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Der unzuverlässige Wissenschaftler: Erzählerfiguren im Neuen Historischen Roman

©2010 Bachelorarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Wie wird Geschichte geschrieben? Anhand von Tomás Eloy Martínez’ Roman Santa Evita (1995, Argentinien) und Celia del Palacio‘s No me alcanazará la vida (2008, Mexiko) untersucht diese Arbeit, wie die offizielle Geschichtsschreibung im lateinamerikanischen Neuen Historischen Roman in Frage gestellt wird.
Über die Analyse der Erzählerfiguren, die in beiden Fällen suggerieren, ein bestimmtes historisches Ereignis mit größtmöglicher wissenschaftlicher Objektivität wiederzugeben, wird gezeigt, welchen Einfluss diese selektierenden und interpretierenden Instanzen auf die Darstellung eines historischen Geschehens haben. Da sich diese Wissenschaftler in den Romanen aber jeweils als höchst unzuverlässige und wenig gefestigte Persönlichkeiten entpuppen, wird offengelegt, welche zentrale Stellung einem Historiker, der ein historisches Ereignis rekonstruiert, zukommt. Im Sinne eines postmodernen Geschichtsverständnisses zeigt diese Arbeit, welchen Beitrag der Neue Historische Roman dazu leistet, die offizielle Geschichtsschreibung als eine Fiktion zu entlarven, die von jedem selbst mit einer bestimmten Intention rekonstruiert wird und somit immer in einem bestimmten Verhältnis zur Gegenwart steht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Binnenhandlung rekonstruiert. Da die Erzählerfigur somit zum Autor dieser
Binnenhandlung wird, lässt sich anhand dieser Figur analysieren, inwieweit
Erfahrungen und Stimmungen eines Historikers/Autors Einfluss auf die
(Re)Konstruktion der Vergangenheit nehmen. Der Nachweis dieser Einflüsse auf
historische Romane zeigt daher auch, dass Geschichte immer subjektiv dargestellt
wird.
Um die beiden zu untersuchenden Romane besser einordnen zu können, wird im
zweiten Kapitel zunächst skizziert, wie sich historische Romane und das Verständnis
der Historiographie seit dem 19. Jahrhundert gewandelt haben. Des Weiteren werden
in diesem Kapitel Gründe für den Boom Neuer Historischen Romane in Lateinamerika
aufgezeigt und verschiedene Definitions- und Kategorisierungsversuche vorgestellt.
Im dritten Kapitel werden dem Analyseteil einige grundsätzliche Überlegungen über die
Aufgabe des Erzählers im Roman und den Wandel seiner Rolle im Laufe der Zeit
voranstellt. Im vierten und fünften Teil der Arbeit sollen dann die Erzählerfiguren von
Santa Evita und No me alcanzará la vida auf ihr Verhältnis zur historischen Ebene und
ihre Forschungstätigkeit hin untersucht werden, um abschließend einschätzen zu
können, welchen Einfluss sie auf die von ihnen rekonstruierte historische Ebene
ausüben.
2
Die Postmoderne und der Neue Historische Roman
2.1 Die Geschichte des historischen Romans
Zur besseren Einordnung des Neuen Historischen Romans ist es hilfreich, zunächst
die Geschichte des historischen Romans selbst nachzuzeichnen, da ,,cada época ha
forjado su concepto de novela histórica y ha abordado el género de diferentes
maneras" (Corral Peña 1997: 14).
Die strikte Trennung von Geschichte und Literatur ist ein Resultat des positivistischen
Geschichtsverständnisses und existiert in dieser Form erst seit dem 19. Jahrhundert,
als man versuchte, die Historiographie als eine exakte Wissenschaft zu etablieren. Es
entstand eine ,,obsesión por mostrar las cosas ,tal y como sucedieron'" (Viu Bottini
2007: 35): Es wurde davon ausgegangen, dass es auch in der Geschichtswissenschaft
eine Wahrheit gibt, die man objektiv und wissenschaftlich darstellen kann. Dieser
Maßstab galt auch für historische Romane, da davon ausgegangen wurde, dass es
,,una verdad anterior al texto, independiente del observador" gebe (ebd: 37). Ein
Historiker konnte durch das genaue Studium von Dokumenten zur dieser Wahrheit
gelangen: ,,[La] investigación a través de documentos [es] la única garantía de la
verdad" (ebd.: 34).
Dieses positivistische Verständnis von historischer Wahrheit steht in Kontrast zu der
schon seit dem 4. Jahrhundert vor Christus geltenden Maxime des griechischen

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Geschichtsschreibers Thukydides, nur das als wahr anzusehen, was man selbst
gesehen und miterlebt habe (s. ebd.: 34). Im 19. Jahrhundert entstand dadurch eine
,,funktionelle Differenzierung zwischen Historiographie und Literatur" (Nünning 2008:
288), bis dato ,,considered as branches of the same tree" (Hutcheon 1988: 105). Der
historische Roman wird zunehmend in den Dienst einer Nationalgeschichtsschreibung
gestellt und leistet einen wichtigen Beitrag zur Entstehung nationaler Identitäten und
Mythen (s. Elmore 1997: 13). So entsteht die ,offizielle Geschichtsschreibung', ,,la
historia de reyes y gobernantes, la suma de batallas y fundaciones" (Grinberg Pla:
2001: 5), die von den Geschichtsschreibern als ,,hechos narrados que ,se cuentan por
sí mismos'" (Viu Bottini 2007: 52) beschrieben und im Sinne des Nationalstaats als
eine natürliche Entwicklung dargestellt wird.
2.2 Das postmoderne Verständnis von Geschichte
Das positivistisch-fortschrittliche Verständnis der Wissenschaft wird mit Beginn der
Moderne, die einen ,,Bruch mit dem aufklärerischen Projekt einer umfassenden
Erfassung und Erklärung der Welt" darstellt, in Frage gestellt (Mayer 2008: 590).
Dieser Bruch mündet in eine ,,Erkenntnisskepsis und Repräsentationskrise" (ebd.: 590):
Der Wegfall totalitärer Erklärungsmuster führt zu einem Orientierungsverlust, der sich
in der Postmoderne noch potenziert. Die Postmoderne zeichnet sich im Allgemeinen
durch ein Denken im Plural aus und lehnt absolute Wahrheitsansprüche ab (s.
Strosetzki 2003: 56). Dies hat vor allem in der Historiographie große Auswirkungen und
führt zu der Einsicht, dass es die eine, objektive Geschichtsschreibung nicht gibt (s.
Aínsa 2003: 49) und die Rekonstruktion der Vergangenheit immer im Dienst einer
Ideologie, Politik oder Kultur steht (s. Hutcheon 1988: 120). Während diese Einsicht oft
als ,Ende der Geschichte' interpretiert wurde, stellt sich Linda Hutcheon in A poetics of
Postmodernism dagegen. Sie unterstreicht, dass Geschichte im postmodernen Denken
,,is not made obsolete: it is, however, being rethought ­ as a human construct"
(Hutcheon 1988: 16).
Nach postmodernem Verständnis besitzt jedes historische Ereignis zunächst den
gleichen Wert (s. Viu Bottini 2007: 45-46) und erhält seine Bedeutung erst durch die
retrospektive Beleuchtung der Historiographie, deren Aufgabe es ist, ,,revestirla de
significado, hacer que los acontecimientos del pasado revelen su sentido para el
hombre contemporáneo" (Viu Bottini 2007: 41). Die offizielle Geschichtsschreibung ist
demnach das Resultat eines Selektions- und Interpretationsprozesses, der immer von
der Gegenwart, in der er stattfindet, geprägt ist. Dies bedeutet auf der einen Seite,
dass die Gegenwart zur entscheidenden Komponente der Interpretation wird und ein
Ereignis auf der anderen Seite nur dann als sinnstiftend und bedeutungsvoll
angesehen wird, wenn es einen überzeitlichen Bezug gibt (s. Viu Bottini 2007: 41).

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Ein Problem ergibt sich aber dadurch, dass ,,siendo el presente necesariamente
inconcluso, cambiante y travesado por incertidumbres, el conocimiento histórico sólo
puede ser intuitivo y subjetivo", sodass ,,la práctica historiográfica debería estar abierta
a variaciones y modificaciones" (Perkowska-Álvarez2008: 41). Das bedeutet, dass eine
überzeitliche Interpretation der Geschichte nicht möglich ist und sich die
Historiographie selbst als ein Diskurs herausstellt. Da die Geschichte immer im Sinne
der Gegenwart mit einer bestimmten Intention interpretiert wird, kann sie demnach
auch nicht nach den Kriterien richtig oder falsch bewertet werden (s. Grinberg Pla: 4).
2.2.1 Verhältnis von Historiographie und Literatur
Durch dieses neue Verständnis von Geschichte wird auch das Verhältnis von
Historiographie und Literatur neu bewertet:
What the postmodern writing of both history and literature has taught us is that both
history and fiction are discourses, that both constitute systems of signification by which
we make sense of the past (Hutcheon 1988: 89).
Die Historiographie verliert somit ihren festen, identitätsstiftenden Charakter, während
die Literatur eine Aufwertung erhält: Mit der Erkenntnis, dass die eine, objektive
Geschichte, die es zu erzählen gilt, nicht existiert, ist auch die Einsicht verbunden,
dass die Historiographie sich ebenfalls fiktiver Elemente bedient und somit eine
literarische Dimension beinhaltet (s. Nünning 2008: 288). Im Umkehrschluss bedeutet
dies für literarische Werke, dass auch diese plötzlich für die Historiographie als neue
Quellen interessant werden (s. ebd.: 289).
2.2.2 Einschränkungen durch die Sprache
Sowohl der literarische als auch der historiographische Diskurs versuchen, über das
Medium Text die Realität zu rekonstruieren und zu organisieren (s. Aínsa 2003: 24).
Beide Diskurse stoßen aber durch die ,,sprachliche Bedingtheit, Zeichenvermitteltheit
und Konstrukthaftigkeit jeglicher Form von Wirklichkeitserfahrung und Erkenntnis" an
ihre Grenzen (Nünning 2008: 288). Die Abbildung der Realität in einem Text wird somit
nicht nur durch die vom Autor verfolgte Intention, sondern auch durch die Eigenheiten
des Systems Sprache an sich eingeschränkt: Neben der Geschichte ist auch die
Sprache selbst ein Konstrukt (s. Kolmer/Rob-Santer 2006: 46), ein Zeichensystem, das
auf kulturellen Konventionen beruht und ebenso wie die Geschichte dem Wandel
unterworfen ist:
Si el significado es el resultado de un acuerdo social, una conclusión evidente será que
dicho significado está en permanente cambio y que se trata de una construcción. (Viu
Bottini 2007: 198)
Historiographie wie Literatur besitzen somit einen doppelten Konstruktcharakter, was
die Frage, ob die Vergangenheit mittels eines Texts realistisch und objektiv
rekonstruiert werden kann, obsolet erscheinen lässt. Das pluralistische Weltbild der

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Postmoderne spiegelt sich somit auch im Verständnis von Sprache wieder: Allein durch
den Wandel der Sprache wird deutlich, dass die Geschichte nur ein Diskurs und keine
dauerhaft gültige Rekonstruktion der Vergangenheit sein kann.
Angesichts der Tatsache, dass keine extratextuelle Vergangenheit existiert, also die
Vergangenheit in der Gegenwart immer nur über Texte zugänglich ist (s. Hutcheon
1988: 93), ist diese Erkenntnis von besonderer Bedeutung: Quellen werden im Laufe
der Zeit anders gelesen und interpretiert. Die Einsicht ,,que el conocimiento histórico se
produce en y por el lenguaje" ist ein große Fortschrift ,,en definir a la historia como
discurso y no como suceder" (Grinberg Pla 3). Eine objektive Darstellung wird somit
allein schon durch die Beschaffenheit der Sprache eingeschränkt. Darüber hinaus wird
aber auch der Historiker bzw. Autor zu einer subjektivierenden Komponente.
2.2.3 Die Aufwertung der Rolle des Historikers
Mit dem postmodernen Verständnis von Geschichte ändern sich auch Rolle und
Bedeutung des Historikers in der Historiographie:
[El] historiador no es nunca un objeto pasivo a través del cual se podría transmitir la
verdad de los hechos, sino más bien un sujeto que interviene las fuentes seleccionando
lo que le parece más interesante. (Viu Bottini 2007: 38)
Ihm kommt die Rolle zu, geschichtliche Daten auszuwählen und in einen
Sinnzusammenhang zu bringen, womit er eine zentrale Stellung in der
Geschichtsschreibung einnimmt:: Abhängig davon, ,,[how] historians suppress, repeat,
subordinate, highlight and order those facts, once again, the result is to endow the
events of the past with a certain meaning" (Colomina 2003: 256-260). Darüber hinaus
ist dieser Sinnstifter kein ,unbeschriebenes Blatt', also keine neutrale Person, sondern
selbst vielfältig von seiner Lebenswelt geprägt (s. Viu Bottini 2007: 39) und wird durch
diesen Erfahrungsschatz bei der Auswahl und Bewertung historischer Ereignisse
beeinflusst. Trotz guter Quellenkenntnisse ist es für den Historiker am Ende doch
unmöglich, sich in die Gedanken einer historischen Person hineinzuversetzen (,,¿Cómo
me voy a meter yo en la cabeza de un conquistador del siglo XVI o XVII?" Jorge
Guzmán, zit. nach Viu Bottini 2007: 23). Dadurch ist er gezwungen, seine eigene
Vorstellungskraft zu nutzen um Verknüpfungen zwischen einzelnen Ereignissen
herzustellen und Entscheidungen historischer Personen zu begründen. Die Person des
Historikers beeinflusst somit den Konstruktionsprozess der Geschichte ­ ob nun gezielt
oder unbewusst.
2.3 Die Postmoderne und der Neue Historische Roman in Lateinamerika
Bei der Postmoderne handelt es sich um eine Strömung, die eigentlich in den USA und
Europa entstand, aber auch in Lateinamerika großen Anklang fand und dort in
vielfältiger Weise diskutiert und adaptiert wurde. Auch wenn einige Kritiker die

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Rückkehr einer europäischen Kulturhegemonie befürchteten, entsprach das
postmoderne Verständnis von Geschichte dem lateinamerikanischen Wunsch, die
eigene Geschichte zu schreiben bzw. die bestehende zu revidieren. Es wurde die
Chance erkannt, dass
re-leído y re-rescrito de acuerdo con las condiciones sociales e históricas del
subcontinente, lo posmoderno puede devenir una teoría propia, un nuevo sistema de
representación de la relaciones sociales y culturales latinoamericanas a fines del siglo
XX y a principos del XXI. Por eso, el debate posmoderno en América Latina adquiere
tanta importancia en toda reflexión acerca del posmodernismo en relación con la
literatura latinoamericana. (Perkowska-Álvarez2008: 82)
Somit ist es nicht verwunderlich, dass diese Theorie bei vielen lateinamerikanischen
Autoren Anklang fand und in einer Vielzahl Neuer Historischer Romane rezipiert und
angewendet wurde. Darüber hinaus gab es noch weitere Gründe, die den Boom dieser
Romane vorantrieben: Das neue Interesse an der eigenen Geschichte in den 80er
Jahren in Lateinamerika erschließt sich aus der politischen Situation und dem
zeitlichen Kontext. Zum einen nähert sich Ende des 20. Jahrhunderts der 500.
Jahrestag der ,Entdeckung' Amerikas. Da es sich bei diesem Jubiläum keineswegs um
einen offensichtlichen Anlass zum Feiern handelt, wird dieser Unmut in einer Vielzahl
von Neuen Historischen Romanen zum Ausdruck gebracht, die die Figur Kolumbus
und die Conquista kritisch beleuchten und eine revidierte Version der Anfänge
lateinamerikanischer Kolonialgeschichte schreiben (s. Menton 1993: 48, Strosetzki
2003: 159). Die kritische Überprüfung der Gründungsmythen offenbart ,,una mayor
consciencia de los lazos históricos compartidos por los países latinoamericanos como
un cuestionamiento de la historia oficial" (Menton 1933: 49) und entspricht dem
Wunsch, eine spezifisch lateinamerikanische Geschichte ,,desde el punto de vista de
los perdedores y de los marginados" zu schreiben (Grützmacher 2006: 149).
Darüber hinaus sind die 80er Jahre in Lateinamerika insgesamt eine Zeit, in der die
nationalen Gründungsmythen ihre Überzeugungskraft verloren haben und viele
Menschen pessimistisch in die Zukunft blicken: Verantwortlich dafür ist eine Krise der
Demokratie, die sich durch den gesamten Kontinent zieht, von Mexiko, wo ,,el masacre
de Tlatelolco (1968) extiende [...] la nube negra de la represión estatal" (Perkowswka
2008: 25) bis zu den Ländern des Cono Sur, wo nach dem Ende der Militärdiktaturen
im Laufe der 80er Jahre Desillusion und Autoritätskrisen herrschen, die nicht nur die
aktuelle politische Lage, sondern auch die literarische Produktion beeinflussen:
[El] crimen institucionalizado y la imposición de la historia oficial que protege y legitima al
Estado criminal definen en gran medida la producción literaria de la época. (ebd.: 26)
Zukunftsängste werden durch die wirtschaftlichen Probleme der 80er Jahre noch
zusätzlich geschürt, denn ,,[la] explosión de la crisis económica produce incertidumbre
e angustía social" (Perkowska-Álvarez2008: 31). Es herrscht somit insgesamt eine
Stimmung der Unsicherheit. Durch den Vertrauensverlust in Staat und Regierung wird

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auch die Rechtmäßigkeit und die Überzeugungskraft der Nationalgeschichte in Frage
gestellt. Die postmoderne Historiographie bietet in dieser Situation eine passende
Grundlage für ein neues Verständnis der Geschichte.
Dies führt dazu, dass sich Autoren in dieser Zeit wieder vermehrt mit historischen
Stoffen beschäftigen und die Mythen der Nationalgeschichte hinterfragen. Es ist nicht
verwunderlich, dass viele Neue Historische Romane im 19. Jahrhundert, genau im
Zeitalter der Nationalstaatsbildung, angesiedelt sind (s. Elmore 1997: 12). Auch wenn
sich diese Romane mit der Vergangenheit beschäftigen, dienen sie eigentlich einer
Orientierungs- und Identitätssuche in der Gegenwart. Sie zielen allerdings nicht darauf
ab, Nationalgeschichte revisionistisch darzustellen, sondern als ein Konstrukt zu
entlarven und die Mechanismen, mit denen sie produziert wird, offenzulegen. Für Neue
Historische Romane bedeutet dies, dass diese
no deben interpetarse como un intento de rectificar una versión sobre el pasado a fin de
legitimarlo como la opción verdadera, sino de cuestionar las imágenes existentes para
hacer visibles los valores y prejucios de revisten el conocimiento que tenemos sobre el
pasado y que condicionan nuestras opciones en el presente. (Viu Bottini 2007: 54)
Statt eine neue, kohärente Geschichte zu schreiben, werden Bruchstellen aufgezeigt
und im besten Fall durch eine ,,historia parcial y desmitifiadora" ersetzt (Viu Bottini
2007: 24). Der Aufgabe, neue Orientierungspunkte für eine Identitätssuche zu bieten,
können Neue Historische Romane daher nicht gerecht werden; stattdessen verfolgen
ihre Autoren das Ziel, ,,[de] desmontar toda imagen como algo inestable y provisorio"
(Viu Bottini 2007: 24). Die Unsicherheit in dem historischen Roman ist daher auch eine
Allegorie für den Zustand der Gesellschaft,
[...] porque la búsqueda temática y formal de la nueva historia manifiesta una visión
heterogéna y conflictiva del presente histórico cuyas transformaciones e incertidumbres
afectan no sólo a los historiadores, sino también a sociedadas enteras. (Perkowska-
Álvarez2008:41)
Insgesamt bedeutet der Boom der Neuen Historischen Romane somit nicht nur ein
vermehrtes Interesse an der Vergangenheit, sondern vorrangig eine Identitätssuche in
der Gegenwart in Lateinamerika.
2.3.1 Kategorisierungsversuche des Neuen Historischen Romans
Interessant ist es nun, der Frage nachzugehen, ob und inwiefern es sich beim Neuen
Historischen Roman um eine eigene Literaturgattung handelt, die einen Bruch mit dem
traditionellen historischen Roman
1
markiert, oder ob diese Romane lediglich eine
Aktualisierung der Gattung darstellen. Dieses Thema steht im Mittelpunkt diverser
wissenschaftlicher Arbeiten.
1
Der Begriff traditioneller historischer Roman bezieht sich hier auf Georg Lukács
Untersuchungen zu den historischen Romans Walter Scotts (vgl: Lukács 1955 oder
zusammenfassend Aust 1994: 65f).

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Der Begriff Nueva Novela Histórica stammt von dem amerikanischen
Literaturwissenschaftler Seymor Menton, der 1993 in dem Werk La nueva novela
histórica de la América Latina anhand einer Studie einer Vielzahl von Werken sechs
Charakteristika entwickelte, die seiner Meinung nach besondere Kennzeichen des
Neuen Historischen Romans sind. Unabdingbares Kriterium für die Zugehörigkeit zum
historischen Roman ist für ihn eine zeitliche Differenz von 40-60 Jahren, die zwischen
Autor und historischem Ereignis liegen müssen:
[Hay] que reservar la categoría de la novela histórica para aquellas novelas cuya acción
se ubica total o por lo menos predominantemente en el pasado, es decir, un pasado no
experimentado directamente por el autor. (Menton 1993: 32)
Daneben schließt Menton auch Romane mit zu starkem Gegenwartsbezug aus:
Más difícil es justificar la exclusión de la categoría de novela histórica de aquellas
novelas cuyos narradores o personajes están anclados en el presente o en el pasado
reciente pero cuyo tema principal es la re-creación de la vida y los tiempos de un
personaje histórico lejano. (Menton 1993: 34)
Die sechs Charakteristika Neuer Historischer Romane müssen sich allerdings nicht in
allen Romanen wiederfinden. Wichtig sind für Menton das Vorkommen
geschichtsphilosophischer Ideen, die sich auf verschiedene Zeitebenen beziehen
lassen, die Verzerrung des historischen Ereignisses, die Fiktionalisierung historischer
Figuren sowie metafiktionale Elemente (wie Kommentare des Erzählers über den
Entstehungsprozess der Geschichte), intertextuelle Bezüge und Dialogizität (s. Menton
1993: 42-44).
Menton ist zwar ein vielzitierter Experte auf dem Gebiet des Neuen Historischen
Romans, seine Kategorisierung stößt aber häufig auf Kritik. Besonders die Exklusion
von Werken mit zu hohem Gegenwartsbezug wirkt für ein Genre, das gerade im
Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart steht, recht starr und
mutwillig. Auch andere Charakteristika sind nicht zwingend konstitutiv für die Definition
der Neuen Historischen Romane: Lukasz Grützmacher weist beispielsweise darauf hin,
dass weder intertextuelle Bezüge, noch Dialogizität, oder die Präsentation
philosophischer Ideen eine besondere Neuerung für das Genre des historischen
Romans darstellen (s. Grützmacher 2006: 144).
Grützmacher selbst sieht ,,una actitud crítica a la historiografía oficial" (ebd.: 148) als
wichtiges Charakteristikum des Neuen Historischen Romans. Im Unterschied zu
Menton sieht er insgesamt keinen so starken Bruch mit dem traditionellen historischen
Roman. Er stellt sich auf die Seite Fernando Aísnas (s. ebd.: 148), der seine Definition
des Neuen Historischen Romans vor allem auf inhaltliche Aspekte stützt. Diese wären
,,una relectura del discurso historiográfico oficial" (Asína 1991: 21), die Dekonstruktion
nationaler Mythen, die Verwendung (authentischer und fiktiver) Quellen, die
Vermischung verschiedener Zeitebenen und ein spezieller Sprachgebrauch zur
Nachahmung oder Parodierung der Vergangenheit (s. ebd.: 21). Ziel der Neuen

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Historischen Romane ist demnach ­ wie der Titel seines Werks Reescribir el pasado
schon andeutet ­ eine Dekonstruktion historischer Mythen und die Aktualisierung
deren Inhalts: ,,Los héroes inmortalizados en mármol o bronce, descienden de sus
pedestrales para recobrar su perdida condición humana" (ebd.: 11).
Der von Linda Hutcheon geprägte Begriff der Historiographischen Metafiktion, von ihr
quasi zum Synonym für die gesamte postmoderne Literatur erhoben, trifft auch auf den
Neuen Historischen Roman zu (s. Nünning 2008: 289): Wie die Bezeichnung bereits
andeutet, ist die Metafiktion ein konstitutives Merkmal dieses Romantyps, indem
,,contructing, ordering, and selecting processes [...] shown to be historically determined
acts" offengelegt werden. Geschichtliches Wissen wird hier einerseits erläutert und
andererseits auf seinen Wahrheitsgehalt hin in Frage gestellt wird (s. Hutcheon 1988:
92). Auch die Verwendung intertextueller Bezüge ist ein wichtiger Bestandteil der
Historiographischen Metafiktion, die als ,,a formal manifestation of both a desire to
close the gap between past and present of the reader and a desire to rewrite the past
in a new context" verwendet werden (Hutcheon 1988: 118). Weitere wichtige Merkmale
sind das Spiel mit Lüge und Wahrheit im geschichtlichen Kontext, detaillierte und
ausschmückende Beschreibungen sowie das Auftreten historischer Figuren mit dem
Ziel der Authentifizierung der Handlung (s. ebd.: 114).
Gemein ist diesen Charakterisierungen vor allem die bewusste Vermischung
historischer Fakten und fiktionaler Elemente, sodass auf eine verzerrte Version der
Geschichte dargestellt wird, die zum Beispiel durch historische Quellen authentisch
wirken soll. Gerade die häufig explizit genannten intertextuellen Bezüge spiegeln den
Wunsch und das gleichzeitige Bewusstsein der Unmöglichkeit, Geschichte
wahrheitsgemäß im Roman zu rekonstruieren, wider.
2.3.2 Das Spiel mit der Realität im Neuen Historischen Roman
Durch die Mischung von Geschichte und Fiktion in Neuen Historischen Romanen
entsteht häufig eine Art Spiel, das der Autor des historischen Romans mit dem Leser
treibt: Ein ungeübter bzw. mit dem Handlungskontext nicht vertrauter Leser könnte
leicht dazu geneigt sein, den Roman als historisch wahr anzusehen. So ist es wenig
verwunderlich, dass sich viele Neue Historische Romane der Gattung der ,,ficción de
archivo" zuordnen lassen, ,,un tipo de novela que dialoga con la historia, generalmente
ubicada en el periódo colonial" (Viu Bottini 2007: 96). Gerade die Behandlung derart
weit zurückliegender Epochen macht es für den Leser schwierig, einzuschätzen,
welche Elemente historischen Fakten entsprechen und inwieweit diese vom Autor des
Romans fiktionalisiert wurden. Viele dieser Romane sind im Stil von Tagebüchern oder
Biographien geschrieben, die ,,explora[n] las fronteras entre la historia y la ficción"
(Grützmacher 2006: 153) und per se subjektive Darstellungen der Geschichte sind, die

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nur schwer als wahr oder falsch bewertet werden können. Da Neue Historische
Romane aber ja darauf abzielen, sich diesem Bewertungsschema zu entziehen,
entspricht die entstehende Unsicherheit dem erklärten Ziel dieser Romane.
Metafiktionale Reflexionen, die ebenfalls häufig Gegenstand Neuer Historischer
Romane sind, arbeiten allerdings dagegen und sollten selbst beim leichtgläubigsten
Leser Zweifel an dem Wahrheitsgehalt des betreffenden Romans aufkommen lassen:
[Los] procesos de reflexividad y metaficción no sólo ayudan a argumentar a favor del
carácter limitado del proceso textual y la imposibilidad del acceso al conocimiento
completo de los succesos investigados, sino que también buscan cuestionar el status
genérico de los discursos histórico y literario. (Colomina 2003: 260)
Gerade durch diese metafiktionalen Elemente wird deutlich, dass der Neue Historische
Roman die Geschichte nicht neu schreibt, sondern aufdeckt, dass es sich bei jeder
Form der Rekonstruktion historischer Ereignisse nur um einen Beitrag zum
historiographischen Diskurs handeln kann. Dadurch tritt auch das einzelne historische
Ereignis hinter allgemeine Überlegungen auf einer Makroebene der Geschichte zurück:
Die ,,nueva percepción del discurso histórico en la literatura latinoamericana ya no [es]
una reconstrucción de los hechos pasados, sino una contrucción e interpretación de
macroestructuras en las que se encierra una visión global del destino continental"
(Perkowska-Álvarez2008: 21).
Da somit jeder Autor in einem Roman seine eigene Version der Geschichte verarbeitet,
könnte man auch von ,,una subjetivización progresiva de la realidad" sprechen (Cohn
1979: 21, zit. nach Martínez García 2002: 210). Wie in 2.2.3 schon deutlich wurde,
handelt es sich bei einem Autor oder Historiker nie um eine neutrale Person; auch er
führt den Selektions- und Sinnstiftungsprozess, der hinter einem historischen Roman
steht, mit einer bestimmten Zielsetzung durch. Im Mittelpunkt eines Romans steht
somit nicht mehr das historische Ereignis, sondern dessen Bedeutung in der
Gegenwart (s. Hutcheon 1988: 96). Auch Romane, die in einer weit zurückliegenden
Vergangenheit spielen, haben häufig einen Bezug zur Aktualität, dadurch dass ,,el
pasado remoto alude o evoca sentimientos o situaciones cercanas reconocibles para
el lector que comparte el contexto del autor" (Viu Bottini 2007: 27). Auch für die
Analyse eines Werkes verliert somit die Frage, welche Elemente historisch oder fiktiv
sind, an Bedeutung. Stattdessen gilt es, mit Blick nach vorne zu untersuchen, welche
Intention der Autor mit seinem Roman verfolgt und welche Aussage über die
Gegenwart dahintersteht.
3
Die Erzählerfigur der Postmoderne
Wie in der Einleitung schon angedeutet wurde, erfährt neben dem Autor auch die
Erzählerfigur eine Aufwertung im Neuen Historischen Roman. Wie im vorigen Kapitel
deutlich wurde, steht im Fokus des Romans nicht mehr die Frage, was erzählt wird (die

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,Geschichte'), sondern die Diskursebene und die Frage, wie die ,Geschichte'
präsentiert wird.
2
Viele charakteristische Eigenschaften des Neuen Historischen
Romans wie metafiktionale Überlegungen oder multiperspektivische Darstellungen
kommen vor allem durch spezifische Erzählsituationen zum Ausdruck, die so
wesentlich zum innovativen Charakter dieser Gattung beitragen:
La modernización de la serie literaria se manifiesta en la incorporación de técnicas,
temas y perspectivas que a menudo entran en conflicto con la visión histórica de la
realidad y con las convenciones del discurso histórico tradicional (realista), incluso si se
trata de su vertiente ficcional. (Perkowska-Álvarez2008: 24)
Um die Rolle des Erzählers im Neuen Historischen Roman genauer untersuchen zu
können, ist es wichtig, zuvor deutlich zu machen, welche Rolle der Erzählerfigur in
einem Erzähltext zukommt. Monika Fludernik identifiziert in Erzähltheorie. Eine
Einführung (2008) vier Funktionen, die ein Erzähler im Text einnehmen kann: Zum
einen präsentiert er die erzählte Welt, bleibt dabei aber meist verdeckt. Zweitens kann
er auch eine kommentierende oder erklärende Funktion haben:
Er erklärt, warum Ereignisse eintreten, führt auf politische oder soziale Umstände zurück,
deutet die Motivation der Charaktere. [...] Solche Bewertungen und Erklärungen zielen
primär darauf ab, die Sympathie bzw. Antipathie des Lesers für bestimmte Charaktere zu
wecken und ein Normensystem für die erzählte Welt bzw. deren Rezeption zu entwickeln.
(Fludernik 2008: 38)
Die Erzählerfigur kann außerdem die Rolle eines Philosophen einnehmen, der
generelle Aussagen macht, die auf die erzählte Welt oder auch auf die extratextuelle
Welt bezogen sein können. Als viertes nimmt der Erzähler auch eine
vermittlungsbezogene Funktion ein: Durch die direkte Anrede des Lesers oder
metafiktionale Überlegungen tritt er quasi in Kommunikation mit dem (impliziten) Leser
(s. ebd.: 38). Während der Erzähler, der nur die erzählte Welt präsentiert, meistens
nicht explizit als homodiegetischer Erzähler in dieser auftritt, steigt der Grad der
Involviertheit und Partizipation mit den verschiedenen Funktionen. Damit nimmt auch
die Bedeutung dieser Figur für die Interpretation eines Textes zu: Da das Geschehen
durch ihn gefiltert wird und er die Interpretation des Textes durch Kommentare und
Reflexionen lenkt, ist der Erzähler eine Schlüsselfigur für die Interpretation.
Auch wenn der Autor mit der Konstruktion einer Erzählinstanz ,,eine bestimmte Sicht
der fiktiven Wirklichkeit inszeniert" (Stenzel 2005: 79), darf nicht vergessen werden,
dass diese ,,Instanz ebenso wie die Geschichte selbst ein Bestandteil einer fiktionalen
Konstruktion der Wirklichkeit [ist]" (ebd.: 78) und keinesfalls mit dem real existierenden
Autor gleichgesetzt werden darf.
3.1 Entwicklung der Erzählerfigur in der Postmoderne
In einem traditionellen historischen Roman kommt der Erzählerfigur lediglich die erste
der vier von Fludernik genannten Funktionen zu: Sie präsentiert die erzählte Welt, in
2
Vgl. zur Unterscheidung von Geschichte und Diskurs: Genette 2010: 181f.

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der ,,los hechos narrados ,se cuentan por sí mismos'" (Viu Bottini 2007: 52). Da davon
ausgegangen wird, dass es nur eine wahre und objektive Version der Geschichte gibt,
ergibt sich daraus auch, dass keine explizite, erklärende oder interpretierende
Erzählerfigur benötigt wird. Der traditionelle historische Roman wird von einem über
dem Geschehen stehenden, allwissenden Erzähler geschildert und kann somit ,,ocultar
las marcas del narrador y de su trabajo de texto tras la objetividad de la tercera
persona" (Viu Bottini 2007: 52). Analog zu anderen wissenschaftlichen Texten
zeichnen sich die Objektivität und der Wahrheitsgehalt eines historischen Romans
gerade durch einen möglichst unsichtbaren Erzähler aus, der hinter den Text
zurücktritt.
Im 20. Jahrhundert rückt die Erzählerfigur zunehmend in den Mittelpunkt moderner,
experimenteller Romane und stellt auch einen wichtigen Bestandteil Neuer Historischer
Romane dar: Statt einem auktorialen, alles erklärenden Erzähler in der 3. Person
kommt immer häufiger ein Ich-Erzähler zu Wort, dessen Objektivität von Anfang an
zweifelhaft ist: ,,[La] desaparición del narrador-guía rompe el convencional pacto de
confianza que preside la narración clásica, dejando al lector en la incertidumbre"
(Martínez García 2002: 214). Diese Unsicherheit, die durch das Bewusstsein der
Situiertheit der Erzählinstanz entsteht, wird ,,häufig in modernen Romanen verwendet,
um die Verstehbarkeit der erzählten Wirklichkeit in Frage zu stellen" (Stenzel 2005:
83). In die Fußstapfen des narradora-guía treten unzuverlässige und zunehmend in die
Handlung involvierte Erzählerfiguren, in denen sich diverse Charakteristika des
postmodernen Denkens wie Autoritätskrise, Multiperspektivität oder der Einfluss der
Gegenwart auf die Interpretation der Vergangenheit widerspiegeln.
Die Autoritätskrise, die, wie im zweiten Kapitel deutlich wird, im postmodernen Diskurs
zum einen für Zweifel an der objektiven Wahrheit und insbesondere in Lateinamerika
auch für einen Vertrauensverlust in die Eliten der Politik und Wirtschaft steht, kommt in
der Literatur oft durch das Auftreten eines unzuverlässigen Erzählers zum Ausdruck. In
diesem Fall ergeben sich im Laufe der Handlung Widersprüche in der Erzählung,
sodass dem Leser der Orientierungspunkt fehlt und er mit dem Gefühl der Unsicherheit
durch die Handlung geführt wird:
Esta crisis de autoridad y verdad se reflejará en el campo literario a través de una
relativización de dichos conceptos en un discurso donde ,there is no privileged narrator
upon whom the reader can rely for complete information, nor is there an authoritative
discourse or figure to whom we can turn for something like an objective, final truth
regarding fiction'. (Colomina 2003: 252)
Der unzuverlässige Erzähler enttäuscht die Erwartungen des Lesers und führt quasi
ein Spiel mit ihm. Gerade dieser unzuverlässige Erzähler trägt somit dazu bei, dass in
Neuen Historischen Romanen keine Neuschreibung der Geschichte stattfindet ­ auch
wenn der Erzähler dies als Ziel propagiert. Stattdessen wird auch diese neue Version

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durch das ,Verhalten' der Erzählerfigur sogleich in Frage gestellt und als Konstrukt
entlarvt, das genauso wenig wahr und objektiv ist wie vorherige Versionen.
3.2 Distanz zum historischen Geschehen
Ebenso wie Menton es als unabdingbares Kriterium ansieht, dass der Autor eines
historischen Romans in gewisser zeitlicher Distanz über ein historisches Ereignis
schreibt, zeichnet sich auch der Erzähler eines historischen Romans dadurch aus,
dass er zeitlich distanziert das Geschehen reflektiert und nicht unmittelbar in das
Geschehen involviert ist. Gerade diese Distanz verschwindet aber in Neuen
Historischen Romanen häufig: Auf der einen Seite geschieht dies durch das
Spannungsverhältnis verschiedener Zeitebenen, in denen sich viele Neue Historische
Romane und auch deren Erzählerfiguren angesiedelt sind: ,,Ausgehend von der
Überlegung, daß historische Romane nicht nur geschichtliche Themen behandeln,
sondern auch ,Probleme der Zeit, in der sie entstehen' reflektieren, stellt Gallmeister
(1981: 160) daher zu Recht fest, dass sich Texte dieses Genres ,häufig auf zwei
Zeitebenen' bewegen" (Nünnung 1995, I:106). Dadurch wird deutlich, dass es sich bei
der Geschichtsschreibung nicht um einen abgeschlossenen Prozess handelt, sondern
dass dieser vor allem von der Gegenwart instrumentalisiert wird: Die Distanz zwischen
beiden Zeiträumen verschwindet.
Darüber hinaus tragen auch ,,la narración en primera persona, el uso del monólogo
interior o de diálogos coloquiales" (Grützmacher 2006: 148) zur Brechung dieser
Distanz bei. Durch die Schilderung eines historischen Ereignisses aus der Sicht eines
Ich-Erzählers wirkt die Darstellung besonders subjektiv, ist aber andererseits auch gut
dazu geeignet ,,[de] ,naturalizar' el procedimiento narrativo y conseguir un alto efecto
de credibilidad" (Martínez García 2002: 215). Monologe und Dialoge können dazu
dienen, den Leser direkt ,in die Geschichte zu entführen': In ihnen spiegeln sich direkt
Gedanken der Protagonisten wider und tragen somit dazu bei, die Motive ihrer
Handlungen nachvollziehen zu können. Dabei handelt es sich aber offensichtlich um
fiktive Elemente, die nie der historischen Wirklichkeit entsprechen können.
Insgesamt kann man sagen, je weniger Distanz zwischen Erzählinstanz und
historischem Geschehen, ,,desto mehr erscheinen auch ihre Deutungen und
Erklärungen als interessengeleitet und möglicherweise zweifelhaft" (Stenzel 2005: 79).
Gerade durch diese fehlende Distanz kann die Erzählerfigur der Rolle eines
traditionellen allwissenden und objektiven Erzählers nicht gerecht werden: Sein Blick
auf das historische Ereignis ,,es la perspectiva de un sujeto que se ve incapaz o
renuncia a imponer un orden, un significado y una finalidad a una vida que carece de
ellos" (Martínez García 2002: 217). Anstatt ein historisches Ereignis kohärent und

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783955498658
ISBN (Paperback)
9783955493653
Dateigröße
796 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Lateinamerika Nueva novela histórica Postmoderne Tomás Eloy Martínez Santa Evita Celia de Palacios No me alcanzará la vida

Autor

Neele Meyer, M.A., geboren 1985 in Oldenburg, studierte Romanistik mit Schwerpunkt auf lateinamerikanische Literatur an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Anschließend absolvierte sie einen Master in Lateinamerikastudien an der Universiteit Utrecht, Niederlande. Nach mehreren Aufenthalten im Rahmen verschiedener Stipendien- und Praktikumsprogramme in Indien konzentriert sich Neele Meyer auf komparatistische Arbeiten zur zeitgenössischen indischen und lateinamerikanischen Literatur.
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Titel: Der unzuverlässige Wissenschaftler: Erzählerfiguren im Neuen Historischen Roman
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