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"Was wäre gewesen, wenn...?" Alternativweltgeschichtliche Literatur 1990-2010

©2013 Masterarbeit 68 Seiten

Zusammenfassung

Das vorliegende Fachbuch beschäftigt sich mit dem Thema der kontrafaktischen beziehungsweise parahistorischen Alternativweltgeschichte. Es geht sowohl um den Bereich des Geschichtsschreibers als auch um den des Dichters. Anfangs wird sich dem Bereich der Geschichtswissenschaft gewidmet, wobei erörtert wird, welche Einwände gegen kontrafaktische Fragen vorherrschen und welchen Nutzen sie im Gegenzug haben können. Anschließend wird die Seite des Dichters behandelt, wobei das literarische Genre des alternativweltgeschichtlichen Romans untersucht wird. Es geht darum, das bislang eher weniger bekannte Phänomen einem Genre zuzuordnen und schließlich exemplarisch anhand von fünf Romanen herausragende Vertreter desselben zu analysieren. Bei diesen fünf Romanen handelt es sich um „Fatherland“ von Robert Harris, „Der 21. Juli“ von Christian von Ditfurth, „Stimmen der Nacht“ von Thomas Ziegler, „Morbus Kitahara“ von Christoph Ransmayr und „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ von Christian Kracht. Die bisherige Beschäftigung mit alternativweltgeschichtlicher Literatur beschränkte sich zumeist auf englischsprachige Romane, was darauf zurückzuführen ist, dass dieses Phänomen im anglo-amerikanischen Raum wesentlich ausgeprägter ist als im Deutschen. In dieser Arbeit wird nun der Blick auf die deutschsprachigen Vertreter gelenkt, wobei gleichsam als Prototyp für das Genre Robert Harris’ Roman „Fatherland“ die einzige englischsprachige Ausnahme sein soll. Am Ende eines jeden Bereichs wird darüber hinaus ein didaktischer Ansatz präsentiert. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern das Dargestellte eine Bereicherung für den Geschichts- beziehungsweise Deutschunterricht sein könnte

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Aus der Perspektive des Dichters – Parahistorische Literatur

3.1. Überblick

Die Gattung der parahistorischen Literatur ist ein vergleichsweise junges Phänomen. 1899 erschien mit Edmund Lawrences Roman It May Happen Yet: A Tale of Bonaparte’s Invasion of England die erste durchgängige Darstellung einer parahistorischen Welt. Zuvor waren jedoch schon vereinzelte alternativweltgeschichtliche Fragestellungen in literarischen Werken oder Essays erschienen. So wird in William M. Thackerays Vanity Fair von 1847 die Frage diskutiert, was passiert wäre, wenn Napoleon später aus dem Exil zurückgekehrt wäre. Heinrich Heine fragt in seinem Wintermärchen von 1844 in Form eines Gedichts, was wohl passiert wäre, wenn Varus bei der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr. die Germanen besiegt hätte.

Seine wirkliche Blütezeit erlebte der parahistorische Roman jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Während darauffolgend in unterschiedlichsten Ländern wie Mexiko, den Niederlanden oder Italien parahistorische Erzählungen erschienen, begann in Deutschland diese Bewegung erst in den ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahren. Erst mit dem internationalen Erfolg von Robert Harris’ Roman Fatherland von 1992, so scheint es, kam der parahistorische Roman in Deutschland an. Danach wurden viele internationale Werke dieser Art ins Deutsche übersetzt und es erschienen auch die ersten eigenen Romane deutschsprachiger Autoren.

Doch warum erlebte gerade in den 90er Jahren das Genre einen solchen Boom in Deutschland? Was war der Grund für das plötzliche Interesse an Alternativweltgeschichte? Vielleicht hat sich im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands, dem Fall des Eisernen Vorhangs und den damit verbundenen posthistorischen Theorien eine neue Form der Vergangenheitsbewältigung in der deutschen Mentalität herausgebildet. Die in den späten 80er und 90er Jahren entwickelten posthistorischen Theorien von Lyotard, Baudrillard, Fukuyama, Niethammer und Sloterdijk passen zur kontrafaktischen Geschichtsauffassung. In der Posthistoire-Theorie gehen die Autoren davon aus, dass die Geschichte auf ein sinnbringendes Ende ausgerichtet ist. Entlehnt aus der Evolutionstheorie befände sich die Menschheit in einem soziokulturellen Entwicklungsprozess, der im Begriff sei, zur selbst reproduzierenden Struktur zu erstarren. Ab einem gewissen Punkt, der für viele der Autoren erreicht ist, träten keine epochalen Ereignisse mehr ein, die die vorherrschende Geschichte radikal verändern könnten. Beispielsweise beschreibt der Amerikaner Francis Fukuyama in seinem 1992 veröffentlichten Buch The end of history and the last man die Entwicklungen der großen Regime des 19. und 20. Jahrhunderts und stellt fest, dass das Ziel eines jeden Staates die Entwicklung zur liberalen Demokratie ist.

What I suggested had come to an end was not the occurrence of events, even large and grave events, but History: that is, history understood as a single, coherent, evolutionary process, when taking into account the experience of all peoples in all times. […] Liberal democracy remains the only coherent political aspiration that spans different regions and cultures around the globe.[1]

Für Deutschland zeigt sich dies ganz besonders. Innerhalb eines Jahrhunderts war das Land geprägt von Monarchie und den „ two major rival ideologies – fascism and communism[2], um schließlich in einer Staatsform liberaler Demokratie zu enden.

Wenn also das evolutionäre Ziel der Weltgeschichte erreicht wurde, ist es vielleicht nun gestattet, sich rückblickend auch mit Alternativweltgeschichte zu befassen.

Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die parahistorischen Romane sehr häufig als Sujet die Geschichte des 20. Jahrhunderts, zumeist die des Nationalsozialismus beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs behandeln. Vermutlich herrscht hier ein besonderes Bedürfnis nach der Frage „Was wäre gewesen, wenn…?“

3.2. Gattungseinordnung

Eine passgenaue Zuordnung zu einer bestimmten literarischen Gattung erweist sich für den parahistorischen Roman als durchaus schwierig. Zweifellos rangiert er zwischen dem historischen Roman, der Science-Fiction Literatur und den utopischen beziehungsweise dystopischen Erzählungen. Jörg Helbig, der sich 1988 als einer der ersten Literaturwissenschaftler mit dem Thema befasste und auch den Begriff des parahistorischen Romans prägte, definiert die Gattung folgendermaßen:

Parahistorische Romane schildern alternative Welt- und Gesellschaftsstrukturen, die aus einer hypothetischen historisch-immanenten Abwandlung des faktischen Geschichtsverlaufs resultieren.[3]

Ähnlich sieht es auch Christoph Rodiek in seinem Beitrag zu dem Thema von 1997:

Unter „Uchronie“ ist nicht eine willkürlich erzeugte „imaginäre“ Geschichte zu verstehen, sondern eine möglichst plausible „hypothetische“ Vergangenheit.[4] Realitätsferne Möglichkeiten, besonders solche, die nichtexistierende Dinge (supernumeraries) zum Gegenstand haben, zählen nicht dazu.[5]

Sowohl Helbig als auch Rodiek machen die literarische Qualität der parahistorischen Erzählung an ihrer Plausibilität fest. Helbig bezeichnet sogar unwahrscheinliche historische Alternativentwicklungen als heuristisch minderwertige parahistorische Literatur.[6] Ein Grund, warum Uwe Durst zu dem harten Urteil kommt: „Helbigs Untersuchung ist weit davon entfernt, eine literaturwissenschaftliche Poetik parahistorischer Erzählliteratur zu entwerfen.“[7]

Offenbar, so Durst, versuchen die Autoren, das Genre „als relevanten Forschungsgegenstand zu legitimieren“, in dem man es in einen seriösen Kontext mit der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der kontrafaktischen Geschichte bewegt. „Das Genre wird hierdurch überfordert.“[8] Zwei Gründe sprechen gegen eine literarische Qualitätsbemessung anhand von Plausibilitäts- und Realitätsstufen:

Zum Einen erschien, wie schon in Abschnitt 2 herausgearbeitet wurde, die Realhistorie häufig selbst im Vorfeld an vielen Stellen verblüffend unwahrscheinlich, unplausibel und unrealistisch. Zum Anderen stellt sich die Frage, ob Literatur überhaupt oder zu welchem Grad realistisch und plausibel sein muss. Der Philosoph Hans Blumenberg formulierte bereits 1964 in seinem Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans die These, dass der Roman der „Inbegriff des Sichdurchhaltens einer Syntax von Elementen“ sei und dadurch konstituiert würde, dass „er bestimmten Regeln der inneren Konsistenz“ gehorche.[9] Das bedeutet, dass der Roman, der den Anspruch hat, nicht „nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren“[10], vollkommen legitimiert ist, solange er die selbst gebildeten Strukturen der erschaffenen „zweiten Welt“[11] konsistent durchhält und diese eben nicht im Vergleich zur Wirklichkeit rechtfertigen muss.

Für die parahistorischen Geschichten pointiert dies Uwe Durst:

Entscheidend ist allein die Struktur der historischen Entwicklung, die innerhalb der fiktionalen Erzählung als eigentliche, ‚wirkliche‘, angeblich nicht-fiktionale Historie konstruiert wird. Jede andere Betrachtungsweise ignoriert das literarische Faktum.[12]

Durch ihre auf Realismus fixierten Definitionen der parahistorischen Literatur, die allenfalls auf die kontrafaktischen Gedankenspiele der Geschichtswissenschaft, keinesfalls jedoch auf die Ästhetik angewendet werden können, klammern Helbig und Rodiek einen großen Teil an Literatur, die zwar prinzipiell parahistorisch oder uchronisch, jedoch leider auch an vielen Stellen unrealistisch oder wunderbar sind, aus. In den später noch eingehender zu analysierenden Werken Stimmen der Nacht und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten tauchen einige Elemente auf, die ganz und gar nicht realistisch sind. Die „Kletten“[13] in Stimmen der Nacht sowie die „Sonden“[14] in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten sind beispielsweise Technologien, die eher an Science-Fiction Romane erinnern. Die sogenannten „Stimmen der Nacht“[15] selbst oder die „Rauchsprache“[16] in Krachts Roman sind phantastische, höchst unrealistische Elemente. Und trotzdem wäre es ein Fehler, ausgehend von den beiden genannten Definitionen, diese Romane nicht in den Kreis der parahistorischen Literatur aufzunehmen, denn parahistorisch sind sie im höchsten Maße. Besonders stellt sich auch die Frage nach Zeitreisegeschichten. In Stephen Frys Making History reist jemand durch die Zeit und verhindert die Geburt Hitlers. Nach den Definitionen von Helbig und Rodiek wäre dies unrealistisch und daher minderwertig beziehungsweise gar nicht erst berücksichtigt. Nach Helbig „ist der Eingriff eines Zeitreisenden in den Geschichtsverlauf nicht aus den historischen Umständen heraus ableitbar und steht somit in Widerspruch zu der hier zugrundegelegten Definition parahistorischer Texte.“[17] Auch Andreas Widmann klammert in seiner Dissertation zu dem Thema, gerade weil er sich hauptsächlich auf Helbig und Rodiek bezieht, Zeitreisegeschichten aus:

Da die physikalische Unmöglichkeit des Zurückreisens in der Zeit die entsprechenden literarischen Erzeugnisse aber automatisch für die Science Fiction oder die phantastische Literatur qualifiziert, bleibt die hier vorgeschlagene Bestimmung der als der Gattung des historischen Romans zugehörigen Phänomens auf Romane beschränkt, die ohne Zeitreisehandlung auskommen.[18]

Dies bedeutet, dass Stephen Frys Geschichte aufgrund der Zeitreisehandlung nicht in den Kreis der parahistorischen Literatur aufgenommen würde. Wenn ein Autor jedoch Hitlers Geburt aufgrund eines Zufalls verhindert hätte, beispielsweise dadurch, dass Hitlers Mutter vor dessen Geburt von einem Zug überfahren worden wäre, wäre dies aus Helbigs, Rodieks und Widmanns Sicht in Ordnung. Es wird deutlich, wie engmaschig das zugrundegelegte Definitionsraster gespannt ist. Solche auf Realismus fixierte Definitionen gehören vielmehr in den Bereich der geschichtswissenschaftlichen Bearbeitung des Phänomens, die in Abschnitt 2 beschrieben wurde. Für die Literatur sind sie mangelhaft. Eine weitere Hürde, die sich die Autoren selbst stellen, ist, dass sie den parahistorischen Roman aufgrund seiner Bezeichnung dem historischen Roman unterordnen.

Der historische Roman geht nach Hugo Aust aus der „Wechselbeziehung zwischen Geschichtswissenschaft und epischer Kunst“ hervor.[19] Er erzählt im Grunde „von politischen Handlungen der Vergangenheit, die mehr oder minder mit privaten Handlungen einer erfundenen Geschichte verknüpft sind.“[20] Als Prototypen des historischen Romans gelten die Werke von Walter Scott in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Georg Lukács beispielsweise konstatierte, dass allen Romanen zuvor das „spezifisch Historische“ gefehlt hätte.[21] Diese Form des historischen Romans war dezidiert auf Realismus ausgelegt. Selbst Fußnoten und Anmerkungen waren darin enthalten. Dichtungsziel war es, „das Geradeso-Sein der historischen Umstände und Gestalten mit dichterischen Mitteln zu beweisen.“[22] Doch gerade darum geht es ja in dem parahistorischen Roman nicht. Er will nicht das Geradeso-, sondern das Ebennichtso-Sein der historischen Umstände erzählen. Aus diesem Grund ist der historische Roman keine Oberkategorie für den parahistorischen Roman, sondern vielmehr metaphorisch gesprochen ein Bruder der Gattung. Und diese Gattung darf auch phantastische oder Science-Fiction-Elemente beinhalten. Selbst wenn wie in Zeitreisegeschichten diese Elemente den Wendepunkt der historischen Entwicklung herbeiführen.

Ausgehend von Blumenbergs und Dursts Thesen bedeutet dies, dass es egal ist, wodurch der Wendepunkt der Geschichte zustande kommt, solange die Geschichte, die dort konstruierte „zweite Welt“, daraufhin konsistent weiter erzählt wird und ihrer eigens auferlegten „Syntax von Elementen“ folgt.[23]

Als Fazit lässt sich folgendes festhalten: Rodieks von Demandt übernommene Metapher, der Uchronist operiere „mit den gegebenen Größen nach gegebenen Regeln auf dem gegebenen Schachbrett, eben nur in anderer Weise, als Klio dies“[24] tue, ist einleuchtend für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit kontrafaktischer Geschichte. In der Literatur sind gleichsam die Spielregeln mit der Erlaubnis von Kalliope erweitert.

3.3. Analyseschema

Das literaturtheoretische Werkzeug für die Analyse der ausgewählten Romane bietet Uwe Durst mit seinen Aufsätzen Zur Poetik der parahistorischen Literatur und Drei grundlegende Verfremdungstypen der historischen Sequenz. Ausgehend von Roland Barthes Sequenztheorien entwickelt Durst ein Analyseschema für historische und parahistorische Romane, das sich grafisch darstellen lässt und welches auf die fünf ausgewählten Werke einzeln angewendet wird.

In seiner Schrift Das Semiologische Abenteuer gibt Roland Barthes eine Einführung in die strukturelle Analyse von Erzählungen.[25] Er geht darin von der Tatsache aus, dass jede kleinste Einheit einer Erzählung auch eine Funktion hat: „In der Ordnung des Diskurses ist alles Erwähnte per definitionem erwähnenswert.“[26] Er ordnet Erzählungen zwei große Klassen von Einheiten zu: „Indizien“ und „Funktionen“.[27]

„Indizien“ und ihre Unterkategorien „Indizien im engeren Sinn“ und „Informanten“ sind Beschreibungen von Gefühlen, Atmosphären oder Charakterisierungen, die erst noch vom Leser entziffert werden müssen.[28] Für die weitere Bearbeitung werden sie allerdings nicht relevant sein, weshalb hier nicht näher auf sie eingegangen werden soll. Viel entscheidender sind die sogenannten „Funktionen“, die sich in „Kardinalfunktionen“ (Kerne) und „Katalysen“ einteilen lassen. Kardinalfunktionen sind die „Scharniere […] die Risikomomente der Erzählung“, sie treiben die Handlung voran, durch ihr Eintreten oder Ausbleiben verändert sie sich maßgeblich. Katalysen hingegen sind „Sicherheitszonen, Ruhepausen, Luxus“, sie sättigen als „Kleinstgeschehen oder Kleinstbeschreibungen“ „den Raum zwischen zwei Momenten der Geschichte“.[29] Während sie bloß konsekutive Einheiten sind, sind die Kardinalfunktionen sowohl konsekutiv als auch konsequentiell.[30] Eine Sequenz ist nun laut Barthes eine logische Folge von Kernen, die miteinander durch eine Relation der Solidarität verknüpft sind: Die Sequenz wird eröffnet, wenn eines ihrer Glieder keinerlei solidarische Prämisse besitzt, und geschlossen, wenn ein anderes ihrer Glieder kein aus ihm folgendes mehr besitzt.[31]

Als Beispiel nennt er die Sequenz Getränk, die aus den Funktionen bestellen, erhalten, trinken, bezahlen besteht. Katalysen schmücken das Geschehen aus.

Uwe Durst wendet dieses Sequenzschema nun auf die historische Sequenz an und grenzt somit den parahistorischen Roman entschieden vom historischen Roman ab. Er sagt, dass die „historische Sequenz eine intertextuell normierte Abfolgestruktur kardinalfunktioneller Elemente“ sei.[32] Dabei verfüge die Sequenz Historie, also die Geschichte selbst, als gleichsame Supersequenz über keinerlei sequentielle Variabilität:

Der traditionelle historische Roman manifestiert die Sequenz Historie, indem diese supersequentiell das Geschehen überspannt. Maximal werden ihr diverse Subsequenzen hinzugefügt, beispielsweise das Leben fiktiver Personen, Dialoge usw. Keine dieser Subsequenzen ist aber in der Lage, eine Änderung der Supersequenzen zu bewirken. Sieht man von jener (eher geringfügigen) sequentiellen Variabilität ab, die noch als genrekompatibel betrachtet wird, ist die Historie im historischen Roman unwandelbar. Die Subsequenzen stehen zu ihr in einem rein katalytischen Verhältnis.[33]

Als relativ aktuelles Beispiel dafür sei Ken Folletts Sturz der Titanen genannt. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs ereignet sich exakt so wie in der Historie. Als Subsequenzen oder katalytische Einheiten tauchen jedoch an bestimmten Stellen stets die fiktiven Charaktere auf, die in irgendeiner Weise für das Geschehen eine Rolle spielen. So werden mitunter realhistorische Persönlichkeiten durch die fiktiven Figuren ersetzt, jedoch nur dort, wo es nicht unbedingt von Bedeutung oder unbekannt ist, wer jetzt an dieser Stelle handelt. Diese sequentielle Variabilität würde Durst als noch genrekompatibel betrachten. Durst stellt fest, dass sich der historische Roman in diesem Sinne abnutze. Denn im Grunde genommen gebe er ja nur das wirklich Geschehene wieder, was zu Monotonie und Automatisierung führe. Um die historische Supersequenz wieder künstlerisch zu aktivieren, müsse sie verfremdet werden.[34] Diese Verfremdungsverfahren bieten das theoretische Grundgerüst für die Analyse parahistorischer Literatur.

Durst unterscheidet zwischen primären und sekundären Verfremdungsverfahren oder Deformationstypen, wobei die primären diejenigen darstellen, die sich der kardinalfunktionellen und katalytischen Sequenzen bedienen. Der kardinalfunktionelle Deformationstyp lässt sich darüber hinaus weiter untergliedern in neodirektionale und neokausale Verfremdungs- oder Deviationsverfahren.

Der neodirektionale kardinalfunktionelle Deformationstyp ist derjenige, der allen fünf zu bearbeitenden parahistorischen Romanen zugrunde liegt. Hierbei wird das den Kardinalfunktionen inhärente Risikopotential auf die Supersequenz der Historie angewandt und bewirkt somit sowohl die „Zertrümmerung als auch die Entautomatisierung der historischen Sequenz“.[35]

Dementsprechend werden Konstituenten des historischen Romans aus ihrem traditionellen Strukturzusammenhang herausgelöst und als Spolien in eine fremdartige Struktur integriert. Einzelne Kardinalfunktionen verschwinden (bestimmte historische Ereignisse finden nicht statt […]), andere werden neu platziert.[36]

Durst benutzt als Beispiel Philip Roths Roman The Plot Against America, in welchem anstelle von Franklin D. Roosevelt Charles Lindbergh zu einem faschistischen Präsidenten der USA gewählt wird, der erst verspätet in den Zweiten Weltkrieg eingreift. In einer Grafik macht Durst den neodirektionalen Deformationstyp deutlich:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[37]

Während bei den Funktionen F1 und F2 noch alles entsprechend der Realhistorie verläuft, beginnt bei F3 die neodirektionale Sequenz. F3‘ steht für die Nominierung Lindberghs. Im Folgenden soll dies als Wendepunkt bezeichnet werden. F4‘ steht dann für die Wahl Lindberghs im Gegensatz zum realhistorischen Roosevelt (F4). Bei F5‘ zeigt sich eine weitere Spielform des parahistorischen Romans. Die neodirektionale Sequenz kann nämlich entweder permanent (F6‘, F7‘, etc.) weitergeführt werden oder sich ephemer (F6‘‘, F7‘‘) der historischen Sequenz wieder annähern. In Roths Roman wird der ephemere Typ realisiert, die USA nehmen verspätet doch noch am Krieg teil, die Geschichte nähert sich der Historie wieder an.[38] Hier sei ergänzt, dass sich der ephemere Typ auch höchstens asymptotisch an die historische Sequenz annähert, da durch die realisierte neodirektionale Parahistorie niemals eine Wiederherstellung des realhistorischen Normalzustandes möglich ist. Neben dem neodirektionalen zeigt Durst einen weiteren kardinalfunktionellen Deformationstyp auf: Den Neokausalen.

Bei der neokausalen kardinalfunktionellen Verfremdung der historischen Sequenz geht es nicht darum, der Geschichte eine neue Verlaufsrichtung, sondern ihr eine neue Begründung zu geben. Aufgrund von beispielsweise Geheimorganisationen, Außerirdischen oder Drogen wird neu erklärt, warum sich die Geschichte so und nicht anders abgespielt hat.[39] Als Beispiele nennt Durst Kurt Voneguts The Sirens of Titan und Sankt Petri-Schnee von Leo Perutz. Im erstgenannten spielt sich die Entwicklung der Menschheit aufgrund eines auf dem Jupitermond Titan gestrandeten Aliens ab, welche im Endeffekt dazu führt, ihm ein passendes Ersatzteil zu produzieren. Im zweitgenannten ist eine spezielle Pilzsorte schuld an der religiösen Glaubensinbrunst der Menschen des Mittelalters.

Die grafische Darstellung dieses Deformationstyps sieht folgendermaßen aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[40]

Die historische Sequenz verändert sich nur geringfügig. Doch am Punkt Fx kommt das Neokausale Element hinzu, was den Fortgang der restlichen Geschichte manipuliert.

Der katalytische Deformationstyp ist besonders bei postmodernen historischen Romanen wie Christoph Ransmayrs Die letzte Welt vertreten. Die Handlung widerspricht dabei nicht der historischen Supersequenz. Die kardinalfunktionelle Ordnung bleibt intakt, jedoch wird die eigentlich in der Antike spielende Handlung durchbrochen von Anachronismen, wie Projektoren, Bussen und Mikrofonen, die zwar als Katalysen reines Füllwerkzeug sind und keinen direkten Einfluss auf die Handlung haben, jedoch trotzdem eine Deviation bewirken.[41] Grafisch stellt Durst die katalytische Deformation folgendermaßen dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[42]

Die historische Sequenz (F1-F7) bleibt unangetastet, wird aber durchbrochen von den katalytischen Anachronismen (f1-f3).

Die sekundären Verfremdungsverfahren lassen sich an die genannten primären Deformationen anschließen und steigern so die Glaubwürdigkeit oder Authentizität der neodirektionalen beziehungsweise -kausalen Verfremdung.[43] Beispielsweise schaltet Christian v. Ditfurth zu Beginn seines Romans Der 21. Juli einen fingierten Zeitungsausschnitt ein, der Hitlers Tod bekannt gibt. Robert Harris geht in Fatherland sogar noch weiter und entwirft, wie es in einem historischen Roman häufig der Fall ist, eine Karte, die das parahistorische Europa nach Hitlers Sieg illustrativ veranschaulicht.

Während neokausale und katalytische Verfremdungsverfahren im Folgenden eher nicht zum Tragen kommen, bietet das Schema der neodirektionalen kardinalfunktionellen Deformation ein hilfreiches Instrument für die Analyse der nun folgenden fünf Romane.

3.4. Analyse ausgewählter Werke

Im Folgenden werden nun exemplarisch fünf ausgewählte Romane analysiert. Werkübergreifende Fragen an die zu analysierenden Werke seien:

Welche Ereignisse stellen die jeweils geschichtsverändernden Ausgangspunkte, die sogenannten Wendepunkte dar? Wie werden diese Ereignisse im Roman thematisiert? An dieser Stelle wird stets das Analyseschema von Uwe Durst inklusive individuell entwickelter Grafiken angewandt.

Die müßige Frage nach der Plausibilität der Romane muss nicht erneut aufgegriffen werden. Vielmehr interessiert hier, wie glaubwürdig beziehungsweise konsistent der jeweilige Autor seine parahistorische Welt innerhalb des Romans konstruiert, ob er die Syntax der Elemente durchhält.

3.4.1. Robert Harris – Fatherland

1972 brachte der niederländische Autor Harry Mulisch unter dem Titel Die Zukunft von gestern. Betrachtungen über einen ungeschriebenen Roman einen Bericht heraus, der von seinem gescheiterten Versuch handelte, einen Roman unter der parahistorischen Prämisse zu schreiben, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Was Mulisch nach mehr zehn Jahren Arbeit schließlich abbrach, brachte 1992 der Engländer Robert Harris fertig. Das Romandebut des Journalisten ist ein Kriminalroman, der in einer parahistorischen Welt spielt, in der die Nationalsozialisten den Krieg gewonnen haben und nun Europa beherrschen. Im Jahr 1964 kurz vor dem 75. Geburtstag Hitlers decken ein Ermittler namens Xavier March und eine amerikanische Journalistin namens Charlotte Maguire eine Mordserie auf, die zu den Hintermännern der Wannsee-Konferenz und damit zur bislang geheim gebliebenen Vernichtung der Juden führt.

Nach Dursts Schema der Verfremdungssequenz sähe die parahistorische Entwicklung in Fatherland folgendermaßen aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ausgangspunkt ist, dass der Zweite Weltkrieg stattfindet (F1). Anders als in der Realhistorie (F2) geht Deutschland jedoch nach der Balkanoffensive über Griechenland und die Türkei hinweg, um die Treibstoffvorräte Russlands zu beschlagnahmen (F2‘). Daraufhin schafft es Deutschland, Russland zu besiegen, was schließlich auch England zur Friedensverhandlungen zwingt (F3‘). Der daraufhin realisierte Bau der V3-Rakete sorgt ebenfalls für Friedensverhandlungen mit den USA (F4‘). Obwohl der Krieg fern im Osten noch andauert (F5‘), wird Deutschland zum Herrscher über ganz Europa (F6‘), was schließlich unter der Präsidentschaft Joseph P. Kennedys zu Bündnistendenzen zwischen den USA und Deutschland führt (F7‘). An dieser Stelle deckt March die Wannsee-Konferenz und somit den Holocaust auf und versucht die Dokumente ins Ausland zu bringen (F8‘). Die Geschichte endet offen. Eine Möglichkeit für eine permanent durchgesetzte neodirektionale Sequenz wäre, dass sie es nicht schaffen, die Informationen außer Landes zu schleusen, der Holocaust für immer geheim bliebe und Deutschland sich mit den USA verbündete (F9‘-F11‘). Eine andere, die ephemere Möglichkeit wäre, dass es ihnen gelingt, der Holocaust offenbar wird, die USA und Deutschland daraufhin kein Bündnis eingehen und der Nationalsozialismus nachträglich gestürzt würde (F9‘‘-F12‘‘).

Die genannten Wendepunkte, die zu der parahistorischen Entwicklung geführt haben, werden erst relativ spät im Roman offenbart. Zunächst wird der Leser in medias res in die parahistorische Welt eingeführt. Schließlich wird der Wendepunkt rückblickend reflektiert:

Victory over Russia in the spring of ’43 – a triumph for the Führer’s strategic genius! The Wehrmacht summer offensive of the year before had cut Moscow off from the Caucasus, separating the Red armies from the Baku oilfields. Stalin’s war machine had simply ground to halt for want of fuel.[44]

Der Sieg Hitlers wird also gewissermaßen an dem ausgebliebenen Rohstoffmangel für Deutschland und dem eingetretenen Rohstoffmangel für die Sowjetunion durch die Besetzung der Ölfelder in Baku fest gemacht. Dies ist als Ausgangswendepunkt geschickt gewählt. Robert Cowley führt, ausgehend von einer These des Militärhistorikers John Keegan, an, dass wenn Hitler „nach seinem Sieg in Griechenland im Frühjahr 1941 in die Türkei oder den Nahen Osten eingefallen“ wäre, er „sich das dringend benötigte Öl“ hätte beschaffen und erst daraufhin „die Sowjetunion überfallen können“.[45] Hier ist also nicht der Zufall auslösendes Moment für den Wendepunkt, sondern eine bewusst gefällte Entscheidung, die ohne Weiteres von Hitler hätte getroffen werden können. An diesem Punkt nimmt dann die parahistorische Entwicklung, die neodirektionale Sequenz ihren Lauf:

Peace with the British in ’44 – a triumph for the Führer’s counter-intelligence genius! March remembered how all U-boats had been recalled to their bases on the Atlantic coast to be equipped with a new cipher system: the treacherous British, they were told, had been reading the Fatherland’s codes. Picking off merchant shipping had been easy after that. England was starved into submission. Churchill and his gang of war-mongers had fled to Canada.[46]

Anders als in der Realhistorie kann durch den positiven Kriegsverlauf im Osten und den Friedensschluss mit England die gefürchtete V-3 Interkontinentalrakete gebaut werden, die die Amerikaner schließlich trotz deren Atombombe zu Friedensverhandlungen zwingt:

SPeace with the Americans in ’46 – a triumph for the Führer’s scientific genius! When America defeated Japan by detonating an atomic bomb, the Führer had sent a V-3 rocket to explode in the skies over New York to prove he could retaliate in kind if struck. After that, the war had dwindled to a series of bloody guerilla conflicts at the fringes of the new German Empire. A nuclear stalemate which the diplomats called the Cold War.[47]

Wahrscheinlich, um Hitlers Diktatur weiter zu festigen, eliminiert Harris dessen mögliche Stellvertreter Göring und Himmler:

But still the broadcasts had gone on. When Göring had died in ’51, there had been a whole day of solemn music before the announcement was made. Himmler had received similar treatment when he was killed in an aircraft explosion in ’62. Deaths, victories, wars, exhortations for sacrifice and revenge, the dull struggle with the Reds on the Urals front with its unpronounceable battlefields and offensives – Oktyabr’skoye, Polunochnoye, Alapayevsk…[48]

Dieser Abschnitt zeigt darüber hinaus, dass der Krieg gegen Russland weit im Osten immer noch wütet.

So stellen sich die Wendepunkte im Zweiten Weltkrieg dar, die zu der parahistorischen Welt von Fatherland geführt haben. Weitere Informationen über nationale und internationale Entwicklungen werden im Laufe des Romans gegeben.

Fatherland zeichnet sich vor allem durch die dem Roman innewohnende Detailgenauigkeit aus. So werden an mehreren Stellen immer wieder Elemente der parahistorischen Welt erläutert und beschrieben.

Dies zeigt sich schon direkt am Anfang des Romans, mit der genauen Beschreibung der Triumph-Architektur Berlins, entworfen von Albert Speer, die durch die Leiterin einer Sightseeing Gruppe erläutert wird:

‘Construction of the Arch of Triumph was commenced in 1946 and work was completed in time for the Day of National Reawakening in 1950. The inspiration for the design came from the Führer and is based upon original drawings made of him during the Years of Struggle.’[49]

‘The Arch is constructed of granite and has a capacity of two million, three hundred and sixty-five thousand, six hundred and eighty-five cubic metres.’[50]

‘The Arc de Triopmhe in Paris will fit into it forty-nine times.’ Higher, longer, bigger, wider, more expensive…Even in victory, thought March, Germany has a parvenu’s inferiority complex.[51]

‘The Arc has a height of one hundred and eighteen metres. It is one hundred and sixty-eight metres wide and has a depth of one hundred and nineteen metres. On the inner walls carved the names of the three million soldiers who fell in defence of the Fatherland in the wars of 1914 to 1918 and 1939 to 1946.’[52]

An dieser Stelle fällt zum ersten Mal auf, dass der Verlauf des Zweiten Weltkriegs anders verlaufen sein muss, da er erst ein Jahr später endet.

‘The view from this point northwards along the Avenue of Victory is considered one of the wonders of the world.’[53]

Als Klimax dieser monumentalen Triumphstraße folgt schließlich die Besichtigung der Großen Halle:

‘The Great Hall of the Reich is the largest building in the world. It rises to a height of more than a quarter of a kilometer, and on certain days – observe today – the top of its dome is lost from view. The dome itself is one hundred and forty metres in diameter and St Peter’s in Rome will fit into it sixteen times.’ […] The Great Hall is used only for the most solemn ceremonies of the German Reich and has a capacity of one hundred and eighty thousand people. One interesting and unforeseen phenomenon: the breath from this number of humans rises into the cupola and forms clouds, which condense and fall as light rain. The Great Hall is the only building in the world which generates its own climate…’[54]

All diese Gebäude und noch viele weitere waren in den dreißiger Jahren von Rüstungsminister, Stararchitekt und Generalbauinspektor Albert Speer auch in der Realhistorie entworfen worden. Ob sie wirklich hätten gebaut werden können, bleibt allein schon aufgrund der Bodenbeschaffenheit Berlins fraglich. Der sogenannte Schwerbelastungskörper, der die Belastungen des Triumphbogens für den Berliner Boden simulieren sollte, steht als einziges Überbleibsel von Speers „Germania“ Planungen noch immer in Berlin.[55] Für Fatherland sind solche Setzungsproblematiken jedoch unerheblich, hier symbolisieren die monumentalen Riesenbauten ein Deutsches Reich, das reicher und mächtiger ist als je zuvor. Albert Speer wird auch in Der 21. Juli und Stimmen der Nacht namentlich erwähnt. Seine Konstruktionen bilden in allen hier behandelten Romanen eine Art pars pro toto für eine nationalsozialistisch geprägte parahistorische Welt.

Die Zeitung bringt eine bemerkenswerte Randinformation aus dem Ausland:

World news: In London it had been announced that King Edward and Queen Wallis were to pay a state visit to the Reich in July ‘further to strengthen the deep bonds of respect and affection between the peoples of Great Britain and the German Reich’.[56]

Elisabeth II. ist nicht die Königin von Großbritannien. Stattdessen herrscht ihr Onkel Edward VIII., der realhistorisch 1936 auf den Thron verzichtet hatte, um die Amerikanerin Wallis Simpson zu heiraten. Harris arbeitet an dieser kleinen und marginal wirkenden Stelle die parahistorische Entwicklung seines Heimatlandes ein. Der glühende Hitler-Sympathisant Edward VIII. hatte selbst einmal verlauten lassen: „It would be a tragic thing for the world if Hitler was overthrown.“ Des Weiteren hatte er angekündigt: „After the war is over and Hitler will crush the Americans…We‘ll take over…They (the British) don’t want me as their King, but I’ll be back as their leader.”[57] In Fatherland ist dieses Vorhaben Edwards in die Tat umgesetzt worden.

Ähnliches zeigt sich auch auf Seiten der amerikanischen Regierung. Hier ist im Jahr 1964 nicht Lyndon B. Johnson der Präsident der Vereinigten Staaten, sondern Joseph Patrick Kennedy.

Charlotte Maguire had helped herself to a glass of Scotch from Stuckart’s drinks cabinet. Now she raised it to the television in mock salute: ‘To Joseph P. Kennedy: President of the United States – appeaser, anti-Semite, gangster and sonofabitch. May you roast in hell.’[58]

Da darüber hinaus von dessen Wiederwahl die Rede ist, ist davon auszugehen, dass John F. Kennedy in dieser Parahistorie niemals Präsident gewesen ist. Vielmehr ist dessen Vater als sein faschistisches parahistorisches Pendant anzusehen. In der Tat war Joseph Kennedy stark antisemitisch und antikommunistisch eingestellt, pflegte regen Kontakt zu der britischen Faschistin Nancy Astor und wurde von dem deutschen Botschafter Herbert von Dirksen als „Deutschlands bester Freund“ bezeichnet.[59] Kein Wunder also, dass in Fatherland Kennedy als vierundsiebzigjähriger Präsident der USA eifrig um eine Entspannungspolitik mit dem nationalsozialistischen Deutschland bemüht ist: „ A solemn blonde newsreader filled the screen; behind her, a composite picture of Kennedy and the Führer and the single word ‘Détente‘.[60] Dieses Detail zeigt, dass es auch im Ausland nicht nur Gegner der Nationalsozialisten gab und dass sich durch eine Erstarkung des Dritten Reiches durchaus ebensolche faschistischen Tendenzen in anderen Ländern hätten durchsetzen können.

Einen Exkurs in deutscher Rassenlehre erhält der Leser als March seinen Kollegen Walther Fiebes aufsucht:

Category One: Pure Nordic. Category Two: Predominantly Nordic or Phalic. Category Three: Harmonious Bastard with Slight Alpine Dinaric or Mediterranean Characteristics. These groups qualified for membership of the SS. The others could hold no public office […] Category Four: Bastard of Predominantly East-Baltic or Alpine Origin. Category Five: Bastard of Extra-European Origin. March was a One/Two.[61]

Die rigorose Einteilung in Kategorien und die damit verbundenen beruflichen Chancen zeigen, wie sehr Hitlers Ideologien zu Eugenik und Rassenhygiene über die Jahre des Sieges institutionalisiert worden sind.

Eine weitere wichtige Stelle im Roman, ist der Ausflug in die Schweiz: „ Zürich was more beautiful than he had expected.[62]

Die Schweiz markiert in Fatherland einen neutralen Raum.

Switzerland was a cluster of lights in a great darkness, enemies all around it: Italy to the south, France to the west, Germany north and east. Its survival was a source of wonder: ‘the Swiss miracle’, they called it. […] Switzerland alone was neutral.[63]

Sie wirkt wie eine realhistorische Enklave in der parahistorischen Welt von Fatherland. Deutlich wird dies unter anderem auf der Taxifahrt zum Hotel:

The driver was listening to the Voice of America. In Berlin it was a blur of static; here, it was clear. ‘I wanna hold your hand,’ sang a youthful English voice.[64]

Die Beatles fungieren hier als pars pro toto Indikator für eine trotz der Parahistorie intakte internationale Popkultur der 1960er Jahre, die in der Schweiz sichtbar wird. Sie erscheint, wie es später der Protagonist in Christian Krachts 1995 erschienen Roman Faserland, der nicht nur im Titel auf Harris’ Roman Bezug nimmt, nennen wird, als „ein großes Nivellier-Land“[65]. Ein Land, in dem alles Schreckliche eingeebnet, geglättet wird, „in dem alles nicht so schlimm ist.“[66] Auch für March wirkt der kurze Ausflug trotz seines Auftrags erholsam, nicht zuletzt dadurch, dass Charlotte und er sich näher kommen.[67]

Doch der Roman nutzt den Ausflug in die Schweiz nicht nur, um gleichsam katalytisch den Plot ein wenig zu entspannen, sondern auch, um die gesamteuropäische Entwicklung in der parahistorischen Welt zu erläutern:

Luxembourg had become Moselland, Alsace-Lorraine was Westmark; Austria was Ostmark. As for Czechoslovakia […] vanished from the map. In the East, the German Empire was carved four ways into the Reichskommissariats Ostland, Ukraine, Caucasus, Musocvy. In the West, twelve nations – Portugal, Spain, France, Ireland, Great Britain, Belgium, Holland, Italy, Denmark, Norway, Sweden and Finland – had been corralled by Germany, under the Treaty of Rome, into a European trading bloc.[68]

Ein interessantes Phänomen ist dabei, dass die Römischen Verträge und die damit verbundene Gründung der Westeuropäischen Union ebenfalls wie in der Realhistorie zustande kommen, jedoch unter anderen Vorzeichen, nämlich der Dominanz Deutschlands. Das Cover der Erstausgabe des Romans zeigt diese Entwicklung ebenfalls: Darauf ist die Quadriga auf dem Brandenburger Tor mit zwei Flaggen abgebildet. Die eine zeigt das Hakenkreuz, die andere den Sternenkreis der Europäischen Union.

All diese Zusatzinformationen, die Beschreibung der „Germania“ nach den Originalvorlagen Albert Speers, die Deviationen in den Regierungen Großbritanniens und den USA, der Exkurs in deutscher Rassenlehre, die innereuropäischen Entwicklungen, die in der Schweizer Episode beschrieben werden, offenbaren die Detailgenauigkeit des Romans im Sinne der parahistorisch entworfenen Welt. Eben dies ist es, was Blumenberg mit dem Begriff der Konsistenz der Syntax von Elementen meint und was Durst ebenso bekräftigt, wenn er davon spricht, dass allein die historische Entwicklung innerhalb des Romans entscheidend sei. Es zeigt sich, dass Harris mit Fatherland eine absolut glaubwürdige parahistorische Welt erschafft.

Darüber hinaus wird mit dem Aufdecken der Wannsee-Konferenz und dem Auffinden der Dokumente zu den Grausamkeiten in den Vernichtungslagern ein nie zuvor dagewesener Beitrag zur literarischen Verarbeitung des Holocaust geleistet. Nach dem Krieg waren Autoren stets vor das Problem gestellt, dass eine Ästhetisierung des Holocausts den Gräueltaten in keinster Weise gerecht werden konnte. Theodor Adorno sagte gar, dass „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“[69] barbarisch sei, da die Verbrechen des Holocaust alles überträfen, was je zuvor existiert habe und somit gar nicht mit herkömmlichen Mitteln dargestellt werden könne. Seit den 60er Jahren versuchten schließlich Autoren mithilfe unterschiedlichster Techniken, dieser schwierigen Frage der Aufarbeitung beizukommen. Alexander Kluge thematisierte 1962 in Ein Liebesversuch auf nüchterne, protokollartige Art und Weise die wissenschaftlichen Experimente in den Konzentrationslagern. Peter Weiss versuchte 1965 mit seinem Drama Die Ermittlung anhand der Nürnberger Prozesse, indirekt die Grausamkeiten des Holocaust zu behandeln. Harris konstruiert in Fatherland einen Kriminalroman in einer parahistorischen Welt, wo die Verbrechen der Nationalsozialisten ungesühnt blieben und der Urheber all dessen sogar zum Herrscher Europas wird, bis ein SS-Kriminalkommissar mehr oder weniger zufällig die dokumentarisch in die Handlung importierten Originaldokumente zur Wannsee-Konferenz und zum Einsatz von Zyklon B findet. Achim Saupe, der in seinem umfangreichen Werk Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker verschiedenen Möglichkeiten der Verarbeitung des Nationalsozialismus in Form von Kriminalromanen und Thrillern nachgeht, formuliert das Phänomen von Fatherland folgendermaßen:

Der kontrafaktische Thriller kombiniert nun eine solche parahistorische Fiktion mit einem Kriminal- und Detektionsplot, wodurch einerseits die Aufklärungsdimension durch die Figur des Detektivs verstärkt, andererseits durch eine durchkonstruierte Thrillerhandlung eine Beschleunigung und Verdichtung der Geschichte vorgenommen wird.[70]

Saupe erkennt Marchs Verwandlung zu einem „Historiker, der Exzerpte verfasst, quellenkritische Fragen stellt, ‚bibliographische Hilfsmittel‘ nutzt, Hypothesen aufstellt und verwirft, kausale Schlüsse zieht und die Motive der beteiligten Personen über Charakterstudien eruiert.“[71] Schließlich bringen nur wenige Dokumente Klarheit über das Geschehene, was durch die Propaganda verschleiert und verdrängt worden war, was letztendlich die Frage aufwirft: „Lässt sich ein begangener Völkermord wirklich völlig verdrängen?“[72] Aber noch eine Frage wird laut: Darf ein Kriminalroman, der in seiner Gattung eher der verpönten Trivial- oder Populärliteratur angehört, den Holocaust thematisieren? Der Historiker und Holocaust-Experte Raul Hilberg, kritisierte den Roman, der als dokumentarisches Element eine von ihm editierte Quelle verwendete, vehement. Der Holocaust, echauffierte sich Hilberg, würde in diesem „Amalgam aus Geschichte und Phantasie“ eine „populäre Banalisierung erfahren“, was nicht sein dürfe.[73] Auch Der Spiegel kritisierte den Roman 1992 und stufte ihn als „Holocaust für Horror-Freunde“ ein.[74] Dem muss man entgegenhalten, dass Fatherland eben nicht den Holocaust als Horror-Story selbst beschreibt, sondern vielmehr mit dem Versuch des Protagonisten, die ihn beweisenden Dokumente zu finden und zu veröffentlichen, auf sekundärer Ebene Spannung erzeugt. Somit ist der Ansatz Achim Saupes, der March zum Historiker werden lässt, ganz einleuchtend. Schließlich zeigt er mithilfe der autobiografischen Angaben Hilbergs, dass dessen Holocaustforschung ebenfalls „stilistische Elemente und Topoi des Kriminalromans wiedererkennen“ lässt.[75]

Abschließend lässt sich also für Fatherland sagen, dass hier eine nie zuvor dagewesene Verarbeitung des Holocausts ermöglicht wird, die durch ihren kriminalistischen Ansatz und durch die Verschmelzung von Dokumentation und Fiktion dem vielgelobten[76] Ansatz in Peter Weiss‘ Die Ermittlung gar nicht so unähnlich ist.

3.4.2. Christian von Ditfurth – Der 21. Juli

Gleich zu Beginn des Spionagethrillers Der 21. Juli von Christian von Ditfurth wird ein fiktiver Zeitungsartikel aus dem Völkischen Beobachter eingeschaltet:

Der Führer ist tot! DNB, 20. Juli 1944. Adolf Hitler ist gefallen. Lähmendes Entsetzen hat jeder Deutsche durchlebt, als ihn die Nachricht vom Heldentod unseres geliebten Führers traf. […] In der Stunde der größten Not, angesichts der Gefahr, daß unser Mut gelähmt, unsere Nervenkraft geschwächt und unsere Sinne verwirrt werden, hat Reichspräsident Göring eine Regierung der Nationalen Versöhnung unter Führung von Carl Friedrich Goerdeler als neuem Reichskanzler einberufen.[77]

In Christian von Ditfurths Spionagethriller Der 21. Juli wird eine alternative Welt konstruiert, in der das Attentat Claus Schenk Graf von Stauffenbergs vom 20. Juli 1944 gelingt, Hitler stirbt und durch den Bau einer Atombombe, die auf Minsk abgeworfen wird, der Zweite Weltkrieg in einem Patt zwischen Deutschland, Russland und den USA endet. Die Handlung ist zweigeteilt: Die Haupthandlung spielt im Jahr 1953. Der andere Teil der Handlung, der von der Haupthandlung gleichsam eingerahmt wird, spielt in den Jahren 1944 und 1945 und erläutert, wie es zu dem geschichtsverändernden Wendepunkt gekommen ist. Anders als bei Fatherland wird also der Leser nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern darf den Wendepunkt miterleben. Anders ist auch der Wechsel der Protagonisten: Wo in Harris’ Roman allein aus der Sicht von March erzählt wird, wechselt hier die Perspektive, hauptsächlich zwischen den Figuren Knut Werdin, Irma Mellenscheidt, Werner Krause und Boris Michailowitsch Grujewitsch.

Das Sequenzdiagramm nach Dursts Schema sieht für Der 21. Juli folgendermaßen aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wieder ausgehend von der Prämisse, dass der Zweite Weltkrieg stattfindet und die USA in den Krieg eintreten (F1) geschieht das massive Bombardement auf die deutschen Städte tatsächlich (F2). Die Konspirationsgruppe um Stauffenberg formiert sich (F3), anders als in der Realhistorie gelingt jedoch Stauffenbergs Attentat und Hitler wird getötet (F4‘). Daraufhin stellt Deutschland das V3-Raketenprojekt ein (F5‘) und widmet sich in Haigerloch der Entwicklung einer Atombombe (F6‘). Am 8. Mai 1945 kapituliert Deutschland nicht wie in der Realhistorie (F7), sondern zerstört Minsk als das Ziel des Atombombentests, woraufhin wegen eines geschickten Spionagecoups die Alliierten kapitulieren (F7‘). Der Kalte Krieg findet nicht nur zwischen den USA und Russland (F8), sondern auch mit Beteiligung Deutschlands statt, welches unter gemäßigter nationalsozialistischer Herrschaft weiter geführt wird (F8‘). Schließlich endet die Handlung ephemer, da der von Depressionen geplagte Atombombenpilot Helmut von Zacher in einem Kamikaze-Flug mit einem Mal alle Größen des Nationalsozialismus tötet (F9‘‘), woraufhin sich die neodirektionale Sequenz der historischen Sequenz wieder etwas annähert (F10‘‘).

Der eigentliche Wendepunkt, das gelungene Attentat auf Hitler, wird erstaunlich subtil geschildert:

Die Aufregung steigerte sich. „Er ist tot!“, brüllte einer. Jubel auf den Gängen. Stauffenberg war nach zweistündigem Flug in Berlin-Rangsdorf gelandet, er hatte angerufen und gemeldet, es sei alles planmäßig verlaufen. Eine gigantische Detonation habe die Baracke zerrissen, in der der Führer und sein Stab die Lage an den Fronten besprachen. Hitler tot, und nicht nur er.[78]

Obwohl der Leser bis dahin en détail die Vorbereitungen für die „Operation Walküre“ miterleben konnte, wird im Endeffekt wie in einer Teichoskopie über Dritte von dem gelungenen Staatsstreich berichtet. Möglicherweise soll dadurch gezeigt werden, dass das Attentat auf Hitler zu diesem Zeitpunkt schon völlig nutzlos gewesen ist. Der Öffentlichkeit in In- und Ausland wird suggeriert, der Führer sei „einer englischen Fliegerbombe zum Opfer gefallen“[79], was bedeutet, dass Hitler eine Art Märtyrer-Tod erleidet, der nur den Hass auf die Feinde weiter schürt:

Und doch war der Führer für die meisten immer noch der liebe Gott oder wenigstens sein Vertreter auf Erden. Nach seinem Tod würde er es noch mehr sein als zu Lebzeiten. Krause fragte sich, ob die Verschwörer überhaupt über den 20. Juli hinaus gedacht hatten. Sie mussten doch wissen, dass der Zorn von Millionen von Deutschen sich gegen die Mörder ihres Ersatzgottes richten würde.[80]

Das daraufhin eingerichtete Triumvirat, die sogenannte Regierung der Nationalen Versöhnung von Heinrich Himmler als Reichsführer, Hermann Göring als Reichspräsidenten und Carl Friedrich Goerdeler als Reichskanzler bringt zwar eine gewisse Mäßigung in das nationalsozialistische Regime, Goebbels und andere Nazigrößen werden verhaftet, jedoch wird Deutschland eben nicht von ihnen befreit: „Die neuen Herren sperrten ein paar Nazis hinter Gitter, um die anderen Nazis zu schonen.“[81] Stattdessen tritt unter der neuen Regierung ein weiterer, wesentlich bedeutsamerer Wendepunkt ein.

Diesen zweiten Wendepunkt stellt die Realisierung der Atombombe zugunsten des V-3 Projektes dar:

Der Reichsführer wird sich künftig um das Uranbombenprojekt kümmern. Er hat seinen Kollegen in der neuen Regierung zugesagt, alle Möglichkeiten der SS einzusetzen, damit wir die Bombe vor Kriegsende und vor den Amerikanern haben.[82]

Dies scheint vielleicht zunächst weit her geholt. Allerdings gab es den kerntechnischen Forschungsreaktor unter der Leitung Werner Heisenbergs in Haigerloch tatsächlich. Auch ist erwiesen, dass der ebenso erwähnte Kernphysiker Kurt Diebner an der Entwicklung einer Nuklearwaffe im Dritten Reich beteiligt war. Der Historiker Rainer Karlsch stellte zudem 2005 in seiner Publikation Hitlers Bombe heraus, dass die Möglichkeit einer Atombombe für Deutschland tatsächlich bestanden hatte, in der parahistorischen Welt von Der 21. Juli wird diese Möglichkeit realisiert. In Folge des Abwurfs der Atombombe durch den Piloten Helmut von Zacher auf Minsk und die mittels eines Spionagecoups absichtlich ins Ausland gelangte Fehlinformation, Deutschland habe noch dreizehn weitere Bomben, kommt es schließlich zum Waffenstillstand und zum Kalten Krieg zwischen Deutschland, den USA und Russland.

Zum Abschluss der Analyse von Der 21. Juli werden noch kurz zwei Vergleiche mit dem zuvor behandelten Fatherland angestellt.

Albert Speer wird im Roman ebenfalls wie in Fatherland erwähnt. Dort baut er allerdings keine Triumphbauten nach Vorlage seiner „Germania“, sondern konstruiert im Frühjahr 1953 „einen Palast des Volkes“, der an die Stelle des ehemaligen Stadtschlosses gesetzt werden soll: „Wir hätten ja schließlich eine Regierung des Volks, keine sei freier gewählt als unsere.“[83] Dieser Palast der Republik steht vielleicht schon als Indiz für den ephemeren Ausgang der neodirektionalen historischen Sequenz.

Wichtiger jedoch als die Nennung Albert Speers ist der Vergleich der beiden Romane im Bezug auf deren Thematisierung des Holocausts. Wo man Harris’ Roman vorhielt, den Holocaust in einem Kriminalroman thematisiert zu haben, kann man an von Ditfurths Roman das exakte Gegenteil kritisieren. Die Vernichtung der Juden wird nämlich in Der 21. Juli so gut wie gar nicht erwähnt. Obwohl sich die gesamte Handlung um die Person Heinrich Himmlers dreht, wird stets nur dessen fanatischer Hang zum Germanenkult genannt, nicht aber seine Rolle in der Endlösung der Judenfrage. Lediglich an zwei Stellen wird das Thema angesprochen:

Die Tür wurde aufgerissen, es erschienen drei Ledermäntel, verstärkt durch ein paar uniformierte Polizisten. „Ausweiskontrolle!“, brüllte einer. Die Helden von der Gestapo auf Judenjagd. Draußen auf der Straße parkte ein dunkelgrüner Kastenwagen, dahinter zwei schwarze Mercedes-Limousinen. Müllers Jäger hatten womöglich einen Tipp bekommen, sie ließen wenige Juden eine Zeit lang am Leben unter der Bedingung, dass sie U-Boote verrieten. Im Café Kranzler errangen sie einen schnellen Sieg über die jüdische Weltverschwörung, das fein gekleidete ältere Paar am Tisch gegenüber von Werdin hatte natürlich keine gültigen Papiere. Werdin bewunderte die Fassung der beiden alten Leute, als sie abgeführt wurden.[84]

Zudem wird nach dem erfolgreichen Staatsstreich angedeutet, dass die Konzentrationslager nun zu schließen seien:

Schellenberg blickte Werdin neugierig an. „Das stimmt. Ich habe Himmler schon vor einiger Zeit darauf angesprochen, es wäre besser, die schlimmsten KL zu schließen. Bei den Juden haben wir übertrieben […]“ […] Die Verschleppung von Berliner Juden hatte Werdin mit eigenen Augen gesehen, von den Deportationen in Frankreich, Belgien und Holland wusste er durch die Berichte seiner V-Männer. Aber was mit den Juden geschah, wusste er nicht. Er war froh, es nicht zu wissen. Manchmal überkamen ihn böse Ahnungen. Zu oft hatte Hitler von Ausrottung gesprochen. Aber jetzt war Hitler tot.[85]

Diese Szenen erfüllen wahrscheinlich den Zweck der Rechtfertigung des Autors gegenüber möglichen Anschuldigungen, den Holocaust im Roman gänzlich unerwähnt gelassen, gar geleugnet zu haben. Von Ditfurth erkennt, dass der Roman eine adäquate Verarbeitung des Holocausts, wenn diese überhaupt möglich ist, nicht leisten kann. Er selbst sagt dazu in einem Interview:

Laut meiner Darstellung hält Deutschland nach Hitlers Tod den Antisemitismus einfach unterm Deckel. Man will das Verbrechen nicht eingestehen, und wenn, dann hat es einfach ‚der Führer‘ zu verantworten. Juden gibts aber auch nicht mehr.[86]

Vielleicht macht es sich der Autor an dieser Stelle etwas einfach, jedoch muss man dazu sagen, dass Thema, Schreibstil und Genre den Roman ohnehin in das Lager der populären, belletristischen U-Literatur rücken. Eine Thematisierung des Völkermords wäre hier fehl am Platz und würde den Anspruch des Romans, das Erzählen einer spannenden Geheimdienstgeschichte zwischen SD, CIA und MGB in einer parahistorischen Welt, übersteigen. Somit ist eventuell die literarische Qualität von Der 21. Juli nicht besonders hoch, weshalb der Roman auch bislang in keiner Sekundärliteratur erwähnt wurde. Als Vertreter der Gattung parahistorischer Romane ist er allerdings signifikant und unter diesem Kontext auch sehr konsistent konstruiert.

3.4.3. Thomas Ziegler – Stimmen der Nacht

Als im Jahr 1992 Harris’ Fatherland erschien und somit gleichsam die Initialzündung für die parahistorische Literatur in Deutschland legte, nutzte Thomas Ziegler die Gelegenheit, um seinen bereits 1984 erschienen Roman Stimmen der Nacht noch einmal gründlich zu überarbeiten und 1993 erneut herauszubringen. Ziegler, der eigentlich für seine Texte für die Science-Fiction Reihe Perry Rhodan bekannt ist, erhielt für Stimmen der Nacht zweimal den Kurd-Laßwitz-Preis: 1984 als Beste Erzählung und 1994 als Bester Roman. Er konstruiert in diesem Roman eine parahistorische Welt, die im Folgenden erneut anhand des Analyseschemas dargestellt wird:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Es wird wieder von der Prämisse ausgegangen, dass der Zweite Weltkrieg stattfindet (F1), den Deutschland nicht gewinnen kann (F2). Statt der Befreiung durch die sowjetischen Truppen, Hitlers Selbstmords und der anschließenden Teilung Berlins in vier Sektoren (F3) wird Berlin durch die amerikanische Atombombe zerstört, wobei Hitler, Himmler, Goebbels und viele weitere hochrangige Vertreter seines Stabs getötet werden (F3‘). Daraufhin erfolgt der „Große Exodus“, wobei knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung nach Südamerika ausgesiedelt wird (F4‘), um dann statt des Marshall-Plans (F5), den Morgenthau-Plan durchzusetzen (F5‘). Anstatt, dass Deutschland so wie in der Realhistorie durch die Siegermächte gestärkt, wieder aufgebaut und mit der Bundeswehr sogar wieder gerüstet wird (F6), wird Deutschland in einen Agrarstaat umgewandelt, die Städte werden abgeriegelt und verfallen und es formieren sich in den Wäldern Guerilla Gruppen, die sogenannten „Werwölfe“ (F6‘). Während Europa daraufhin wirtschaftlich zugrunde geht, bauen die Nationalsozialisten in Südamerika ihren Staat neu auf (F7‘), und während die USA aufgrund von deutschem Fachkräftemangel technologisch zurück bleiben wird das nationalsozialistische Deutsch-Südamerika mächtiger als das Deutsche Reich je zuvor (F8‘). Durch die Stimmen der Nacht inspiriert und angetrieben beginnen die Nazis schließlich einen Krieg mit den Amerikanern, um ihr Deutsches Heimatreich zurückzuerobern (F9‘), was in einem Atomkrieg endet, der alles vernichtet (F10‘). Es wird allein schon an der Grafik deutlich, dass hier eine absolute permanente Verfremdung eintritt.

Wichtigste Wendepunkte sind also demnach der Abwurf der Atombombe auf Berlin und der durchgesetzte Morgenthau-Plan. Doch worum ging es in diesem Plan?

Henry Morgenthau war während des Zweiten Weltkriegs amerikanischer Finanzminister. Er entwickelte einen Plan, der nicht nur vorsah, „daß Deutschland jede zukünftige Wiederaufrüstung verboten werden müsse, sondern daß die deutsche Industrie völlig aufzulösen sei.“[87] Der Plan umfasste 14 Punkte. Neben Demilitarisierung, Denazifizierung und permanenter Aufteilung Deutschlands unter den Siegermächten und politischer Dezentralisation sollte darüber hinaus jegliche Industrie, insbesondere im Ruhrgebiet demontiert werden:

All industrial plants and equipment not destroyed by military action shall either be completely dismantled and removed from the area or completely destroyed. All equipment shall be removed from the mines and the mines shall be throughly wrecked.[88]

Des Weiteren sollten wirtschaftliche Kontrollen „ during a period of at least twenty years after surrender[89] auferlegt sowie „ all aircraft (including gliders), whether military or commercial[90] konfisziert und verboten werden.

Nachdem Präsident Roosevelt diesen Plan gelesen hatte, traf er sich am 25. August mit seinem Kabinett und ließ verlauten, dass „die bisher für Deutschland vorgeschlagenen Maßnahmen“ viel zu milde seien und dass die Deutschen „aus Suppenküchen verpflegt werden“ müssten und „keinen besseren Lebensstandard haben“ dürften „als den niedrigsten unter den Völkern, die von ihnen erobert worden waren.“[91] Später wurde der Plan, der unter anderem von Außenminister Hull als „Plan blinder Rache“[92] bezeichnet worden war, aufgrund seiner Konsequenzen für die gesamteuropäische Wirtschaft verworfen:

Die Vernichtung der deutschen Industrie würde die Wirtschaft von ganz Westeuropa, die deutsche Industrieprodukte nach dem Kriege dringend brauche, ernstlich beeinträchtigen. Deutschland habe im Augenblick eine Bevölkerung von 30 Millionen Menschen mehr, als es durch Landwirtschaft allein versorgen könnte. Es wäre einfach nicht möglich, die Ruhr in ein totes Gebiet in der Mitte eines der wichtigsten Industriekontinente der Welt zu verwandeln.[93]

In Stimmen der Nacht wird der Morgenthau-Plan realisiert und ebenjene Befürchtungen, die ihn im Endeffekt realhistorisch verhinderten, werden Wirklichkeit.

Wie bereits erwähnt zeichnet sich Stimmen der Nacht einerseits durch seine parahistorische Handlung, andererseits jedoch auch durch seine Phantastik und Science-Fiction-Elemente aus. Im höchsten Maße phantastisch sind die titelgebenden Stimmen der Nacht. Es handelt sich dabei um Stimmen aus dem Jenseits, die zuerst in der verstorbenen Frau des Protagonisten, eines amerikanischen Showmasters namens Jakob Gulf, auftauchen, weshalb dieser als Experte in das verfallene Deutschland gerufen wird:

Die Stimmen umwirbelten Gulf in einem unsichtbaren Reigen, einer tollen Jagd im Dämmerlicht, und es waren Hitler und Göring, Goebbels und Himmler, Heydrich, Rosenberg, von Schirach, die ihren Blocksbergstanz im Dome zu Köln aufführten.[94]

Später wird Gulf von Josef Mengele entführt und zu Martin Bormann in die Andenfestung der Latinodeutschen gebracht. Nachdem sich die Stimmen den Nationalsozialisten offenbaren, brechen sie den Atomkrieg mit den USA vom Zaun, was das Ende des Romans und vermutlich auch der Menschheit zur Folge hat.

Ziegler nutzt diese Stimmen, um dokumentarisch die Reden der genannten Charaktere des Nationalsozialismus in den Roman zu montieren, und gibt sogar als „Nachbemerkung“[95] eine Bibliographie an, aus der er die verwendeten Zitate entnommen hat. Die Stimmen der Nacht haben somit konsequentielle Handlungsfunktion, bedienen durch die Montage von Dokumentarischem aber gleichzeitig noch eine sekundäre Verfremdungsfunktion.

Die Science-Fiction-Elemente des Romans haben demgegenüber katalytische Funktionen, die die parahistorische Welt lediglich ausschmücken sollen. Ein Element zeigt sich direkt am Anfang, was darüber hinaus in seinem Kontext auch schon die parahistorische Sequenz einführt:

Vielleicht, dachte Gulf, vielleicht ist er in Wirklichkeit ein Automat, eine Menschenmaschine, wie sie von der IG Robot gebaut werden, ein mit PVC gepolsterter Computer aus den mikroelektronischen Laboratorien von Santiago oder Buenos Aires, mit deutscher Gründlichkeit programmiert, Made in Germany-America, direkt am Fuß der Anden, auf Feuerland gar.[96]

Die schon erwähnten Kletten sind daneben ebensolche technischen Errungenschaften der Deutschen:

„Eine Klette? Diese Automaten, die die Latinodeutschen im Kalten Krieg eingesetzt haben?“ […] „Das ist eine neue Generation, frisch aus den mikroelektronischen Klettenfabriken von Buenos Aires.“ […] Elisabeth setzte die Klette auf den Tisch. Kaum berührte das künstliche Insekt die Tischdecke, begann es zu krabbeln.[97]

Nun handelt es sich hier nicht um einen Zukunftsroman. Die Handlung ereignet sich in den 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, also gleichsam zu der Zeit, in der der Autor den Roman das erste Mal herausbrachte. Für diese Zeit wirken freilich solche technischen Errungenschaften anachronistisch. Laut der Definition von Ulrich Suerbaum muss eine Science-Fiction-Handlung aber auch nicht zwangsweise in der Zukunft spielen. Unter Science-Fiction verstehe man nämlich

die Gesamtheit jener fiktiven Geschichten, in denen Zustände und Handlungen geschildert werden, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht möglich und daher nicht glaubhaft darstellbar wären, weil sie Veränderungen und Entwicklungen der Wissenschaft, der Technik, der politischen und gesellschaftlichen Strukturen oder gar des Menschen selbst voraussetzen. Die Geschichten spielen in aller Regel, aber nicht mit Notwendigkeit in der Zukunft.[98]

Im Roman wird dieser übermäßige Fortschritt der Deutschen mit der Durchsetzung des Morgenthau-Plans, also gleichsam mit der Parahistorie in Verbindung gebracht:

Eine weitere Erfindung dieser unmenschlich schlauen und tüchtigen Latinodeutschen, dachte er. Ein weiteres Produkt jenes Heeres aus Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Facharbeitern, die nach dem Krieg, im Großen Exodus, das besiegte Reich verlassen hatten, […] um in Südamerika das Reich neu Aufzubauen.[99]

Und später im Roman wird auch der technologische Rückstand der Amerikaner erklärt:

„Wir haben sie damals noch zu Millionen nach Südamerika verschifft!“ „Sie wären sonst verhungert“, sagte Gulf. „Zehn oder zwanzig Millionen Deutsche wären sonst verhungert. Der Große Exodus war ihre einzige Überlebenschance. […] Nur eines hat man nicht bedacht – daß selbst die Deutschen, die gegen die Nazis waren, Amerika zu hassen begannen, als der Morgenthau-Plan verwirklicht wurde. Selbst jene, die im Exil gelebt haben, kehrten uns den Rücken und wandten sich nach Süden. […] Von Braun, Heisenberg, Heidegger, Pinder, Sauerbruch, Hahn…Dieses wissenschaftliche Potential, das uns verlorenging.“ „Und das die Latinodeutschen genutzt haben.“[100]

Die Fachkräfte also, die aus Deutschland emigrierten, um in der Realhistorie der USA im zwanzigsten Jahrhundert zum technologischen Weltruhm zu verhelfen, remigrieren in der Parahistorie zurück in das latinodeutsche Reich und setzen so, angetrieben von ihrem Hass auf die USA, den futuristischen Fortschritt durch.

Die Rückbezüge auf die Wendepunkte, ob in erlebter Rede des Protagonisten oder im Dialog, drücken immer ein großes Maß an Bedauern aus. Die Durchsetzung des Morgenthau-Plans hat alles nur noch viel schlimmer gemacht, als es während des Zweiten Weltkriegs war. Ganz Europa ist daran zugrunde gegangen:

Und Deutschland, dieses Trümmerfeld im Herzen Europas, liegt wie ein Würgeeisen um Frankreich und Englands Kehle. Wie ein Mühlstein, der Belgien und die Niederlande erdrückt, Italien die Luft abschnürt und Polen, der Tschechei, Österreich und Dänemark jede Hoffnung nimmt. Man kann nicht mitten in Europa ein Grab schaufeln, ohne daß der ganze Kontinent zu einem Friedhof wird.[101]

Bedeutsam ist, dass an dieser Stelle des Romans ebenfalls eine kontrafaktische Frage gestellt wird, nur eben ausgehend von der parahistorischen Welt, in der sich die Charaktere befinden: „Vielleicht, wenn Morgenthau früher gestorben wäre…wenn Truman schon 1944 oder 1945 Präsident geworden wäre…Er war der schärfste Kritiker des Morgenthau-Plans.“[102] In der Parahistorie sehnt man sich die Realhistorie herbei.

Als Detail für die parahistorische Welt werden die schon des Öfteren erwähnten Konstruktionen Albert Speers auch hier wieder aufgegriffen, Triumphbogen und Kuppelhalle werden die Wahrzeichen der Hauptstadt Germania in Brasilien.[103]

Insgesamt konstruiert Ziegler in Stimmen der Nacht ein parahistorisches Worst-Case-Szenario, das in einem offenen Atomkrieg endet und somit wahrscheinlich das Ende der Welt zur Konsequenz hat. Der Roman ist demnach von allen hier Behandelten die konsequenteste Dystopie.

Das phantastische Element der Handlung, die zum Leben erwachten Stimmen der Toten, erinnern an einen Satz, den Theodor Adorno im Jahr 1959 in seiner Schrift Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit gebraucht hatte:

Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam.[104]

Vielleicht kann man Stimmen der Nacht tatsächlich als Allegorie, als Fortführung der von Adorno gebrauchten Metapher gebrauchen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit zwingt uns, die alten Reden, Texte und Ideologien immer wieder zu durchleben, als würden sie wie Gespenster noch immer existieren. Ebendieses Problem der Deutschen zeigt sich auch im Epilog des Romans, wo plötzlich die Handlung in die Realhistorie springt. Am Tag der Wiedervereinigung 1990 bekommt Gulf eine Art Panikanfall aufgrund des plötzlich aufkommenden Nationalstolzes:

Er sah die Menschenmassen, die vor dem Reichstag hin und her wogten, das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer. Und wie auf einer doppelt belichteten Fotografie sah er andere Bilder den Reichstag überlagern. […] Panik stieg in ihm auf, eine kalte, grimmige Angst, als könnte sich dieses ausgelassene Fest, mit dem die Deutschen nach Jahrzehnten der staatlichen Trennung ihre Einheit feierten, von einem Augenblick zum anderen in etwas Düsteres, abgrundtief Böses verwandeln.[105]

Das Problem, dass deutscher Nationalstolz stets mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Verbindung gebracht wird ist eins, mit dem Deutschland bis heute zu kämpfen hat.

3.4.4. Christoph Ransmayr – Morbus Kitahara

Nachdem er im Jahr 1984 mit Die letzte Welt einen historischen Roman herausbrachte, bei dem er sich mithilfe von Anachronismen der katalytischen Verfremdungsmethode bediente, veröffentlichte der österreichische Autor Christoph Ransmayr 1995 mit Morbus Kitahara einen Roman der neodirektionalen Verfremdungsweise. Wie im zuvor behandelten Roman von Thomas Ziegler bezieht sich die parahistorische Handlung auf die Durchsetzung des Morgenthau-Plans, der hier Stellamour-Plan genannt wird. Anders als in Stimmen der Nacht beschreibt der Autor jedoch keine globale Neuorientierung der Welt, sondern konzentriert sich auf den Mikrokosmos einer einzigen Kleinstadt namens Moor und deren sukzessiven Verfall nach dem durchgesetzten Demontageplan. Dabei stehen im Zentrum der Handlung Bering der Schmied, Ambras der Hundekönig und Lily die Jägerin, drei miteinander verwobene Charaktere, die versuchen, in der postapokalyptisch anmutenden Welt von Moor zurecht zu kommen beziehungsweise ihr zu entkommen.

Der Roman chiffriert und kodiert seine historischen Bezüge, sodass der Leser gehalten ist, gleich zweifach Dekodierungsarbeit zu leisten. Zunächst muss er entschlüsseln, dass es sich bei dem sogenannten „Frieden von Oranienburg“[106] vermutlich um das Ende des Zweiten Weltkriegs handelt. Entsprechend vorsichtig beschreibt dies Andreas Widmann, wenn er sagt, „zu Beginn der Handlung“ ende „in Europa ein Krieg“, „als dessen Entsprechung in der historischen Realität“, „mit einigem Recht der Zweite Weltkrieg gesehen werden“ könne.[107] Personen wie Hitler, der Begriff Nationalsozialismus oder die SS kommen im Roman nicht vor, stattdessen ist beispielsweise an einer Stelle von einer Fotografie die Rede, die Lilys Vater zeigt: „Er trug eine schwarze Uniform mit allen Orden und eine Schirmmütze, die seine Augen im tiefen Schatten beließ.“[108] Ein metonymisches Indiz, dass es sich bei Lilys Vater wohl um einen SS-Offizier handeln musste. Ian Foster bringt dies auf den Punkt: „ By avoiding almost all explicit references to Nazi terminology or to resonant names, Ransmayr’s text forces us as readers to fill in the gaps.[109] Widmann gebraucht hier den von Umberto Eco geprägten Begriff des Modell-Lesers. Ein Leser also, der bestimmte Voraussetzungen mitbringen muss, um den Roman lesen zu können. Diese Theorie greift hier gleich in dreifacher Weise. Wo der Modell-Leser bei „normalen“ parahistorischen Romanen „in Kenntnis dessen, wie es eigentlich gewesen ist“ die parahistorische Darstellung „zur Kenntnis nimmt“,[110] muss der Leser hier erst die chiffrierten Lücken füllen, die Ransmayr offen lässt, und in nächster Instanz wieder dekonstruieren, da es sich, wie ihm daraufhin deutlich wird, um einen parahistorischen Roman handelt und die historische Sequenz abgewandelt wurde.

Eine der Lücken lässt sich zumindest annäherungsweise schließen, die Frage nach dem Schauplatz des Romans. Die passgenaue topografische Zuordnung ist zwar nicht möglich, vielmehr stellt der fiktive Ort namens Moor ein Konglomerat unterschiedlicher geografischer Versatzstücke dar. Als Vorlage für Moor könnte aber die oberösterreichische Gemeinde Ebensee in der Nähe des Kurorts Bad Ischl gedient haben. An diesem Ort befand sich bis 1945 ein Konzentrationslager, was als Außenlager zum KZ Mauthausen fungierte. Letztgenanntes Lager wiederum erinnert durch einige Merkmale signifikant an das im Roman beschriebene. Zum Einen waren die Gefangenen dort zum Abbau von Granit eingesetzt, zum Anderen werden einige Grausamkeiten, die sich in diesem Lager realhistorisch ereigneten, exakt im Roman beschrieben. So wird die sogenannte „Todesstiege“, über die die Gefangenen die schweren Granitblöcke schleppen mussten, was oft mit tödlichen Unfällen verbunden war,[111] von Major Elliot als Ritual für seine „Stellamour Party“ gebraucht:

Die Stiege. […] Die Häftlinge schleppten ihre Last in Marschordnung eine breite, in den Fels geschlagene Treppe hinauf, die von der Sohle des Steinbruchs über die vier Abbauebenen bis zu seinem im Nebel verschwindenden Rand emporführte. […] [Es] wußte mittlerweile doch jeder am See, daß die meisten der Toten im Massengrab am Fuß der Großen Schrift auf dieser Treppe gestorben waren.[112]

Die Folter, die Ambras im Lager erleiden musste, das „Schaukeln“[113], wobei der Häftling mit den Armen auf dem Rücken zusammengebunden an einen Baum gebunden wurde, sodass die Schultern luxierten, wurde unter dem Begriff „Pfahlhängen“ ebenfalls in diesem Lager sehr häufig angewandt.[114] Ausgehend von Brita Steinwendtner ordnet Andreas Widmann ebenfalls die genannten Orte dem Roman zu.[115]

Obwohl es im Grunde genommen für die Interpretation des Romans nicht besonders relevant ist, auf welchen realen Ort hier Bezug genommen wurde, sollte diese realhistorische Parallele zumindest kurz erwähnt werden. Denn ausgehend davon, wie detailgetreu er auf diese Lagerstrafen eingeht, war es dem Autor anscheinend wichtig, dass der Leser diesen historischen Umstand richtig dekodiert. So entfalte nach Widmann „der Text einen hybriden fiktionalen Raum zwischen Identität auf der einen und absoluter Differenz zur empirischen Realität auf der anderen Seite.“[116]

Die neodirektionale Verfremdungsweise sieht für Morbus Kitahara folgendermaßen aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zunächst geschieht die Handlung unter der Prämisse, dass der Zweite Weltkrieg stattfindet (F1) und das Bündnis von Österreich und Deutschland diesen verliert (F2). Am Tag der Befreiung (F3) wird jedoch der sogenannte „Frieden von Oranienburg“ ausgerufen (F3‘), woraufhin Österreich und Deutschland wie in der Realhistorie (F4) von den Siegermächten besetzt werden (F4‘). Daraufhin tritt der eigentliche Wendepunkt ein und statt des Marshall-Plans (F5) wird der Stellamour-Plan (F5‘) durchgesetzt, woraufhin Deutschland nicht gestärkt und wiederaufgebaut (F6), sondern gänzlich wirtschaftlich enteignet und demontiert wird (F6‘). Im Folgenden herrschen postapokalyptische Zustände, Geld existiert nicht mehr, gehandelt wird nur noch mit Lebensmitteln, Moor entwickelt sich Schritt für Schritt zurück (F7‘). Die Nachrichten verkünden ein latent ephemeres Element in der parahistorischen Sequenz, dass nämlich, wenn auch um ca. 20 Jahre verspätet, im Pazifik durch den Abwurf einer amerikanischen Atombombe die japanische Stadt Nagoya zerstört wurde (F8‘‘), was freilich unweigerlich an das realhistorische Hiroshima-Nagasaki Ereignis erinnert. Moor soll aufgrund von Unwirtschaftlichkeit schließlich auch seinen Steinbruch verlieren und in ein Truppenübungsgelände umfunktioniert werden (F9‘), die Protagonisten wandern aus nach Brasilien, das, wie sich herausstellt, zu den Siegermächten des Krieges gehört und die in Europa demontierte Technik importiert (F10‘).

Die Paragraphen des Friedensplanes werden von Major Elliot per Lautsprecher durchgegeben, was gewissermaßen den parahistorischen Wendepunkt markiert:

Zurück! Zurück mit euch! Zurück in die Steinzeit! […] Gesindel!...Feldarbeit…Heuschober statt Bunker…knackte und rauschte es aus den Lautsprechern…keine Fabriken mehr, keine Turbinen und Eisenbahnen, keine Stahlwerke…Armeen von Hirten und Bauern…Erziehung und Verwandlungen: aus Kriegstreibern Sautreiber und Spargelstecher! Und Jaucheträger aus den Generälen…zurück auf die Felder!...und Hafer und Gersten zwischen den Ruinen der Industrie…Krautköpfe, Misthaufen…und auf den Trassen eurer Autobahn dampfen die Kuhfladen und wachsen im nächsten Frühjahr Kartoffeln…![117]

Der Zorn, der in dieser Rede transportiert wird, offenbart, dass es sich hier nicht nur um einen Friedensplan, sondern vielmehr um einen Racheakt der Besatzer an die Besiegten handelt. Stellamours Plan wirkt wie die perfide Verkehrung der biblischen Parole Schwerter zu Pflugscharen. Die Eisenbahnlinie wird zurückgebaut, „Moor auf eine Schlammstraße zurück geworfen! Moor abgeschnitten von der Welt.“[118] Die Energieversorgung wird ebenfalls demontiert: „Die Turbinen, auch die Transformatoren des Umspannwerks, rollten gemäß Paragraph 9 des Friedensplanes auf russischen Armeelastwagen davon.“[119] Gewissermaßen entwickelt sich in Moor eine antithetische Zeitstruktur. „Unaufhaltsam glitt Moor durch die Jahre zurück.“[120] Symbolisch angedeutet durch den Rückbau der Eisenbahnlinie entwickelt sich Moor Schritt für Schritt zurück in ein vorindustrielles Dorf, das langsam von der Natur zurückerobert wird: „Selbst unter den Obstbäumen dieses Gartens, hochstämmigen Birn- und Walnußbäumen, kauerten Maschinen, von Gestrüpp und wildem Wein überwuchert, ausgedient, vom Rost gebräunt, manche schon tief eingesunken in den weichen Grund.“[121] Doch nicht nur die Kleinstadt Moor im Gebirge, auch große deutsche Städte fallen der Deindustrialisierung zum Opfer und verkommen gleichermaßen: „Nürnberg las Bering auf einem von schwarzem Gestrüpp überwucherten Stellwerk, hinter dem aber kein Bahnhof und keine Stadt, sondern wieder nur eine Steppe lag […] Dort draußen habe sich die Natur einigermaßen von den Menschen erholt.“[122] Wie in Stimmen der Nacht verkommt auch hier ganz Europa vollkommen aufgrund des ausgebliebenen Wiederaufbaus. Das Frachtgut eines Händlers auf dem Schiff nach Brasilien verweist symbolisch auf nichts anderes als den Untergang der europäischen Kultur:

Siebenundvierzig Kisten voller Engel und Heiligenfiguren, Fürsten, Märtyrer, Feldherren, Gekreuzigten und Erlösern aus den Ruinen Mitteleuropas, günstig eingekauft.[123]

In einer postapokalyptischen Welt, in der nichts mehr existiert als der Kampf um das eigene Überleben, haben die religiösen und kulturellen Artefakte keinen Platz mehr. Das harte Urteil, was zu tun sei, formuliert der Händler direkt im Anschluss:

Auswandern, sagte der Händler, auswandern…viel mehr sei dort nicht mehr zu machen; in seiner Familie, zum Beispiel, hätten es nur die Auswanderer zu etwas gebracht.[124]

Und eben dies tun die Protagonisten am Ende des Romans. Und wie schon in Stimmen der Nacht ist wieder einmal Südamerika, genauer gesagt Brasilien das Ziel des Exodus. Der Roman bleibt einen Ausblick auf die Entwicklungen in Südamerika schuldig. Eine neue nationalsozialistische Herrschaft wie in Stimmen der Nacht ist jedoch nicht zu vermuten, vielmehr zeigt sich wiederum im Mikrokosmos, am Schicksal der Charaktere, dass auch dieser Auszug zum Scheitern verurteilt ist. Allein Lily, die ja von vornherein immer schon davon träumte, nach Brasilien auszuwandern, scheint es zu schaffen, alle anderen Charaktere verlieren entweder ihren Verstand, ihr Leben oder beides.

Mit den Schicksalen von Tomi und Trachila hatte Christoph Ransmayr bereits in seinem Debütroman Die letzte Welt das Verfallen zweier Städte konstruiert. In diesem Roman verfremden, wie bereits erwähnt, Anachronismen das antike Sujet. In Morbus Kitahara wirken zeitgenössische technische Geräte wie Fernseher und Plattenspieler aufgrund der antithetischen Zeitachse Moors ebenfalls wie Anachronismen. Das Rock Konzert der fiktiven Gruppe „Patton’s Orchestra“[125] wirkt dabei gar wie ein ephemerer Exkurs in die realhistorische Popkultur der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, ähnlich wie die Erwähnung der Beatles in Fatherland.

Neben der Geschichte des Verfalls ist Morbus Kitahara darüber hinaus besonders eine Geschichte von Aufarbeitung, Buße und Sühne. „Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die die Bevölkerung von Moor während des Krieges an den Juden und Zwangsarbeitern verübt hat, bestimmt die in Morbus Kitahara erzählte Geschichte“, erkennt Andreas Widmann und stellt darüber hinaus fest, dass im Roman ein Motiv der Wiederholung vorherrscht, das Krieg, Völkermord und Zwangsarbeit immer wieder aufs Neue aufleben lässt.[126] Die Parole lautet: „Niemals vergessen.“[127]

Berings Vater wähnt sich in seiner Demenz wieder als Soldat und durchlebt in diesem Wahn noch einmal die Schrecken an der Front des Krieges:

Seine Gegenwart war die Vergangenheit. […] [Er] sprach immer weiter von der Wüste und von der Schlacht und vom Paß von Halfayah, den er dort oben zu sehen meinte, irgendwo zwischen Felstürmen und Wolken.[128]

Der ehemalige KZ-Häftling Ambras wird kontinuierlich an die Torturen im Vernichtungs- und Arbeitslager zurückerinnert und steht mit seiner Erinnerung gleichsam symbolisch für die Aufarbeitung des Genozids. Neben der schon erwähnten Strafe des „Schaukelns“, deren Folgen ihn bis zum Ende quälen, erzählt Ambras, wie er und seine jüdische Geliebte verhaftet und deportiert wurden:

„Daß sie damals immer im Morgengrauen kamen, das wußte ich. […] Es waren vier. Alle in Uniform. […] Sie haben uns mit ihren Knüppeln auf Kopf und Arme gedroschen und Herr Ambras liegt neben einer Judenhure geschrien. […] Das war also das Blut, von dem damals dauernd die Rede war, Blutschande, mischblütig, reinblütig, Blutopfer. Mir tropfte dieses Blut einfach in die Augen.“[129]

In seiner Wahnvorstellung auf der brasilianischen Insel verwechselt er schließlich das Buschfeuer mit den Feuern der Krematorien in den Vernichtungslagern:

Schon ganz unbedeutend und grau, sieht er das Lager – und zwischen den Baracken das Feuer. Langsam und unbeirrbar kriecht es auf den Appellplatz zu. So lange hat es im Verborgenen gebrannt, in den Öfen hinter dem Krankenrevier. Jetzt ist es frei.[130]

Die Wiederholung der Erinnerung wird schließlich für Ambras zur Realität, wodurch er im Endeffekt seinen und Berings Tod verursacht.

Ebenfalls von Wiederholung begriffen ist der Alltag der Zwangsarbeiter, welchen Major Elliot die Bewohner von Moor in Form eines makabren Festspiels nachvollziehen lässt:

[Er] befahl den Statisten aus Moor, sich als Juden, als Kriegsgefangene, Zigeuner, Kommunisten oder Rassenschänder zu verkleiden. Kostümiert als die Opfer jener geschlagenen Herrschaft […] mußten die Uferbewohner schon zur nächsten Party in den gestreiften Drillichanzügen mit aufgenähten Nationalitätsabzeichen, Erkennungswinkeln und Davidsternen vor imaginären Entlausungsstationen Schlange stehen, mußten als polnische Fremdarbeiter oder ungarische Juden vor einem ungeheuren Granitblock mit Hämmern, Keilen und Brechstangen posieren – und mußten vor den Grundmauern der zerstörten Baracken zu ebensolchen Zählappellen antreten, wie Elliot sie in seinem Album abgebildet sah.[131]

Der Erzähler kommentiert dies schon fast mitleidig für den von diesen Ritualen besessen wirkenden Major:

Anstatt den Dingen ihren Lauf und die Schrecken der Kriegsjahre allmählich blaß und undeutlich werden zu lassen, erfand Elliot für diese Parties immer neue Rituale der Erinnerung. Dabei schien der Kommandant auch selbst jener Vergangenheit verfallen zu sein, an die er immer und immer wieder zu rühren befahl.[132]

Hier offenbart sich ein Verweis auf die Haltung der Siegermächte gegenüber den Deutschen in ihrer Täterrolle. Der grausamen von Rachegelüsten motivierten Willkür der Besatzer steht in der parahistorischen Welt von Morbus Kitahara nichts im Weg. Gleichzeitig gelangt der Leser jedoch auch zu einer Erkenntnis: Die Besatzer waren und sind zu ebensolchen grausamen Taten fähig wie die Besiegten. Täter- und Opferrolle werden unweigerlich vertauscht. Die ständige Wiederholung dieser Rituale auf den Stellamour-Parties und die permanente Erinnerung durch die „Große Schrift“[133] hat zudem eine kulturtheoretische Funktion. Widmann erkennt, ausgehend von Jan Assmann, die Mechanismen zur „Herausbildung eines […] kollektiven beziehungsweise kulturellen Gedächtnisses“, die „unter den besonderen, durch die kontrafaktische Ereignisgeschichte geschaffenen Bedingungen, archaische Züge annehmen.“[134] Durch die Ritualisierung soll Moors Gesellschaft „in ein historisches Anfangsstadium versetzt und mit neuem identitätsstiftenden Material versehen“ werden. „Fortan gründet sich das Dasein des Kollektivs auf die Schuld.“[135]

Die Umfunktionierung Moors zu einem Truppenübungsgelände greift schließlich wiederholend die Schrecken des Bombenkrieges noch einmal auf:

Und die Zukunft von Moor? Bald würde auch Moor von Lichtern übersät sein – von Mündungsblitzen, Granateinschlägen, Feuersäulen […] Das war die Zukunft. Artilleriegranaten auf die Ruinen des Grand Hotels. Raketen auf das Bellevue. Bomben auf das Strandbad, auf den Wetterturm, auf die Villa Flora … Die Zukunft Moors und aller Kaffs am See glich doch nur jener Bombennacht, die er, der Knecht in einem Hundehaus, als sein Geburtsdatum auf dem Passierschein trug. Die Zukunft Moors war die Vergangenheit.[136]

Schließlich bietet diese Umfunktionierung den Dörflern und somit auch den drei Hauptfiguren die Möglichkeit, aus Moor auszuziehen und ein neues Leben außerhalb des zu Grunde gegangenen Europas zu beginnen. Doch dieser Auszug ist ebenfalls zum Scheitern verurteilt, denn die Steinbruchmaschinerie und mit ihr die Hauptfiguren sollen an einen Ort namens Pantano verschifft werden. In der Bedeutung dieses Ortsnamens offenbart sich der ernüchternde Befund:

„Pantano. Hier stehts doch; bedeutet: Sumpf, sumpfige Wildnis, Feuchtgebiet.“ Ambras nahm das aufgeschlagene Buch aus ihren Händen, ohne auch nur einen Blick auf die Zeile zu werfen, die sie ihm zeigen wollte, sah an Lily vorbei, hinaus in das winterliche Land, und sagte: „Moor.“[137]

Selbst der Neuanfang ist erneut nur eine Wiederholung. Ein Hinter-sich-lassen der Vergangenheit ist nicht möglich. Dies scheint schließlich auch die Botschaft des Romans zu sein: Ein Vergessen der Vergangenheit, ein Verdrängen der Schrecken des Nationalsozialismus und des Holocausts ist nicht möglich und darf auch nicht sein. Stattdessen wird durch ständige Wiederholung in Gedenkfeiern sowie durch Menetekel ein kollektives Gedächtnis im Bewusstsein selbst derjenigen erzeugt, die die Ereignisse gar nicht miterlebt haben.

3.4.5. Christian Kracht – Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Christian Kracht, der zunächst mit seinem Debütroman Faserland von 1995 im Bereich der verpönten Popliteratur angesiedelt wurde, legte schnell dieses Image ab und avancierte zu einem der einflussreichsten Autoren der letzten zwei Jahrzehnte. Dabei zeigt sich, dass Christian Kracht ein Meister des ironischen Zitierens ist und in seinen Werken stets versteckte Anspielungen und Referenzen einbaut. In seinem parahistorischen Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von 2008 wird dabei dieses Wurzelwerk an Referenzen, diese, wie Johannes Birgfeld und Claude Conter es nennen, „rhizomatische Textur“[138] auf die Spitze getrieben.

Ein namenloser schwarzafrikanischer Parteikommissär soll in der sozialistischen Schweizer Sowjetrepublik (SSR), die sich im Krieg mit dem Rest der Welt befindet, einen polnischen Oberst namens Brazhinsky suchen und verhaften, der sich jedoch in die Schweizer Alpenfestung, das Réduit, welches nebenbei bemerkt sehr an die Andenfestung aus Stimmen der Nacht erinnert, zurückgezogen hat. Nachdem er ihn schließlich gefunden hat, dieser jedoch wahnsinnig wird und sich die Augen aussticht, entscheidet sich der Parteikommissär auszusteigen und über Italien in seine Heimat Afrika zurückzukehren. Wie in Krachts früheren Werken Faserland und 1979 sowie in seinem 2012 erschienenen neuesten Roman Imperium wird hier also in gewisser Weise eine Reise- und Ausstiegsgeschichte erzählt. Diesmal wird sie jedoch eingebettet in eine parahistorische Welt, die zunächst in gewohnter Weise dargestellt wird:

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Zunächst wird von der Prämisse ausgegangen, dass der Erste Weltkrieg stattfindet (F1). Allerdings begibt sich Lenin nicht wie in der Realhistorie (F2) auf den Weg zurück nach Russland, um die Sowjetunion auszurufen, da aufgrund einer Naturkatastrophe Russland verstrahlt und dort kein Leben mehr möglich ist. Lenin bleibt also in der Schweiz und gründet die Schweizer Sowjetrepublik (F2‘). Doch ein weiterer Wendepunkt tritt ein, denn die USA greifen 1916 nicht in den europäischen Krieg ein (F3), sondern verstricken sich in einen Bürgerkrieg mit Mexiko, der dazu führt, dass sie schließlich die Grenzen ihres Kontinents schließen (F3‘). Anstatt dass der Weltkrieg 1918 endet (F4) führt die SSR einen totalen Weltkrieg gegen die sogenannten Hindustanis, Korea, den großaustralischen Kontinent sowie die deutschen und britischen Faschisten (F4‘), woraufhin der Krieg andauert und sich zum Zeitpunkt der Handlung in seinem 96. Jahr befindet (F5‘). Während dieser Zeit zivilisiert die SSR große Teile Afrikas und baut sich in den Alpen eine Festung, das sogenannte Réduit (F6‘). Schließlich wird aber dieses massiv bombardiert, die SSR verliert (F7‘) und alle zivilisierten Afrikaner gehen aus den ihnen gebauten Städten zurück in die Wildnis (F8‘). Es zeigt sich eine permanente neodirektionale Sequenz, die schließlich im Ende der Zivilisation gipfelt.

Der Krieg ging nun in sein sechsundneunzigstes Jahr. […] Es waren nun fast einhundert Jahre Krieg. Es war niemand mehr am Leben, der im Frieden geboren war.[139]

Die Handlung spielt nach genannter Dauer des Krieges vermutlich im Jahr 2010, also in der Gegenwart. Die Wendepunkte werden zumeist anhand von Rückblenden zur Ausbildung des Protagonisten thematisiert und erklärt:

Wir hörten die in Wachs eingebrannten Stimm-Schriften von Karl Marx und die Geschichte des grossen Eidgenossen Lenin, der, anstatt in einem plombierten Zug in das zerfallende, verstrahlte Russland zurückzukehren, in der Schweiz geblieben war, um dort nach Jahrzehnten des Krieges den Sowjet zu gründen, in Zürich, Basel und Neu-Bern. Russland war durch die Folgen der ungeklärt gebliebenen Tunguska-Explosion von Zentralsibirien bis nach Neu-Minsk viral versucht worden. Die unendlichen Weiten der Tundra, die fruchtbaren Weizenmeere des vorderen Ural waren für immer unbewohnbar, die immensen Nickel-, Kupfer- und Kornreserven waren verloren, das riesige russische Reich war eine einzige Ödnis voller giftigem Staub und todbringender Asche.[140]

Ausschlaggebender Grund für den Wendepunkt ist also keine militärische Entscheidung wie beispielsweise in Fatherland, sondern eine Naturkatastrophe, in gewisser Weise also der Zufall, der die Geschichte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus die gesamte Menschheitsgeschichte entscheidend verändert:

In einem ähnlichen Dorf hier ganz in der Nähe hatten sich vor vielen Jahren die Eidgenossen Lenin, Grimm und Trotzki getroffen und auf einer geheimen Konferenz sowohl unsere kommunistische Revolution geplant als auch die Gründung der SSR.[141]

An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich diese „Tunguska-Explosion“ tatsächlich ereignete. Im Jahr 1908 landete in Sibirien vermutlich ein Asteroid, der mehrere Explosionen auslöste und einen großen Krater hinterließ.[142] Kracht greift dieses Ereignis auf und übertreibt dessen Ausmaß, um einen Wendepunkt für sein parahistorisches Sujet zu schaffen.

Von dem Schicksal der Amerikaner, die hier im Kollektiv mit Mexiko zu „Amexikanern“ assimiliert werden, erfährt man nur kurz etwas:

Der Schweizer Militärarzt stellte fest, dass ich mich als Säugling mit Malaria infiziert hatte, obwohl es schon längst als überwunden galt, da die Amexikaner den Impfstoff mit Heissluftballons über Afrika abgeworfen hatten, bevor sie ihre Grenzen für immer geschlossen hatten und jener schreckliche Bürgerkrieg der gefiederten Schlange dort zu wüten begann, von dem man nur sehr wenig hörte und dann nur Schreckliches.[143]

Russland ist also durch die Naturkatastrophe zerstört, Amerika hat seine Grenzen abgeriegelt. Der Krieg findet statt zwischen der SSR, Korea, den Hindustanis, dem großaustralischen Kontinent sowie England und Deutschland.

Die letztgenannten beiden Länder ereilt ebenfalls ein parahistorisches Schicksal:

Der englische König, so hörten wir, hatte sich mit den Faschisten, den Deutschen, gegen uns verbündet; sie planten, ein dekadentes Grossreich zu schaffen, in dem wir Afrikaner Sklaven sein würden und sie die grinsenden Herren.[144]

Die Deutschen werden also wie in der Realhistorie von einem faschistischen und rassistischen Regime regiert. Auffällig ist, dass hier auch von einem faschistischen englischen König die Rede ist, der sich mit den Deutschen verbündet. Eine Anspielung auf die parahistorische Welt von Fatherland ist denkbar.

Die Schweiz avanciert in diesem langen Krieg zu einer Kolonialmacht von ungeahnter Größe, die Afrika zivilisiert:

Und als ein zivilisatorisches Netz über Ostafrika gelegt war, als elektrischer Strom die Hütten erhellte und die Städte an den Küsten den Schiffen den Weg in die Häfen leuchteten, als Eisenbahnzüge die Ernte in den Süden und die Medizin in den Norden fuhren, als endlich nie gekannte Gleichheit herrschte, begannen die Schweizer mit dem Bau der Militärakademien, um die Afrikaner zu Soldaten zu machen und damit den gerechten Krieg, der in der Heimat wütete, endlich zu gewinnen.[145]

Diesen redlich klingenden Absichten der Schweiz und diesem daraus resultierenden vermeintlichen Utopia „ist in Krachts Geschichtsmodell keine Zukunft beschieden.“[146] Der sukzessive Untergang der Menschheit deutet sich schon durch die „devolutionäre“[147] Abschaffung der Schriftlichkeit an:

Ich schrieb in mein Notizbuch: „Koltsch – Divisionat – Tschechen – Brazhinsky.“ Unsere Feinde hatten sich im Gegensatz zu uns eine hohe Buch- und Schreibkultur erhalten; in der SSR war in den Generationen des Krieges die Sprache wichtiger geworden, die Wissensübertragung geschah durch das gesprochene Wort. Die deutsche Propaganda schimpfte uns „Untermenschen“ und „Berganalphabeten“; ich hatte jedoch lesen und schreiben gelernt und mich zur Benutzung eines Notizbuches erzogen. […] Ich war doppelt und dreimal so effizient wie [meine Kollegen].[148]

Im Réduit zeigt sich der Rückgang der Schrift am drastischsten. Anhand von Wandmalereien wird die Geschichte der Schweiz dargestellt. Die Geschichtsschreibung entwickelt sich also zurück bis zu ihrer urzeitlichen Form der Höhlenmalerei. Hier zeigt sich bereits ein Rückgang der Zivilisation zu ihrem afrikanischen Ursprung, wie er sich schließlich am Ende des Romans vollziehen wird.

Neben dem Rückgang der Schrift haben sich auf der anderen Seite technische Entwicklungen durchgesetzt, die weit über das hinausgehen, was im vermeintlichen Jahr der Handlung technisch möglich wäre. Es finden sich also in diesem Roman ebenfalls wie schon in Stimmen der Nacht Science-Fiction-Elemente:

Eine jener kleinen eisernen Sonden schwebte fünf Zentimeter über den Felljacken, leuchtete und drehte sich um die eigene Achse.[149]

Der genaue Zweck dieser Sonden wird nicht näher erklärt, ebenso wenig ihre Funktionsweise. Des Weiteren zeigen sich technische Geräte innerhalb menschlicher Körper:

Ihr Nacken roch nach Metall. […] Neben ihrer Achselhöhle war eine Steckdose in die Haut eingelassen, wie die Schnauze eines Schweins.[150]

Neben seiner Achselhöhle glaubte ich die Umrisse einer Steckdose zu sehen.[151]

Der Protagonist entdeckt diese Steckdosen bei der Offizierin Favre und dem Oberst Brazhinsky. Allerdings bleibt auch hier wieder eine Erklärung für das groteske Phänomen aus. Christian Kracht ist stets darum bemüht, in seinen Romanen ironisch zu zitieren. Er baut wahrscheinlich hier schlichtweg zwei Science-Fiction-Elemente ein, um gleichsam ironisch das Genre des dystopischen Science-Fiction-Romans zu zitieren. Die Elemente bekommen so eine sekundäre Verfremdungsfunktion, schmücken also die parahistorische Welt weiter aus. Birgfeld und Conter erkennen darüber hinaus sogar in der Beschreibung dieser Cyborgs nicht nur ein Zitat eines Genres sondern eines ganz bestimmten Romans, nämlich Thomas Pynchons V. Auch dort hat die Figur Bongo-Shaftsbury in den Körper implantierte Elektroden,[152] ein weiteres Zeichen für die unzähligen Referenzen in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Doch diese Cyborgs symbolisieren noch eine weitere Komponente: Hier ist wiederum die Geschichtsauffassung Francis Fukuyamas zu erkennen, die er 2002 in seinem Buch Das Ende des Menschen vertritt. In diesem Buch, das im Originaltitel Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution heißt, warnt Fukuyama vor den gesellschaftlichen Folgen der modernen biotechnischen Mittel, die nicht zu einem Transhumanismus, sondern vielmehr zu einem Posthumanismus führten. Im Roman zeigt sich, dass selbst der transhumanistische Versuch, den Menschen zu vervollkommnen nicht das Ende der Menschheit beziehungsweise der Zivilisation verhindern kann. Sowohl Favre als auch Brazhinsky sterben an den gewissermaßen ordinären Folgen des Krieges, wie auch Birgfeld und Conter feststellen:

Favre und Brazhinsky, technisch vervollkommnete Mutationen des Menschen und Beispiele einer neuen Art evolutionärer Wesen, sterben beide im ewigen Krieg der ‚zivilisierten‘ Mächte: Favre wird von einer Granate zerfetzt, Brazhinsky kommt bei der Bombardierung des Réduits ums Leben.[153]

Der vermeintliche vervollkommnende Fortschritt ist nicht von Dauer, genauso wenig die kommunikationsrevolutionäre Rauchsprache, die eine gänzliche phantastische Komponente des Romans darstellt:

„Nun, wir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schliesslich bewegen. […] Und schlussendlich können wir es senden und empfangen. […] Unsere neue Kommunikationsform ist eine Leistung des menschlichen Willens.“[154]

Auch wenn der Protagonist es schafft, im Laufe des Romans die Sprache zu lernen, verwirft er sie schlussendlich wieder, um sich stattdessen wieder rückschrittlich der Schrift zu widmen und zwar gänzlich ohne Stift und Papier:

Ich legte mit Schilfhalmen meinen Namen in endlosen Bändern auf die staubige Strasse, ich schrieb Wörter, Sätze, ganze Bücher in die Landschaft hinein. […] Ich notierte nicht mit Tusche, sondern mit Schrift, mit den Morphemen der Erde.

Die Entwicklung des Romans wirkt wie die Realisierung eines Neo-Rousseauismus, die Wiederherstellung eines Naturzustands.[155] Die parahistorische Handlung mündet schließlich in eine wahrhaft posthistorische Welt, „a world empty of people, just uninterrupted grass, and a hare sitting up“.[156] Das Mottozitat des Buches ist zugleich ein Zitat aus D.H. Lawrences Women in Love von 1920, wo eine Diskussion über eine Welt ohne Menschheit geführt wird. Krachts parahistorischer Roman beschreibt kein Konzept des Transhumanismus, in dem die neodirektionale Entwicklung dem Wohl der Menschheit zugute käme, sondern erzählt „im Gegenteil vom baldigen, notwendigen Anbruch eines Zeitalters des Post-Humanismus“.[157]

Und noch eins zeigt der Exodus nach Afrika:

Die Rückkehr nach Afrika, auf den Kontinent des Beginns der Menschheitsgeschichte, ist am Ende eines Jahrhunderts der Kriege, unter Abkehr von allen Segnungen der Zivilisation, nicht nur ein räumlicher Abschied von Europa und ein ideeller von den Ideen Europas. Das Verschwinden am Ende des Romans erscheint als ein Verschwinden aus der Geschichte.[158]

Ausgehend von der in Abschnitt 3.1 dargestellten posthistorischen These, dass Geschichte auf ein Ende zulaufe, geschieht hier nach dem Untergang der Zivilisation eine zirkuläre Bewegung zurück zu ihrem basalen Beginn.

Obwohl auf die einzelnen Anspielungen, die Kracht in seinen Roman einbaut, an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, soll zum Abschluss jedoch eine besondere Referenz nicht unerwähnt bleiben. Denn ihm gelingt ein ganz besonderer Kunstgriff, der für das parahistorische Thema sehr bedeutsam ist:

Ein paar Bücher in englischer Sprache lagen auf dem Holzbrett […] Die Titel sagten mir nichts, obwohl ich ein wenig Englisch verstand, ich merkte sie mir trotzdem: The Reverend Keith Gleed’s Entomology of Canadian Insects, The Grasshopper Lies Heavy und Butterflies – How to Catch, Prepare and Mount them.[159]

Eingerahmt, sozusagen getarnt, von zwei allem Anschein nach biologischen Fachbüchern findet sich The Grasshopper Lies Heavy, ein Roman der Figur Hawthorne Abendsen aus Philip K. Dicks The Man in the High Castle. Zum Einen lässt dies die Vermutung zu, dass Kracht vielleicht in diesem ebenfalls parahistorischen Roman von 1962 den Prototyp des Genres sieht. Ein Blick in den besagten Roman eröffnet jedoch noch etwas:

Still holding the copy of The Grasshopper Lies Heavy, Robert said, “What sort of alternate present does this book describe?” Betty, after a moment, said, “One in which Germany and Japan lost the war.” They were all silent.[160]

Der Grasshopper ist ebenfalls ein parahistorischer Roman, der in der Parahistorie von Dicks Roman, in der nämlich die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewinnen, die Realhistorie darstellt. Und dieses Buch wird nun in der wiederum parahistorischen Welt von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gefunden.

3.5. Parahistorische Literatur in der Deutschdidaktik

Nachdem nun die fünf Romane ausführlich analysiert wurden, wird zum Abschluss auf die Möglichkeiten der Thematisierung parahistorischer Romane im Deutschunterricht eingegangen. Dabei soll nicht nur die Unterrichtstauglichkeit der dargestellten Romane erörtert werden, sondern auch versucht werden, das Thema in andere Kompetenzbereiche zu integrieren.

Die Literaturvorgabe für das Zentralabitur im Bereich der Gegenwartsliteratur ist seit den letzten Jahren und zumindest auch für die nächsten zwei Jahre stets geprägt durch Wolfgang Koeppens Tauben im Gras.[161] Dieser Roman ist aufgrund seines Erzählstils im Sinne des stream of consciousness und aufgrund seines Settings, der simultanen Beschreibung des Tagesablaufs mehrerer Charaktere, ein bedeutungsvoller Beitrag zur deutschen Nachkriegsliteratur. Der hier behandelte Roman Christoph Ransmayrs könnte jedoch eine willkommene Alternative darstellen und ähnelt auch von Aufbau und Schreibstil sehr Koeppens Roman. Höchstwahrscheinlich würde jedoch Morbus Kitahara aufgrund seines Umfangs von knapp 450 Seiten den realistischen Rahmen einer Schülerlektüre sprengen. In beiden Romanen wird dem Leser allerdings wie so häufig eins ganz deutlich vor Augen geführt: Deutschland in seinem verdienten Status als Verlierer des Krieges. Vielleicht ist es beinahe 70 Jahre nach dem Krieg aber auch erlaubt, ein radikaleres Gedankenspiel durchzuführen. Als Vertreter der parahistorischen Literatur, die die Nationalsozialisten gewinnen lässt, eignet sich von den hier behandelten Romanen vielleicht am besten der von Thomas Ziegler. Stimmen der Nacht ist ein prädestinierter Beitrag zur deutschen dystopischen Science-Fiction-Literatur und könnte das Pendant zu dem im Englischunterricht schon traditionell behandelten Fahrenheit 451 von Ray Bradbury sein. Darüber hinaus ist der Umfang des Romans mit 190 Seiten absolut erfüllbar für Schülerinnen und Schüler sowohl der Sekundarstufe I als auch der Sekundarstufe II. Um dem Thema Nationalsozialismus einmal gänzlich zu entkommen, bietet sich Christian Krachts Roman an, der ebenfalls eine dystopisch-phantastische Geschichte erzählt und mit 149 Seiten genauso gut möglich ist.

Neben der Abdeckung des Kompetenzbereichs „Lesen-Umgang mit Texten und Medien“ kann jedoch die Thematisierung parahistorischer Literatur auch den Kompetenzbereich „Schreiben“ bedienen. Die Möglichkeiten für kreatives Schreiben sind bei dem parahistorischen Thema enorm.

Kaspar H. Spinner nennt fünf Grundprinzipien, die als Leitlinien für eine Didaktik des kreativen Schreibens angesehen werden können: „Irritation“, „Expression“, „Imagination“, „ästhetisches Wahrnehmen“ und „Imitation“. Die ersten drei Prinzipien könne man laut Spinner als Schreibanlässe und -ziele verstehen, sie seien die Grundlage kreativen Schreibens. Die letzten zwei Prinzipien seien darüber hinaus gewissermaßen Werkzeuge, die die ersten drei Prinzipien und somit generell kreatives Schreiben ermöglichten.[162] Becker-Mrotzek und Boettcher geben dazu sechs Methodengruppen für kreative Schreibverfahren an die Hand: „Assoziative Verfahren“, „Schreibspiele“, „Schreiben nach Vorgaben, Regeln und Mustern“, „Schreiben zu und nach (literarischen) Texten“, „Schreiben zu Stimuli“, „Weiterschreiben an kreativen Texten“.[163] Dabei schaffen es diese Methoden, die vier schreibdidaktischen Funktionen „Darstellung des Wahrnehmbaren“, „Ausdruck eigener Gefühle“, „Appell an den Leser“ und „ästhetische Textgestaltung“ optimal zu vermengen.[164] Es liegt auf der Hand, dass das parahistorische Thema ein optimaler Ausgangspunkt für das kreative Schreiben im Deutschunterricht ist. Die von Spinner genannten Irritationen bieten parahistorische Gedankenspiele freilich zur Genüge und besonders die von Becker-Mrotzek und Boettcher genannten Methoden „Schreiben nach Vorgaben, Regeln und Mustern“ sowie „Schreiben zu und nach (literarischen) Texten“ bieten eine Fülle von Möglichkeiten, insbesondere, wenn die Kompetenzbereiche „Schreiben“ und „Lesen – Umgang mit Texten und Medien“ integrativ verknüpft werden.

Für die Behandlung des parahistorischen Themas stehen also im Deutschunterricht alle Türen offen. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass der Deutschunterricht kein Geschichtsunterricht ist und deshalb auch nicht primär die Vermittlung von Geschichte zum Ziel haben darf. Es bietet sich daher an, eine Reihe zur parahistorischen Literatur erst in der neunten Klasse durchzunehmen, da eventuell zuvor wichtige Prämissen im historischen Wissen der Schülerinnen und Schüler noch gar nicht vermittelt worden sind.

[...]


[1] Fukuyama, Francis: The end of history and the last man, New York 2006, S. XII f.

[2] Fukuyama, Francis: The end of history and the last man, New York 2006, S. 7.

[3] Helbig: Parahistorischer Roman, S. 31.

[4] Rodiek, Christoph: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur, Frankfurt am Main 1997, S. 25, im Folgenden zitiert als: „Rodiek: Uchronie“.

[5] Rodiek: Uchronie, S. 33.

[6] Helbig: Parahistorischer Roman, S. 66.

[7] Durst: Poetik, S. 209.

[8] Durst: Poetik, S. 208.

[9] Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Jauß, Hans Robert (Hrsg.): Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 9-27, hier: S. 21, im Folgenden zitiert als: „Blumenberg: Möglichkeit des Romans“.

[10] Blumenberg: Möglichkeit des Romans, S. 19.

[11] Blumenberg: Möglichkeit des Romans, S. 21.

[12] Durst: Poetik, S. 211.

[13] SN, S. 101.

[14] IW, S. 25.

[15] SN, S. 78.

[16] IW, S. 44.

[17] Helbig: Parahistorischer Roman, S. 129.

[18] Widmann, Andreas Martin: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr, Heidelberg 2009, S. 59, im Folgenden zitiert als: „Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung“.

[19] Aust, Hugo: Der historische Roman, Stuttgart 1994, S. 29, im Folgenden zitiert als: „Aust: Historischer Roman“.

[20] Aust: Historischer Roman, S. 31.

[21] Lukács, Georg: Der historische Roman, Berlin 1955, S. 26.

[22] Lukács, Georg: Der historische Roman, Berlin 1955, S. 38.

[23] Blumenberg: Möglichkeit des Romans, S. 21.

[24] Rodiek: Uchronie, S. 29; siehe auch: Demandt: Ungeschehene Geschichte, S. 64.

[25] Barthes, Roland: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: Ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 102-143, im Folgenden zitiert als: „Barthes: Erzählungen“.

[26] Barthes: Erzählungen, S. 109.

[27] Barthes: Erzählungen, S. 112.

[28] Barthes: Erzählungen, S. 114f.

[29] Barthes: Erzählungen, S. 112f.

[30] Barthes: Erzählungen, S. 113.

[31] Barthes: Erzählungen, S. 118.

[32] Durst: Verfremdungstypen, S. 342.

[33] Ebd.

[34] Durst: Verfremdungstypen, S. 343.

[35] Durst: Verfremdungstypen, S. 345.

[36] Durst: Verfremdungstypen, S. 346.

[37] Durst: Verfremdungstypen, S. 347.

[38] Ebd.

[39] Durst: Verfremdungstypen, S. 348.

[40] Durst: Verfremdungstypen, S. 350.

[41] Durst: Verfremdungstypen, S. 351f.

[42] Durst: Verfremdungstypen, S. 352.

[43] Durst: Verfremdungstypen, S. 354.

[44] FL, S. 112.

[45] Cowley: Einleitung, S. 10.

[46] FL, S. 112.

[47] FL, S. 112.

[48] FL, S. 113.

[49] FL, S. 30.

[50] FL, S. 30.

[51] FL, S. 31f.

[52] FL, S. 31.

[53] FL, S. 32.

[54] FL, S. 36f.

[55] Donath, Matthias, Landesdenkmalamt Berlin (Hrsg.): Architektur in Berlin 1933–1945: ein Stadtführer, Berlin 2004, S. 174–176.

[56] FL, S. 52.

[57] Walker, Andrew: Profile: Edward VIII, in: BBC News World Edition 29.01.2001, auf: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/2701965.stm (Zuletzt aufgerufen am 03.06.2013).

[58] FL, S. 158.

[59] Renehan, Edward: Joseph Kennedy and the Jews, in: History News Network 29.04.2002, auf: http://www.hhn.us/articles/697.html (Zuletzt aufgerufen am 03.06.2013).

[60] FL, S. 158.

[61] FL, S. 126.

[62] FL, S. 260.

[63] FL, S. 264f.

[64] FL, S. 261.

[65] Kracht, Christian: Faserland, München 2002, S. 151.

[66] Ebd.

[67] FL, S. 283.

[68] FL, S. 265.

[69] Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt am Main 1977, S. 11-30, hier: S. 30.

[70] Saupe, Achim: Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld 2009, S. 308, im Folgenden zitiert als: „Saupe: Historiker als Detektiv“.

[71] Saupe: Historiker als Detektiv, S. 314.

[72] Saupe: Historiker als Detektiv, S. 316.

[73] Saupe: Historiker als Detektiv, S. 319.

[74] N.N.: Holocaust für Horror-Freunde, in: Der Spiegel 39 (1992), S. 272-276.

[75] Saupe: Historiker als Detektiv, S. 323.

[76] Vgl. Schüller, Liane: Art. Weiss, Peter. Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen, in: Kindlers Literatur Lexikon Bd. 17 Vil – Z, Stuttgart 2009.

[77] 21, S. 1.

[78] 21, S. 243.

[79] 21, S. 253.

[80] 21, S. 259.

[81] 21, S. 280.

[82] 21, S. 289.

[83] 21, S. 450.

[84] 21, S. 178.

[85] 21, S. 288.

[86] Christian von Ditfurth im Interview mit Ralph Pöhner, in: Facts 40 (2001), auf: http://www.cditfurth.de/21rezens.htm (Zuletzt aufgerufen am 03.06.2013).

[87] Gelber, H. G.: Der Morgenthau-Plan, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 13 (4/1965), S. 372-402, hier: S. 372, im Folgenden zitiert als: „Gelber: Morgenthau“.

[88] Morgenthau, Henry: Suggested Post-Surrender Program for Germany, Washington D.C. 1944, S. 1, auf: http://docs.fdrlibrary.marist.edu/psf/box31/a297a01.html (Zuletzt aufgerufen am 03.06.2013), im Folgenden zitiert als: „Morgenthau-Plan“

[89] Morgenthau-Plan, S. 3

[90] Morgenthau-Plan, S. 4.

[91] Gelber: Morgenthau, S. 381.

[92] Gelber: Morgenthau, S. 372.

[93] Gelber: Morgenthau, S. 388.

[94] SN, S. 74.

[95] SN, S. 191.

[96] SN, S. 9.

[97] SN, S. 101.

[98] Suerbaum, Ulrich; Broich, Ulrich; Borgmeier, Raimund: Science Fiction. Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Formen und Weltbild, Stuttgart 1981, S. 10.

[99] SN, S. 11.

[100] SN, S. 25.

[101] SN, S. 38.

[102] SN, S. 39.

[103] SN, S. 95.

[104] Adorno, Theodor W.: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10/2: Kulturkritik und Gesellschaft II, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, S. 555-572, hier: S. 555.

[105] SN, S. 188.

[106] MK, S. 9.

[107] Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 319.

[108] MK, S. 122.

[109] Foster, Ian: Alternative History and Christoph Ransmayr’s ‘Morbus Kitahara’, in: Modern Austrian Literature, Bd. 32, (1/1994), S. 111-125, hier: S. 121.

[110] Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 39.

[111] Schwantner, Johannes et. al. (Hrsg.): Ideologie und Wirklichkeit des Nationalsozialismus. Hermann Langbein Symposium 2007, Wien 2008, S. 72.

[112] MK, S. 46f.

[113] MK, S. 173.

[114] Benz, Wolfgang und Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2005, S. 62.

[115] Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 323.

[116] Ebd.

[117] MK, S. 41f.

[118] MK, S. 35.

[119] MK, S. 43.

[120] Ebd.

[121] MK, S. 52.

[122] MK, S. 326.

[123] Ebd.

[124] MK, S. 407.

[125] MK, S. 159.

[126] Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 332.

[127] MK, S. 336.

[128] MK, S. 330.

[129] MK, S. 216.

[130] MK, S. 439.

[131] MK, S. 45f.

[132] MK, S. 44.

[133] Ebd.

[134] Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 338.

[135] Ebd.

[136] MK, S. 336.

[137] MK, S. 402.

[138] Birgfeld, Johannes und Conter, Claude D.: Morgenröte des Post-Humanismus, in: Dies. (Hrsg.): Christian Kracht – Zu Leben und Werk, Köln 2009, S. 252-269, hier: S. 253, im Folgenden zitiert als: „Birgfeld u. Conter: Morgenröte“.

[139] IW, S. 13.

[140] IW, S. 57f.

[141] IW, S. 93.

[142] Becker, Markus: Historische Explosion: Tunguska-Rätsel vor Lösung – Spur führt zum Krater, Spiegel Online 2007, auf: http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/historische-explosion-tunguska-raetsel-vor-loesung-spur-fuehrt-zum-krater-a-490518.html (Zuletzt aufgerufen am 03.06.2013).

[143] IW, S. 55f.

[144] IW, S. 58f.

[145] IW, S. 77.

[146] Birgfeld u. Conter: Morgenröte, S. 264.

[147] Birgfeld u. Conter: Morgenröte, S. 261.

[148] IW, S. 24

[149] IW, S. 25.

[150] IW, S. 45f.

[151] IW, S. 129.

[152] Birgfeld u. Conter: Morgenröte, S. 262.

[153] Birgfeld u. Conter: Morgenröte, S. 263.

[154] IW, S. 44.

[155] Birgfeld u. Conter: Morgenröte, S. 260.

[156] IW, S. 9.

[157] Birgfeld u. Conter: Morgenröte, S. 266.

[158] Birgfeld u. Conter: Morgenröte, S. 267f.

[159] IW, S. 68.

[160] Dick, Philip K.: The man in the high castle, Berkley 1974, S. 109.

[161] Vgl. Vorgaben zu den unterrichtlichen Voraussetzungen für die schriftlichen Prüfungen im Abitur der gymnasialen Oberstufe im Jahr 2013/2014/2015 auf: http://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur-gost/fach.php?fach=1 (Zuletzt aufgerufen am 03.06.2013).

[162] Spinner, Kaspar H.: Gibt es eine Didaktik des kreativen Schreibens?, in: Ermert, Karl u. Kutzmutz, Olaf (Hrsg.): Wolfenbütteler Akademietexte Bd. 15: Wie aufs Blatt kommt, was im Kopf steckt. Beiträge zum Kreativen Schreiben, Wolfenbüttel 2004, S. 82-93.

[163] Becker-Mrotzek, Michael und Boettcher, Ingrid: Schreibkompetenz entwickeln und beurteilen, Berlin 2012, S. 144-150.

[164] Köhnen, Ralph (Hrsg.): Einführung in die Deutschdidaktik, Stuttgart 2011, S. 111.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2013
ISBN (PDF)
9783955499884
ISBN (Paperback)
9783955494889
Dateigröße
992 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,8
Schlagworte
Robert Harris Fatherland Christian v. Ditfurth Christoph Ransmayr Thomas Ziegler Christian Kracht Morbus Kitahara

Autor

Alexander Batzke, M.Ed., wurde 1986 in Bottrop geboren. Sein Studium der Germanistik und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum schloss er im Sommersemester 2013 mit dem akademischen Grad des Masters of Education ab. Im November desselben Jahres begann er sein Referendariat für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen in Münster. Neben seiner langjährigen Arbeit im Bereich der Nuklearbehälterdokumentation sowie des Strahlenschutzes bei der Gesellschaft für Nuklearservice in Essen erlangte der Autor auch Einblicke in die Archivarbeit beim historischen Konzernarchiv des RWE. Sein Interesse an Technik- und Umweltgeschichte spiegelte sich 2011 in seiner Bachelor Arbeit mit dem Titel „Sicherheit und Innovationen im Bergbau Ende des 19. Jahrhunderts“ wider. In seiner Master Arbeit „Was wäre gewesen, wenn…?“ schaffte der Autor schließlich ein Konglomerat aus seinen beiden Studienfächern, indem er sich dem Thema Alternativweltgeschichte aus sowohl Geschichts- als auch Literaturwissenschaftlicher Perspektive näherte. Alexander Batzke ist verheiratet und lebt in Münster.
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Titel: "Was wäre gewesen, wenn...?" Alternativweltgeschichtliche Literatur 1990-2010
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