedium und der zu lösenden Aufgabe, als auf die pauschale Reichhaltigkeit des Kommunikationsmediums an. In aufgabenbezogenen Nutzungsszenarien werden der cvK durchaus positive Eigenschaften zugeschrieben. Als große Vorteile der cvK werden Alokalität, Asynchronität sowie Dokumentierbarkeit aufgeführt, die in Form von Informationsaustausch und -verwaltung neue Möglichkeiten der Kommunikation mit sich bringen.

In diesem Zusammenhang sind vor allem die ‚ Media-Richness-Theory ’ von Daft und Lengel (1986) und die ‚ Media-Synchronicity-Theorie’ von Dennis und Valacich (1999) zu nennen. Die ‚ Media-Richness-Theory’ trifft Aussagen darüber, welche Kommunikationsmedien sich für unterschiedliche Arten der aufgabenorientierten Nutzung am besten eignen. Die Theorie beschränkt sich allerdings auf gruppenbezogene kollaborative Arbeitsprozesse wie Planungsaufgaben, Verhandlungsaufgaben oder Entscheidungsaufgaben im unternehmerischen Kontext angesiedelt sind (vgl. Weidemann, Paechter, & Schweizer, 2004, S. 749). Sind bei der zu lösenden Aufgabe genügend Informationen vorhanden und es muss ‚lediglich’ eine Entscheidung getroffen werden, so sind persönliche Meinungen und Einstellungen der Gruppenmitglieder gefragt, um durch die vorhandenen Informationen einen gemeinsamen Konsens zu finden. Diese Aufgaben sind durch Mehrdeutigkeit/Unbestimmbarkeit (equivocality) gekennzeichnet und erfordern reichhaltigere Medien. Kann die Aufgabe jedoch durch logische Entscheidungen gelöst werden, ohne dass die persönlichen Einstellungen der Individuen benötigt werden, so ist diese Aufgabe von Unsicherheit (uncertainty) geprägt, die durch das Beschaffen von Informationen abgebaut werden kann. Diese Aufgaben (z.B. Planungsaufgaben, Brainstorming) erfordern keine reichhaltigen Medien, die persönliche Informationen übermitteln, wie es beispielsweise bei der Email- oder Chat-Kommunikation der Fall ist. Die Reichhaltigkeit des Mediums ist nicht bei jeder Aufgabe gefragt und setzt sich aus vier Merkmalen zusammen (vgl. Weidemann, Paechter, & Schweizer, 2004, S. 750):

- Sprachvielfalt (Sprache, Zahlen oder Codes),
- Vielfalt der Signale (z.B. nonverbale Informationen),
- Verknüpfung der Botschaft mit Informationen über Personen (soziale Präsenz),
- Schnelligkeit des Feedbacks.

Nach einem ähnlichen Prinzip gehen auch Dennis und Valacich (1999) vor, die nicht die Reichhaltigkeit, sondern die Synchronizität des Mediums in den Mittelpunkt ihres Ansatzes legen. Arbeitsprozesse der Verdichtung von Informationen (convergence), die von Mehrdeutigkeiten gekennzeichnet sind, erfordern eine hohe Synchronizität und Arbeitsprozesse der Übermittlung/Verteilung von Informationen (conveyance), die eher von Unsicherheiten gekennzeichnet sind, erfordern eine geringe Synchronizität. Die Güte der Synchronizität konstruiert sich aus folgenden Merkmalen (vgl. auch Weidemann, Paechter, & Schweizer, 2004, S. 752):

- Symbolvielfalt (vgl. Medienreichhaltigkeit),
- Parallelität (Synchronizität),
- Überprüfbarkeit (Korrektur- und Bearbeitbarkeit)

4.4. Zusammenfassung

In Bezug zur technischen Beschaffenheit der cvK gibt es einen weitreichenden Konsens darüber, dass bei der cvK wenige Kommunikationskanäle zur Verfügung stehen. Diese Annahme trifft vor allem bei der textbasierten cvK zu. Die Kanalreduktions- und die etwas differenzierteren Filtertheorien sind technikzentrierte Ansätze der cvK, die deterministische Wirkungen des Kommunikationsmediums annehmen. Bei den Filtertheorien wird die Anzahl der zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle zur Bestimmung des Konstrukts der sozialen Präsenz herangezogen. Diese Theorien berücksichtigen den Faktor Mensch nicht ausreichend und schließen von den Eigenschaften des Mediums auf die Eigenschaften der Kommunikation. Das aktive Nutzungsverhalten und der konstruktive Umgang des Menschen mit den Medien werden dagegen bei den Reproduktionshypothesen als Wirkfaktor der cvK berücksichtigt. Nicht nur die technischen Eigenschaften der Medien, sondern auch der Umgang des Nutzers mit dem Medium wird zur Analyse der cvK herangezogen. Dabei geht man von einem grundlegenden Bedürfnis des Menschen nach sozialer Identität und Intimität aus, die ihn zur Schaffung von kreativen, neuen Umgangs- und Ausdrucksmöglichkeiten motiviert.

Vor dem Hintergrund der aufgabenbezogenen Nutzung (task-orinented/task-related Internet use) werden der cvK positive Eigenschaften zugeschrieben. Sozioemotionale Faktoren werden in Abhängigkeit der zu lösenden Aufgabe als Störfaktor angesehen. Daher ist es ratsam, in bestimmten Nutzungsszenarien wie z.B. beim Brainstorming schlanke Medien zu nutzen, die sozioemotionale Informationen zur Gunsten der Findung von kreativen Ideen ausblenden.

5. Die Kommunikationssituation der Onlinebefragung

Wie bereits im Kapitel vier festgestellt, basiert die Kommunikation der Onlinebefragung auf cvK. Die lokale Interaktion während der Befragung findet also mit dem Computer und nicht mit dem Untersucher statt. Für die nähere Betrachtung der sozioemotionalen Dimension der Onlinebefragung ist es daher wichtig, sich zunächst einmal mit den Nutzungsbedingungen der Onlinebefragung zu befassen.

5.1. Nutzungsbedingungen der Onlinebefragung

Bei den internetbasierten Befragungen wird der Fragebogen nach der Programmierung auf einem Web-Server abgelegt. Die Erstellung des Fragebogens erfolgt entweder in Form von statischen HTML-Seiten oder anhand einer Befragungssoftware, die auf dem Server läuft. Der befragten Person wird in der Regel die Web-Adresse mitgeteilt, unter welcher der Fragebogen abgelegt ist. Bei personalisierten Befragungen erhält der Befragungsteilnehmer zusätzlich noch einen zufallsgenerierten Zugangscode, mit dem er sich den Zugang zum Fragebogen verschaffen kann. Ist der Fragebogen ausgefüllt, so wird der Zugangscode gesperrt. Auf diese Weise werden Mehrfachteilnahmen und die Teilnahme von unbefugten Personen unterbunden.

Der programmierte Fragebogen ähnelt den Formularen, welche man aus Papier-Bleistift-Befragungen kennt. Die Inhalte des Fragebogens werden auf dem Computerbildschirm visualisiert. Die gestellten Fragen werden in Textform dargeboten, wobei dem Befragten mehrere Antwortmöglichkeiten vorgegeben werden. So wird beispielsweise anhand einer Likert-Skala die Einstellung des Befragten zu einem bestimmten Thema gemessen. Die Werte der Skala werden in Form von Checkboxen oder Radio-Buttons dargestellt, die vom Fragebogenteilnehmer durch einen Mausklick ausgewählt werden können. Die ausgewählten Skalenwerte werden durch die Computersoftware in statistische Kennwerte umgewandelt. Soweit schon statistische Auswertungsprozeduren feststehen, können diese in die Befragungssoftware integriert werden. So können bereits während der Feldphase erste Reportings erstellt werden. Weitere softwarebasierte, automatisierte Funktionen sind:

- Filterführung (Weiterleitung zur nächsten Frage bzw. zum nächsten Frageblock, anhand der vorher beantworteten Filter-Frage)
- Personalisierung (z.B. Anrede des Teilnehmers mit persönlichem Namen)
- Randomisierung (rotierte Darbietung von Fragen und Fragenblöcken)
- Quotensteuerung (z.B. gleiche Quoten für männliche und weibliche Teilnehmer)
- zufallsgenerierte Zuweisung der Teilnehmer zu Teilnehmergruppen
- Plausibilitätschecks (Prüfung der Antworten auf Logik)

Neben den gegebenen Antworten werden in den sogenannten ‚ Server-Log-Files ’ Eckdaten über die Interaktion des Befragten mit dem Online-Fragebogen protokolliert. Diese Daten enthalten Informationen wie Verweildauer auf den Befragungsseiten, Navigation durch den Fragebogen oder Zeiten der Teilnahme, der Unterbrechung und der Vervollständigung des Fragebogens. Anhand dieser Informationen können Teilnehmerprofile erstellt werden und Rückschlüsse auf den Fragebogen oder auf den Untersuchungsgegenstand gezogen werden. Neben den geschlossenen Fragen können auch offene Fragen gestellt werden, die in vorgegebenen Texteingabefeldern beantwortet werden können. Weitere Formen der Antwortabgabe werden durch interaktive Eingabetools (z.B. in Drop-Down-Menüs, Schieberegler) ermöglicht (vgl. zur Übers. Wandke, 2004, S. 89-97). Die Vorteile der Onlinebefragung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen (vgl. Batinic, 2004, S. 254-255):

Asynchronität: Ähnlich wie bei Paper-Bleistift-Befragungen sind die Probanden zeitlich ungebunden. Sie können selbst bestimmen, wann sie den Fragebogen ausfüllen.

Alokalität: Ähnlich wie bei Paper-Bleistift-Befragungen sind die Probanden räumlich ungebunden. Durch einen Zugang ins Internet kann der Fragebogen an jedem beliebigen Ort ausgefüllt werden. Die räumlichen Barrieren sind nicht mehr relevant, lediglich die Hardware muss zugänglich sein.

Automatisierbarkeit und Objektivität: automatisierte Funktionen wie Filterführung und Randomisierung oder die statistische Aufbereitung der Daten schließen Menschenbedingte Fehler gänzlich aus.

Objektivität der Durchführung: Durch den Verzicht auf den Interviewer findet keine direkte Interaktion mit dem Befragten statt wodurch der Befragte in seinem Antwortverhalten nicht beeinflusst wird. Durch die computerbasierte Durchführung werden Interviewer-bedingte Fehler gänzlich ausgeschlossen.

Ökonomität: Bei Onlinebefragungen entfallen die Druck-, Versand-, und Portokosten. Darüber hinaus können Kosten, die durch den Interviewer und durch die Inanspruchnahme eines Labors entstehen, können eingespart werden. Allerdings können zusätzliche Kosten in Bezug auf die Programmierung des Fragebogens und auf die Bereitstellung der Serverkapazitäten entstehen.

Multimedialität: Die Einbindung von audiovisuellen Elementen erlaubt die gleichzeitige Darbietung des Stimulusmaterials in unterschiedlichen Medienformaten.

Die Verwendung der Computertechnologie bringt auch Nachteile mit sich: Die starke Variation der verwendeten Hard- und Software (Monitor, Tastatur, Lautsprecher, Übertragungsgeschwindigkeit, Betriebssystem, Browser) erschwert die Kontrolle über die Technik. Daher sind die Möglichkeiten der Multimedialität durch die Hardwarebedingungen stark eingeschränkt. Sie sollten bei der Gestaltung des Fragebogens berücksichtigt werden (vgl. Welker, Andreas, & Joachim, 2005, S. 88).

Die lokale Interaktion der cvK findet zwischen dem Untersucher und dem Computer, bei der die Bedingungen der Mensch-Computer-Interaktion gelten (MCI). Zur benutzerfreundlichen Gestaltung der MCI gibt es unterschiedliche Kriterien der Usability (Benutzerfreundlichkeit). Den Kern dieser Kriterien bilden die Eigenschaften der Effektivität, Effizienz und Zufriedenstellung. Die am meisten verbreitetesten Usability -Kriterien sind die der ISO-Normreihe 9241 (vgl. Krämer, 2004, S. 655; Wandke, 2004, S. 332-334). Diese sind wie folgt bestimmt sollten auch bei der Gestaltung der Onlinebefragung berücksichtigt werden.

- Aufgabenangemessenheit (lassen sich die Aufgabenziele erreichen?)
- Selbstbeschreibungseffekt (sind die Inhalte verständlich?)
- Steuerbarkeit (ist die Beeinflussung der Informationsdarstellung möglich?)
- Erwartungskonformität (werden Vorerfahrungen mit ähnlichen Systemen berücksichtigt?)
- Fehlerrobustheit (werden z.B. die Eingaben automatisch korrigiert?)
- Individualisierbarkeit (werden unterschiedliche Benutzerprofile berücksichtigt?)
- Lernförderlichkeit (kann die Nutzung ohne großen Aufwand erlernt werden?)

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955497170
ISBN (Paperback)
9783955492175
Dateigröße
3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Onlinebefragung Methodenanalyse Sozioemotionale Dimension Computervermittelte Kommunikation Methodeneffekt

Autor

Tayyar Cengiz wurde 1977 in der Türkei geboren und kam 1990 nach Deutschland. Nach der allgemeinen Hochschulreife schloss der Autor eine Ausbildung zum Mediengestalter für Bild und Ton ab und begann danach sein Studium an der Universität zu Köln mit den Schwerpunkten Medienpsychologie, Medienkulturwissenschaft und Wirtschafts- und Sozialpsychologie. Im Jahre 2011 schloss der Autor sein Studium mit dem akademischen Grad der Diplom Medienwissenschaft mit überdurchschnittlichen Leistungen ab. Bereits seit seiner Ausbildung sammelte der Autor umfassende praktische Kenntnisse aus den Bereichen der Medienproduktion, Werbung, Marketing und PR. Seine Tätigkeit in verschiedenen Bereichen der Markt- und Medienforschung motivierten ihn, sich im Rahmen seiner Diplomarbeit tiefgehend mit der Thematik der Methodeneffekte der Online- und Face-to-Face Interviews zu beschäftigen. Von der Humanwissenschaftlichen Fakultät wurde er hierfür mit der Bestnote ausgezeichnet.
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Titel: Sozioemotionale Dimension der Onlinebefragung: Eine methodenanalytische Betrachtung der Onlinebefragung in Abgrenzung zur Face-to-Face-Befragung
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