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Charlotte Roche - eine Popliteratin? Eine exemplarische Analyse der Werke Feuchtgebiete (2008) und Schoßgebete (2011) bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur literarischen Entwicklungslinie der Popliteratur

©2013 Masterarbeit 68 Seiten

Zusammenfassung

Gegenstand des vorliegenden Fachbuches ist die Popliteratur und die zentrale Fragestellung, inwiefern die Autorin Charlotte Roche als Popliteratin bezeichnet werden kann. Es wird erörtert, inwiefern Werke, die charakteristische formalsprachliche und inhaltliche Kriterien der Popliteratur erfüllen, auch nach 2001 dieser literarischen Entwicklungslinie zugeordnet werden können. Dieser Fragestellung wird exemplarisch anhand Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008) sowie dem Nachfolgewerk Schoßgebete (2011) auf den Grund gegangen. In diesem Zusammenhang werden einige Problemstellungen aufgezeigt und gelöst. Beispielsweise wird thematisiert, ob „Epochenschwellen“ festgelegt bzw. fließend verlaufen und wie „fließend“ definiert werden kann. Des Weiteren wird diskutiert, ob der Zeitraum der Veröffentlichung als alleiniges Zuordnungskriterium sinnvoll und angemessen verwendet werden kann und wie viele charakteristische Kriterien ein Werk aufweisen muss, um zu einer Gattung oder Literaturströmung hinzugezählt werden zu können. Muss es sämtliche stilistische und inhaltliche Merkmale aufweisen oder reichen einige wenige aus? Zu Beginn der Arbeit werden die notwendigen theoretischen Verständnisgrundlagen gelegt, indem eine treffende Definition der Gattung und die Ursprünge der Popliteratur formuliert werden. Außerdem werden verschiedene Ansichten zum angeblichen „Ende der Popliteratur“ im Jahre 2001 aufgezeigt. Der sich anschließende spezifische Prozess des literarischen Wertens und Vergleichens der beiden Roche-Werke wird anhand festgelegter Kriterien durchgeführt. Aufgrund dessen wird zunächst eine Übersicht erstellt, die die typischen stilistischen und inhaltlichen Merkmale der Popliteratur ausweist. Sie werden im nachfolgenden Abschnitt als Schablone verwendet und dienen der Analyse als Grundlage. Letztlich wird ein Fazit gezogen, inwiefern Charlotte Roche unter Berücksichtigung ihrer beiden Romane als Popliteratin kategorisiert werden kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.3 Social Beat, Slam-Poetry und Trash

Social Beat, Slam Poetry und Trash stellen vergleichsweise zur Beat-Generation und zum Dadaismus keinen fundamentalen Ursprung der Popliteratur dar. Diese Phänomene entwickelten sich erst in den 90er-Jahren, während die Popliteratur in Form der Mainstream- und der Suhrkamp-Popliteratur bereits ihren Platz im Feuilleton gefunden hat. Sie werden aufgrund dessen als der letzte noch vorhandene „literarische Untergrund“[1], der aus den Zeiten der Pop -Ära übrig geblieben ist bzw. auch als „Underground- Popliteratur “ definiert.[2] Es liegen zwar keine direkten personellen sowie inhaltlichen Überschneidungen zwischen dieser literarischen Subkultur und der Popliteratur vor, Pop- Bezüge können aber dennoch durch viele andere Merkmale hergestellt werden. Sie können gestalterisch fundiert sein, was dann beispielsweise im Gebrauch von Slang und Szenesprache, generell im Abrücken von hochliterarischen Standards hin zur Alltagssprache und stilistisch durch Rasanz, Legerheit, Spontaneismus, Lautheit, Plakativität und Kürze verdeutlicht wird.[3] Außerdem wird die Verbindung sichtbar an einer Erweiterung der Lesungsform um Performance-Elemente wie Körpereinsatz, an Auftritten zu mehreren Licht- und Soundeffekten, Bandbegleitung und Improvisation sowie an einer Tendenz bzw. Bereitschaft zur Grenzüberschreitung und –vermischung, also einem gewissen Gattungsuniversalismus.[4] Aufgrund der aufgezählten Bezüge haben Social Beat, Slam-Poetry und Trash eine Daseinsberechtigung und müssen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Popliteratur genannt werden. Anfang der 90-er Jahre avancierte Literatur zu einem populären Medienthema, was sich an der Anzahl der drastisch steigenden Lesungen in Clubs, Kneipen und Diskotheken bemerkbar machte. Literatur war auf einmal „hip“ und „szenefähig“ geworden. Diese Entwicklung war dem Social Beat, Slam-Poetry und Trash zu verdanken, die zu diesem Zeitpunkt noch als eigenständige Kategorien einzeln und nicht in Aufzählung genannt wurden. Slam-Poetry, auch als Spoken-Word-Poetry bezeichnet, meint Live-Literatur für die Personen auf und vor der Bühne, Social Beat umschreibt hingegen vornehmlich ein literarisches Untergrund-Netzwerk. Die Wortwahl „Untergrund“ impliziert in diesem Zusammenhang, dass es sich hierbei um einen nicht-kommerziellen Bereich handelt, in dem Autoren tätig sind, die nicht im etablierten Literaturbetrieb veröffentlicht werden. Zudem drückt das Wort die Selbstgewissheit und das Ziel der Social-Beat -Anhänger aus, nicht allein ästhetisch, sondern auch gesellschaftlich zu neuen Ufern aufzubrechen und das neue Feld, in dem man operiert, selbst zu kontrollieren und zu steuern.[5] Trash benennt einen spezifischen Schreibstil. Vorangehende Kategorisierung hat zur Folge, dass personelle Schnittmengen zwischen den unterschiedlichen Bereichen existieren, besteht doch die Möglichkeit, dass jemand Trash schreibt, der wiederum in den Social-Beat- Kontext gehört und zudem seine Texte noch performerisch zur Aufführung bringt.[6] Somit ist es wohl kein Zufall, dass die Begriffe häufig in einem Atemzug genannt werden. Es bleibt dennoch anzumerken, dass in jeder Strömung auch Interpreten existieren, die ausschließlich in ihrer Topoi aufgehen und die man nicht bei Veranstaltungen der anderen Strömungen auffinden wird. Seit 1993 finden zahlreiche Social-Beat- Festivals statt, auf denen sich die Vertreter der verschiedenen Szenen vereinen. Des Weiteren existieren Social-Beat- Foren in Form von Zeitungen wie z.B. das Luke&Trooke-Fanzine, das in Münster und Berlin produziert und von Mark Stefan Tietze und Holm Friebe verfasst wird. Außerdem bringt die Szene Erzählungen und Romane hervor, die dann beispielsweise in der Popliteratur -Reihe des Mainzer Ventil Verlages veröffentlicht werden.[7] Szenebekannte Literaten sind diesbezüglich der Münchener Jaromir Konecny (geb. 1956), Jan Off (geb. 1967) und Philipp Schiemann (geb. 1969). In Deutschland hat sich zudem die Idee der Poetry-Slams durchgesetzt, dessen Bedeutung sich etymologisch von dem amerikanischen to slam = zerschlagen, zerschmettern, in die Pfanne hauen herleiteten lässt. Weiterhin stammt der Terminus Poetry-Slam aus der direkten Wortumkehrung des Begriffes Slam-Poetry und definiert eine literarische Live-Veranstaltung, bei der Autoren im Ring gegeneinander antreten und anschließend durch eine Jury sowie das Publikum bewertet werden. Diese Wettbewerbe ohne thematisch-inhaltliche sowie formal genauer eingegrenzten Vorgaben wurden das erste Mal 1986 in Chicago durchgeführt und 1992 durch die damaligen „Horsemen of Apocalypse“, die sich aus Alan Kaufmann und Bob Holman zusammensetzten, in Deutschland publik gemacht. Die beiden Künstler veranstalteten hierfür eine Lese-Tour, die so viel Aufmerksamkeit erregte, dass sie sogar einen zweiminütigen Einspieler in den Tagesthemen erhielt. Bereits zu diesem Zeitpunkt planten Kaufmann und Holman ihre „Poetry Championship“, ein Vorhaben, bei dem zunächst der nationale Meister ermittelt und dieser dann in die USA zur Weltmeisterschaft entsandt werden sollte. Im Dezember 1993 realisierte der KRASH-Verlag diese Meisterschaft im Kölner Kunsthaus Rhenania, bei dem die „Widersacher“ in einen Ring steigen und bis zum Gong zur Lesung antreten.[8] Es bestand sogar die Möglichkeit, Wetten auf die erwarteten Sieger abzuschließen. Zwei weitere Ausgaben des Events folgten, wobei das erste 1995 wieder im Rhenania stattfand und das zweite 1997 in der Berliner Volksbühne im Prater veranstaltet wurde.[9] Die Poetry - Slam- Szene hatte sich inzwischen kontinuierlich weiterentwickelt und im gleichen Jahr wurden von Wolfgang Hogekamp der erste „National Poetry Slam“ ins Leben gerufen. Mittlerweile finden solche Wettbewerbe in fast jeder größeren Stadt Deutschlands statt, u.a. auch in München, Düsseldorf, Hamburg und Hannover.[10] Auch die Social-Beat-Szene war derweil nicht untätig und veranstaltete ab 1993 viele Slams in ihrem Umfeld, die teilweise ab 1996 mit den Poetry - Slams fusionierten und man aufgrund dessen von einer „starken Überlappung zwischen Slam-Szene und Social-Beat “ sprechen kann.[11] Folgerichtig veranstaltete Michael Schönauer 2000 und 2001 die „German Grand SLAM!Masters“ in Stuttgart und die Popularität der Slam- und Social-Beat -Szene wurde gleichzeitig durch das Erscheinen von drei Anthologien unter dem Titel „Social Beat Slam! Poetry“[12] weiter forciert. Auch heutzutage finden regelmäßig Social Beat- und Slam-Poetry -Veranstaltungen statt. In diesem Zusammenhang kann beispielsweise auf den Bielefeld Slam 2013 verwiesen werden, bei dem die mittlerweile 17. deutschsprachige Meisterschaft im Poetry-Slam ausgetragen wird.[13]

2.4 Politisches Verständnis und Gesellschaftskritik der Popliteratur

Um das Verhältnis von Popliteratur und Politik nachvollziehen zu können, muss man sich darüber im Klaren sein, dass sich im Verhältnis von Kunst und Politik zyklische Bewegungen beobachten lassen, die immer die Phasen Politisierung, Entpolitisierung und Re-Politisierung durchlaufen.[14] D.h. beispielsweise, dass auf eine Epoche, die durch eine stark politisierte Literatur geprägt war, eine Epoche folgt, die sich durch eine Rückkehr zur Introspektive auszeichnet. Introspektive meint in diesem Zusammenhang, dass sich die Literatur nun in einer Phase der verstärkten Selbstbeobachtung befindet, in der sie sich auf die Beschreibung und Analyse des eigenen Erlebens und Verhaltens fokussiert. So folgt zum Beispiel auf eine starke Politisierung der Kunst in den 1960er-Jahren eine Rückkehr zur Introspektive in den 1970er-Jahren und die Zeitspanne der Friedens- und Umweltschutz-Bewegungen in den 1980er-Jahren wird durch eine Phase der Entpolitisierung erwidert. Diese entpolitisierende Phase kann z.B. dadurch geprägt sein, dass Jugend und Künstlertum ihre Ansichten verbreiten und das Ziel verfolgen, eine Spaßgesellschaft mit hedonistischen Zügen zu etablieren. Die Entstehung und das Wirken der Popliteratur sind zeitlich zwischen Ende der 1960er-Jahre und 1990 angesiedelt und somit ist es nicht verwunderlich, dass die verschiedenen Phasen bzw. die thematisierten Dominanz-Wechsel bezüglich des politischen Verständnisses auch im Verhältnis von Pop I und Pop II existieren.[15] Da sich die Popliteratur in Deutschland ab 1968 entwickelte, fallen somit alle popliterarischen Werke aus dieser Zeit in eine Phase der starken Politisierung von Literatur und wurden aufgrund dessen von dem Poptheoretiker Dieter Diedrichsen als Pop I bzw. als „politischer Pop“ definiert. Er steht für ihn „für den von Jugend- und Gegenkultur ins Auge gefassten Umbau der Welt, insbesondere für den von der herrschenden Wirtschaftsordnung verkraft- und verwertbaren Teil davon“[16] und wird als „Gegenbegriff zu einem eher etablierten Kunstbegriff verwendet.“[17] Dem Pop I werden Merkmale wie Subversion, Widerstand, Artikulation von Minoritäten und politisches, zumindest aber gesellschaftkritisches Programm zugeordnet.[18] Dieser Kategorisierung setzt er die des Pop II entgegen und grenzt mit ihr die Werke der 1990er-Jahre ein, die auch als Neue deutsche Popliteratur bezeichnet werden. Charakteristische und zugleich etwas negativ konnotierte Merkmale des Pop II sind nach Diedrichsen „seine unpolitischen, mehr warenförmigen und auf Spaß ausgerichteten Inhalte, die im Endeffekt Matrizen für alles, innerhalb und außerhalb des normalen Spektrums bieten.“[19] Interpretiert man vorhandene Dichotomie als eine Form äußerst starrer Zweigliederung, die keine fließenden Übergänge erlaubt, so kann sie ebenfalls als Analogie auf das Verhältnis Popliteratur und Politik angewendet werden. Popliteratur wird nämlich auf der einen Seite mit Politik in Verbindung gebracht, indem sie mit einer linksrevolutionären politischen Haltung gleichgesetzt und ihr ein subversives, also ein aufrührerisches bzw. revoltierendes Potential attestiert wird. Andererseits wird sie aber in einen stark distanzierten Kontrast zur Politik gesetzt mit dem Argument, dass Popliteratur sich lediglich auf den Spaß im Hier und Jetzt bezieht und sich gerade durch das Fehlen eines strukturierten Programms sowie sozialkritischer und politischer Inhalte auszeichnet.[20] Eine Debatte um eventuelle subversive Kräfte der Literatur besteht seit jeher und wird in der Fachliteratur häufig in Form einer salomonischen These befriedet, die besagt, dass sich die Popliteratur im Laufe der Zeit von einer Literatur gesellschaftlicher Außenseiter hin zu einem Aushängeschild der Unterhaltungsindustrie gewandelt habe. Trotz des vorangegangenen Kompromisses kann jedoch nicht darüber hinweggesehen werden, dass politische Gehaltlosigkeit einer der Hauptvorwürfe ist, die insbesondere dem sogenannten Spaßgesellschafts- Pop der 90er-Jahre entgegengebracht und mit ihr häufig die angeblich mangelhafte Qualität dieser Literatur-Form begründet wird. Vertreter dieser Ansicht sind z.B. Klaus Wiegerling, für den „ Popliteratur ein Indiz für die generelle Bedeutungslosigkeit von Literatur im Diskurs der Gegenwart darstellt, da sie gravierende gesellschaftliche Themen ausblendet“[21] und Florence Feiereisen, für den „ Popliteratur nicht ernst genommen und zur Spaß-Literatur degradiert wird, da ihr politische Inhalte gänzlich fehlen.“[22] Dennoch sind auch die vorangegangenen Standpunkte nicht ganz einwandfrei. Zwar kann die Popliteratur als „leicht lesbar“ und stellenweise auch als „amüsant“ charakterisiert werden, die thematisierten Inhalte haben jedoch in den seltensten Fällen etwas mit „Spaß“ oder dergleichem zu tun und implizieren im Gegenteil eher ernste Inhalte.[23]

2.5 Gender in der Popliteratur

In der äußerlichen Wahrnehmung wirkt die Popliteratur als ein männlich dominiertes Produkt einer Autoren-Riege, die sich in etwa mit den Protagonisten von Tristesse Royal deckt. Gemeint sind hiermit die fünf damaligen Jungstars der Popliteratur, die sich 1999 in Berlin im Hotel Adlon getroffen haben, um ein kultiviertes Gespräch über das Sittenbild ihrer Generation zu führen. Hierbei ist die Rede von Joachim Bessing, Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg. Dennoch spielen auch Frauenfiguren und Autorinnen in der Popliteratur eine wichtige Rolle, wird doch die geschlechterspezifische Aufteilung des Feuilletons durch das sogenannte literarische Fräuleinwunder der 90er-Jahre abgerundet. Der Begriff des literarischen Fräuleinwunders wurde durch den Spiegel-Autor Volker Hage im Frühjahr 1999 durch seinen Artikel „völlig abgedreht“[24] geprägt und meint die Autorinnen Sibylle Berg, Karin Duve sowie die ebenfalls als Jungmoderatorin bekannte Autorin Alexa Henning von Lange. Weitere nicht ganz so populäre Autorinnen, die dennoch unter dem Etikett des literarischen Fräuleinwunders kategorisiert werden, sind Else Buschheuer, Rebecca Casati und Elke Naters. In den Texten der genannten Autorinnen und Autoren ist grundsätzlich eine starke Verunsicherung in Bezug auf die Geschlechterrollen erkennbar, die offensichtlich nicht mehr selbstverständlich garantiert, sondern einem ständigen Aushandlungsprozess unterworfen sind.[25] Inhalte wie Geschlechterverhältnisse, Geschlechterrollen und Geschlechtlichkeit werden sowohl in den Texten der weiblichen als auch in denen der männlichen Autoren thematisiert. Dennoch zeichnen sich alle Texte durch eine recht inkongruente Haltung bezüglich des Themas Sexualität aus, da sie gleichzeitig von einer eher konservativen Haltung in Bezug auf die sexuelle Orientierung sowie durch eine eigentümliche Offenheit diesbezüglich geprägt sind, die teilweise schon die Grenze zum Schamlosen überschreitet. Die bereits angesprochene inkongruente Verarbeitung des Themas Geschlechtlichkeit kann anhand des Romans Tomboy von Thomas Meinecke, erschienen im Jahr 2000, konkretisiert werden.[26] Tomboy ist die amerikanische Bezeichnung für ein Mädchen, das sich - entgegen der gängigen Rollenklischees - wie ein Junge benimmt. In seinem Roman tauschen sich die Figuren über Geschlechterforschung aus, denken über wissenschaftliche Texte nach, exzerpieren und kommentieren sie. Hierbei sind die zahlreich vertretenen Positionen der Gender Studies immer an die Romanfiguren gebunden. Zudem macht es die zusätzliche Ebene der narrativen Darstellung von Geschlechterforschung dem Rezipienten möglich, die Verarbeitung von Geschlechtertheorien zu beobachten.[27] Die Figuren Meineckes können geradezu als eine Verkörperung wagemutiger Toleranz in Bezug auf Geschlechtlichkeit charakterisiert werden, da in diesem Roman die kulturelle Ordnung der Geschlechter auf eine besondere Art und Weise in Bewegung gebracht wird. In seinem Text erfindet der Autor nämlich ein Geschlecht und stattet es mit Eigenschaften aus, die dem binären Klassifikationssystem der Geschlechter Probleme bereitet und somit gender trouble verursacht.[28] Zahlreiche Werke der Neuen Deutschen Popliteratur verhalten sich bezüglich der Thematisierung von Geschlechtlichkeit völlig gegenteilig zum angesprochenen Roman Tomboy. Sie sind eher von einem bürgerlichen Diskurs dominiert, für den eine erstaunlich verschämte Form von Homosexualität prototypisch ist, die beispielsweise bei den Heldenfiguren von Christian Kracht zu Tage tritt.[29]

2.6 Popliteratur und neue Medien

Gerade in der Popliteratur lässt sich eine enge Verbindung von Literatur und Medien in verschiedenen Ausprägungsformen beobachten. Prinzipiell wird der Einfluss moderner Medien wie Film, Fernsehen, und Internet auf die Literatur immer größer, aber auch bereits etablierte bzw. altmodischere Telekommunikationsmedien wie das Telefon oder das Handy verfügen über einen Wirkungs- und Anwendungsbereich innerhalb der Popliteratur. Alle Medien weisen die gemeinsame Eigenschaft auf, die Texte thematisch zu dominieren und das Schreiben der Autoren stilistisch zu prägen. Die althergebrachten Telekommunikationsmedien spielen in den popliterarischen Werken der 90er-Jahre eine große Rolle und ihre Funktionen werden nachfolgend an einigen exemplarischen Textstellen von Benjamin von Stuckrad-Barre dargestellt. Da eine professionelle mediale Inszenierung ein absolutes und unverkennbares Markenzeichen der Popliteratur ist, wird sie im nächsten Abschnitt nochmals separiert aufgegriffen und detailliert erörtert. Nachfolgend werden nun einige der häufig verwendeten Medien vorgestellt und ihre Wirkung aufgezeigt. Anschließend wird überprüft, ob und inwiefern sich die Medien und ihre Wirkung auf die Literatur in der heutigen Zeit verändert haben. Um dies exemplarisch zu belegen, wird auf Texte zurückgegriffen, die nach dem inoffiziellen Ende der Popliteratur 2001 publiziert wurden. Bevor die Gesellschaft mit den Mobiltelefonen überschwemmt wurde, war das Festnetztelefon das bedeutsamste unter den Telekommunikationsmedien, stellte es doch die persönlichste sowie schnellste und direkteste Form der Kommunikation dar. Es galt als Garant für eine fast allgegenwärtige Erreichbarkeit und führte bei einer Störung dieses Mediums zu starken Irritationen.[30] Des Weiteren dient es als effiziente Hilfe, Distanzen zu überwinden und zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten. So kann zur Untermauerung dieser These und stellvertretend für die Relevanz der althergebrachten Medien in den 90er-Jahren eine Situation aus dem Werk Soloalbum herangezogen werden. In dieser Szene hat sich der Protagonist aus Liebeskummer in seiner Wohnung verschanzt und zudem den Telefonhörer nicht aufgelegt:

„[…] doch dann wollte ich niemanden mehr sehen, keinen Quatsch mehr hören und reden müssen. Einfach allein sein und irgendwann schlafen. Ich hatte den Telefonhörer danebengelegt…[…].“[31]

Die Irritation, die durch die beschriebene Situation hervorgerufen wird, führt nun dazu, dass die Freundin des Protagonisten seine „Nichterreichbarkeit“ als etwas sehr Sonderbares empfindet, sich Sorgen macht und aufgrund dessen die Tür aufbrechen lässt.

Auch wenn das Festnetztelefon heutzutage nicht mehr das populärste Kommunikationsmedium darstellt, dient es immer noch der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und wird auch in Zeiten des Internets regelmäßig genutzt, was sich an moderneren Texten mit popliterarischen Zügen wie Mängelexemplar von Sara Kuttner belegen lässt:

„Das Telefon klingelt, Papa ist dran, er ruft von der Nordsee an, wo er regelmäßig als Head of Irgendwas die Außenstelle einer großen Versicherungsagentur managt. „Tochter, wie geht es dir?“, fragt er fröhlich. Alle zwei Monate haben wir so ein Telefonat, in dem jeder seiner Rolle als Vater / Tochter nachzukommen versucht.“[32]

Zu Zeiten des Festnetztelefons spielten ebenfalls der Anrufbeantworter sowie das Faxgerät eine wichtige Rolle im Repertoire der Kommunikationsmedien. Erst genanntes Medium wurde damals rege für verschiedene Intentionen genutzt und nimmt bei Stuckrad-Barre teilweise sogar menschliche bzw. personifizierte Züge an. So stellt er eine Art Puffer bzw. Sekretär/in dar, die/der stellvertretend für den Protagonisten die Anrufe der Freundin entgegennehmen und ihm somit Informationen über ihre Ansichten sichern soll.[33] Auch in den 90er-Jahren spielte es bereits eine wichtige Rolle, welches Medium für welche Absichten eingesetzt wird. So findet es der Erzähler in Soloalbum z.B. gemein, dass seine Freundin ein Fax nutzt, um die Beziehung zu beenden:

„Dafür hatte ich das Ding nun wirklich nicht angeschafft. Bei aller Geringschätzung meine ich auch, man hat schon das Anrecht auf eine staatstragende Beendigungszeremonie mit Heulen und Umarmen und allem. Oder wenigstens ein Brief. Aber doch kein Fax!“[34]

Die Verwendungshäufigkeit des Faxgerätes sowie die des Anrufbeantworters haben in den moderneren Texten merklich nachgelassen und sind zwischenzeitlich von der SMS abgelöst worden. Sie kann als Zwischenstufe zwischen den modernen Medien wie Facebook, Twitter oder anderen innovativen Kommunikationsplattformen wie WhatsApp bezeichnet werden und auch sie hat ebenfalls der negative Ruf ereilt, häufig für sehr unpersönliche Beziehungsauflösungen verwendet zu werden. Die Möglichkeit, das Internet und den Computer als Telekommunikationsmedium zu nutzen, spielt in den fiktionalen Texten von Stuckrad-Barre noch keine große Rolle. In Livealbum wird lediglich an einer Stelle das Medium E-mail aufgegriffen, wobei der Eindruck entsteht, dass diesem nicht viel Beachtung entgegengebracht wird:

„Im Viertelstundentakt kontrollierte ich, ob e-mails eingegangen waren und hieß es wieder einmal: /“Es sind keine neuen e-mails für sie auf dem Server vorhanden“/ klickte ich zwar, fand es aber gar nicht: OK./ Ob ich offline gehen wollte, fragte der Computer noch höflich – dabei war es doch schon – Tourende.“[35]

Gleiches gilt für das Werk Soloalbum. Auch hier wird das Internet nur am Rande erwähnt und taucht in einer Diskussion des Erzählers mit einigen Hausfrauen auf, in der er durch das Aufzählen sämtlicher Klischees des Mediums die Diskussionsteilnehmerinnen provozieren will:

„[…]. Wissen Sie, dieses haptische Erleben, das ist mir wichtig. Aber die Möglichkeiten sind schon doll. Nur ist ja auch das Missbrauchspotential wahnsinnig groß, nich, als da kann man ja dann von zu Hause aus Banken ausrauben. Und die Jugendlichen sitzen noch mehr vor der Flimmerkiste, das ist dann halt die Kehrseite der Medaille./ Leider hat mich niemand unterbrochen. Die Hausfrauen wussten gar nicht so genau, was das Internet ist, […].“[36]

Dennoch wird durch die Thematisierung angesprochener Medien bereits deutlich, dass sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Werke (Soloalbum 1998 und Livealbum 1999) bereits bekannt und auf dem Weg zu großer Popularität waren. Dieser Umstand deckt sich mit den historischen Fakten zur Entwicklung des Internets, ist es doch in unserer Gesellschaft seit Mitte der 1990er Jahre als Massenmedium etabliert.[37] In dem 2001 erschienenen Werk Tristesse Royal greift Stuckrad-Barre das Medium Internet bereits merklich intensiver auf, was die Hypothese erlaubt, dass diese Entwicklung eine Reaktion des Autors auf die steigenden Popularität und Relevanz des Mediums in der Gesellschaft darstellt. Hier erscheint es u.a. in den negativ konnotierten Kontexten des „Musik-Downloads“[38] und wird als „Gefahr der Kommerzialisierung von Kunst“[39] gesehen. Im positiven Sinne wird das Medium mit seinen „umfangreichen Service-Möglichkeiten“[40] in Verbindung gebracht, zu denen der Autor beispielsweise die Möglichkeit zählt, Blumengrüße über das Internet versenden zu können. Die Verwendungshäufigkeit und Relevanz des Internets ist innerhalb der „inoffiziellen“Popliteratur- Nachfolger[41] kontinuierlich gestiegen, wofür stellvertretend und exemplarisch das Werk Mängelexemplar von Sarah Kuttner genannt werden kann. Hier werden neben einer häufigen Verwendung des Mediums seine spezifischen Auswirkungen auf die Sprache deutlich, was z.B. durch eine flache Sprache, kürzere Texte sowie an der häufigen Verwendung von Anglizismen deutlich wird:

„You can get it if you really want. Ich wante vermutlich nicht really genug. Auf der anderen Seite wante ich zumindest genug, um ordentlich unzufrieden zu sein, es nicht zu getten“.[42]

Die Häufigkeit der Thematisierung von Film und Fernsehen in der Popliteratur bzw. in Werken mit popliterarischen Zügen hat sich in der Zeitspanne von 1990 bis jetzt nicht merklich verändert, obwohl man insbesondere dem Fernsehen zugestehen muss, dass es sich nun stärker auf die Literatur auswirkt. In diesem Kontext kann mittlerweile von einer intensiven Verknüpfung der Branchen gesprochen werden, die ein personelles Wechselspiel zwischen Autoren und Moderatoren impliziert. Dies ist z.B. daran ersichtlich, dass eine Vielzahl der aktuellen Autorinnen vorher als TV-Moderatorinnen tätig waren bzw. immer noch in diesem Bereich tätig sind. Exemplarisch können in diesem Zusammenhang Sarah Kuttner, Charlotte Roche und Alexa Henning von Lange genannt werden. Das „Allroundtalent“ Sarah Kuttner ist beispielsweise auf verschiedenen Medienkanälen sowie Formaten wie z.B. dem ZDF Neo-Magazin Bambule [43] oder mit ihrer Sendung Ausflug mit Kuttner [44] präsent gewesen und erhielt 2005 aufgrund dessen auch den Musikexpress Style Award für die „Medienperson des Jahres“.[45] Charlotte Roche begann ihre TV-Karriere beispielsweise auf VIVA Zwei mit der Musiksendung Fast Forward [46] und Alexa Henning von Lange moderierte ab 1995 die Kindersendung Bim Bam Bino bei Kabel 1.[47] Des Weiteren existiert auch das umgekehrte Beispiel, so moderiert der ehemalige Pop-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre nun seine eigene TV-Sendung Stuckrad-Barre [48] auf Tele 5. Zusammenfassend kann zum Verhältnis von Popliteratur und Medien das Fazit gezogen werden, dass Medien in den meisten Werken eine dominante Position einnehmen und sich die inhaltliche Relevanz der Medien in den Texten nicht verändert hat. Dies impliziert eine nach wie vor intensive Verwendungshäufigkeit der Medien in den Texten. Es haben sich lediglich die Medienformate und ihre spezifischen Anwendungsmöglichkeiten geändert, die zudem in der heutigen Zeit noch vielfältiger geworden sind. Bemerkenswert sind jedoch die immer schneller werdenden Abläufe innerhalb der Gesellschaft und die damit zusammenhängende „Konsumgeilheit“. Sie wird daran ersichtlich, dass die Abstände zwischen Buchveröffentlichungen immer kürzer werden, betrugen diese doch in der Vergangenheit des Öfteren noch mehrere Jahre. Auffällig ist zudem die stärker gewordene Wirkung der Medien auf den verwendeten Sprachstil und auf die Inhalte der Literatur. Wie bereits angesprochen, werden die Texte immer flacher, kürzer bzw. immer schneller geschnitten, so dass sich Literatur teilweise Drehbüchern für Unterhaltungs- oder Milieufilme annähert. Angesprochene Abkehr von der bisher üblichen linearen Erzählweise ist zwar ebenfalls auf dem Büchermarkt zu beobachten, viel deutlicher und drastischer wird sie jedoch im Internet erkennbar. Sie impliziert, dass der Text nun symbolisch nicht mehr als Weg, sondern als eine Landschaft präsentiert und der Rezipient nun z.B. die Möglichkeit hat, zwischen verschiedenen Textfragmenten hin- und her zu reisen.[49] Ein Beispiel für eine solche Plattform ist der Web-Auftritt des Autors Mirko Bonne, der unter dem Namen Digitab ein sogenanntes Tableau der Gegenwart ins Leben gerufen hat. Innerhalb dieses interaktiven Auftrittes hat der User den Titel Das Salinenunglück zu Grüningen-Tennstedt visuell sowie literarisch in Szene gerückt. Hier hat der User unter anderem die Möglichkeit, zwischen sieben frei selektierbaren Tafeln, die Novalis Versuch thematisieren, ein Perpetuum mobile zu konstruieren, autonom hin- und herzureisen und die chronologische Reihenfolge der Informationen selbst zu bestimmen.[50] Es existieren viele weitere solcher Internetauftritte, z.B. schrieb Matthias Politycki (*1955) die Fortsetzung seines Weiberromans (1997) als „Novel-in-progress“ im Internet und gab den Besuchern während des gesamten Verfassungsprozesses, die Möglichkeit, mit ihm über mögliche Fortsetzungsvarianten zu diskutieren und sich somit interaktiv einzubringen.[51] Dennoch ist diese Entwicklung auch kritisch zu betrachten, wird im Zuge dieser Entwicklung doch die Idee des produktiven, individuellen und authentischen Autors konterkariert, indem diese Texte nun jegliche individuelle Handschrift in Bezug auf Stil, Kreativität, Inhalt etc. vermissen lassen. Dies impliziert mehrere Konsequenzen: Der Text kann nun keinem authentischen einzelnen Verfasser mehr zugeordnet werden, die Literatur verliert so ihre Autonomie und verkommt letztendlich zu einer benutzerfreundlichen Oberfläche, die durch die kommerziellen Hintergedanken der Kulturindustrie geprägt ist.

2.7 Die mediale Inszenierung

Ein absolut unverkennbares Markenzeichen der Popliteratur ist ihre mediale Inszenierung. Bereits die Popliteratur der 1960er-Jahre hatte sich vom althergebrachten, altmodischen Konzept des Autors im Elfenbeinturm verabschiedet, indem der Literat wenig bis überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt hatte.[52] Nachdem seit den 80er-Jahren das Erzählen in der postmodernen Literatur wieder Einzug gefunden hat, liegt in der Popliteratur nochmals eine veränderte Situation vor, in der nun nicht nur das Werk, sondern ebenfalls der Autor sowie die Autorenschaft im Focus der Marketingstrategie stehen. Nach Kaulen wird im Verlauf dieses Prozesses die „kritische Außenseiterrolle“ des Autors durch den „Habitus einer selbstironischen, beobachtenden Teilnehmerschaft an der aktuellen Medien- und Popularkultur“ ersetzt.[53] Das hauptsächliche Ziel der verfolgten Strategie, die man auch als „Literatainment“ bezeichnen könnte, liegt selbstverständlich im kommerziellen Bereich, aber auch der ästhetische wird nicht außer Acht gelassen. Die kommerziellen Ziele manifestieren sich in der Personalisierung der Autoren und in der Organisation des Autorenkollektivs im Medienverbund. Teilweise sorgen die Autoren auch selbst dafür, dass sie und ihr Werk die entsprechende Medienpräsenz erhalten. Die ästhetischen Aspekte äußern sich in der Stilisierung der Popromane als „Kult“ und ihrer Urheber als Popstars. Prinzipiell werden möglichst viele synergetische Effekte zwischen Literatur, Musik, Print- und audiovisuellen Medien angestrebt, die eine wechselseitige Wirkungsverstärkung bzw. ein gegenseitiges Profitieren implizieren. Angewendete Vermarktungsstrategie steht in enger Verbindung mit einer sehr konsumentenorientierten Ausrichtung und hat der Popliteratur zu einem Status verholfen, der bislang nur den Populärmedien wie Film, Fernsehen, Hörfunk und Internet vorbehalten war. Sie wird durch eine auf die jugendliche Käufergruppe abgezielte Präsentation der Produkte weiter forciert. Z.B. wird versucht, durch leuchtend grelle Farben und ungewöhnliche Layouts, sowie durch besonders auffällig und style-bewusst aufbereitete Autorenfotos die Aufmerksamkeit der potentiellen Käufer zu wecken. Schlussendlich bekommt der Konsument bzw. Käufer ein fertiges Marketingkonzept vorgesetzt, ihm wird, um die Werbesprache zu nutzen, eine geschlossene Corporate Identity mit auf den Weg gegeben. Diese setzt sich aus den Elementen Text, Covergestaltung, Bildern und den passenden Statements zusammen. Zu dieser erwünschten Corporate Identity trägt z.B. ebenfalls bei, wenn die jungen Autoren Werbung für bestimmte Kleidungsstücke bzw. Marken machen. So beschreibt Illies, dass sich Kracht und Stuckrad-Barre in einer Anzeigenkampagne für Peek & Cloppenburg als konsequente Anzugträger bekannten und dass man ihnen dankbar dafür ist, dass sie als erste Generationsgenossen zugaben, eine Putzfrau zu haben.[54] Degler und Paulokat gehen sogar so weit, die mediale Inszenierung und die auffallende Selbstverständlichkeit, mit der sich die Autoren in der medialen Welt bewegen, als das markanteste Kennzeichen in der Produktion und Rezeption der Popliteratur zu bezeichnen.[55] Wie bereits angesprochen, nutzen viele der Autoren der Szene unter Mithilfe ihrer Verleger eine individuelle Corporate Identity, um sich von den anderen Autoren abgrenzen zu können und somit eine eigene wirtschaftlich rentable Nische auf dem Büchermarkt zu generieren. Absolute Authentizität ist bei dieser Vorgehensweise seitens der Autorenschaft nicht immer gegeben und anscheinend auch nicht zwingend notwendig, was die folgende Aussage Stuckrad-Barres in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung verdeutlicht: “Heute muss man zu den Büchern ein Image liefern. Das ist genau wie in der Popmusik, und ob das authentisch ist oder nicht, spielt keine Rolle.“[56] Außerdem ist in diesem Zusammenhang kritisch anzumerken, dass eine ausgeprägte mediale Präsenz der Autoren vom Publikum erwartet wird und die Autoren, ob sie wollen oder nicht, dieser gerecht werden müssen. Aufgrund dessen kann die angesprochene Selbstinszenierung einerseits als Schutz der eigenen Person durch den Aufbau einer zweiten „Medienpersönlichkeit“ und andererseits als Wunscherfüllung des Publikums nach einem „schillernden Literatur-Star“ interpretiert werden.[57] Es existieren dennoch Autoren, deren mediale Identität durchaus als sehr authentisch eingestuft werden kann, die sie freiwillig und gerne verkörpern. Ein Beispiel hierfür ist Thomas Meinecke, auf den man unter anderem im Kontext der Popliteratur der 1990er-Jahre stößt, wenn man nach dem Schlagwort vom „Autor als DJ“[58] sucht. Diese Verknüpfung stellt ebenfalls eine Corporate Identity dar und wurde gerne genutzt, weil sie das etwas antik anmutende Medium Literatur in ein innovatives Licht stellte und ihm somit eine Form von Hipness bzw. Avantgarde verlieh. Avantgarde steht in diesbezüglich für eine starke Orientierung an der Idee des Fortschritts und definiert sich durch eine besondere Radikalität gegenüber bestehenden politischen Verhältnissen oder vorherrschenden ästhetischen Normen. Außerdem erlangt die viel gescholtene und oft als belanglos abgetane Popliteratur auf diese Weise intellektuelle Weihen, wurde doch in vielen Pop-, Kunst-, und Kulturzeitschriften ein Bild von einer „DJ-Culture“ gezeichnet, das elektronische Musik, Sampling und das Plattenauflegen in Clubs geradezu als ein Paradigma zeitgenössischer Kunst ansieht.[59] Thomas Meinecke ist so ein Autor, der systematisch dafür gesorgt hat, seine Autorenperson mit einer wirtschaftlich rentablen Identität, in diesem Fall eine als „Autor-DJ“, auszustatten. Seine Werke Tomboy (2000) , Hellblau (2001) , Musik (2007) und Jungfrau (2008) weisen allesamt das Merkmal auf, dass zu großen Teilen direkte und indirekte Zitate aus anderen Texten übernimmt und diese zu einem neuen Ganzen umgestaltet. Somit existiert hier eine Analogie zur Tätigkeit eines DJs, da er aus verschiedenen Musiksequenzen und unterschiedlichsten Quellen einen langen Mix generiert, der sich durch harmonische Übergänge zwischen den einzelnen Elementen auszeichnet und manchmal sogar auch eine kleine Geschichte erzählt. Um die Corporate Identity abzurunden, arbeitet Meinecke schlüssigerweise als Radio-DJ beim bayerischen Rundfunk und legt zudem bei vielen renommierten Technoveranstaltungen sowie im Anschluss an seine Lesungen Platten auf.[60] Außerdem ist er als Musiker der Gruppe Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) tätig.[61] Der Erfolg seiner medialen Inszenierung wird z.B. daran deutlich, dass er in Rezensionen schon fast notorisch als DJ bezeichnet wird[62] und sein Werk Hellblau passende Einschätzungen wie „gesampelter DJ-Mix“[63], „vom Schreiben als Plattenauflegen“[64] und „Schreiben als Sampling“[65] erhalten hat. Die Rezensenten attestieren ihm somit, die nicht ganz einfache Gradwanderung geschafft zu haben, das innovative Handwerk der DJ-Culture samt seiner vielen technischen Feinheiten analog auf seine Literatur zu transferieren und dabei seinen eigenen Stil zu kreieren. Einerseits sticht Meinecke mit seinen Werken aus der breiten Masse heraus, indem er seine Romanprosa ganz bewusst von den feuilletonistischen Verfahren der eingängigen Pointierung, die sich durch ihren besonders eindringlichen und nachdrücklichen Stil auszeichnet, abgesetzt hat. Andererseits distanziert er sich deutlich von den zu diesem Zeitpunkt konformen Narrationsmustern und verwendet für seine Texte die sogenannte Technik der Überterminierung, für die ein Textfluss von ein bis zwei Seiten sowie sorgsam ausgepegelte Textabschnitte charakteristisch sind.[66] Zusammenfassend kann er exemplarisch für eine schlüssige und funktionierende Corporate Identity genannt werden.

[...]


[1] Vgl. Ernst (2001), S.80.

[2] Vgl. Ernst (2001), S.81.

[3] Vgl. Ulmaier (2001), S.17.

[4] Ebd., S.18.

[5] Ebd., S.48.

[6] Vgl. Stahl (2006), S.258.

[7] Vgl. Ernst (2001), S.81.

[8] Vgl. Stahl (2006), S.259.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Ernst (2001), S.81.

[11] Vgl. Preckwitz (2005), S.348f.

[12] Schönauer (1997-2001).

[13] Vgl. Freise (2013), in: Slam Owl, 13.11.2010.

[14] Vgl. Degler/Paulokat (2008), S.53.

[15] Siehe hierzu auch Abschnitt 2.1 `Popliteratur. Was ist das?- eine Einordnung`

[16] Diederichsen (1997), S. 273.

[17] Ebd. S. 275.

[18] Vgl. Paulokat (2006), S. 100.

[19] Diederichsen (1997), S. 284.

[20] Vgl. Degler/Paulokat (2008), S.54.

[21] Wiegerling (2000), S.11.

[22] Feiereisen (2003), S.72.

[23] Vergleiche hierzu auch die Leitmotive/Leitthemen in Abschnitt 3.

[24] Vgl. Hage (1999), S.244 f.

[25] Vgl. Degler/Paulokat (2008), S.74.

[26] Vgl. Meinecke (2000).

[27] Vgl. Renz (2011), S.74.

[28] Vgl. Butler (1991), S.57f. und S. 201f.

[29] Vgl. Degler/Paulokat (2008), S.76.

[30] Vgl. Paulokat (2008), S. 231.

[31] Vgl. Von Stuckrad-Barre (2000), S.15.

[32] Vgl. Kuttner (2009), S.85

[33] Vgl. Von Stuckrad-Barre (2000), S.17.

[34] Ebd., S.18.

[35] Von Stuckrad-Barre (1999), S.235.

[36] Von Stuckrad-Barre (2000), S.113.

[37] Vgl. Hilbert/Priscila (2011), S. 60f.

[38] Vgl. Von Stuckrad-Barre (2001), S.36

[39] Vgl. Ebd.

[40] Vgl. Von Stuckrad-Barre (2001), S.39.

[41] Gemeint sind hiermit alle Werke, die nach dem „inoffiziellen Ende“ der Popliteratur im Jahr 2001 erschienen sind.

[42] Kuttner (2009), S.54.

[43] Vgl. N.N. (2012), `Lifestyle ZDF Neo-Magazin`.

[44] Vgl. Kuttner (2011), `Ausflug mit Kuttner`.

[45] Vgl. Kuttner (2005), `Musikexpress style`.

[46] Vgl. Roche (2013), `Biographie`.

[47] Vgl. Henning Von Lange (2013), `Bim Bam Bino`.

[48] Vgl. Stuckrad-Barre (2013) `Grimme-Preis`.

[49] Vgl. Ernst (2001), S.86.

[50] Vgl. Bonne `Das Salinenunglück`.

[51] Vgl. Politycki `Weiberroman`.

[52] Vgl. Mehrfort (2009), S.193.

[53] Vgl. Kaulen (2002), S.211.

[54] Vgl. Illies (2000), S.34.

[55] Vgl. Degler und Paulokat (2008). S.15.

[56] Farkas (1999) `Die Voraussetzung ist Größenwahn`

[57] Vgl. Mehrfort (2005), S.194.

[58] Vgl. Fiebig (1999), S.232.f.

[59] Vgl. Picandet (2011), S. 126.

[60] Vgl. Picandet (2011), S.126.

[61] Vgl. Baßler (2005), S.135.

[62] Vgl. hierzu die Rezensionen von Baumgart (2001), Beiküfner (2001) und Boenisch (2001).

[63] Vgl. Boenisch (2001) `Mein Text weiß mehr`.

[64] Ebd.

[65] Vgl. Hess (2001) `DJ der Worte`.

[66] Vgl. Baßler (2005), S.143.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783955498467
ISBN (Paperback)
9783955493462
Dateigröße
331 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Koblenz-Landau
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Epochenschwelle Pop-Literatur Literaturströmung Pop Literatur

Autor

Daniel Unger studierte an der Universität Koblenz-Landau und schloss sein Studium der Germanistik sowie der Sportwissenschaften 2013 mit dem akademischen Grad des Masters of Education erfolgreich ab. Bereits während des Studiums sammelte der Autor umfassende theoretische Erfahrungen über die literarische Entwicklungslinie der Popliteratur, indem er schwerpunktmäßig entsprechende literaturwissenschaftliche Seminare besuchte und diese anhand von Hausarbeiten zu dieser Thematik erfolgreich abschloss.
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Titel: Charlotte Roche - eine Popliteratin? Eine exemplarische Analyse der Werke Feuchtgebiete (2008) und Schoßgebete (2011) bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur literarischen Entwicklungslinie der Popliteratur
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