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"Perfect lovers" oder nur "two alien bodies"? Zur Konzeption von Liebe in ausgewählten Beispielen der Literatur der Neuen Sachlichkeit und der Pop-Literatur

©2009 Examensarbeit 68 Seiten

Zusammenfassung

Sowohl die Literatur der Neuen Sachlichkeit, die sich in der Zeit der Weimarer Republik konstituierte, als auch die seit Ende der sechziger Jahre als Pop-Literatur bekannte Strömung ist seit ihrer jeweiligen Entstehung massiver Kritik ausgesetzt.
Technik-, Zerstreuungs- und Massenkult sowie eine affirmative, den Faschismus fördernde Tendenz werden der Neuen Sachlichkeit - ähnliches ebenso der Pop-Literatur - vorgeworfen. Viele Kritikpunkte werden dabei aufgrund einer ähnlichen Programmatik und Ästhetik an beide Bewegungen gerichtet.
So wird u.a. der „Habitus“ der in den jeweiligen Romanen auftretenden Protagonisten kontrovers diskutiert: Sowohl der „kalten Persona“ der neusachlichen Literatur als auch dem arroganten Pop-Enzyklopädisten der Pop-Literatur wird eine eklatante Gefühlskälte vorgeworfen. Es wird sogar der „Boykott des Gefühls“ unterstellt.
Dass das klassische romantische Liebesideal weder in der Literatur der einen noch in der der anderen proklamiert wird, ist tatsächlich augenscheinlich und soll auch gar nicht zur Debatte stehen. Dass aber die Liebe trotz Versachlichung und Entsentimentalisierung nach wie vor thematisiert wird, soll anhand der ausgewählten Romanbeispiele Gilgi - Eine von uns (1931) von Irmgard Keun, Soloalbum (1998) von Benjamin von Stuckrad-Barre und Busfahrt mit Kuhn (2004) von Tamara Bach gezeigt werden.
Allerdings stellt sich die Frage, ob man auch in den Romanen der Neuen Sachlichkeit und der Pop-Literatur, deren Wirklichkeit sich schließlich an einer modernen und sich zunehmend medialisierenden Wirklichkeit orientiert, „Perfect lovers“ findet - nur eben nicht im Sinne eines der Romantik entsprechenden Ideals; oder ob der Liebe durch die „Topoi der Kälte“ jegliche Basis entzogen wird und sich somit nur noch „two alien bodies“ gegenüber stehen, die eine rein sachliche, körperbezogene Sexualität einem tieferen Gefühl vorziehen.
Weiterhin soll der Konstruktion von Identität - inmitten der Allgegenwärtigkeit von Medien und Massenkultur - und der Funktion von Musik im literarischen Text nachgegangen werden. Überdies wird zu untersuchen sein, inwieweit sich Parallelen zwischen der Literatur der Neuen Sachlichkeit und jener des Pop finden lassen, und ob man gar bei der Pop-Literatur von einer Neuauflage der Neuen Sachlichkeit sprechen kann.
Dieser Vergleich soll nicht nur literaturhistorisch erfolgen, sondern auch in den verschiedenen Teilen dieser Arbeit fortgeführt werden. Die Untersuchung wird sich daher sowohl auf […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Pop-Literatur als Neuauflage
der Neuen Sachlichkeit
2.1 Die Neue Sachlichkeit im Kontext der "Goldenen
Zwanziger": Reaktion auf eine zerrissene Gesellschaft?
Auf die Zeit der Weimarer Republik, und vor allem auf den Zeitraum der
,,relativen Stabilisierung"
10
von 1924-1929, wird häufig mit dem Begriff der
Goldenen Zwanziger Bezug genommen. Diese Bezeichnung suggeriert
Prosperität und Stabilität, blendet jedoch einen Großteil der tatsächlichen
Wirklichkeit in der Gesellschaft und Ökonomie der Weimarer Republik aus.
Denn auf der einen Seite halten Charleston, Kabarett, Kino und neue
technische Errungenschaften Einzug in die deutsche (vor allem großstädtische)
Gesellschaft; gleichzeitig wird das Bild der ,,Neuen Frau", die unabhängig und
emanzipiert ihren Bubikopf trägt, raucht und ,,sportelt"
11
proklamiert.
Insbesondere in Berlin wird diese neue und glitzernde Großstadt- und
Zerstreuungskultur gefeiert ­ aber eben nur von denjenigen, die die
notwendigen finanziellen Mittel besitzen.
Auf der anderen Seite stehen jene, die durch die Inflation ­ mit ihrem
Höhepunkt im Spätherbst 1923 ­ ihre Ersparnisse verloren haben, die
zahlreichen psychisch oder physisch geschädigten Kriegsrückkehrer und die
30% (1923) bzw. 8-10% (ab 1924)
12
Arbeitslosen. So sind diese ,,goldenen"
Jahre ,,weitgehend Jahre einer geborgten Prosperität, hinter deren glitzernder
Fassade viel Not und Armut [weiterbesteht]"
13
.
Auch politisch ist diese neu gegründete Republik wenig stabil. Die
divergierenden Vorstellungen der politischen Lager werden schon bei der
Gründung der Weimarer Republik deutlich. So ruft zunächst Philipp
Scheidemann am 8. November 1918 um 2 Uhr die ,,Deutsche Republik" aus,
während Karl Liebknecht zwei Stunden später die ,,Freie sozialistische
Republik Deutschland" verkündet
14
. Dass die verschiedenen Lager beide der
Linken angehören, zeigt, dass selbst innerhalb der gleichen politischen
Richtung ein Machtgerangel herrschte. In den nachfolgenden Jahren finden
daher ­ vor allem im Kontext von Inflation und Arbeitslosigkeit in den ersten
10
Hermand, Jost / Trommler, Frank: Die Kultur der Weimarer Republik. Frankfurt 1988,
S. 23.
11
Z.B. bei Marieluise Fleißer: Mehlreisende Frieda Geier. Roman vom Rauchen, Sporteln,
Lieben und Verkaufen (1931). [Hervorhebung E.S.]
12
Hermand/Trommler 1988, S. 27.
13
Ebd.,
S.
26f.
14
Ebd.,
S.
14.
3

Jahren der Weimarer Republik ­ zahlreiche Aufstände, Generalstreiks und
Putschversuche statt.
Zudem verschieben sich die Machtverhältnisse mehrmals zu Gunsten der
rechtsradikaleren Parteien. Vor allem der Justiz- und Staatsapparat steht klar
auf der Seite der Rechten, was insbesondere an der unverhältnismäßigen
Verurteilung von politisch motivierten Taten deutlich wird: Während Linke
grundsätzlich öfter und härter bestraft werden, werden Rechte entweder gar
nicht vor Gericht gestellt oder nur milde bestraft
15
.
In diesem Milieu konstituierte sich Ende November 1925 die Gruppe 1925 um
,,ein wirkungsvolles Vorgehen gegen die freiheitsberaubende Verfolgung
liberaler und Linker Schriftsteller durch die noch preußischen Behörden in
Gang zu setzen."
16
Diese Gemeinschaft aus ca. 50 Schriftstellern bildete sich
zunächst, um die Schriftstellerfreiheit zu verteidigen, bezog aber durch die
Bemühungen Alfred Döblins zunehmend ästhetische Gesichtspunkte bzw.
Diskussionen um diese in die Gruppe ein. Gleichzeitig wurde ­ ebenfalls
angetrieben von Döblin ­ eine bessere Organisation der vormals zwanglosen
und ,,auf dem Gefühl der Gemeinschaft"
17
beruhenden Gruppierung forciert.
Letztlich führte dies aber zur allmählichen Auflösung der Gemeinschaft.
18
Die
Gruppe 1925 ist insofern von Bedeutung, als sie bezeichnend für die
Organisation und Programmatik der Anhänger der Neuen Sachlichkeit ist. Auf
Grund ihres ,,zurückgenommenen Öffentlichkeitscharakters"
19
wird sie jedoch
von der Forschung wenig ernst genommen und nur unzureichend
berücksichtigt. In diesem Zusammenhang wird, wie Sabina Becker konstatiert,
auch die Rolle, die die neusachliche Literatur in der Weimarer Republik spielte,
lange ignoriert.
20
15
Ebd.,
S.
21f.
16
Dandjinou,
Hugues
Gérard:
Modernistische Erzähltechniken im Roman der Weimarer
Republik. Studien zur Ästhetik des neusachlichen Romans. Aachen 2007, S. 31.
17
Ebd.,
S.
32.
18
Ebd.,
S.
32-34.
19
Becker,
Sabina:
Die literarische Moderne der zwanziger Jahre. Theorie und Ästhetik der
Neuen Sachlichkeit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
2002, S. 94.
20
Becker, Sabina / Weiß, Christoph (Hrsg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue
Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart/Weimar 1995, S. 7.
Sabina Becker weist zwar darauf hin, dass es v.a. Lethen, Denkler und Prümm zu
verdanken ist, dass die Literatur der Neuen Sachlichkeit als Forschungsobjekt wieder
aufgegriffen wurde. Jedoch räumt sie in ihrer Monographie mit vielen bis dato verbreiteten
Urteilen über die Neue Sachlichkeit auf. So insistiert sie zum einen auf die Anerkennung
der Literatur der Neuen Sachlichkeit als letzte Phase der literarischen Moderne, verneint
die von Lethen und anderen vorgeworfene Verherrlichung der Zerstreuungskultur und
beweist anhand dokumentarischen Materials u.a. von Döblin, Fleißer und Feuchtwanger,
dass die Entstehung der literarischen Neuen Sachlichkeit nicht vorrangig an die
neusachliche Malerei gebunden war und der Begriff der Neuen Sachlichkeit nicht erst
durch Gustav Friedrich Hartlaubs Kunstausstellung "Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei
seit dem Expressionismus" geprägt wurde. Stattdessen verweist sie auf eine enge
Verbindung zur Architektur der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts und auf die
programmatischen Ähnlichkeiten zur Bewegung des Berliner Dadaismus.
4

Dieser zurückgenommene, wenig offensive Charakter der Gruppe 1925 und
anderer Autoren der Neuen Sachlichkeit ist jedoch nicht nur für ihre Anhänger
programmatisch, sondern ebenso für die Literatur der Neuen Sachlichkeit
selbst ­ denn die ,,Entauratisierung und Entliterarisierung von [...] Kunst und
Literatur"
21
und im Zuge dessen auch ihres Autors war eine der Bestrebungen
dieser Bewegung, die darauf fokussiert war, eine massenverständliche und
nützliche Gebrauchsliteratur zu entwerfen. Dabei sollte sich der Autor soweit
wie möglich zurücknehmen und die Dinge wahrheitsgetreu wiedergeben. Diese
,,Orientierung an Zeitlichkeit und Faktizität"
22
qualifiziert die in der
neusachlichen Literatur bevorzugten Romane als ,,Zeitromane" und den Autor
als einen ,,Vivisekteur der Zeit".
23
Der Versuch, eine möglichst objektive, nüchterne, präzise, aktuelle und
wahrheitsgetreue Darstellung der Zeit zu erreichen, bewirkt eine Annäherung
der neusachlichen Literatur an publizistische Schreibweisen und ihre generelle
Öffnung für Verschränkungen verschiedener Gattungen oder die Entstehung
neuer Genres
24
.
Darüber hinaus werden zunehmend auch Methoden der neuen Medien ­
Rundfunk, Fotografie und Kino ­ in die Literatur integriert. Der Bruch mit der
traditionellen Literatur bzw. mit dem traditionellen Bildungs- und
Entwicklungsroman manifestiert sich nicht nur in der Erzählform, sondern
besonders deutlich auch in der Erzählweise und Darstellung der Protagonisten.
Sabina Becker spricht im Zusammenhang mit dieser Darstellung von
,,Antipsychologismus, Entsentimentalisierung und Antiindividualismus".
25
Der
neusachliche Protagonist ist kein klassischer Romanheld mehr, sondern
lediglich eine für einen bestimmten sozialen Typus stehende Figur (im Falle
von Irmgard Keuns Gilgi steht Gilgi für die soziale Schicht der Angestellten),
die einen für die Weimarer Republik und für diesen Typus repräsentativen
Alltag erlebt.
26
Dieser Alltag überschneidet sich durchaus mit den als typisch
neusachlich kategorisierten Sujets wie Girlkultur, Sport, Technisierung,
Massenkultur und Massenmedien. Allerdings ,,wird diese umgebende
Atmosphäre nur bedingt [...] hervorgehoben und nur dann, wenn es um eine
Eine genaue Darstellung dieser Aspekte ist der Monographie von Sabina Becker: Neue
Sachlichkeit. Band 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933). Band 2:
Quellen und Dokumente. Böhlau, Köln u.a. 2000 zu entnehmen, da aus Umfangsgründen
dieser Arbeit nicht
auf sämtliche erwähnenswerten Punkte und Kontroversen tiefer
eingegangen werden kann.
21
Becker 2002. S. 95.
22
Becker/Weiß 1995, S. 10.
23
Ebd.
24
Becker, 2002. S. 82f.
25
Ebd.,
S.
76.
26
Ebd.,
S.
88-93.
5

ironische Auseinandersetzung mit dieser Welt geht".
27
Auch Becker verneint
,,jenen von Lethen konstatierten ,Habitus des Einverständnisses` gegenüber der
gesellschaftlichen Modernisierung in den zwanziger Jahren"
28
ebenso wie die
von Carl Wege vorgeworfene ,,technophile [...] Attitüde"
29
. ,,Im Gegenteil
zielen Postulate der Gebrauchskunst und Funktionalisierung darauf, eine
engagierte Literatur einzusetzen, die sich mit den Problemen der
Nachkriegszeit und der Krisensituation der Weimarer Republik
auseinandersetzt."
30
Die dargestellten Figuren werden zwar innerhalb dieser urbanisierten und
modernisierten Umwelt dargestellt und wissen sich auch darin zu bewegen ­ es
finden sich jedoch nicht wenige literarische Figuren, die an diesem fiktiven
Abbild der Lebenswelt der Weimarer Republik scheitern. Programmatisch für
neusachliche Romane ist daher auch ein offenes Ende und das fehlende Happy
End, was getreu ihrer Maxime einer realitätstreuen Darstellung dem Schicksal
des typischen ,Jedermanns` in dieser unsicheren Zeit auch glaubhafter
entspricht.
Damit die Protagonisten stellvertretend für eine bestimmte soziale Schicht
stehen, wird eine tiefer gehende, individualisierende Charakterisierung ihrer
Persönlichkeit vermieden und statt einer Individual- eine Sozioanalyse
angestrebt. Die Figuren werden gewissermaßen nur porträtiert
31
, d.h. von
außen betrachtet. Das entspricht einer filmischen Schreibweise
32
, denn der
Leser sieht nur das, was auch das Kameraauge sehen würde. Der Fokus liegt
auf dem Visuellen ­ die Handlungen der Figuren sind also das, was den Leser
auf ihren Charakter schließen lässt. Diese Art der Darstellung geht einher mit
der konsequenten Vermeidung jeglicher Psychologisierung der Figur. So wie
die Autoren der Neuen Sachlichkeit alles Überflüssige verachten
33
und eine
,,unpathetisch[e], schmucklos[e], unsentimental[e] und knapp[e] ,,sachliche"
Ausdrucksweise", sowie eine Sprache ,,ohne lyrisches Fett"
34
bevorzugen, so
stellen sich auch ihre Figuren dar. Sie erscheinen nüchtern und rational und
halten sich an die in Matzkes Text zitierte Maxime von Thomas Theodor Heine
,,Tragik ist Privatsache"
35
. Diese Art des Erzählens und diese Darstellung der
Figuren ist die Grundlage dessen, was der Strömung den Vorwurf der
27
Dandjinou
2007,
S.
238.
28
Becker/Weiß
1995,
S.
19.
29
Wege
1994,
S.
332.
30
Dandjinou 2007, S. 237.
31
Ebd.,
S.
240.
32
Becker,
Sabina:
Literatur der Weimarer Republik. Literaturgeschichte als
Mediengeschichte. In: Der Deutschunterricht, Heft 6/2003, S. 60.
33
Matzke
1930,
S.
55.
34
Becker 2002, S. 79.
35
Matzke
1930,
S.
53.
6

Seelenlosigkeit und Gefühlskälte und ihren Autoren die Bezeichnung
,,Generation ohne Gemüt"
36
eingebracht hat. Diese Attribute werden vor allem
dann nachvollziehbar, wenn die Art des Schreibens mit der des
vorangegangenen Expressionismus verglichen wird, bei dem es vor allem
darum ging, die Dinge zu ,,beseelen" und die Tiefen der menschlichen Natur
und des menschlichen Gefühls auszuloten. Da die neusachliche Bewegung vor
allem auf der Basis der Ablehnung des Spätexpressionismus, also als
antiexpressionistische Bewegung entstanden ist, gehört dieser radikale Bruch
mit den expressionistischen Charakteristika durchaus zur Zielsetzung der
Neuen Sachlichkeit. Allerdings will Matzke Sachlichkeit nicht mit
Gefühllosigkeit verwechselt sehen
37
und auch Dandjinou, Becker und andere
lehnen eine einseitige Pauschalisierung und Stigmatisierung in diese Richtung
ab.
Trotz aller Kritik hat die Neue Sachlichkeit bis heute ihre Spuren
hinterlassen
38
. Vor allem durch die Verschmelzung mit anderen Gattungen, den
Einbezug von medialen Methoden wie z.B. der Montagetechnik und der
filmischen Schreibweise sowie der Integration von dokumentarischem Material
(zeitgenössische Zitate, Reklamesprüche, Schlager- und Operettentexte etc.)
und der Ausbildung einer ,,Präzisionsästhetik"
39
(durch die Nennung von realen
Städte-, Straßen-, Lokal-, Personennamen) wurde die Literatur für Neues
geöffnet. Gleichzeitig konnten diese ,,auf Massenwirksamkeit" zielenden
Werke "den Menschen der Weimarer Republik längst überfällige Leitbilder für
ein Leben in der modernen Massen- und Mediengesellschaft"
40
bieten und, wie
es Kracauer formuliert, sich (und dem großen Publikum) Rechenschaft
[ablegen] über unsere aktuelle Situation"
41
. Mit den neusachlichen Texten
entstand folglich eine Literatur, deren Thematik und Repräsentationsformen
mit der Entwicklung der neuen Gesellschaft in Einklang zu bringen war.
42
36
Ebd,
S.
45.
37
Ebd.,
S.
44.
38
Die Zeit in der die Neue Sachlichkeit ihre Höchstphase hatte, wird in der Literatur häufig
auf die Jahre der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik von 1924-1929 festgelegt.
Der ,,Niedergang" der Bewegung soll dann schließlich mit Roths Aufsatz ,,Schluß mit der
Neuen Sachlichkeit" (1930) eingeleitet worden und spätestens mit der Übernahme der
Nationalsozialisten und dem Untergang der Weimarer Republik besiegelt worden sein.
In diesem Zusammenhang soll wiederholt Sabina Beckers Monographie zur ,,Ästhetik der
Neuen Sachlichkeit" (Becker 2000) empfohlen werden, in der nicht nur darauf verwiesen
wird, dass einige bedeutende neusachliche Romane noch deutlich nach 1929 veröffentlicht
worden sind (so u.a. Keuns Roman), sondern auch dass neusachliche Tendenzen auch über
das Jahr 1933 hinaus eine Rolle spielten (u.a. in der Exilliteratur).
Des Weiteren sei auf Punkt 2.3. dieser Arbeit hingewiesen, der sich damit befasst,
Parallelen zwischen Neuer Sachlichkeit und Pop-Literatur aufzufinden.
39
Sabina Becker benutzt diesen Begriff im Zusammenhang mit den von ihr
herausgearbeiteten Dimensionen neusachlicher Ästhetik.
40
Dandjinou 1997., S. 28.
41
Schüller,
Liane:
Vom Ernst der Zerstreuung. Bielefeld 2005, S. 224.
42
Ebd.,
S.
37.
7

2.2 Die Pop-Literatur der neunziger Jahre
Die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind ein Jahrzehnt voller
Umbrüche: Der Fall der Mauer und die deutsch-deutsche Wiedervereinigung,
die zunehmende Verbreitung des Internets, die fortschreitende Globalisierung
und Medialisierung der Welt ­ dies sind Entwicklungen, die die Gesellschaft
der Neunziger nachhaltig prägen. Auch die zu diesem Zeitpunkt entstehende
Literatur wird von den gesellschaftlichen Geschehnissen beeinflusst. In der
Pop-Literatur dieser Jahre spielt die Thematisierung der politischen
Entwicklungen jedoch eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Stattdessen
stehen die Rezeption der aktuellen Medien- und Alltagskultur und ihre
Reflexion im Vordergrund. Dies bleibt zunächst als grundlegendes Merkmal
der Pop-Literatur festzuhalten. Ansonsten ist es jedoch schwierig eine
verallgemeinerbare Darstellung der pop-literarischen Programmatik zu
erstellen. Erschwert wird das Ganze vor allem dadurch, dass der Begriff
,Pop`
43
,,inflationär"
44
verwendet wird und dadurch das Definitionsproblem
45
der Pop-Literatur verstärkt. Zum anderen beschränkt sich die als Pop-Literatur
bezeichnete Literatur nicht nur auf den Zeitraum der Neunziger, sondern lässt
sich bis in die sechziger Jahre verorten. Dabei sind die unter diesem Namen
zusammengefassten literarischen Entwicklungen nicht nur höchst heterogen,
sondern ­ wenn auch in ihrer Ästhetik häufig ähnlich ­ in ihrer Intention z.T.
sogar gänzlich entgegengesetzt ausgerichtet
46
.
43
Der Begriff ,,Pop" leitet sich von dem englischen Wort ,,popular" (,,populär",
,,volkstümlich") ab und ,,bezeichnet etwas, das von vielen Menschen gemocht wird,
üblicherweise von vielen Menschen aus dem ,,populus", dem Volk." (s. Malecha, Tom: Ich
bin viele. Identitäten in der Popliteratur, Saarbrücken 2008.) Aufgrund dieser
Massentauglichkeit wird der populären Kultur häufig das Attribut des qualitativ
Minderwertigen angehängt ­ ein Vorwurf, der sich auch von Kritikern der Pop-Literatur
häufig vernehmen lässt.
44
Jung,
Thomas:
Alles nur Pop?, Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 11.
45
Eine sinnvolle Definition findet sich z.B. in Schäfers Aufsatz: Brinkmanns poetologische
Überlegungen zur Pop-Literatur (in: Arnold/Schäfer 2003, S. 78). Hier schlägt er vor ,,von
>Pop-Literatur in einem engeren Sinn dann zu sprechen, wenn Autoren sich ­ wie in der
Pop-Art ­ auf einer Meta-Ebene mit den Signifikanten der populären Kultur
auseinandersetzen. Für Pop-Autoren werden die Signifikanten aus Pop-Musik, Kino,
Fernsehen und den vielschichtigen, um diese herum organisierten ästhetischen
Ausdrucksformen zum Ausgangsmaterial eines strikt gegenwartsorientierten Schreibens. In
diesem Sinne entsteht Pop-Literatur, wenn die Pop-Signifikanten im literarischen Text neu
kodiert werden."
46
Was z.B. an Diedrich Diedrichsens Unterscheidung zwischen einer Pop-Literatur als
Ausdruck einer ,Gegenkultur` (,Pop I` ­ darunter fallen diejenigen, die sich an der Beat-
Generation orientieren) und einer Pop-Literatur als Ausdruck einer ,Gegengegenkultur`
(,Pop II` ­ darunter werden die, teils auch wieder sehr unterschiedlichen, Punk- und
Popperbewegungen sowie die Pop-Literaten der ,neuen Generation` subsumiert) deutlich
wird. Siehe dazu: Hoffmann, Dieter: Arbeitsbuch deutschsprachige Prosa seit 1945.
Tübingen 2006. S. 329-332.
8

Gemeinsam ist ihnen jedoch die Intention, mit der traditionellen Dichotomie
von ,hoher` und ,niederer` Literatur zu brechen und eine Literatur einzusetzen,
die an den Phänomenen der Gegenwart orientiert ist. So plädierte
beispielsweise H. C. Artmann bereits 1964 dafür, den starren Literaturbegriff
zu überwinden und auch neuartige zeitgenössische Entwicklungen ,bildlich-
literarischen crossovers`, wie z.B. Comic Writing ,,als das anzuerkennen, was
es schon längst geworden ist, nämlich Literatur."
47
Der Begriff Pop-Literatur ­ ,,bis 1967 [ist die Rede] fast ausschließlich von
Beat"
48,49
­ taucht erst in Anlehnung an die amerikanische Pop-Art-Bewegung
auf, die ihrerseits durch die Einbeziehung von Material der populären Kultur
den traditionellen Kunstbegriff ins Wanken brachte und damit auch als
Impulsgeber für die Literatur zu sehen ist.
Die Debatte um die Zeitgemäßheit der besagten Dichotomie in der Literatur
leitet schließlich Leslie A. Fiedler mit seinem stark kontrovers diskutierten
Aufsatz ,,Cross the border. Close the gap"
50
ein. Indem er seine Überlegungen
1968 auf einer Freiburger Tagung vorträgt und kurze Zeit später in der
Zeitschrift ,Christ und Welt` veröffentlicht, liefert er einen entscheidenden
Anstoß für die Entwicklung und Rezeption der Pop-Literatur in Deutschland.
Seine Forderung nach einer Literatur, ,,,die sich für Einflüsse aus der populären
Kultur, für die Welten des Jazz, des Rock, der Schlagzeilen und der Comics,
der alten Filme und der Kinderbücher und des obszönen Zeichenstifts` öffnen
sollte"
51
, macht die Absage an den klassischen Literaturbegriff deutlich.
Kritiker diskreditieren diese Entwicklungen allerdings ,,als Aufbruch in eine
47
H.C.
Artmann:
»Das Suchen nach dem gestrigen Tag oder schnee auf einem heißen
brotwecken«. Olten 1964, S.41. Zitiert nach:
Jörgen Schäfer: »Neue Mitteilungen aus der
Wirklichkeit«. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968.
In: Arnold/Schäfer 2003, S. 17.
48
Hecken,
Thomas:
Pop-Literatur um 1968. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 44.
49
Während der Begriff an sich an die Pop-Art-Bewegung angelehnt ist, finden sich die
literarischen Ursprünge der Pop-Literatur in der amerikanische Beat-Literatur der fünfziger
und sechziger Jahre. Vertreter dieser sogenannten ,Beatniks` wie Jack Kerouac und
William S. Burroughs lösten zu diesem Zeitpunkt bereits starke Debatten aus. Durch die
Thematisierung von jugendlicher Subkultur im Kontext von Alkohol-/Drogenkosum und
zügellos dargestellter Sexualität bei gleichzeitiger Verwendung einer dementsprechend
vulgären und provokativen Alltagssprache brachen sie mit dem tradierten Moral- und
Literaturverständnis der amerikanischen Gesellschaft. ,,Gegenüber der Beat-Literatur [...]
zeichnet sich Pop-Literatur durch eine stärkere Hinwendung zur Populär- und
Massenkultur aus." (Vgl. Andreas Kramer: Von Beat bis »Acid«. Zur Rezeption
amerikanischer und britischer Literatur in den sechziger Jahren. In: Arnold/Schäfer 2003.
S. 31)
50
Fiedler schlägt hier bei seinen ,,Überlegungen zum »Todeskampf der literarischen
Moderne« und den »Geburtswehen der Post-Moderne«" eine Brücke zu den ,,junge[n]
amerikanische[n] Autoren, die sich »offen der Formen des Pop« bedienten und so den
,Graben` zwischen Trivial- und Hochliteratur überwinden hälfen." (Hoffmann 2006,
S. 328)
51
Schäfer,
Jörgen:
»Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«. Rolf
Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Arnold/ Schäfer,
a.a.O. S. 74.
9

postmoderne, antiaufklärerische und neokonservative Spaßkultur" und sehen in
dieser ,,vermeintlich kommerziellen Kunst" nichts weiter als ,,eine mehr oder
minder freche Alltagsliteratur mit unkritischer Konsumhaltung."
52
Als Wegbereiter für die deutsche Pop-Literatur ist der Schriftsteller Rolf Dieter
Brinkmann zu sehen, der mit seiner zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla
herausgegebenen Anthologie ,Acid` die amerikanische Pop-Literatur in
Deutschland bekannt macht.
53
Die im Anschluss erscheinende Literatur
deutscher Schriftsteller ist noch stark an der amerikanischen Beat-Bewegung
angelehnt, integriert aber in stärkerem Maße Erscheinungen der Populär- und
Massenkultur. Gemeinsam ist den
,,seinerzeit [gemeint ist Rolf Dieter Brinkmann, E.S.] unter dem Pop-Begriff
zusammengefassten Strömungen [...] dass sie den Bruch mit den als Last
empfundenen künstlerischen und literarischen Traditionen über ein
affirmatives Verhältnis zum alltäglichen Material betrieben haben ­ und dass
sie dadurch dieses Material neu codiert und in andere kulturelle Kontexte
gestellt haben."
54
Die Texte, die innerhalb der verschiedenen Strömungen (darunter Trash, Social
Beat, Punk und ,Popper`) des Oberbegriffs Pop-Literatur in den sechziger,
siebziger und achtziger Jahren entstehen, finden zwar durchaus (sowohl
positive als auch negative) Beachtung, jedoch gelangt nur weniges an die breite
Öffentlichkeit. So äußern Kathrin Ackermann und Stefan Greif die These, dass
,,abgesehen von wenigen Autoren und einzelnen Werken [...] die vielfältige
Szene- und Underground-Literatur nur wenigen Spezialisten vertraut blieb und
bis heute nicht vollständig aufgearbeitet wurde."
55
Mit der ,,zweiten Pop-Generation"
56
ändert sich dies jedoch. Romane wie
Christian Krachts ,Faserland` oder Benjamin von Stuckrad-Barres ,Soloalbum`
finden in der literarischen Öffentlichkeit große Beachtung und einen großen
Absatz auf dem Büchermarkt. Dass dem so ist, lässt sich nicht nur auf die
alltagssprachliche Thematisierung von vorwiegend jugendlicher
52
Ackermann, Kathrin / Greif, Stefan: Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis
heute. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 56.
53
Genaueres zu den Einflüssen der amerikanischen Beat-Generation und der Rolle
Brinkmanns für die Rezeption dieser Literatur in Deutschland ist nachzulesen z.B. bei
Andreas Kramer: Von Beat bis »Acid«. Zur Rezeption amerikanischer und britischer
Literatur in den sechziger Jahren. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 26-40, oder bei Jörgen
Schäfer: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«. Rolf Dieter
Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Arnold/Schäfer 2003.
Detaillierte Informationen zu den aus der Beat-Generation entstandenen
Nebenbewegungen wie Slam Poetry, Trash und Social Beat (eine Bewegung die an die
sub- und gegenkulturell orientierte Beat-Literatur anknüpfen wollte und für eine humanere
Gesellschaft eintrat) sind z.B. dem Aufsatz von Enno Stahl: Trash, Social Beat und Slam
Poetry. Eine Begriffsverwirrung. In: Arnold/Schäfer 2003, zu entnehmen.
Eine präzisere Darstellung der verschiedenen Bewegungen findet sich auch bei Hoffmann
2006, S. 333-345.
54
Ebd.,
S.
74.
55
Ackermann/Greif, in: Arnold/ Schäfer 2003, S. 64.
56
Ebd.,
S.
65.
10

Gegenwartskultur und den vielfachen intertextuellen Verweisen und Zitaten aus
Pop-Musik, Reklame-, Konsum- und Medienwelt zurückführen, sondern auch
auf die öffentlichkeitswirksame Selbstinszenierung der meist jungen
57
Autoren.
Einige Autoren wählten also eine Herangehensweise an die ,popular culture`,
bei der sie sich von Anfang an ganz bewusst an deren Strukturen assimilierten
und unter Zuhilfenahme der Massenmedien selbst ,promoteten`.
58
Diese
offensive ,mediale Selbstinszenierung` veranlasst Seeßlen dazu, ,,in dem
Phänomen der Popliteratur vorrangig eine Neudefinition der Rolle des Autors"
zu sehen
59
. Diese Definition vernachlässigt jedoch einen Großteil der
Bandbreite dieser Strömung.
Die Autorengeneration der Neunziger will sich bewusst von der Haltung ihrer
Vorgänger abgrenzen. Für Dirk Frank ist für jene Autoren dementsprechend ein
anderer Bezugsrahmen als der amerikanische wichtig: Der ,neuen Generation`
gehe es nicht mehr um eine Konfrontation mit der tradierten Hochkultur,
sondern um eine Haltung, die sich gerade gegen die Gegenkultur richtet, also
auf einer ,,gegengegenkulturellen Kommunikationsverweigerung mit der
Vorgängergeneration"
60
basiert. Ebenso betont er, dass ,,die
Auseinandersetzung mit 68 [...] dem popliterarischen Schreiben der Neunziger
nicht nur zugrunde [liegt, sondern] auch in den Texten ausgetragen" wird.
61
Die Ablehnung des gegenkulturellen Protests, die klare Bejahung der Moderne
und die radikale Öffnung des ,,literarischen Thesaurus" auf die Waren- und
Medienwelt des 21. Jahrhunderts
62
, haben dieser Strömung den Vorwurf einer
affirmativen, kritik- und standpunktlosen Haltung eingebracht: ,,Der
,Nichtangriffspakt` (Iris Radisch), den Kracht Co. mit der Welt geschlossen
hätten, würde jegliches emanzipatorische Potential von Pop verspielen. Die
57
Damit sind vor allem Autoren wie Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und
Alexa Henning von Lange gemeint, die z.B. von Hubert Winkels in die Kategorie des
,,literarischen Mainstream" eingeordnet werden (Bezeichnung entnommen aus: Tom
Malecha 2008, S. 20f.). Daneben finden sich aber ebenfalls populäre Autoren einer älteren
Generation, wie z.B. Thomas Meinecke, Rainald Goetz und Andreas Neumeister. Diese
Autoren weisen zwar thematisch und ästhetisch viele Überschneidungen mit der ,jungen
Generation` auf, sie werden von der Literaturkritik aber generell wohlwollender betrachtet.
Das mag daran liegen, dass sie sich nicht so provokativ inszenieren wie insbesondere
Kracht, Stuckrad-Barre und der Rest des ,pop-literarischen Quintetts` der ,Tristesse
Royale` und auf den ,,Jungmännerzynismus" (Max Goldt) und das massive ,Bashing` in
Bezug auf Musik- und Modegeschmack derselben verzichten. Weiterhin unterscheiden sie
sich in der Art und Darstellung der Verschränkung von Literatur und populärer Kultur. Im
Rahmen dieser Arbeit kann auf die Besonderheiten dieser Autorengeneration nicht weiter
eingegangen werden, weswegen ich mich im Folgenden vornehmlich auf die Autoren der
jungen Generation beziehen werde.
Zur weiteren Lektüre sei z.B. auf Baßler: Der Deutsche Pop-Roman (2002) verwiesen.
58
Hoffmann 2006, S. 345f.
59
Dreier,
Ricarda:
Literatur der 90er-Jahre in der Sekundarstufe II. Deutschdidaktik aktuell,
Bd. 19 (Hg.: Lange, Günter / Ziesenis, Werner). Hohengehren 2005, S. 83.
60
Schäfer, in: Arnold/ Schäfer 2003, S. 22.
61
Frank, Dirk: Die Nachfahren der >Gegengegenkultur. Die Geburt der »Tristesse Royale«
aus dem Geiste der achtziger Jahre. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 231.
62
Vgl. Baßler 2002, S. 184.
11

massenmedial konstruierte Oberflächenwelt [...] würde von ihnen niemals
hinterfragt."
63
Die aber insbesondere von ,,Kracht Co." absichtlich zur Schau gestellte
,Über-Affirmation` und die Parodisierung typischer Strategien der Werbe-,
Mode- oder Musikindustrie straft diese Beurteilung hingegen Lügen und
belegt, dass eine thematische und ästhetische Konzentration auf die Medien-
und Konsumwelt nicht zwangsläufig mit einer affirmativen Einstellung zu ihr
einhergehen muss bzw. eine übertrieben affirmative Haltung im Gegenteil eher
auf einen an sich kritischen Gestus verweist. In Anbetracht der teils sehr
polemisch geführten Debatte
64
stellt Carsten Gansel
65
fest:
In dem Fall, da der Erfolg von jungen Autoren bei Lesern, Verlegern und
Teilen der Kritik hinreicht um in einer Art ,,pawlowschem Reflex" die Texte
selbst als unkünstlerisch, trivial, borniert, zynisch, wohlstandsorientiert und
konservativ abzuurteilen, werden Argumente reaktiviert, die
literaturgeschichtlich bevorzugt dann zum >Einsatz kommen, wenn eine neue
Autorengeneration antritt. Zudem wird ­ verdeckt zwar ­ die alte Grenze
zwischen E- und U-Kultur reaktiviert und eine neue Autoren- oder
Künstlergeneration einseitig an der Werthierarchie des etablierten >Archivs
gemessen.
66
Moritz Baßler hingegen sieht in den popliterarischen Werken einen
Paradigmenwechsel
67
und holt die ,,populären Pop-Literaten" in die seriöse
Literatur zurück
68
, indem er ihnen den Verdienst zuspricht, durch das
,,Sammeln und Generieren"
69
des populären Materials ein Archiv der populären
Kultur anzulegen und es somit kulturell zu konservieren.
70
Vergleicht man Texte der Pop-Literatur mit denen der ,klassischen` Literatur
wird deutlich, warum die Debatte um die Anerkennung der Pop-Literatur
teilweise so erbarmungslos geführt wird. An der Oberfläche konzentriert sich
ein Großteil der Kritik vornehmlich auf die tabulose Thematisierung und
Darstellung von Sexualität und Drogenkonsum, auf die mediale
63
Frank, in: Arnold/ Schäfer 2003, S. 218.
64
Jung befindet, dass mit der Pop-Literatur die Gegenwartsliteratur von ,,anspruchsvollem
Gestus befreit" wird (Jung 2002, S. 23.) und zitiert überdies Iris Radisch mit den seiner
Meinung nach ,,treffenden Worten": ,,man habe es hier mit dem »Beschreibungs-
fetischismus« einer »positivistischen Ästhetik« zu tun, deren einziges Ziel die ,,möglichst
radikale Entliterarisierung" sei." (ebd. S. 43)
65
Dreier weist mit ihrem Zitat von Hage (,,Die Klage ist alt und immer wieder neu: die
Gegenwartsliteratur ­ ein Schutthaufen") ebenfalls auf die periodisch wiederkehrenden
Debatten hin. Nachzulesen in: Ricarda Dreier: Literatur der 90er-Jahre in der
Sekundarstufe II. In: Lange/Ziesenis 2005, S. 23.
66
Gansel,
Carsten:
Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur. In:
Arnold/Schäfer 2003. S. 235f.
67
Dreier 2005, S. 29.
68
Frank, in: Arnold/ Schäfer, 2003, S. 219.
69
Baßler, 2002. S. 94.
70
Er stützt sich dabei auf die Kulturtheorie Boris Groys', der davon spricht, dass durch die
Valorisierung und Ästhetisierung von Material des profanen Raums (also der Alltagskultur)
eine Umwertung stattfindet, die schließlich zur Aufnahme in das als ,hochwertig` geltende
,kulturelle Archiv` (,Hochkultur`) führt. (Vg. Baßler 2002, S. 95f.)
12

Selbstinszenierung der Autoren mitsamt ihrer vermeintlich affirmativen
Haltung zur Medien- und Konsumwelt und der damit einhergehenden
hedonistischen Lebensauffassung. Die eigentliche Aufstörung, so Gansel, liegt
dagegen an der Tiefenstruktur der Texte, die durch den Verzicht auf
erzählerische Kommentierung und eine moralisierende Außenperspektive die
tradierte Vorstellung von Identitätsfindung, Sinnsuche, Autonomie der
Persönlichkeit in Frage stellt und daher die Fundamente der literarischen
Moderne destruiert
71,72
. Letztlich geht es also um einen ,,Konsens darüber, was
Literatur sein kann und will."
73
Trotz aller Kontroversen kann der Pop-
Literatur aber das Verdienst nicht abgesprochen werden, Prozesse angestoßen
zu haben, die die Grenzen einer überkommenen Literatur-Dichotomie
zumindest durchlässiger gemacht haben. Überdies zeigt die große Popularität
der Pop-Autoren der Neunziger, dass gerade in der jüngeren Generation das
Bedürfnis nach einer Literatur besteht, die sich sowohl an der
Gegenwartskultur orientiert als auch ihrer Alltagssprache bedient. Die vielen
intertextuellen Bezüge z.B. zur Werbeindustrie oder die oftmals der Pop-Musik
entliehenen Zitate oder Verweise darauf verlangen eine akribische Lektüre und
die Kenntnis der aktuellen Medienkultur. Dadurch werden die Texte letztlich
wieder exklusiv und widersprechen der Bewertung des Populären als das
,,prinzipiell allen Zugängliche" (Goetz)
74,75
. Demzufolge ließe sich auch
behaupten, dass die scharfe Polemik einiger Kritiker darauf zurückzuführen ist,
dass sie für die ,Entschlüsselung der kulturellen Codes` schlichtweg keine
ausreichende Kenntnis der aktuell populären Kultur besitzen. Wenn man, wie
Liane Schüller in ihrer Arbeit zu weiblichen Autoren der Neuen Sachlichkeit,
Jens Jessen folgen will, der Trivialliteratur ,,abgesehen von ihren ästhetischen
Mängeln, ,,im Allgemeinen durch ihr verlogenes Verhältnis zur Wirklichkeit
definiert"
76
, stellt sich die Frage, ob die popliterarischen Texte der jungen
Generation womöglich auch deshalb so rigoros abgewertet werden, weil die
besagten Kritiker die dargestellte Wirklichkeit nicht mit ihrer eigenen in
Einklang bringen können. Die Debatte um den Wert dieser Texte, verhandelt so
71
Gansel, in: Arnold/ Schäfer 2003, S. 242.
72
Jung fasst dies so zusammen: [Es gibt] ,,kaum mehr Handlung, keine traditionellen
Erzählstrukturen, allenfalls Collagen von Sätzen und Gedanken einzelner Personen, selten
im klassischen Dialog, mehr im synchronen Monolog sprechend. Es geht um verbale
körperliche und sexuelle Erregungszustände [...]." (Jung 2002. S. 26) Allerdings ist Jungs
Darstellung, im Gegensatz zu derjenigen Gansels, von einer eher negativen Konnotation
geprägt.
73
Baßler 2005, S. 184
74
Schumacher, Eckhard: »Das Populäre. Was heißt denn das?« Rainald Goetz` »Abfall für
alle«, in: Arnold/ Schäfer 2003, S. 81
75
Diedrich Diederichsen prägt die Bezeichnung von Pop als einem ,,allgemein zugänglichen
Geheimkode", was ich durchaus passend finde, da es den von mir zuvor erwähnten
Widerspruch deutlich macht. (in: Malecha 2008. S. 16f.)
76
Schüller 2005, S. 234.
13

gesehen mitunter nicht nur einen literarischen, sondern auch einen
Generationenkonflikt, der sich, wie es scheint, in ähnlicher Weise besonders in
Zeiten von starken Umbrüchen (somit auch zur Zeit der Weimarer Republik),
beobachten lässt.
2.3 Vergleichsaspekte
Vergleicht man die Neue Sachlichkeit mit dem Phänomen der Pop-Literatur,
fällt zunächst auf, dass sich die gegen die jeweilige Strömung gerichteten
kritischen Stimmen in vielen Punkten ähneln. Daraus lässt sich schlussfolgern,
dass diese literarischen Erscheinungsformen über ein hohes
Provokationspotential verfügen. Beiden gemeinsam sind der Bruch mit der
traditionellen Erzählweise und dem klassischen Literaturbegriff, die
Orientierung an Aktualität und Authentizität, die Synthese verschiedener
Genres und der Einbezug von Techniken und Zitaten aus Massenmedien und
Konsumwelt. Überdies konstituierten sich beide Formen infolge der
ablehnenden Haltung gegenüber ihrer Vorgängergeneration.
Beide Strömungen reagieren auf eine Zeit, die durch Widersprüchlichkeiten,
Oberflächenkultur und massenmediale Innovationen geprägt ist. Was
Dandjinou über die Bewegung der Neuen Sachlichkeit feststellt, trifft ebenso
auf die Pop-Literatur zu, denn beide haben ,,sich auf die Herausforderung
dieser Gesellschaft eingelassen, in der Massenmedien und Massenkultur eine
zentrale Rolle spielen"
77
, und konnten erfolgreich den ,,gesellschaftlichen
Modernisierungsprozessen synchrone literarische Produktions- und
Rezeptionsformen [...] entwickeln".
78
Forschungsarbeiten, die sich direkt auf
den Vergleich zwischen Neuer Sachlichkeit und Pop-Literatur beziehen und
meine These einer Neuauflage der Neuen Sachlichkeit in der Pop-Literatur
unterstützen, sind eher spärlich zu finden. Jedoch erwähnt Jung, dass es zwei
unterschiedliche Ansätze zur Ursprungsdefinition der Pop-Literatur gibt. Dabei
sieht ein Großteil der Forschung die kultur- und literaturhistorischen Wurzeln
der Pop-Literatur in ,,der Nachkriegszeit und dem zumindest für
Westdeutschland damit einhergehenden Einfluss der US-amerikanischen
Populärkultur"
79
. Er verweist aber auch auf die Arbeit von Thomas Ernst, der
dahin geht,
die mit der Entstehung der Massenliteratur und der Kulturindustrie zu Beginn
des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt mit der Dada-Bewegung der zwanziger
77
Dandjinou 2007, S. 161.
78
Becker 2002, S. 94.
79
Jung
2002, S. 35.
14

Jahre, aufkommende(n) Gegenströmung(en) zur etablierten Hochkultur, die
für die großen Romanciers der Jahrhundertwende und die Avantgardeschübe
der Vor- und Zwischenkriegszeit benannt werden, als historischen
Ausgangspunkt für die populäre und schließlich die Pop-Literatur zu
proklamieren.
80
Des Weiteren verweist Jung auf Jost Hermand, der in seiner Arbeit ebenfalls
die ,,Traditionen der Popliteratur bis zum Dada zurückverfolgt"
81
.
Da auch Sabina Becker auf die enge Beziehung zwischen Dadaismus und
Neuer Sachlichkeit hinweist kann so zumindest ein gemeinsamer historischer
Bezugspunkt zwischen Neuer Sachlichkeit und Pop-Literatur belegt werden.
Einen konkreten Bezug zwischen Neuer Sachlichkeit und Pop-Literatur findet
sich in einem Aufsatz Moritz Baßlers
82
. Darin bemerkt er zunächst, dass
,,Phasen emphatisch autonomer, selbstbezüglicher und formalistischer Literatur
offenbar unweigerlich das Bedürfnis nach einer darstellungstechnisch vielleicht
naiveren, aber als sach- und welthaltiger empfundenen Literatur hervorrufen".
Weiterhin konkretisiert er diese Phasen in Bezug auf die Neue Sachlichkeit und
Pop-Literatur und spricht davon, dass
,,[seit] in Deutschland Mitte der 1990er Jahre eine junge Pop-Literatur
Forderungen nach neuer literarischer Sinnlichkeit, Lebensbezug und
Welthaltigkeit eingelöst hat, [...] man sich wieder besser vorstellen [kann],
wie befreiend in den 1920er Jahren die ersten Texte der Neuen Sachlichkeit
über das Boxen, Schwimmen und Sporteln gewirkt haben müssen"
83
.
Trotz des Mangels an forschungsliterarisch konkreten Bezügen zwischen
beiden Bewegungen lassen sich, ungeachtet einiger Unterschiede, erhebliche
Gemeinsamkeiten ausmachen. So fällt bei beiden die starke Verschränkung
zwischen Publizistik und Belletristik auf, wobei sich in der Pop-Literatur
darüber hinaus eine starke Affinität zu Methoden des Musikjournalismus
ausmachen lässt. Dadurch ergibt sich ein Effekt der Unmittelbarkeit, was
hiermit dem Streben beider nach einem Aktualitäts- und Gegenwartsanspruch
gerecht wird. Gleichzeitig wird durch die Montage literaturfremden Materials
(Montage-Technik), z.B. durch Liedtexte, Werbesprüche oder Filmzitate und
die Einbeziehung von realen Orts-, Straßen-, Personennamen und aktuellen
Ereignissen, ein authentischer Charakter der Texte erreicht.
84
Diese Methoden
lösen das ein, was innerhalb der neusachlichen Programmatik eingefordert
wurde um die ,,Demokratisierung der Literatur" zu erreichen und führte daher
80
Ebd.,
S.
34.
81
Ebd.,
Anm.
16.
82
Moritz
Baßler:
Was ist Sache? Literarisch ,,Arbeit in Gegenwart" am Beispiel von Nick
Hornbys High Fidelity. In: Baßler/van der Knaap 2004, S. 263-274.
83
Baßler, in: Baßler/van der Knaap, 2004. S. 264.
84
Die Montage geht in der Pop-Literatur teilweise so weit, dass die Texte auch äußerlich in
Form anderer Medien arrangiert sind. Ein Paradebeispiel dafür ist Stuckrad-Barres Roman
Soloalbum (1998), der schallplattenartig in eine A- und eine B-Seite aufgeteilt ist, wo
Kapitelüberschriften aus Namen von Musikstücken bestehen und neben den Seitenzahlen
Vor- und Rückspulzeichen eingefügt worden sind.
15

schon zu jener Zeit - lange vor Fiedlers Aufsatz - dazu, dass die Grenzen
zwischen vermeintlich ,hoher` und Trivialliteratur zumindest neu bestimmt
werden mussten
85
. Die Entwicklung, die dadurch (freilich nicht nur allein
durch die neusachliche Bewegung) angestoßen wurde, ebnete den Weg zur
Weiterentwicklung von unkonventionellen Texten, wie z.B. der Pop-Literatur
bzw. die mehr oder weniger große Anerkennung jener. Durch die literarische
Verarbeitung alltagspopulären Materials, tragen beide Strömungen dazu bei, als
,,Chronisten"
86
die von Baßler konstatierte ,,Enzyklopädie" aufzufüllen bzw.,
mit Boris Groys gesprochen, die Transformation von Elementen des ,,profanen
Raums" in das ,,kulturelle Archiv" zu gewährleisten und dadurch eine
Valorisierung der zeitgenössischen populären Kultur zu erreichen.
Weiterhin sind die Texte durch den Modus der Momentaufnahme
gekennzeichnet ­ sie stellen weder Entwicklungen dar, noch beabsichtigen sie
ein vollständiges Bild der gesellschaftlichen Zustände zu zeichnen. Sie sind
jeweils nur fragmentarische Ausschnitte, die stationenartig aneinander gereiht
werden. Sabina Becker bezeichnet dies bei der Neuen Sachlichkeit als
,,fotografisches Verfahren" oder spricht von einer ,,filmischen Schreibweise".
Auch bei Jörgen Schäfer findet man den Verweis auf die Fotografie ­ er zitiert
den Pop-Literaten Benjamin von Stuckrad-Barre mit den Worten, dass die
Texte der Pop-Literatur ,sehr konkret, jetztzeitgebunden auf die Welt reagieren`
und ,Text gewordenen Polaroids` gleichen, ,die mit der Zeit verblassen und
ersetzt werden müssen`.
87
Eine derartige Herangehensweise zeugt nicht nur
von der ,,Entwicklung einer neuen nicht mehr an Literatur orientierten
Literatur", sondern zeigt auch eine ,,neue Art und Weise der Welterfassung"
88
,
die der veränderten Wahrnehmung der Gesellschaft gerecht wird, indem sie die
durch die mediale Allgegenwärtigkeit erzeugten zerstückelten Sinneseindrücke
auf die Literatur überträgt.
Damit ist zugleich auch der Aspekt der zeitspezifischen Rezeption
angesprochen. Durch den starken Bezug zur Gegenwart und zur
zeitgenössischen populären Kultur gehen die Texte mit einem ,kulturellen
Geheimcode` einher, was soviel heißt, dass eine mehr oder minder gute
Kenntnis der aktuell populären Kultur erforderlich ist, um die textuellen
Anspielungen nachvollziehen zu können.
Insbesondere in den Texten der Pop-Literatur wird oftmals auf konkrete
Werbespots, Musiker oder Musikstücke etc. angespielt. Zwar ist es in Zeiten
des Internets ein Leichtes diese bei Unkenntnis zu recherchieren, jedoch zielen
85
Vgl. Schüller 2005, S. 232f.
86
Becker 2002, S. 84.
87
Schäfer, in Arnold/ Schäfer 2003, S. 77.
88
Dandjinou 2007, S. 246.
16

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2009
ISBN (PDF)
9783955497262
ISBN (Paperback)
9783955492267
Dateigröße
380 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Identitätsentwicklung Identität Geschlechterverhältnis Liebeskonzeption Sexualität
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Titel: "Perfect lovers" oder nur "two alien bodies"? Zur Konzeption von Liebe in ausgewählten Beispielen der Literatur der Neuen Sachlichkeit und der Pop-Literatur
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