Lade Inhalt...

Die Literarisierung des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert am Beispiel Theodor Fontanes "Der Stechlin"

©2012 Bachelorarbeit 44 Seiten

Zusammenfassung

Der Adel nimmt im 19. Jahrhundert eine herausragende Stellung innerhalb der Gesellschaftsstruktur ein, obgleich seine Bedeutung am Ende desselben spürbar abnimmt. Es soll anhand Fontanes ‘Stechlin’ untersucht werden, inwiefern der Adel in der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts dargestellt und figuriert wird. Kritisiert Fontane den Adel hinsichtlich der konservativen Einstellungen oder findet eine positive Darstellung des Adels statt? Fontanes Einstellungen gegenüber dem Adel sind nicht pauschal darzulegen, vielmehr bedarf es einer genauen Betrachtung der Einstellung gegenüber dem Adel. Fontane schätzte den Adel in gewisser Hinsicht sehr, kritisierte jedoch dessen politische Lethargie und Dekadenz ebenso. Diese Einstellungen Fontanes bezüglich des Adels werden im Werk ‘Der Stechlin’ wie in keinem anderen seiner Werke sichtbar.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3.1.1 Dubslav von Stechlin

Der Ritterschaftsrat Dubslav von Stechlin ist der Protagonist des Romans Der Stechlin; er ist der „Typus eines Märkischen von Adel“ (8)[1], obwohl er einen „pommerschen Namen“ (9) trägt. Über diese Namensgebung äußert Dubslav seinen Unmut, denn „Was ein Märkischer ist, der muß Joachim heißen oder Woldemar“ (10). Es wird ersichtlich, dass die Hervorhebung der märkischen Abstammung für Dubslav von großer Relevanz ist. Trotz seiner Zugehörigkeit zum Adel besitzt er „manche Eigenschaften, die dem landläufigen Bild des preußischen Adeligen auf den ersten Blick zu widersprechen scheint“[2]. Dubslav von Stechlin war „von jung an lieber im Sattel als bei den Büchern“ (8), sodass ein typisch adeliges Desinteresse an der Bildung diagnostiziert werden kann. Überdies kann er „eigentlich Fremdwörter nicht leiden“ (73). Für Dubslav ist Bildung „fester Besitz, nicht lebenslanger Prozess“ (16). Er gibt klar zu verstehen, dass man sich Bildung einmal im Leben anzueignen habe und diese dann lebenslang besitze. Dies spiegelt Dubslavs Auffassung der Gesellschaft wider; wird man als Adeliger geboren, bleibt man zeitlebens in diesem Stand der Gesellschaft und kann dessen Vorteile nutzen. Das geringe Interesse an der Bildung korreliert mit der Einstellung des Adels gegenüber der Bildung. Dieser war nicht dazu geneigt, sich ein erhöhtes Bildungsniveau anzueignen, was aufgrund der gesellschaftlichen Stellung auch zu keiner Zeit vonnöten war.[3]

Die Beschreibung der Residenz des alten Stechlin drückt den Zustand des ostelbischen Junkertums aus, dessen Existenz im ausgehenden 19. Jahrhundert spürbar infrage gestellt wird. An dem Schloss gibt es zahlreiche „schadhafte Stellen“ (14); man kann sogar sagen, dass der Zustand des alten Schlosses katastrophal ist. Die Inneneinrichtung ist veraltet, sodass die „Rokoko-Uhr“ (19) symbolisch für die Verdrängung des Adels beziehungsweise des Alten gesehen werden kann. Die Verwendung von Gegenständen des Rokoko kann des Weiteren als Rückbesinnung in die friderizianische Zeit Preußens betrachtet werden. Erwähnenswert ist jedoch, dass sich Dubslav mit der Residenz in einem derartigen Gebäude gegen das Repräsentationsbedürfnis der damaligen Zeit wendet. Ihn zeichnet eine gewisse Bescheidenheit aus, die sonst nicht zu den Attributen des Adels gehörte.

Einzugehen sei an dieser Stelle noch auf den Familienstand Dubslavs. Nach kurzer Ehe verstarb seine Frau, woraufhin er einer erneuten Vermählung kritisch gegenüberstand. Der in jener Zeit übliche Akt der Wiederverheiratung aus wirtschaftlichen Gründen war für Dubslav keine Option.[4] Deshalb ist Dubslav ein sehr vereinsamter Mensch; mit den benachbarten Junkern gelingen keine Freundschaften, „denn der alte Dubslav war nicht sehr für Freundschaften“ (218) und „war immer froh, wenn sich ihm Gelegenheit bot, sich mal auszuplaudern“ (266).

Dubslavs politische Gesinnung kann als konservativ konstatiert werden. Er liest die „Kreuzzeitung“ (399) und lässt sich außerdem von „den Konservativen“ (24) bei der Reichstagsersatzwahl als Wahlkandidat aufstellen. Diese wollen Dubslav „haben und keinen andern“ (24). Auffallend ist, dass Dubslav nicht aus eigener Antriebskraft als Kandidat antritt; vielmehr bedarf es einiger Überzeugungsarbeit der Partei. Vermutlich tritt er als Kandidat an, um dem beschaulichen und ruhigen Leben des Schlosses Stechlin temporär zu entfliehen. Neben dieser konservativen Einstellung lässt sich indes eine liberale Haltung Dubslavs feststellen. Dubslav lacht „über nichts so sehr wie über Liberalismus“ (136) und doch gebe es keinen, „der innerlich so frei wäre“ (136) wie er. Zudem höre er „gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser“ (8). Seiner preußischen Gesinnung widerstrebt es, das Liberale offenzulegen. Zusätzlich kann dargelegt werden, dass Dubslav gegen die Sozialdemokratie ist. Dies scheint nicht zuletzt wegen der politischen Rivalität sowie der aufstrebenden Mitglieder sozialdemokratischer Parteien begründet. Infolge der preußischen Gesinnung ist bei Dubslav auch eine Sympathie für Russland und dessen Zaren festzustellen.[5] Er differenziert in seiner preußischen Gesinnung jedoch deutlich zwischen Defiziten und Kompetenzen Preußens. Es wird im Laufe des Romans schnell erkenntlich, dass Dubslav eine Begeisterung für Friedrich II. hegt. Ähnlich klingt seine Begeisterung für den gesellschaftlichen Umgang im 18. Jahrhundert, da die Menschen seiner Zeit „jetzt so schrecklich unpoliert und geradezu unmanierlich“ (211) seien. Er zieht es vor, aufgrund des Umgangs der Menschen untereinander, an den „Verbindlichkeiten des achtzehnten Jahrhunderts festzuhalten“[6]. Das Insistieren und Zurückdenken an vergangene Zeiten ist bezeichnend für Dubslav. Seinerseits erfahren die Befreiungskriege des Jahres 1813 große Huldigung und Ehre. Er gibt zu verstehen, dass diese Zeit „Größer als die jetzt große“ (51) sei. Durch diese Rückbesinnung wird die konservative Einstellung Dubslavs abermals verdeutlicht. Weiterhin ist sein Verhältnis zum Militär von großer Signifikanz; er steht seiner militärischen Vergangenheit durchaus ironisch gegenüber.[7] Diese Auffassung verstärkt die Sympathie seinerseits für Friedrich II. erneut.

Dubslavs Standpunkt zur Politik und dessen Ausführung wird in seiner Niederlage bei der Reichstagsersatzwahl erneut veranschaulicht. Es wird ersichtlich, dass Dubslav kein Politiker ist und damit kennzeichnend für den Adel steht. Er erfüllt das Profil eines Politikers keineswegs und nimmt die Wahl nicht in dem Maße ernst, als dass ein Sieg abzusehen wäre.[8] Die politischen und gesellschaftlichen Obliegenheiten im 19. Jahrhundert wurden durch den Adel unzureichend erfüllt; folglich verlor der Adel an Zukunftsbedeutung. Zu dieser wachsenden politischen Bedeutungslosigkeit des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert fügten sich ökonomische Probleme desselben an. Angesichts der Agrarkrise in den 1890er Jahren kam es zu Konjunktur- und Preisschwankungen in der Landwirtschaft, denen die Landjunker nicht adäquat gewachsen waren. Zudem gab es Probleme bei der Umstellung der landwirtschaftlichen Produktions- und Arbeitsweisen, was schließlich die Existenz des ostelbischen Adels bedrohte.[9] Aber nicht ausschließlich der Druck des Weltagrarmarktes war bedrohlich, auch die zunehmende Bedeutungslosigkeit des primären Wirtschaftssektors[10] zugunsten des sekundären Wirtschaftssektors war von Bedeutung. Dass sich aus diesen Problemen der Produktion ferner monetäre ergaben, macht die finanzielle Situation Dubslavs deutlich (11); er kann als ökonomisch schlecht agierender Adeliger gesehen werden, wodurch die monetäre Situation des Adels im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dargelegt wird.[11]

Abschließend sei an dieser Stelle Dubslavs Ableben am Ende des Romans gedeutet. Er stirbt, ähnlich wie Friedrich II., an der Wassersucht, die ihn schon über einen langen Zeitraum belastete.[12] Nach Heiko Strech sei der Tod Dubslavs nicht „der Untergang der Adelswelt, sondern der Übergang in eine neue“[13] Form. Diese Modifikation des Adels wird in den Charakteren seines Sohnes Woldemar und dessen späterer Gemahlin Armgard sichtbar.

3.1.2 Domina Adelheid von Stechlin

Adelheid von Stechlin verkörpert im Roman, wie ihr Bruder Dubslav, das ostelbische Junkertum, jedoch sind in ihr keine liberalen Züge zu erkennen. In ihrer Funktion als Stiftsdame im Kloster Wutz nimmt sie die kennzeichnende Rolle nichtverheirateter Adelstöchter im 19. Jahrhundert ein. Signifikant ist darüber hinaus die Wahl eines religiösen Berufes, da den Adeligen etwaige bürgerliche Berufe weitestgehend verschlossen blieben.[14] Adelheids Zugehörigkeit zum orthodoxen Luthertum lässt sie auch eine Antipathie gegenüber der römisch-katholischen Kirche repräsentieren. Das Wort „beichten“ (96) habe für sie einen „katholischen Beigeschmack“ (96), sodass Woldemar ihr doch besser „Erzählen“ (95) solle. Ferner verdeutlicht sie, dass ihr „ein fester Protestant […] jedes Mal eine Herzstärkung“ (96) sei, was nicht zuletzt aufgrund des wachsenden Katholizismus ihrerseits begründet scheint. Außerdem steht fest, dass sich in Adelheid die Angst der herrschenden Schicht vor einer erneuten bürgerlichen Revolution widerspiegelt. Sie stellt das Alte und Konservative wie keine andere Person im Roman dar.[15] Dies wird bereits bei der Beschreibung ihres Klosters deutlich: „Das meiste, was sie sahen, waren wirr durcheinander geworfene, von Baum und Strauch überwachsene Trümmermassen“ (91). Diese Schilderung des Klosters veranschaulicht, dass der Adel, wie Adelheid ihn figuriert, keine Zukunftsperspektive mehr hat beziehungsweise ein erneuter Aufbau desselben nicht erstrebenswert erscheint. Zusätzlich „passt [Adelheid] nicht mehr in die Zeit, in der sie lebt“[16], sodass ihre Angst vor einem „gesellschaftlichen Funktionsverlust des Adels“[17] berechtigt ist. Überdies wird veranschaulicht, dass der Adel durch den Erhalt dieser „Trümmermassen“ (91) im Kloster Wutz an der Wahrung des Zustandes stark interessiert und fokussiert ist. Das Interesse besteht vorwiegend am Erhalt der Rangordnung und den Privilegien in der Gesellschaft sowie der gesellschaftlichen und politischen Funktion des Adels.

Die erzkonservative Gesinnung Adelheids wird in dem Insistieren auf ihre Abstammung ersichtlich. Sie führt an, dass sie „eine Märkische von Adel“ (417) sei und ihre „Mutter […] eine Radegast“ (417) gewesen sei. Diesen „Standesstolz“[18], lediglich auf den „märkischen und pommerschen Adel“[19] bezogen, nutzt sie auch zur Beeinflussung Woldemars bei der Wahl seiner zukünftigen Gemahlin (188-190). In ihrer ausgiebigen Darstellung der verschiedenen Adelsgeschlechter selektiert sie nach Bedeutung und Rang, aber allein der „Adel […] in unserer Mark“ (188) sei der Richtige. Diese „Aufzählung spiegelt die Friktionen des deutschen Adels im 19. Jahrhundert“[20] wider. Ihre an Woldemar gerichtete Bitte, „Heirate heimisch und heirate lutherisch“ (191), klingt wie das Betteln einer Frau, die um ihre nicht zukunftsfähige gesellschaftliche Stellung weiß und nun die einzig bestehende Möglichkeit des Familienerhaltes zu greifen versucht.

Die Weltfremdheit Adelheids wird zudem in ihrem Urteil bezüglich technischer Innovationen, beispielsweise zu neuen Verkehrsmitteln, erkenntlich. Adelheid ist nur mit den Pferdebahnen in Berlin vertraut, jedoch nicht mit den elektrifizierten Strecken der Straßenbahn.[21] Weiterhin äußert sie sich negativ gegenüber dem Fahrrad, das „jetzt überall Mode“ (93) sei. Des Weiteren bereitet ihr die Aussprache desselben Schwierigkeiten, sodass das unzureichende Bildungsniveau Adelheids dargelegt wird. Darüber hinaus entgegnet sie in einem Gespräch mit Dubslav, der sie als „petrefakt“ (336) bezeichnet, dass sie dieses Wort nicht kenne (336). Nicht nur Fremdwörter der klassischen Philologie bereiten ihr Probleme des Verständnisses und der Pronunziation, es lassen sich außerdem Defizite des „Französischen“ (116) und „Englische[n]“ (116) feststellen. Die Mängel der englischen Sprache gehen einher mit der Antipathie und Geringschätzung Englands. Sie gibt zu verstehen, dass ihr „dieses Volk [was] rundum von Wasser umgeben ist“ (302) keineswegs zusage, nicht zuletzt wegen des nicht vorhandenen „Einwohner-Meldeamt[es]“[22] (302). Zudem gerät die englische Küche in Adelheids Kritik: „Und wie sie kochen und braten! Alles noch fast blutig, besonders da, was wir hier ‚englische Beefsteaks‘ nennen“ (302). Es lässt sich aus dieser umfangreichen Kritik Adelheids nicht nur ihre Weltfremdheit und Geringschätzung des Fremden konstatieren, sondern auch ihre Unsicherheit gegenüber allem Unbekannten und Neuen. Aus dieser Unsicherheit entsteht folglich wiederum die Furcht vor dem Eindringen desselben in die Gesellschaft und dem damit einhergehenden Verfall und Funktionsverlust des Adels. Das Neue lehnt sie restriktiv ab und sieht dies als „Traditionsbruch und Auflehnung gegen die gottgewollte Ordnung“[23]. Dass Adelheid der Transformation des Deutschen Kaiserreiches von einem Agrarstaat in einen Industriestaat ebenfalls kritisch gegenübersteht, wird in ihrer Vorliebe für den „Gemüsebau“ (305) sichtbar; jene Form der Landwirtschaft bereitet der Domina große Freude. Die Feldwirtschaft steht an dieser Stelle für das Alte in der Grafschaft Ruppin. Diese sollte allerdings im Kontrast zur Globsower Glasindustrie betrachtet werden, um ein exhaustives Bild des Alten und Neuen innerhalb der dargelegten Grafschaft Ruppin zu erhalten.

3.1.3 Rittmeister Woldemar von Stechlin

Woldemar von Stechlin repräsentiert im Stechlin die Synthese des konservativen und liberalen Adels; er weist zahlreiche Eigenschaften des alten Preußentums auf sowie Tendenzen des Adelsliberalismus. Rittmeister Woldemar steht im Dienst des „1. Garde-Dragoner-Regiment, das neuerdings den Ehrentitel ‚Königin Viktoria von Großbritannien und Irland führt“[24]. Dieses war sehr angesehen, trotzdem der „militärischen Wert“[25] aufgrund des Repräsentationsbedürfnisses zweifelhaft schien.[26] Mit dieser Funktion im Militär charakterisiert Woldemar eindeutig den Niederadel im 19. Jahrhundert. In diesem Jahrhundert war es üblich, dass die Söhne, sobald der Vater ebenfalls im Militär diente, eine militärische Schule besuchten, um anschließend den Dienst im militärischen Bereich aufzunehmen.[27] Dem Dienst in der Armee folgt am Ende des Romans der Abschied aus derselben, sodass die partiell voranschreitende Bedeutungslosigkeit des Militärs in der neuen Zeit dargelegt wird.[28] Der konservativen Berufswahl Woldemars steht die von Adelheid diagnostizierte „liberal[e]“ (117) Einstellung gegenüber. Nach Zuberbühler sei Woldemar „die moderne Form eines Edelmanns“[29], die vor allem durch Bescheidenheit und Demut zu beschreiben sei.[30] Damit kehrt Woldemar zu den altpreußischen Tugenden wie Ordnung, Disziplin, Einfachheit und Loyalität zurück. Dies ist nicht analog seines Regiments zu sehen, das vorwiegend eine diametral entgegengesetzte Entwicklung nahm. Der Lebensstil jener Regimenter wandelte sich von der preußischen Einfachheit zum kaiserlichen Repräsentationswahn.[31] Ein weiteres Charakteristikum Woldemars ist sein geringes Bildungsniveau, das spezifisch für den niederen Adel war. Ebendieses wird in einem Gespräch mit Malerprofessor Cujacius offensichtlich; es kommt seitens Woldemar zur „Verwechslung“ (281) eines Gemäldes, wodurch dieser in „eine kleine Verlegenheit“ (281) geriet.

Die „liberal[e]“ (117) und zukunftsgerichtete Einstellung Woldemars wird in der Form der Kommunikation sichtbar. Woldemar bedient sich bei der Anmeldung des Besuches im Schloss Stechlin der Telegraphie (15); ferner telegraphiert er während seines Aufenthaltes in England an Melusine (276). Infolge dieser Form der Kommunikation kann Woldemar als fortschrittliche und weltoffene Person betrachtet werden. Es sei an dieser Stelle außerdem angebracht, dass die Sprache Woldemars von Berolinismen geprägt ist (114); aus diesen lässt sich eine urbane Ausrichtung des Rittmeisters feststellen. Man kann überdies erkennen, dass jene urbane Form der Sprache bereits in die ländlichen Regionen des Umlandes der Reichshauptstadt Berlin vorgedrungen ist. Diese Ausbreitung des Berlinischen vollzog sich vorwiegend durch die Bürgerinnen und Bürger Berlins, die diese Varietät mittels Reisen verbreiteten. Die Weltoffenheit Woldemars, die bereits angedeutet wurde, wird auch in seinen Auslandsaufenthalten sichtbar, die allerdings nicht von großer Dauer sind. In selbigen ist es ihm möglich, „sein[em] Interesse für die Vielfältigkeit von Menschen und Dingen“[32] nachzugehen. Woldemar hat einerseits eine Vorliebe für, aufgrund seiner Herkunft, die ländlichen Regionen und ist andererseits den urbanen Räumen zugeneigt. Im Besonderen sind hier die Städte Berlin und London zu nennen. Letztendlich fällt die Entscheidung seines Wohnsitzes auf das Schloss Stechlin und somit auf den ländlichen Raum. Diese Landbindung ist ebenfalls bezeichnend für den niederen Adel im 19. Jahrhundert.[33] Mit dieser Wahl führt er die Tradition des Adelsgeschlechtes der Stechlins fort und bewahrt sich einen gewissen Konservativismus.

Die Vermählung Woldemars mit der Comtesse Armgard nimmt im Stechlin eine wichtige Rolle ein. Woldemar verkehrt im Verlauf des Romans häufig im Hause der Barbys, kommuniziert aber auffällig oft hauptsächlich mit der ältesten Tochter des Grafen Barby, Gräfin Melusine. Ein derartiges Verhalten seitens Woldemar ist vor allem durch die Gefühle für Armgard zu begründen.[34] Diese Gefühle äußern sich im Übrigen in der Protektion Armgards, als diese vonseiten Melusines gefragt wird, warum sie so „schweigsam“ (181) sei. Woldemar bringt immediat ein, dass es „Manchem kleidet […] zu sprechen, und manchem kleidet es zu schweigen“ (183). Angesichts der Aussage, dass „Jedes Beisammensein […] einen Schweiger“ (183) brauche, macht er klar, dass Armgard trotz ihres ruhigen Verhaltens erwünscht ist. Angesichts der Vermählung Armgards und Woldemars kommt es zur „Aufhebung von Standesunterschieden zwischen Hoch- und Niederadel“[35]. Diese Form der Egalisierung des Standesunterschiedes sowie die Heirat aus ökonomischen Aspekten sind gegen Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts sehr frequent.[36] Infolge der Vermählung mit der Comtesse Armgard gelingt es Woldemar, eine finanzielle Absicherung mittels des Reichtums der Barbys zu garantieren.

3.1.4 Sägemühlenbesitzer Gundermann

Der Besitzer von sieben Mühlen, Unternehmer von Gundermann, hat im Stechlin eine bedeutende Rolle inne, obwohl eine permanente „negative Charakterisierung des Mühlenbesitzers Gundermann“[37] vollzogen wird. Er ist „ein Bourgeois und ein Parvenu“ (206) und kann bis zu seiner Nobilitierung als Angehöriger des Besitzbürgertums betrachtet werden. In der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. kam es zu zahlreichen Nobilitierungen, wobei die Kriterien der berufliche Leistung, des Grundbesitzes sowie der konservativen Gesinnung dafür ausschlaggebend waren.[38] Es sei jedoch angebracht, dass „frisch nobilitierte Familien […] in Preußen [nicht auf] Anerkennung und gesellschaftliche Ebenbürtigkeit“[39] hoffen konnten. Im Roman beklagt sich Frau von Gundermann über diese Zurückhaltung des märkischen Adels:

Die Leute hier, mit denen wir eigentlich Umgang haben müßten, sind so diffizil und legen alles auf die Goldwaage. Das heißt, vieles legen sie nicht auf die Goldwaage, dazu reicht es bei den meisten nicht aus; nur immer die Ahnen. Und sechzehn ist das wenigste. Ja, wer hat gleich sechzehn? (36)

In dieser Zurückhaltung des märkischen Adels bildet Dubslav die Ausnahme; ist er doch jener, der die Gundermanns einlädt und mit ihnen, wenn auch nicht ausdauernd, kommuniziert. Man kann vermuten, dass dies nicht aus Freundschaft geschieht, sondern vielmehr der geringen Auswahlmöglichkeit an Gästen für die Ankunft Woldemars geschuldet ist. Gundermann kann durch seinen plötzlich wachsenden Reichtum als „typische Gründerzeitfigur“[40] gesehen werden, die in der beschaulichen Gegend des Stechlinsees einen „Großindustriellen in Kleinformat“[41] darstellt. Gleichwohl erscheint nicht nur die monetäre Ausrichtung Gundermanns kennzeichnend für neu nobilitierte Personen, auch die sekundäre Betrachtung der Bildung ist für diese Schicht der Gesellschaft äußerst markant.

Darüber hinaus ist die politische Ausrichtung Gundermanns, die aufgrund der Nobilitierung als konservativ deklariert werden kann, darzulegen. Diese entspringt bei ihm nicht der „sachlichen Überzeugung von Rechtmäßigkeit der […] Lebensform, sondern einer trüben Mischung aus unternehmerischen Egoismus […] und typischen Profilierungssucht“[42]. Gundermann fungiert zwar als Helfer Dubslavs bei dessen Kandidatur für den Reichstag, dennoch „intrigiert“ (82) er, weil er selbst aktiv in die Politik möchte. Insbesondere ist bei Gundermann ein Streben nach einer persönlichen Kandidatur für den Reichstag festzustellen. Jener Wille zur Kandidatur steht aber im Kontrast zu seiner Meinung zum Reichstag, dem er sehr kritisch gegenübersteht (228). Neben dem angestrebten Erfolg in der Politik spricht sich Gundermann klar für das traditionelle preußische Dreiklassenwahlrecht[43] aus. Dieses sichert dem Adel langfristig den Erhalt der exponierten gesellschaftlichen und politischen Stellung.[44] Auffällig an seinem politischen Verhalten ist des Weiteren, dass er in einem unnatürlichen Maße mit den Worten „Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie“[45] (43) gegen selbige hetzt. Dadurch wird die Angst des Adels vor einem gesellschaftlichen Umbruch deutlich, sodass man versucht, mit Denunzierungen die Domination über den aufkommenden vierten Stand aufrechtzuerhalten, um eine Fortführung des monarchischen Staatssystems zu gewährleisten.

In der Darstellung des Sägemühlenbesitzers Gundermann lässt sich Fontanes permanente Kritik der Bourgeoisie erkennen. In einem Brief an seine Tochter Martha schrieb er: „Ich hasse das Bourgeoishafte mit einer Leidenschaft, als ob ich ein eingeschworener Sozialdemokrat wäre“[46]. Vornehmlich unterlagen die Attribute der „Geldsackgesinnung“ und der Unaufrichtigkeit dieser gesellschaftlichen Gruppierung seiner anhaltenden Kritik.[47]

3.2 Hochadel

Die Präsentation des Hochadels im Stechlin ist weitaus diffiziler als dieselbe des Niederadels. Als Angehörige des Hochadels agieren die Familie des Grafen Barby, Baronin und Baron Berchtesgaden sowie die Prinzessin Ermyntrud von Ippe-Büchsenstein, die mit Oberförster Katzler verheiratet ist.[48] Die Bedeutung der Baronin und des Barons Berchtesgaden erweist sich im Roman als marginal, obwohl sie mit der Familie des Grafen Barby eng befreundet sind. Ein inniges Freundschaftsverhältnis verbindet die Baronin mit Melusine (128), der Baron hingegen pflegt ein freundschaftliches Verhältnis mit dem Grafen Barby (145). Da beide der Freizeitbeschäftigung des Spielens sehr zugeneigt sind, findet eine solche „Spielepartie“ (278) häufiger statt.

[...]


[1] Im Folgenden wird zitiert nach: Theodor Fontane, Der Stechlin.Große Brandenburger Ausgabe, hrsg. von Klaus-Peter Möller, GBA 17. Berlin: 2011.

[2] Monika Wienfort: „Fontane und der Adel. Beobachtungen zum ‚Stechlin‘“, in: Fontane-Blätter (2003) 76, S. 126-133, hier S. 128.

[3] Vgl. Rolf Zuberbühler: Theodor Fontanes „Stechlin“. Fontanes politischer Altersroman im Lichte der „Vossischen Zeitung“ und weiterer zeitgenössischer Publizistik. Berlin: 2012, S. 441f.

[4] Vgl. Wienfort, Fontane und der Adel 2003, S. 128.

[5] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 365-367.

[6] Ebd., S. 346.

[7] Vgl. Sagarra, ‚ Der Stechlin ‘ 1986, S. 24.

[8] Vgl. Hans Dieter Zimmermann: „Was der Erzähler verschweigt. Zur politischen Konzeption von ‚Der Stechlin‘“, in: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen. Würzburg 2000, S. 129-141, hier S. 133.

[9] Vgl. Magnus Schlette: „Fontanes Adelstypologie im ‚Stechlin‘. Eine Untersuchung ihres sozialgeschichtlichen Gehalts“, in: Literatur für Leser (1999) 3, S. 127-143, hier S. 130.

[10] Die Einteilung der Wirtschaftssektoren erfolgt nach dem Prinzip der Tätigkeiten. Der Wirtschaftssektor I (primärer Sektor) umfasst die Land-, Forstwirtschaft und die Fischerei; der sekundäre Sektor beinhaltet das produzierende Gewerbe und der tertiäre Sektor den Bereich der Dienstleistungen. (Vgl. Elmar Kulke: Wirtschaftsgeographie. Paderborn: 2006, S. 27.)

[11] Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 12-15.

[12] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 380f.

[13] Heiko Strech: Theodor Fontane: Die Synthese von Alt und Neu. „Der Stechlin“ als Summe des Gesamtwerks. Berlin 1970, S. 59.

[14] Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 27-30.

[15] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 59.

[16] Schlette, Adelstypologie im ‚Stechlin‘ 1999, S. 134.

[17] Ebd.

[18] Wienfort, Fontane und der Adel 2003, S. 129.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 140f.

[22] In der preußischen Verwaltung galt ein streng geordnetes Aktensystem, sodass etwas, was nicht in den Akten stand, nicht existierte. Dass dies nun in England in dieser Form nicht existierte und somit der Kritik Adelheids unterliegt, verdeutlicht nochmals ihre preußische Gesinnung. (Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 83)

[23] Schlette, Adelstypologie im ‚Stechlin‘ 1999, S. 134.

[24] Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 299.

[25] Ebd., S. 301.

[26] Vgl. ebd.

[27] Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 19.

[28] Vgl. Sagarra, ‚ Der Stechlin‘ 1986, S. 24.

[29] Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 329.

[30] Vgl. ebd.

[31] Vgl. ebd., S. 302f.

[32] Wienfort, Fontane und der Adel 2003, S. 132.

[33] Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 15.

[34] Vgl. Guido Vincenz: Fontanes Welt. Eine Interpretation des „Stechlin“. Zürich: 1966, S. 20.

[35] Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 33.

[36] Vgl. ebd.

[37] Strech, ‚Der Stechlin‘ als Summe des Gesamtwerks 1970, S. 17.

[38] Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 64f.

[39] Wienfort, Fontane und der Adel 2003, S. 129.

[40] Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 255.

[41] Ebd.

[42] Schlette, Adelstypologie im ‚Stechlin‘ 1999, S. 140.

[43] Das Dreiklassenwahlrecht differenzierte zwischen der Steuerleistung des Wählenden und gewichtete folglich die Stimme eines Adeligen höher als die eines Fabrikarbeiters. (Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 258)

[44] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 258.

[45] Dieser politische Ausspruch ist einer der häufigsten am Ende des 19. Jahrhunderts. (Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 256)

[46] Theodor Fontane: Briefe an seine Familie. Berlin: 1905, S. 268.

[47] Vgl. Kenneth Attwood: Fontane und das Preußentum. Berlin: 1970, S. 218f.

[48] Für eine vertiefende Darstellung zur Prinzessin Ippe-Büchsenstein siehe Zuberbühler 2012, S. 312-316.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783955497668
ISBN (Paperback)
9783955492663
Dateigröße
318 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Deutsches Kaiserreich Gesellschaftsstruktur Adel Fontane Dekadenz

Autor

Johannes Mücke wurde 1989 in Berlin geboren. Sein Studium der Germanistik und Geographie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz schloss er im Jahre 2012 mit dem Bachelor erfolgreich ab. Während des Studiums war die Literatur des Realismus, insbesondere die Werke Theodor Fontanes, immer wieder Untersuchungs- und Interessenschwerpunkt.
Zurück

Titel: Die Literarisierung des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert am Beispiel Theodor Fontanes "Der Stechlin"
Cookie-Einstellungen