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Über die politische Philosophie im Daodejing

©2011 Magisterarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Ziel dieser Auseinadersetzung mit der Philosophie Laozis ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Sinngehalts des Daodejings (DDJ) sowie der mutmaßlichen Bedeutung der enthaltenen Essenz für den originären Verfasser und dessen Publikum. Im Anschluss an die Bewusstmachung des Kontexts seiner Genesis werden der Text sowie die grundsätzliche Gültigkeit der darin enthaltenen Gedanken deswegen, ganz im Sinne der historischen Hermeneutik, in direktem Bezug auf die soziohistorischen Umstände ihrer Entstehung interpretiert. Mit erstaunlicher Sekurität lässt sich dergestalt konkludieren, dass sich das DDJ als ursprünglich zutiefst politisches Werk primär mit der Realisierung von Frieden und gesellschaftlicher Ordnung beschäftigt. Wie diese Ordnung im Detail auszusehen hat, muss anhand Laozis Hauptthema, der Problematik der Identität und Funktion des „Dao“, entschlüsselt werden. Zentrale Fragen, mit denen sich diese Arbeit beschäftigt, sind daher: Was ist das Dao (im DDJ)? In welchem Bezug steht es zur phänomenalen Welt? Wie lebt der Mensch in diesem Dao? Wie hat er es verloren und (wie) kann er es zurückgewinnen? Welche politische Form des Zusammenlebens beschreibt Laozi als optimal? Warum?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.1 Die traditionellen Kommentare

Als erster überlieferter Kommentar des DDJ gelten gemeinhin zwei Kapitel im, den Namen seines Schöpfers tragenden Werk des Han Feizi. Zudem finden sich im „bibliographischen“ Teil der Geschichte der Han-Dynastie („Hanshu“) vier Kommentare aufgelistet, die jedoch nicht bis in unsere Zeit erhalten geblieben sind. Dieser Verluste ungeachtet, begann das Studium des Laozi von eben dieser Zeit, der Periode der Regierung der Han-Dynastie an, zu gedeihen. In ihr wird auch der Heshang Gong Kommentar zeitlich angesiedelt - traditionell an ihrem Anfang, der neueren Forschung zufolge eher an deren Ende. Heshang Gong soll als Experte des DDJ bekannt gewesen sein und als solcher die Aufmerksamkeit des Herrschers Wen auf sich gezogen haben. Weil zuletzt genannter sich bei einem Besuch als würdiger Schüler erwies, soll der Alte ihm seine wahre Identität als Abgesandter des göttlichen Laozi, offenbart und ihm das DDJ nebst Kommentar übergeben haben. Was der Kommentar mit anderen Werken der Han-Zeit gemein hat, ist der Glauben, dass das Universum aus Qi-Energie besteht. Auf dieser Grundlage interpretiert Heshang Gong das DDJ in den Begriffen der Yin und Yang Theorie. Infolgedessen soll das DDJ nicht nur den Ursprung des Universums enthüllen, sondern weitaus wichtiger, den Weg zum persönlichen Glück und einer gelungenen sozialpolitischen Ordnung zeigen. Dabei ist festzuhalten, dass nach dieser Sichtweise zufolge die beiden Aspekte, die „Ordnung der Persönlichkeit (des Leibes)“ und die „Ordnung des Staates“, nicht nur parallel gelagert, sondern unentwirrbar miteinander verknüpft sind und den selben Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Weil Selbstkultivierung und Herrschaft praktisch immer eine Einheit bilden, steht die Ordnung im Staat allzeit im direkten Zusammenhang zur physischen und spirituellen Konstitution des Herrschers – und umgekehrt[1].

Der zweite bedeutende Kommentar wird Yan Zun (83v.Chr. -10n.Chr.), ebenfalls einem Gelehrten aus der Han-Dynastie, zugeschrieben. Leider sind lediglich seine Ausführungen zum De-Teil (Kapitel 38-81) erhalten geblieben. Auch Yan Zun verschreibt sich der Yin und Yang Theorie, im Gegensatz zu seinem Vorgänger proklamiert er aber kein Programm der aktiven Pflege der eigenen Qi-Energie oder des langen Lebens. Da das Dao jedoch ewig lebt, soll demjenigen, der es entsprechend würdigt, automatisch ein langes Leben beschieden sein. Da jede Anstrengung, welche der „Natürlichkeit“ (ziran) entgegen steht, unweigerlich kontraproduktiv und zum Scheitern verurteilt ist, ist es jedoch von äußerster Wichtigkeit, dass bei der Selbstkultivierung nicht gegen das Prinzip des „Nichthandelns“ verstoßen wird. Überhaupt nimmt das Konzept der Natürlichkeit den zentralen Punkt im Kommentar Yan Zuns ein. Es beschreibt nicht nur das Dao und seine Manifestation in der Welt, sondern weist zugleich hin auf ein ethisches Ideal. Indem der Weise an der Natürlichkeit festhält, sich frei macht von Wünschen und Verlangen und so dem Dao folgt, werden dem Weisen im Gegenzug die einfachen Menschen Folge leisten und ihm das Reich anvertrauen.

Xiang’er (ca. 2. Jh. n. Chr.) betont in seinen Ausführungen (von denen nur die Kapitel 3-37 überliefert sind) die religiöse Bedeutung des Laozi und akzeptiert bedingungslos seinen Status als Heiliger. Im Gegensatz zu Heshang Gong und Yan Zun wendet er sich nicht primär an die gesellschaftliche Gruppe im Besitz politischer Macht, sondern an alle Interessierten. Diese lädt er ein, an der Suche nach dem Dao zu partizipieren und durch moralische Disziplin zur Einheit mit ihm zu gelangen. Wer durch Meditation und andere Übungen seine lebenswichtige Qi-Energie entsprechend hegt und pflegt, erhält Xiang’er zufolge den Schlüssel zu einem langen Leben und ultimativ sogar einen „geistigen Körper“, der befreit ist von den Beschränkungen einer irdischen Existenz. Spirituelle Disziplin allein reicht für diesen Zustand allerdings noch nicht aus, sie muss kombiniert werden mit der Akkumulation moralischer Meriten.

Den Kommentar von Wang Bi (226-249) könnte man wiederum fast als das absolute Gegenteil zu der Interpretation von Xiang’er bezeichnen. Einen Hinweis auf Unsterblichkeit gibt es nicht, genauso wenig findet sich in seinem Kontrastprogramm eine Vergötterung Laozis. Nach Wang Bi hat das DDJ grundsätzlich überhaupt recht wenig mit dem Thema des „langen Lebens“ zu tun. Vielmehr ermöglicht es einen tiefgründigen Einblick in die grundsätzliche Andersartigkeit des Dao und die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen.

Wang Bi gehörte zu den anerkannten Führern einer Bewegung, deren erklärtes Ziel es war, die daoistische Philosophie wiederzubeleben. In westlichen Quellen unsachgemäß (es handelte sich nämlich keineswegs um eine einheitliche Gruppierung) als „Neo-Daoismus“ bezeichnet, erlangte diese Bewegung während der Wei Periode (220-265) zunehmende Bedeutung und prägte die intellektuelle Szene Chinas bis weit ins 6. Jahrhundert. Das Alleinstellungsmerkmal seiner Arbeit ist die Konzentration auf das, was er die „Logik der Schöpfung“ nennt. Demnach bildet das Dao den absoluten Anfang, in dem alle anderen Dinge ihre Wurzeln haben. Der Ursprung allen „Seins“ kann jedoch logischerweise nicht selbst „sein“, sonst verlöre man sich in einem endlosen Regress. Deswegen spräche Laozi vom Dao auch immer nur als „Nichtsein“ (wu). Die Transzendenz des Dao dürfe unter keinen Umständen kompromittiert werden. Um Laozi gerecht zu werden muss deswegen gezeigt werden wie die Funktionen des Dao in die grundlegenden „Prinzipien“ (li), welche das Universum bestimmen, übersetzen lassen. Laut Wang Bi lassen sich sämtliche Erscheinungsformen des Himmels und der Erde letztendlich auf das Dao zurückführen. In dessen Gefilde sind die Prinzipien durch „Natürlichkeit“ (ziran) und „Nichthandeln“ (wu-wei) kennzeichnend, wobei „Natürlichkeit“ die Ausdrucksform des Ultimativen, der höchsten Wahrheit, sein soll.

In späteren Quellen erntet Wang Bi viel Lob dafür, das „Konzept des Prinzips“ als erster ausführlich philosophisch aufgearbeitet zu haben. Gerade auf moderne Interpretationen, sowohl in Asien als auch im Westen, hat er nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Für lange Zeit fand seine Arbeit allerdings fast keinerlei Beachtung.

Im traditionellen China wurde die Vormachtstellung nämlich, mindestens bis zur Song-Dynastie (960-1279), vom Kommentar Heshang Gongs eingenommen. Seine allgemein anerkannte Autorität lässt sich auf seine Stellung in der daoistischen Religion zurückführen. In ihr okkupiert sein Werk den zweiten Rang, direkt hinter dem DDJ selbst.

Von der Tang-Periode (618-907) an finden sich erste ernsthafte Versuche die Laozi Kommentare zu sammeln und zu klassifizieren. Zhang Junxian, ein daoistischer Meister aus dem 8. Jahrhundert, zitierte bereits über dreißig andere Kommentare und Du Guangting (850-933) bietet uns gar eine Sammlung von gut und gerne sechzig Vorläufern. Bei ihm findet sich erstmals eine grundsätzliche Unterteilung der Kommentare in zwei Klassen: Jene, die das DDJ im Hinblick auf das Individuum, auf seine persönliche Kultur und die Pflege seiner physischen uns spirituellen Komponenten hin verstanden wissen wollen und diejenigen, die sich auf den politischen Aspekt, also auf eine staats- oder herrschaftstheoretische Betrachtungsweise konzentrieren.

Selbstverständlich sind hier nur die größten Interpretationsrichtungen des DDJ skizziert worden. Aufgrund der erstaunlichen Vielfältigkeit, selbst mit einer Beschränkung auf die frühen Auslegungen, ist jeder Anspruch auf Vollständigkeit vollkommen abwegig. Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen sei noch der Kommentar Wang Zhens erwähnt, den er seinem Herrscher Xianzong im Jahre 809 präsentierte: Will man ihm Glauben schenken, so handelt es sich beim DDJ um eine Abhandlung über militärische Strategie.

Überhaupt wurde dem DDJ schon immer reichlich Aufmerksamkeit von höchster – kaiserlicher – Stelle zuteil. Nicht weniger als acht Kaiser verfassten persönlich Kommentare zu ihm oder gaben solche zumindest in Auftrag. Wie für alle anderen Auslegungen gilt summa summarum wohl auch für sie:

The commentaries clearly reflect the manifold tendencies in the history of Chinese thought (…) They show the different mystical interpretations of inner nature, the residence of ultimate reality within human beings, and of mind, the spirit-like quality of the psyche. They link the text with physical and alchemical practices, rewrite it in political, mystical, cosmological, and philosophical terms (…) Usually they circle around a number of basic ideas, using them all at different times when they consider it fit. The Tao-te-ching, reinterpreted in its commentaries over the ages, is thus a prime text for the continuous unfolding of syncretism in traditional China, supported by thinkers of all different schools and forever reconfirmed in its original polysemy. [2]

2.2 Die Laozi-Rezeption im Westen

Seit nunmehr über 200 Jahren erfreut sich das DDJ im Westen, wie auch in vielen anderen Regionen dieser Erde, die keineswegs der geographische Sphäre der chinesischen Kultur zugerechnet werden können, anhaltender Beliebtheit und hat im Laufe dieser Zeit eine genauso weit reichende wie verschiedenartige Leserschaft angesprochen und in seinen Bann gezogen. Vielen gilt es nach wie vor als Quelle der Inspiration und Orientierung. Wie aber lässt sich dieses Phänomen, insbesondere hinsichtlich der oftmals komplett unterschiedlichen intellektuellen und geschichtlichen Bedingungen, erklären?

Gerade im Vergleich mit der im vorausgegangenen Kapitel kurz umrissenen chinesischen Tradition fällt diesbezüglich auf, dass es immer wieder Teil- und oft genug sogar verzerrte Nebenaspekte waren, die für den westlichen Rezipienten relevant wurden. Sowohl Julia M. Hardy[3] als auch Oliver Grasmück[4] haben in ihren Arbeiten die Muster der Wahrnehmung und Verarbeitung des Daoismus vor dem Hintergrund der eigenen europäisch-christlich geprägten Kultur und des jeweils vorherrschenden „Zeitgeistes“ aufgewiesen und grundsätzlich unterscheidbare Rezeptionsphasen[5] ausfindig gemacht und analysiert. Wie in meiner Einleitung bereits erwähnt wurde das DDJ lange Zeit durch philologisch kaum fundierte Übersetzungen immer wieder aus jedem Kontext gelöst, nur um sodann als philosophisch-religiöse Offenbarung verabsolutiert zu werden. Ob es dabei nun von so unterschiedlichen Positionen wie dem Monotheismus oder dem Materialismus für sich reklamiert wurde, macht fast keinen Unterschied – Anhänger jeglicher Glaubensrichtung und Überzeugung suchten und fanden in ihm Bestätigung für die jeweils eigene philosophische Befindlichkeit[6].

Dies ist wohl, zumindest im letzten Jahrhundert, vor allem darauf zurückzuführen, dass der größte Teil der Interpreten des Chinesischen nicht mächtig war, mit sinologischen Fachgelehrten keine entsprechenden Kontakte pflegte und obendrein Übersetzungen zweifelhafter Qualität blind vertraute. Allerdings kursierten auch in der Fachwelt, bis lange in das vergangene Jahrhundert hinein, recht eigenwillige Übersetzungen und Auslegungen des DDJ. Wie Reiter diesbezüglich treffend feststellt, schien die Philosophie des fernen Ostens dem literarisch und philosophisch interessierten Intellektuellen zwar die Möglichkeit der Loslösung von seinen kulturellen Wurzeln zu geben und einem Eskapismus nach dem Motto „ex oriente lux“[7] Vorschub zu leisten, doch zeigen in der Retrospektive genau diese Befreiungsversuche, wie sehr viele dieser Denker doch – genauso wie die professionellen Chinakundler auch – in ihrer angestammten Bildung und Geisteswelt verhaftet waren[8]. Welchem Wandel diese Welten und der in ihnen herrschende „Zeitgeist“ vom ersten Kontakt mit dem DDJ bis heute unterworfen waren und welchen Einfluss das seitdem gewonnene Wissen auf das (bessere[9] ) Verständnis des Textes gehabt hat, soll im Folgenden rasch dargelegt werden.

Die Auseinandersetzung mit dem Daoismus begann im Westen sehr viel später als die mit dem Konfuzianismus, sollte dafür aber nachher umso angeregter und facettenreicher ausfallen. Verantwortlich für diese anfängliche Verzögerung in der Wahrnehmung zeichneten sich die an der Verbreitung der christlichen Heilslehre interessierten Jesuiten, die ab dem Jahre 1577 mit ihrer Chinamission begannen. Zu diesem Zweck erlernten sie die Sprache des Landes und studierten die ihnen zugänglichen Schriften. Ihre Lehrmeister am Hofe des Kaisers waren jedoch ausschließlich Konfuzianer, die dem Daoismus in ihrer Geschichte höchstens als okkultem Aberglauben einen Platz einräumten. Durch die Vorurteile der einheimischen Gelehrten beeinflusst, ließen auch die Jesuiten dem Daoismus (genauso wie der dritten Säule der chinesischen Kultur, dem Buddhismus) zunächst wenig Aufmerksamkeit zuteil werden. Gleichwohl ist ihnen die erste Übersetzung in eine europäische Sprache zu verdanken[10]. Im Jahre 1788 vermachten sie der Royal Society in London eine handschriftliche Übersetzung in lateinischer Sprache. In ihr wurde Dao als „ratio“, im Sinne höchster Räson eines göttlichen Wesens, wiedergegeben[11]. Nach eigenen Angaben wollte der Übersetzer zeigen, dass:

…the Mysteries of the Most Holy Trinity and of the Incarnate God were anciently known to the Chinese nation.[12]

Von dieser Pioniersarbeit abgesehen, hat der Daoismus aber ansonsten für das Europa des 18. Jahrhunderts so gut wie keine Rolle gespielt[13].

Erst mit den Veröffentlichungen von Jean Pierre Abel-Rémusat[14], dem ersten europäischen Professor für Sinologie am Collége de France, und der ersten vollständigen und kommentierten Übersetzung seines Schülers und Nachfolgers Stanislas Julien 1842, rückte das DDJ nachhaltig in den Aufmerksamkeitshorizont der europäischen Bildungselite. Abel-Rémusat machte sich für die Übersetzung von Dao als „logos“ stark, da er es mit seiner Vorstellung des christlichen Gottes als kompatibel erachtete und ihm aufgrund dessen eine dreifache Bedeutung als höchstes Wesen, Vernunft und Wort[15] zuschrieb. Julien, dessen Arbeit stark vom Heshang Gong Kommentar beeinflusst war, dem einzigen damals bereits verfügbaren, korrigierte seinen Vorgänger und übersetzte Dao erstmals mit „Weg“[16] und in Einklang mit dem ersten Kapitel als „Pforte“[17]. Die Werke dieser beiden französischen Vorkämpfer gaben den Startschuss für eine ganze Reihe weiterer Übersetzungen, die ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem den deutsch- und englischsprachigen Raum überfluteten[18].

Diese erste Welle der Daoismusrezeption ging zeitlich einher mit dem europäischen Imperialismus in Asien und reichte ungefähr von der Zeit des Opiumkrieges (1840-42) bis zur Niederschlagung des Boxeraufstandes (1900). In ihr fiel das Ansehen Chinas im Westen auf einen zuvor und danach nie wieder erreichten Tiefpunkt[19]. Unter anderem in Alexander Ulars Buch[20], das auf den ersten Blick noch aussieht wie eine herkömmliche Übersetzung des DDJs, hat diese Haltung deutliche Spuren hinterlassen. Wie der Titel des Werks schon verrät, wird der Leser anstatt mit einer Übersetzung nämlich mit Ulars eigenen Ausführungen und seinem recht eigenwilligen Verständnis der Lehren Laozis konfrontiert. An der Motivation seiner Arbeit lässt der Autor keine Zweifel aufkommen. Er war der festen Überzeugung, das DDJ vollkommen verstanden zu haben, sogar besser als die Chinesen selbst:

Aber jedenfalls habe ich den Beifall der chinesischen Gelehrten, denen ich an Ort und Stelle die wesentlichen Stellen des Textes, den sie nicht verstanden, in dem nach der oben beschriebenen Methode gefundenen Sinne ins Neuchinesische zurückübersetzt habe, und denen es dabei wie Schuppen von den Augen fiel.

Zu seiner Freude hatte er nämlich:

an vielen Stellen klaren Sinn und tiefe Weisheit gefunden, wo die chinesischen Kommentatoren Unverständlichkeit und die westländischen Philologen nur zu oft blödes Geschwätz fanden.[21]

Mit den Truppen der europäischen Mächte kamen ein weiteres Mal auch die Missionare nach Asien, diesmal allerdings protestantische, die es sich zur Aufgabe machten, die spirituelle Grundlage Chinas zu erforschen und den eigenen Glauben zu exportieren. Zu diesem Zweck übersetzten sie eifrig chinesische Texte und machten sie erstmals auch einem größeren europäischen Publikum zugänglich. Jedoch waren ihre Wahrnehmung und demgemäß auch ihr Schaffen, fortwährend geprägt von ihrem theologischen Hintergrund. Dieser ließ sie beharrlich Vergleiche zwischen dem christlichen und daoistischen Denken ziehen, teils mit heute recht bizarr anmutenden Resultaten. Bücher, wie das des Tübinger Theologen Julius Grill, mit so Bände sprechenden Titeln wie in diesem Fall “Lao-tszes Buch vom höchsten Wesen und höchsten Gut“[22], waren durchaus keine Seltenheit[23]. So machte Grill bereits in seinem Vorwort die Natur seines Unterfangens deutlich:

Wie die Einleitung und das Verzeichnis der neutestamentlichen Parallelen im Anhang ... zeigen wird, stoßen wir bei Lao-Tsze auf die merkwürdigste Vorausnahme der ethischen Grundgedanken Jesu. ... Mag man aber auf dieser oder jener Seite urteilen, wie man will, Tatsache ist es, daß zur Zusammenstellung von Lao-tsze und Jesus eine ganz eigenartige Verwandschaft der beiden Männer berechtigt, eine in ihrer gleichartigen Gemütslage begründeten wundersamen Übereinstimmung des philosophischen Geistes im einen mit dem religiösen im andern.[24]

Obgleich dem Christentum in seiner althergebrachten Heimat unvergleichlich schwere Zeiten bevorstanden, wurde es gerade zu jener Zeit einmal mehr eifrig an alle Ecken und Enden dieser Erde exportiert. Schon durch die Französische Revolution nämlich, spätestens aber durch die Denker der Aufklärung, wurde zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa selbst eine Epoche radikalen Umdenkens eingeleitet, welche die christliche Weltsicht mit all ihren moralischen Regeln, dogmatischen Geboten und praktischen Implikationen grundsätzlich in Frage stellte. Dementsprechend wurde schon lange bevor Nietzsche den Allmächtigen zum Ausgang des Jahrhunderts hin endgültig für Tod erklären sollte, eine breit gefächerte Sehnsucht nach religiösen Alternativen geweckt.

Dieser Entwicklung ungeachtet dauerte es allerdings noch bis in die Weimarer Zeit, bis der Daoismus im Westen erstmals ein breites Publikum finden sollte. Denn erst nachdem im 1. Weltkrieg der halbe Kontinent in Orgien ungebremster Gewalt in Schutt und Asche gelegt worden und die an Unmenschlichkeit kaum zu überbietenden Schlachten in ihm geschlagen waren, wurde den tonangebenden Denker dieser Epoche die Fragwürdigkeit der Überlegenheit der europäischen Zivilisation gewahr. Diese war bis dahin prinzipiell unhinterfragt als gegebenes Faktum akzeptiert worden und galt als allgemeingültiger Konsens.

Auf die hochnäsige Überheblichkeit der Kolonialzeit und des Imperialismus folgte, vor allem im vom Elend heimgesuchten Deutschland, eine melancholische Periode voller schwermütigem Kulturpessimismus. Oswald Spenglers 1918 erschienenes historisches Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“[25], in dem er sich gegen die bis dato weithin anerkannte und betriebene lineare Geschichtsschreibung, in der die Geschichte der Menschheit als Erfolgsgeschichte eines permanenten Fortschritts erzählt wird, wendet, und in dem er anstatt dessen eine Zyklentheorie proklamiert, der zufolge Kulturen immer wieder neu entstehen und emporsteigen, nur um nach der Überschreitung ihres Zeniths zwangsläufig unterzugehen, ist mutmaßlich heute noch eines der bekanntesten schriftlichen Zeugnisse für die typische Befindlichkeit jener Epoche. Wie dem Titel des Werkes zu entnehmen ist, rechnete der Autor fest damit, dass die Zivilisation des Okzidents auf direktestem Wege auf den Verlust ihrer Vormachtstellung, ihren unabwendbaren Sturz vom imaginären Thron der höchsten Entwicklungsstufe, zusteure. Mit seiner Paranoia war er zwischen den Kriegen bekanntermaßen nicht allein.

Einer der wenigen positiven Nebeneffekte der um sich greifenden Untergangsstimmung war eine durch intellektuelle Kreise getragene Ausbildung einer Alternativkultur, in der die Lehren aus dem fernen Orient, die während der wilhelminischen Zeit noch auf eine zahlenmäßig relativ unbedeutende geistige Oberschicht beschränkt gewesen waren, nun plötzlich – vornehmlich unter der bürgerlichen Jugend - Verbreitung fanden. Dementsprechend lässt sich zwischen 1918 und 1927 auch auf dem Buchmarkt erstmals ein deutliches Wachstum der Verkaufszahlen statistisch belegen, der kumulierte Wert des DDJs stieg in dieser Zeit knapp um das Dreifache[26].

Nachweislich fühlten sich ferner so namhafte Literaten wie Döblin, Hesse, Brecht und Klabund (Alfred Henschke), aber auch andere Intellektuelle wie Jung und Heidegger, vom östlichen Gedankengut angezogen und wurden dauerhaft von ihm beeinflusst. Weil sich die zuerst genannten Autoren in ihren Werken jedoch sowohl der Lehre als auch der Person Laozi recht frei bedienten und durch sie hauptsächlich ihre eigene Nachricht zu verbreiten suchten, betrachtet zumindest Florian Reiter ihr Wirken in diesem Bereich eher skeptisch[27]. Problematisch dünkt ihn vor allem die offenbar von verschiedenen Autoren entweder im- oder sogar explizit vertretene Vorstellung, dass ernsthafte philologische Arbeit durch persönliche Intuition substituiert werden könne, da für ein Verständnis des DDJ letztere vollkommen ausreichend sei. Durch diese Haltung, so Reiter, sollen sie die Wahrnehmung des DDJ in Deutschland nachhaltig negativ beeinflusst haben. Die Rezeption während der Weimarer Zeit ist freilich eine mehr oder weniger regionale Besonderheit.

Dies zeigt die Arbeit Julia Hardys, die den gesamten Rezeptionsverlauf als weitaus weniger differenziert betrachtet. Das einzige Alleinstellungsmerkmal des bisher nachgezeichneten Diskurses sei nämlich, so die Autorin, die ständige Bezugnahme auf den christlichen Glauben. Selbst in der nach dem 2. Weltkrieg beginnenden zweiten Phase, in der das DDJ endlich als selbständiges Werk verstanden werde, spiele die christliche Komponente weiterhin eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zwar sei das DDJ nicht mehr länger als christliche Offenbarung in einer fremden Form, oder gar als fehlgeleiteter orientalischer Versuch Weisheit zu erlangen, verstanden worden, doch stünde oftmals die Frage im Vordergrund, ob das Dao nicht irgendwie mit den im Westen üblichen Konzepten eines göttlichen Wesens gleichgesetzt werden könne[28].

Pohl, Reiter und auch Grasmück betonen hingegen, dass ein Großteil der Rezeption nach dem 2. Weltkrieg zunächst indirekt stattfand, nämlich über einen in der „beat generation“ und „New-Age Bewegung“ en Vogue werdenden Abkömmling des Daoismus, den Chan/Zen-Buddhismus. Unter ähnlichen Bedingungen wie im Weimar der 1920er Jahre, soll auch das zweite große Dao-Fieber in den USA um sich gegriffen haben. Wie schon vier Jahrzehnte zuvor wurde es auch hier wahlweise entweder als Allheilmittel gegen eine materiell mehr als gesättigte, dafür spirituell darbende westliche Zivilisation gesehen, oder aber als eine Art Betriebsanleitung für eine bestimmte Lebensweise. Indes stehen viele Aspekte des hier angedeuteten nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhang mit dem DDJ und können deswegen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

Sowohl Grasmück als auch Hardy kommen in ihren Arbeiten unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass die westliche Interpretationen des DDJ unausgewogen waren und eine „scriptural“ Interpretation des Textes bevorzugten, was wiederum eine a-historische Leseweise förderte, die sich ausschließlich oder zumindest hauptsächlich mit der spirituellen Bedeutung des Textes befasste[29]. Der deutsche Autor merkt hierzu an:

Durch die Zeit der jesuitischen Chinamission bestehenden theologisch geprägten Vermittlung wurden die Weichen für die Rezeption des Daoismus im Westen gestellt. Da es christliche Theologen waren, die chinesische Texte in eine dem westlich-christlichen Publikum verständliche, vertraute Sprache übersetzten, war die Hürde zwischen den Texten der eigentlich fremden Kultur und dem Verständnis durch den westlichen Leser schon deutlich niedriger geworden. Übersetzung meint hier nicht nur die Übertragung des Textes in die jeweilige Landessprache, sondern die Vermittlung des Fremden[30].

Im weiteren Verlauf fährt er fort mit der Spekulation, dass sich selbst der heutige, sich vielleicht sogar als christentumskritisch betrachtende Rezipient letztlich einem westlich-christlichen Begriffssystem bedient, wenn er sich mit dem DDJ beschäftigt. Dies könnte erklären, so Grasmück weiter, warum die inzwischen ein Jahrhundert alte Übersetzung von Richard Wilhelm nach wie vor die beliebteste auf dem deutschen Buchmarkt ist und nicht etwa eine neuere und – an wissenschaftlichen Standards gemessen - qualitativ hochwertigere.

2.3. Moderne Annäherungsversuche an das DDJ

Viele Irritationen bezüglich des Textverständnisses lassen sich durch eine Bewusstmachung der in der Auseinandersetzung mit den Gedanken Laozis verfolgten Ziele aus dem Weg räumen. Das erste Ziel und der auch heute noch dominante Ansatz ist es, die zeitgenössische Relevanz des Textes und die in ihm enthaltenen Fragen auf aktuelle Probleme herauszuarbeiten. Neben der Bedeutung des DDJs für das Individuum als persönliche Lebensphilosophie, „Es handelt sich bei diesen Inhalten um Belehrungen für das Leben und Korrekturmöglichkeiten für das moderne Leben.“[31], werden dabei auch immer wieder Problemstellungen von gesellschaftlicher, teilweise sogar globaler, Bedeutung bearbeitet. So untersucht etwa Karin Lai, ob und wie sich die Philosophie Laozis gegenüber der feministischen Bewegung und ihrer Agenda positioniert[32] und Walter Schweidler[33] und Herbert Mainusch[34] befassen sich mit der Frage, inwiefern der Daoismus und die Idee der Menschenrechte kompatibel sind und ob er nicht vielleicht sogar bei der Findung eines „Weltethos“ dienlich sein könnte?

Das zweite Ziel ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Sinngehalts des Textes und der wahrscheinlichen Bedeutung seines Inhalts für seinen originären Verfasser und dessen Publikum. Diese Ziele müssen sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen, jedoch ist es wichtig sich den unterschiedlichen Ansätzen bewusst zu sein, weil sich nur so die mannigfache Verschiedenheit der Resultate richtig einordnen lässt.

Die an den Lesern und ihren Welten orientierte Methode der Schriftauslegung entspricht einem Verständnis des DDJ als „heiligem Text“ oder zumindest der Würdigung seines Status als „Klassiker“. Als solchem wird ihm eine wie auch immer geartete, immanente und zeitlose Wahrheit zugeschrieben, von deren Kenntnis der heutige Leser hofft profitieren zu können. Diese Möglichkeit sieht beispielsweise Russel Kirkland:

The Daode jing can best be compared to works of "wisdom literature" like the Biblical book of Proverbs. In other words, its primary purpose is to provide the reader with profound advice about how to live his life. Oddly, this simple fact is seldom appreciated. Many have misinterpreted the Daode jing as a philosophical treatise, or as just another manifestation of a universal mystical wisdom. Such interpretations misconstrue the fundamental nature of the work.. [35]

Zu einer ähnlichen Beurteilungen gelangen Ames und Hall, die bei den Editoren des DDJ die Absicht vermuten, eine Anleitung zur Selbstkultivierung zusammenstellen zu wollen, die zu einer Optimierung der Welt-Erfahrung verhilft.

We will argue that the defining purpose of the Daodejing is bringing into focus and sustaining a productive disposition that allows for the fullest appreciation of those specific things and events that constitute one’s field of experience. The project, simply put, is to get the most out of what each of us is: a quantum of unique experience. It is making this life significant. [36]

Einen Schritt weiter geht Galia Patt-Shamir, der die Meinung vertritt, dass das DDJ ein transformativer Text sei, der zwangsläufig das Leben eines jeden verändern würde, der ihn nur liest und versteht.[37] Ganz in der Tradition Xiang’ers meint Ellen Marie Chen gar, in den 81 Kapiteln eine Unsterblichkeitslehre gefunden zu haben:

Then I came to examine the meaning of ming, the Taoist term for spiritual enlightenment. It dawned upon me that the Tao Te Ching was indeed, as the religious Taoists claimed it to be, a work in search of immortality.[38]

Diesem Ansatz würden heute wohl die wenigsten Wissenschaftler folgen, doch dass das DDJ eine mystische Komponente hat, ja dass der Text primär als mystischer Text zu verstehen ist, war nicht nur lange Zeit Konsens, sondern findet auch heute noch Anklang bei einer Mehrzahl von Forschern. „The thought of the Tao-te-ching emerges as multifaceted and endlessly adaptable to many-layered interpretations. Yet its mystical dimension remains essential”[39], schreibt beispielsweise Benjamin Schwartz, ein renommierter Vertreter dieses traditionellen Ansatzes, der in der Wirkungsgeschichte des Werkes Bestätigung findet. Bekräftigt wird er in seiner Haltung unter anderem durch Harold D. Roth, der hier exemplarisch für eine in ihrer Zahl schier endlose Allianz an Gleichgesinnten zitiert werden soll: “One of the few areas of agreement between sinologists and scholars of Comparative Religion is in regarding the Laozi as an important work of mysticism.”[40]

Wenn es also klar scheint, dass es sich bei Laozi um einen Mystiker handelt – dies ist er, wie für so viele andere auch für Max Kaltenmark - so stellt sich naturgemäß die Frage, bis zu welchem Grade er ein solcher ist. Auf diesem Weg, so der eben genannte Autor, gäbe es nämlich „viele Stufen, angefangen bei der einfachen Meditation bis zur ekstatischen Trance“. Sich auf Zhuangzi berufend, etikettiert Kaltenmark Laozi wenig später als „Ekstatiker“[41]. Diese These würde Mark Csikszentmihaly, selbst ein Vertreter des prominenten mystischen Ansatzes, so wohl unter keinen Umständen stehen lassen - für ihn ist „the Laozi“ gerade keine Darstellung einer mystischen Erfahrung, sondern „an attempt to describe a ’phenomenon’ in the same way that scholars of mysticism do.“[42]

Selbstverständlich wählen auch nicht wenige den Mittelweg zwischen einer philosophischen und einer mystischen Interpretation. “The most important aspect of the Laozi is of course its mixture of philosophy and mysticism, both of which are related to its form of presentation or language.”[43], konstatiert Zhang Longxi und fasst damit die Position all jener treffend zusammen, welche die beiden Konzepte nicht als antagonistisch betrachten, sondern für miteinander vereinbar halten.

Von derlei Kompromissen will Chad Hansen freilich nichts wissen. Für ihn ist das DDJ zuallererst ein sprachtheoretisches Werk, das sich mit Problemen der Sprachlogik – dem Missverhältnis zwischen gesprochenem oder geschriebenem Wörtern und ihrer Bedeutung - beschäftigt:

The view of Taoism that emerges from this study of the concept of knowledge in the critical philosophy of the Tao Te Ching can be understood without any metaphysical or mystical assumptions at all. All conclusions follow simply from the relativist and skeptical analysis of language, names, and distinctions, and from a view of knowledge as a skill.[44]

Hansen zufolge wendet sich Laozi gegen Sprache als Instrument gesellschaftlicher Kontrolle. Laozis Sprachtheorie, so der Autor, entstammt nicht etwa einer fatalistischen Geisteshaltung oder einer Betroffenheit durch den aktuellen Lauf der Dinge sondern einer gesellschaftsfeindlichen, anti-konventionellen und antiautoritären Haltung. Als Vertreter des linguistischen Skeptizismus fordert Laozi demnach eine Umwertung der den Dingen, Begriffen und Ereignissen nominalistisch zugeschriebenen Werte.

The famous reversal of opposites character of Daoism starts from Laozi's contrast theory of names (…)What is pragmatically salient about the distinctions between two opposites lies in how they guide us (…) The opposites guide our preferences. Distinctions shape attitudes (…) Socialization produces behavior-influencing desires. They are not innate. I shall argue that what the reversal of opposites reverses is the socialized desire or preference assignment to each of the pairs. Laozi teaches us to value what convention teaches us to disvalue.[45]

Auch David Hong Cheng kann einer mystischen Interpretation des DDJ nicht viel abgewinnen. Dass es überhaupt zu einer solchen Auslegung kommen konnte, führt er auf die leichtfertige Vermischung der Philosophie Laozis mit den Gedanken Zhuangzis zurück.

That some scholars in later centuries grouped Lao Tzu and Chuang Tzu together as Taoists without distinguishing their respective philosophies was a mistake that caused the mislabelling of Lao tzu as a mystic. Based on the contents of the text he left to posterity, Lao Tzu was not, by any stretch of imagination, a mystic.[46]

Derzeit gibt es in der Laozi-Forschung zwei voneinander unabhängige, besonders intensiv geführte Diskussionen. Die erste widmet sich der Frage, ob sich aus dem DDJ Aussagen bezüglich des Themas „Naturschutz“ herauslesen lassen, verkürzt gesagt also: War Laozi Umweltschützer? Ist Daoismus „grün“?[47] Seitdem die Auseinandersetzung in den 1990er Jahren an Fahrt aufgenommen hat, scheinen die diesbezüglichen Publikationen kein Ende zu nehmen. Und da die Fronten hier ähnlich verhärtet scheinen – man vergleiche nur die Aufsätze von Paul R Goldin[48] und Eric Sean Nelson[49] - wie bei der Frage ob das DDJ nun ein mystischer oder philosophischer Text ist und die Problematik des Umweltschutzes sich wohl oder übel kaum in Luft auflösen wird, wird wohl auch die Debatte aller Wahrscheinlichkeit nach in absehbarer Zeit nicht abreißen.

Die zweite auffällige Entwicklung ist eine explosionsartige Zunahme an „interkulturellen Arbeiten“ in der vergangenen Dekade. Sie versuchen das Denken Laozis in einen „universellen“ Rahmen zu setzen und durch Vergleiche – entweder das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten, oder die Beleuchtung von Unterschieden - mit westlichen Denkern zu einem besseren Verständnis seiner Philosophie zu gelangen. Unter den vorgenommenen Betrachtungen befinden sich unter anderem Gegenüberstellungen mit: Heraklit[50], Plato[51], Aristoteles[52], Levinas[53], Wittgenstein[54], Schelling[55], Derrida[56], Hesse[57], Dewey[58] und natürlich immer wieder Heidegger[59].

Ann A. Pang-White versucht sich gar an einer Zusammenführung der beiden derzeit vorherrschenden Forschungstrends und hegt bei diesem Unterfangen große Hoffnungen: “By bringing Daoism and Kant into dialogue, I hope to bring forth a synthetic approach that is better suited to today’s environmental concerns.”[60]

2.4. Über die Notwendigkeit einer historischen Hermeneutik

Wissenschaftler wie LaFargue stehen nicht nur der frühen Rezeptionsgeschichte des DDJ sowohl in China als auch im Westen eher skeptisch gegenüber, sondern betrachten auch die gegenwärtige in der Wissenschaft geführten Diskurse äußerst kritisch, zumindest in Bezug auf ihren wissenschaftlichen Wert. Die Mehrdeutigkeit und Interpretationsvielfalt des Textes ist LaFargues Meinung nach darauf zurückzuführen, dass der Text aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst wurde.

Different Chinese commentators throughout history each interpreted the Tao-te-ching in accord with their own worldview, and this approach continues among modern Western interpreters. Heideggerians want a Heideggerian interpretation(…); analytic philosophers prefer an interpretation in accord with their tradition(…); and Zen devotees want a Zen interpretation. Those who like mysticism want to interpret it a mysticism, while those who dislike mysticism want to interpret it in a nonmystical way. Readers who come with some already formed notion of Taoism want what they regard as a “truly” Taoist interpretation [61].

Aufgrund dessen fordert er eine “radikalhistorische” Interpretation des Textes. Bei dieser Vorgehensweise wird angenommen, dass alles im Text gesagte durch seinen historischen Kontext bedingt wurde. Die Dinge, die im Text angesprochen werden, sind was sie sind aufgrund ihres ursprünglichen Kontextes und aufgrund der Art und Weise, in welcher der Autor mit seiner kulturellen Umwelt in Kontakt trat. Ob Gedanken ernstzunehmend, gut begründet und kohärent sind, sei damit abhängig von den sozialen und persönlichen Problemen, mit denen der Verfasser konfrontiert wurde. Weil die Eigenschaften von Welten, Zusammenhängen und Denken unendlich variabel seien, könnten sie nur durch eine historische Untersuchung aufgedeckt werden.

Selbstverständlich, räumt LaFargue ein, bedeutet auch diese Methode keine absolute Sicherheit, denn im Endeffekt bedeutet jede historische Interpretation, genauso wie alle Geschichtsforschung, ab einem gewissen Punkt immer nicht weiter belegbare Spekulationen. Dies bedeute aber nicht, dass diese Spekulationen vollkommen willkürlich getätigt werden müssten. Stattdessen bestehe die Möglichkeit fundierter Vermutungen, die anhand der vorliegenden Fakten methodisch getätigt würden. Um Menschen aus einer anderen Zeit oder Kultur zu verstehen, müssten wir deswegen zunächst der Tendenz widerstehen, sie im Bezugssystem unserer eigenen Kultur oder innerhalb von „universellen“ Rahmenbedingungen zu interpretieren.

Das ultimative Ziel der historischen Hermeneutik, angewandt auf das DDJ, ist ein kritischer Zugriff auf die Grundlage der Wahrheitsansprüche des Textes. Jedoch erfolgt dieser Ansatz äußerst gefühlvoll den impliziten Denkprozessen gegenüber, die mit hoher Wahrscheinlichkeit historisch hinter dem Text zu verankern sind und die unter keinen Umständen durch unhistorische Anliegen für absolute Fundamente, standardisierte Logik oder erkenntnistheoretische Annehmlichkeiten verfälscht werden dürfen.[62]

Um die Bedeutung des Textes sowie die grundsätzliche Gültigkeit seiner Ideen in direktem Bezug auf seine soziohistorischen Umstände interpretieren zu können, muss es im Folgenden zunächst darum gehen, einige – möglichst fundierte – Hypothesen bezüglich der Begleitumstände der Entstehung des DDJ aufzustellen. Offensichtlich kommt ihnen, bei der Wiedergewinnung der ursprünglichen Aussagen des Textes, eine ausschlaggebende Bedeutung zu.

Vorausgreifend sei an dieser Stelle angemerkt, dass eine historische Leseweise des Textes zu dem, neben von LaFargue unter anderem auch von Opitz, Lau, Ivanhoe, Möller und Feldt getätigtem, Schluss kommt, dass es sich beim DDJ um einen Text handelt, der sich primär mit der Realisierung von Frieden und soziopolitischer Ordnung befasst.

[...]


[1] Vgl. Ebd., S.104.

[2] Robinet, Isabelle, Later Commentaries: Textual Polysemy and Syncretistic Interpretations, in: Lao-tzu and the Tao-te-ching (Hrsg.: Kohn, Livia und LaFargue, Michael), New York 1998, S.140.

[3] Hardy, Julia M., Influential Western Interpretations of the Tao-te-ching, in: Lao-tzu and the Tao-te-ching (Hrsg.: Kohn, Livia und LaFargue, Michael), New York 1998, S.165-188.

[4] Grasmück, Oliver, Geschichte und Daoismusrezeption im deutschsprachigen Raum, Münster 2004.

[5] Hardy unterscheidet drei Phasen, Grasmück derer gar sechs.

[6] Reiter, Florian C., Lao-tzu zur Einführung, Hamburg 1994, S.36.

[7] „Aus dem Osten (kommt) das Licht“, so der Name einer Vorlesung Richard Wilhelms kurz nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Übersetzung nicht nur die bis dato, sondern, aktuelle Verkaufszahlen berücksichtigend, auch noch heute die meist verkaufte ist im deutschsprachigen Raum.

[8] Vgl. Reiter, Florian C. (1994), S.16.

[9] Dieses „bessere Verständnis“ des Textes aufgrund eines sich kontinuierlich ausweitenden Wissensstandes wird, jedenfalls wenn es um die breite Öffentlichkeit geht, von nicht wenigen ausdrücklich in Frage gestellt. Vgl. Pohl, Karl-Heinz, Play-Thing of the Times: Critical Review of the Reception of Daoism in the West, in: Journal of Chinese Philosophy 30:3&4 (September/December 2003) S.469-486.

[10] Als erste Übersetzung überhaupt gilt eine in Sanskrit, die bereits im 7. Jahrhundert stattfand.

[11] Pohl, Karl-Heinz (2003), S.470.

[12] Hardy, Julia M (1998), S.165.

[13] Grasmück, Oliver (2004), S.23.

[14] Memoire sur la vie et les ouvrages de Lao-Tseu, 1824 (Teilübersetzung)

[15] Souverain Etre, raison, parole.

[16] voie

[17] porte

[18] Vgl. Pohl, Karl-Heinz (2003), S.470 f.

[19] Ebd. S.471.

[20] Ular, Alexander, Die Bahn und der rechte Weg des Lao-Tse. Der chinesischen Urschrift nachgedacht, Leipzig 1903.

[21] Ebd. Zitate entstammen dem Nachwort.

[22] Grill, Julius, Lao-tszes Buch vom höchsten Wesen und vom höchsten Gut. (Tao-te-king), Tübingen 1910.

[23] Beispielsweise war sich der im Zusammenhang mit Carl Jaspers bereits erwähnte Victor von Strauss sicher, im 14. Kapitel die vier hebräischen Buchstaben des Gottesnamen entdeckt zu haben. Dagegen verwahrte sich zwar der protestantische Pfarrer und Missionar Richard Wilhelm, doch finden sich auch in seinem Kommentarteil explizite Bezüge auf die christliche Theologie. Interessanterweise enthält die aktuellste derzeit erhältliche Neuauflage aus dem Jahr 2000 keinerlei editorischen Kommentar zur historischen Einordnung des Werkes. Sinologisch nicht gebildete Leser werden also wahrscheinlich die inzwischen überholten Sichtweisen Wilhelms als aktuelle ansehen (Vgl. Grasmück, S.42 f.)

[24] Ebd. S. VI f.

[25] Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes, Wien 1918.

[26] Grasmück, Oliver (2004), S.26.

[27] Vgl. Reiter, Florian C., Some Considerations about the Reception of the „Tao-te-ching“ in Germany and China, Oriens, Vol. 35 (1996), S.281-297.

[28] Vgl. Hardy, Julia M. (1998), S.166 f.

[29] Ebd. S.178.

[30] Grasmück, Oliver (2004), S.46.

[31] Peijie, Zhao, Der Mensch – in Leere, Ruhe und Gleichmut verweilend, in: Dao in China Und Im Westen: Impulse für die moderne Gesellschaft aus der chinesischen Philosophie (Hrsg.: Thesing, Josef und Awe, Thomas), Bonn 1999, S.212.

[32] Lai, Karyn, The Daodejing: Resources for Contemporary Feminist Thinking, in: Journal of Chinese Philosophy 27:2 (June 2000), S. 131–153.

[33] Schweidler, Walter, Unsagbare Freiheit. Ist der Daoismus mit der Menschenrechtsidee vereinbar, in: Dao in China Und Im Westen: Impulse für die moderne Gesellschaft aus der chinesischen Philosophie (Hrsg.: Thesing, Josef und Awe, Thomas), Bonn 1999, S.168-189

[34] Mainusch, Herbert, Auf dem Weg zu einem Weltethos: Der Beitrag des Daoismus oder: Wege, die Ethik von Werten zu befreien, in: Dao in China Und Im Westen: Impulse für die moderne Gesellschaft aus der chinesischen Philosophie (Hrsg.: Thesing, Josef und Awe, Thomas), Bonn 1999, S.190-209.

[35] Kirkland, Russel, The Book of the Way, in: Great Literature of the Eastern World (Hrsg.: Ian P. McGreal), New York 1996, S.26.

[36] Ames, Roger T. und Hall, David L., Dao de jing: making this life significant: a philosophical translation (English and Mandarin Chinese Edition), New York 2003, S.11.

[37] Vgl. Galia Patt-Shamir, To Live a Riddle: The Transformative Aspect of the Laozi., in: Journal of Chinese Philosophy 36 (3), 2009, S. 408-423.

[38] Chen, Ellen Marie, Tao as the Great Mother and the Influence of Motherly Love in the Shaping of Chinese Philosophy, History of Religions, Vol. 14, No. 1 (Aug., 1974), S. 52.

[39] Schwartz, Benjamin, The Thought of the Tao-te-ching, in: Lao-tzu and the Tao-te-ching (Hrsg.; Kohn, Livia und LaFargue, Michael), New York 1998, S. 189.

[40] Roth, Harold D., The Laozi in the Context of Early Daoist Mystical Praxis, in: Religious and philosophical aspects of the Laozi (Hrsg.: Csikszentmihalyi, Mark und Ivanhoe, P. J.), Albany 1999, S. 59.

[41] Vgl. Kaltenmark, Max, Lao-tzu und der Taoismus, Baden-Baden 1981, S.114.

[42] Csikszentmihalyi, Mark, Mysticism and Apothatic Discourse, in: Religious and philosophical aspects of the Laozi (Hrsg.: Csikszentmihalyi, Mark und Ivanhoe, P. J.), Albany 1999, S. 53.

[43] Longxi, Zhang, Qian Zhongshu on Philosophical and Mystical Paradoxes in the Laozi, in: Religious and philosophical aspects of the Laozi (Hrsg.: Csikszentmihalyi, Mark und Ivanhoe, P. J.), Albany 1999, S.100.

[44] Hansen, Chad, Linguistic Skepticism in the Lao Tzu, Philosophy East and West, Vol. 31, No. 3, 1981, S. 334.

[45] Hansen, Chad, A Daoist Theory of Chinese Thought: A Philosophical Interpretation, New York und Oxford 1992, S. 211.

[46] Cheng, David Hong, On Lao Tzu, Belmont CA, 2000, S. 7.

[47] Vgl. Cooper, David E.., Is Daoism ‘green'?, in: Asian Philosophy, 4:2, 1994, 119-125.

[48] Goldin, Paul R., Why Daoism is not Environmentalism, Journal of Chinese Philosophy 32:1, 2005, 75–87.

[49] Nelson, Eric Sean, Responding with Dao: Early Daoist Ethics and the Environment , in: Philosophy East and West - Volume 59, Number 3, July 2009, S. 294-316.

[50] Wohlfahrt, Günter, Sagen ohne zu sagen. Laozi und Heraklit – eine vergleichende Studie, in: Minima Sinica 1, 1998. S. 24-39

[51] Pagallo, Ugo, Plato's Daoism and the Tübingen School, in: Journal of Chinese Philosophy Volume 32, Issue 4, 2005, S. 597–613.

[52] Sherman, Thomas, "Being Natural," The Good Human Being, and the Goodness of Acting Naturally in the Laozi and the Nicomachean Ethics, Dao: A Journal of Comparative Philosophy June 2006, Vol.V, No. 2, S. 331-347.

[53] Nuyen, A.T., The Dao of Ethics: From the Writings of Levinas to the Daodejing, in: Journal of Chinese Philosophy 27:3, 2000, 287–298.

[54] Allinson, Robert Elliott, Wittgenstein, Lao Tzu and Chuang Tzu: The Art of Circumlocution, in: Asian Philosophy, Vol. 17, No. 1, 2007, S. 97–108.

[55] Josifovic, Sasa, Tao und Te oder das Absolute und seine Besonderung. Versuch einer Verständigung, in: Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven (Hrsg.; Bickmann, Claudia, Herman-Josef Scheidgen, Tobias Voßhenrich) Amsterdam/New York: 2006, S. 449-460.

[56] Zhang, Longxi, The "Tao" and the "Logos": Notes on Derrida's Critique of Logocentrism, in: Critical Inquiry, Vol. 11, No. 3, 1985, S. 385-398.

[57] Heilbrunn, Dan, Hermann Hesse and the Daodejing on the Wu and You of Sage Leaders, in: Dao: A Journal of Comparative Philosophy, 2009, 8, S. 79-93

[58] Mou, Bo, Moral Rules and Moral Experience: a comparative analysis of Dewey and Laozi on morality,in: Asian Philosophy, Vol. 11, No. 3, 2001, S.161-178; Krueger, Joel, Knowing Through the Body: The Daodejing and Dewey. In: Journal of Chinese Philosophy 36 (1), 2009, S. 31-52.

[59] Ma, Lin, Deciphering Heidegger’s Connection with the Daodejing, Asian Philosophy Vol. 16, No. 3, November 2006, pp. 149–171; Goicoechea, David, Heidegger – The Taoists – Kierkegaard, in: Journal of Chinese Philosophy 30:1, 2003, S.81-97; Wohlfahrt, Günter, Heidegger and Laozi: Wu (Nothing) – On Chapter 11 of the Daodejing, in: Journal of Chinese Philosophy 30:1, 2003, S. 39-59.

[60] Pang-White, Ann A., Nature, Interthing, Intersubjectivity, and the Environment: A Comparative Analysis of Kant and Daoism. Dao: A Journal of Comparative Philosophy 8 (1), 2009, S. 61-78.

[61] LaFargue, Michael, Recovering the Tao-te-ching’s Original Meaning: Some Remarks on Historical Hermeneutics, in: Lao-tzu and the Tao-te-ching (Hrsg.: Kohn, Livia und LaFargue, Michael), New York 1998, S.256.

[62] Vgl. La Fargue, Michael,(1994), S. 1-38.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955498214
ISBN (Paperback)
9783955493219
Dateigröße
308 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Ordnungsdenken antikes China Warring States Period ideale Herrscher Laozi Utopie Gesellschafts- und Zeitkritik

Autor

Nicolas Meudt wurde 1983 in Heidelberg geboren und hat dort sowie in Köln und Porto unter anderem Politikwissenschaft, Philosophie und Mittlere und Neuere Geschichte studiert.
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Titel: Über die politische Philosophie im Daodejing
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