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Auguste Rodins Dichterdenkmäler: Victor Hugo und Honnoré de Balzac

©2013 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Auguste Rodins Auseinandersetzung mit der Plastik seiner Zeit nahm eine maßgebliche Rolle in der Entwicklung eines modernen Denkmalductus ein, welche die Bedeutung des öffentlichen Denkmals im aufkommenden 20. Jahrhundert komplett neu definieren sollte. Der Künstler wandte sich bereits in frühen Arbeiten den Dichterdarstellungen zu, jedoch kamen mit der Arbeit an seiner Skulptur für Victor Hugo herausragend gestalterische, sowie theoretische Aspekte seines Kunstschaffens hinzu, die ihren Höhepunkt in seinem späten Meisterwerk-dem Denkmal für Honnoré de Balzac-finden sollten. Die beiden Arbeiten Rodins werden daher in ihrer Verbindung zueinander, sowie in ihrer Bedeutung zur öffentlichen Auftragsvergabe und den damit verbundenen Regulierungen betrachtet.
Dieses Buch bearbeitet auf wenigen Seiten die besonderen Rahmenbedingungen und die formalen Aspekte der beiden Denkmäler im Kontext der öffentlichen Personendarstellungen während des französischen Historismus. Außerdem bietet es neben einem allgemeinen Einblick, eine bündige, theoretische Grundlage und ein gründliches Sammelsurium an Verweisen, welche gut zur eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Thema genutzt werden können.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Die Genese des Denkmals für Victor Hugo und die Bedeutung des Fragments in der öffentlichen Auftragsplastik

Bis zur Fertigstellung und Aufstellung des Denkmals für Victor Hugo im Jahr 1909 im Palais Royal durchlief Rodin bereits eine Jahrzehnte dauernde bürokratische Prozedur, welche immer wieder zu neuen Entwürfen für dieses Werk führen sollte und somit schlussendlich eine dezidierte Abwendung vom Grundkonzept zur Folge hatte.[1] Deshalb muss zu Beginn die Entstehungsgeschichte und die damit verbundenen Konfrontationen Rodins beleuchtet werden. Das Denkmal wurde ein Jahr nach Hugos Tod im Jahr 1886 von der Societé Nationale de Beaux Arts – unter Direktor Gustave Larroumet – in Auftrag gegeben. Die Idee entstand im Rahmen der dritten Umwandlung der Kirche Saint-Genévieve zum Pantheon ein Jahr zuvor.[2] Da das Pantheon nun nicht mehr als Kirche anerkannt wurde, war es den Führern der französischen Regierung möglich, den Staatshelden Victor Hugo in dieser Einrichtung mit anderen großen Persönlichkeiten Frankreichs zu bestatten. Diesem Vorhaben entsprechend, bildete die Societé de Beaux Art vier Jahre später einen Ausschuss, die Commission consultative des Travaux d´Art, um das Skulpturenprogram für die Gedenkstätte zu überwachen und die Auswahl der jeweiligen Künstler zu treffen.[3] Laut Roos war der zentrale Fokus für die prunkvolle Innenraumgestaltung des Pantheons ein Monument für die Französische Revolution, um welches sich alle weiteren dargestellten Persönlichkeiten positionierten. Insgesamt sollten im Pantheon bei Fertigstellung beinahe 100 Skulpturen ausgestellt werden, die „ une image compléte de la France[4] zum Thema hatten.[5] Auf das Bestreben des damaligen Ministers de Beaux Arts wurde Rodin für die Umsetzung des Denkmals für Victor Hugo beauftragt, da dieser bereits die berühmte Portraitbüste aus dem Jahr 1883 (Abb.1) angefertigt hatte. Der Auftrag um das Denkmal für ein so bedeutendes Genie war selbstverständlich stark umkämpft und bereits 1886 konnten Jules Dalou - welcher später selbst in der Kommission vertreten sein sollte - und Lucien Pallez Entwürfe für das Denkmal vorweisen. Es sollte sich stilistisch an der Arbeit von Injalbert für Mirabeau (Abb. 2) orientieren und in eine Nische im Pantheon eingepasst werden. Leider ist das Denkmal für Mirabeau heute zerstört und existiert nur noch fragmentarisch.[6] Am 18.9.1889 wurde Rodin der Zuspruch für den Auftrag in Höhe von 75.000 Frans erteilt und er entschied sich für die Idee, Vitor Hugo während seines Exils auf Guernsey darzustellen, da dies seiner Meinung nach dessen kreativste und geistvollste Phase war.[7] Für die Verwirklichung dieses Themas standen Rodin Fotografien von Victor Hugo zur Verfügung, welche ihn auf besagter Insel, an der Küste sitzend und in Gedanken versunken, zeigen (Abb. 3).

1.1 Der erste Entwurf

Die erste Arbeit für das Denkmal von Victor Hugo fertigte Rodin um das Jahr 1886 an (Abb. 4). Dieses Bozzetto aus Gips stellt einen kraftlosen, unklar formulierten Mann auf einer felsigen Erhöhung dar, welcher von drei Frauen begleitet wird. Der Dichter scheint in dieser frühen Ausführung noch vom Untergrund hinab zu gleiten und spiegelt in keiner Weise die Masse der später folgenden Arbeiten wider. Die Positionierung der Figuren ist jedoch ein bedeutender Faktor in der später folgenden Genese des endgültigen Werks. Man sieht im Zentrum die Figur des Victor Hugo und die Staffagefiguren der drei Musen, welche dem leidenden Dichter in seinem Exil dessen Genialität einhauchen. Für Rodin war es wichtig, einen personalisierten Kontext von Hugo in sein Werk mit einzubeziehen, da für ihn nicht nur die Person an sich und deren Leistung, sondern auch sein persönliches Streben und seine Entbehrungen Platz in dieser Gedenkstätte finden sollten.[8] Hierzu äußerte sich Rodin wie folgt:

„Als Verbannter, der über das Schicksal seines Landes nachsinnt, oder als der auf Inspiration bedachte Literat ist Hugo ganz in Gedanken vertieft, aus denen eine Gruppe von drei kapriziösen und schaudernden Frauen zu entstehen scheint, die sich hinter ihm erheben wie die drei Engel hinter dem Christus am Ölberg von Delacroix, diesem Genie.“[9]

Rodin spielt in dieser Aussage nicht nur auf seinen Zeitgenossen Delacroix, sondern auch auf einen bedeutenden Aspekt in seiner Figurenkomposition an – die Darstellungsform von Christus in der Hochrenaissance. Er bezieht sich bewusst auf Michelangelo[10] und dessen kompositorisches Motiv in der Florentiner Pieta (Abb. 5), in welcher Christus in den Händen Marias im Zentrum der aufsteigenden Figurenkomposition positioniert ist und von den Beifiguren gestützt wird. Die Metaphysik des Körpers und die zentralisierte Darstellung in der Pieta bei Michelangelo sieht Schneider in ihrer Doktorarbeit als ausschlaggebendsten Aspekt für die Anordnung des Victor Hugos und seiner Musen an:

Das Abknicken des Hauptes, Auffangen des Körpers durch den sich unterschiebenden Arm der Maria, stehen im Zentrum des Pieta-Gedankens. […] Allen Bewegungen liegt momentane Wirkung fern, alle sind in den Bereich des Zuständlichen hinübergeglitten. Rodin konnte sich in der Gesamtwirkung der Gruppe dem Eindruck allgemeinen Leides nicht verschließen. Er übernimmt den (sic!) offenen Kontur des Christuskörpers, bedingt durch das Heben des Armes auf der rechten Seite, und modifiziert den kraftlos schweren Fall des linken Armes als Stütze. Dem in ähnlicher Winkelstellung belassenen Bein erhält er die gleiche Gebrechlichkeit.[11]

Die kompositorische Auseinandersetzung mit Michelangelo, gerade in der anfänglichen Konzeption seiner Skulpturen in Form von Zeichnungen, betont auch unter anderem Esposito in Bezug auf eine Skulptur Rodins von 1884.[12] Somit eröffnet sich eine Verbindung zwischen Rodin und den kompositorischen Idealen der Renaissance, welche sich besonders in der Entstehungsphase seiner Plastiken erkennen lässt und in weiterer Folge durch die Dekonstruktion seiner Körper an offensichtlicher Gültigkeit verliert.[13]

1.2 Der zweite Entwurf

Die weiterführende Bearbeitung des Hugo Themas veranlasst Rodin dazu, seinen ersten Entwurf von 1885 zu konkretisieren und die Figuren in ihrer Portraithaftigkeit aufzuwerten (Abb. 6). Diese Entwicklung zog sich über fünf Jahre und zeigt Hugo in einer monumentalen Denkerpose, immer noch flankiert von den Musen der Melancholie, der Meditation und einer Idealgestalt, die von den Wellen getragen werden. Die Kommission war mit diesem Modell nicht zufrieden und forderte von Rodin, seine Skulptur auf Karton lebensgroß abzubilden, damit sie sich die Wirkung der Figur im wirklichen Raum vorstellen konnten. Daraufhin sprachen sie sich 1890 gegen Rodins Entwurf aus, da es ihm an Klarheit fehlte und dessen Silhouette für die Kommission verschwommen wirkte.[14] Ein besonderes Merkmal dieses Bozzettos ist die Personalisierung des Gesichts und die spezifische Haltung von Hugo. Rodin verweist mit seiner Gesichtsgestaltung auf die bereits erwähnte Hugo Büste von 1883. Das Gesicht weist im Gegensatz zu den restlichen Figuren eine sehr hohe Detailtreue auf und stellt Hugo als steinernen Dichter in seiner gesamten Entschlossenheit und immerwährenden Bereitschaft zur Kontemplation dar. Für Rodin war es üblich, mit Modellen zu arbeiten und da Hugo im Jahr 1885 verstorben war, musste er stets auf diese Büste, welche nach einer kurzen Sitzung mit Hugo entstanden war, zurückgreifen.[15] In Bezug auf die Haltung überführte Rodin bei seinem zweiten Entwurf den Körper Hugos von einer widerstandslosen Kraftlosigkeit zu einer monumentalen Positionierung. Diese erste Transformation des Victor Hugo Denkmals ist ausschlaggebend für das Endresultat, da sie die Reduktion der dargestellten Figuren einleitet und dem Hauptcharakter eine neugewonnene Wertigkeit in der Gesamtkonzeption einräumt. Von Rodins zweitem Entwurf existieren zwei Fassungen. In jeweils einer kleidete Rodin seine Figur noch in zeitgenössisches Gewand, bestehend aus Jacke, Hose, Gilet etc. und orientiert sich somit noch an Vorgaben, wie etwa der Skulptur von Bogino aus dem Jahr 1884 (Abb. 7) oder der bekannten Fotografie Hugos an seinem Arbeitstisch ( Abb. 8). Der Künstler bringt außerdem das Element der Decke ein, welche sich im Rahmen der folgenden Entwicklungen des Denkmals ebenfalls einer formalen Transformation unterziehen wird, um dem Anspruch Rodins auf göttliche Monumentalität seines Hugos zu entsprechen. Laut Schneider bezieht Rodin die Idee der Decke von einer Zeichnung Lernerends aus dem 1884, welche Hugo als den großen republikanischen Helden Frankreichs, kurz vor seinem Tod, immer noch für die Freiheit und das Volk schreibend, darstellt (Abb. 9).

1.3 Die Apotheose von Victor Hugo

Aufgrund der Aversion gegen Rodins zweiten Entwurf, bat ihn die Kommission, sein Denkmal an das von Mirabeau anzupassen (Abb. 10). Für den Künstler bedeutete dies eine komplette Abkehr von seinen bisherigen Überlegungen, da er Hugo stehend in einem pyramidalen Gelände darstellen musste. Er war auch gezwungen, das Konzept der Beifiguren zu überdenken und entschied sich dafür, die Muse der Inspiration vom oberen Ende des Geländes zu Hugo hinabsteigen zu lassen und die restlichen Musen zu seinen Füßen, in die Wellen eingebunden, zu platzieren. Er stellte Hugo somit in den klassischen Kontext der Apotheose, bei der der Dichter von einer höheren Macht berufen wird, ohne es in den für ihn typischen Stil zu übersetzten, welcher die Eindeutigkeit des Prozesses verschleiern würde. Hier kann man Rodins Unbehagen, in Bezug auf die gesamte Konzeption nachvollziehen, da er sich gegen seinen Willen in den Denkmalductus seiner Zeit einfühlen musste und den Erwartungen des Komitees selbst mit diesem Modell nicht entsprechen konnte. Man erkennt nur in der Stilistik des Denkmals viele Parallelen zu einer Version von Barrias (Abb. 11). Die ähnliche Gestaltung des Grundes, sowie die Präsenz der Musen entsprechen dem konzeptionellen Gedanken des französischen Komitees.[16] Selbstverständlich sind hier die Figuren viel naturalistischer, präziser und kühler ausgeführt. Jedoch gleichen Grundkonzeption, Form und die Bekleidung Hugos einander. Rodin distanzierte sich über die Jahre komplett von diesem Werk und würde es nie vollenden. Zu erwähnen ist jedoch die weiterschreitende Abkehr von der zeitgenössischen Kleidung. Er stellte seinen Hugo in diesem sowie im vorherigen Entwurf nackt, nur mit einem Tuch bekleidet, dar. Für seinen zweiten Entwurf, sowie für die Apotheose, existierte eine bekleidete und eine nackte Version. Rodin wird sich im späteren Verlauf komplett von der Idee der bürgerlichen Bekleidung distanzieren und seine Konzeption durch eine intensive antikisierende Formensprache prägen.[17] Jedoch förderte Rodins Hinwendung zur nackten Figur ab 1890 auch die Konfrontationen mit der Kommission, welche sich mit der Darstellung eines nackten Victor Hugos in keiner Weise identifizieren konnte.[18]

Exkurs: Die Auseinandersetzung mit Jules Dalou

Als Rodin von der Kommission im Jahr 1890 bereits seine zweite Absage für den Entwurf des Monuments erhielt, war dies unweigerlich mit seinen Problemen zu seinem vorherigen Freund Jules Dalou, für welchen er in früheren Jahren sogar eine Büste anfertigte, verbunden.[19] Im Laufe der 1880er Jahre bekannten sich Rodin sowie Dalou dazu, Interesse an der Erstellung eines Denkmals für Victor Hugo zu haben. Als beide Künstler ihre ersten Entwürfe für das Pantheon einreichten, standen sie in direkter Konkurrenz zueinander. Die erste bedeutende Konfrontation hatten sie ungefähr zur Zeit von Hugos Tod. Rodin konnte es arrangieren, Dalou Hugo vorzustellen, da Rodin und er sich mindestens seit einem Jahr vor der Präsentation der Büste des Dichters im Jahr 1883 kannten. Dalou trat aber ohne Rodins Wissen in eine engere Bekanntschaft mit Hugos Familie und wurde daraufhin ausgewählt, eine Büste für Hugo im Jahr 1885 anzufertigen. Dieser erkrankte rasant und Dalou fand sich in der einmaligen Situation wieder, die Totenmaske für den großen Dichter anfertigen zu können. Judith Claudel empfand diese Angelegenheit, welche ohne der Kenntnis von Rodin stattfand, als den ausschlaggebenden Zündstoff für die Auseinandersetzung zwischen Auguste Rodin und Jules Dalou. Als beide daraufhin zueinander in Konkurrenz um das Grabmal traten und Dalou, um seine Ausgangslage zu verbessern, darauf verwies, bereits die Totenmaske Hugos gestaltet zu haben, führte dies bei beiden zur kompletten Abwendung voneinander. Trotz aller Fürsprache konnten Dalous klassische Denkmalentwürfe (Abb. 12) nicht die Vorstellungen des Komitees erfüllen und er zog seine Bewerbung für den Auftrag zurück, um Teil des Subkomitees, zur Beurteilung der eingereichten Arbeiten zu werden. Dalou hatte nun eine Stelle inne, welche es ihm erlaubte, die Entwürfe Rodins im öffentlichen Umfeld scharf zu kritisieren und es war ihm wichtig diese Gelegenheit zu nutzen, was dazu führte, dass Rodins erste Skulpturen immer wieder abgelehnt und sein Denkmal für das Pantheon schlussendlich nie umgesetzt wurde.[20]

1.4. Finale Entwürfe und das vollendete Monument

Parallel zur Gestaltung der Apotheose von Victor Hugo, welche in Kapitel 1.3 besprochen wurde, arbeitete Rodin weiter an seinen bisherigen Entwürfen, obwohl sie der Bewertung durch die Kommission nicht standhalten konnten. Seine bereits existente Idee, Hugo als Heroen oder gottähnliche Person darzustellen, wird in seinen letzten Ausführungen sowie im finalen Produkt in die Realität umgesetzt werden. Sein Hugo ist die Weiterentwicklung der Grundkonzeption, nämlich, ihn, getreu den Fotografien von seinem Aufenthalt auf Jersey und Guernsey, in einer Felsformation mit brandenden Wellen und den drei Musen in einer heroisierten, nackten, nur von einer Decke bekleideten Denkerpose mit erhobenen Arm darzustellen (Abb. 13). Diese gottähnliche Pose, gekrönt von den drei Musen, prägte sich auch in die Anschauung der Zeitgenossen Rodins ein: „ Ich dachte, ich hätte einen französischen Jupiter gesehen, als ich ihn dann aber besser kannte, schien er mir mehr wie Herkules als wie Jupiter.“[21] Mit der Bewegung des ausgestreckten linken Arms vermittelt die Körperhaltung eine gebietende Geste, wobei er mit der rechten Hand an seiner Ohrmuschel den Musen zuzuhören scheint. Möller sieht die Armhaltung des finalen Entwurfs als eine Anspielung an die Herrscher- und Papstdenkmäler vorheriger Jahrhunderte.[22] Jedoch wird Hugo nicht als Herrscher positioniert, sondern als ein Held der französischen Nation, welcher in seiner Weisheit und seinen Schriften für das Volk spricht. Rodin verbindet die archaische Haltung des Körpers mit den persönlichen Charakteristika der Person, für die Vermittlung einer transzendentalen Botschaft. Von großer Bedeutung und Diskussion war das Sitzmotiv und das Thema des nackten Körpers. Dieses ist jedoch keine neue Entwicklung in der Plastik des 18./19. Jahrhunderts und Rodin wurde anzunehmender Weise von Pigalles Denkmal für Voltaire aus dem Jahr 1770-76 (Abb. 14) inspiriert.[23] Im Gegensatz zu den Reiterdenkmälern, welche der fürstlichen Herrschaft vorbehalten waren, bildete das Sitzmotiv eine willkommene Alternative für die Darstellung einer geistig arbeitenden Person von sozialem Rang. „ Neben der Standfigur und der Büste stand dieser Gattung das Sitzmotiv zu Verfügung, das sich an der antiken Persönlichkeitsdarstellung orientiert und sich in weiterer Folge vom Formenrepertoire des fürstlichen Denkmals herausentwickelte. Das Sitzmotiv erwies sich im Gegensatz zu Standbild und Büste als ideale Präsentationsform für den denkenden Menschen, da vor allem in der sitzenden Haltung die Visualisierung geistiger Vorgänge möglich war.“[24] Diese Präsentationsform erzwingt eine absolute Isolierung des Motivs von seinem Umfeld und schafft somit eine definierte Charakterisierung der dargestellten, geistig arbeitenden Persönlichkeit von seinem Umfeld. Der nächste markante Aspekt wird von der Nacktheit des Victor Hugo besetzt. In seinen früheren Entwürfen entschied sich Rodin dafür, zumindest alternativ, seine Werke auch in zeitgenössischer Kleidung zu präsentieren, wobei er hier komplett von dieser Möglichkeit Abstand hielt. Seine Kollegen – unter anderem der bereits erwähnte Louis Borgino – gestalteten ihre Auftragsarbeiten noch strikt nach dem Prinzip ihre Figuren in zeitgenössische Kleidung zu hüllen. Rodin hingegen monumentalisierte beziehungsweise antikisierte seine Darstellung in Form einer Hinwendung zur Nacktheit. Er distanzierte sich somit von seinen Kollegen und suchte Quellen in der Antike oder in Werken des vorherigen Jahrhunderts, wie der Statue von Pigalle für Voltaire. Pigalle stellte seinen Voltaire jedoch als Menschen an sich dar und erzwang keine weiterführende Heroisierung. Rodin hingegen verzichtete zwar auf eine ästhetische – dem klassizistischen Ideal entsprechende -- Aufwertung des Körpers und zeigte Victor Hugo mit schlaffer Haut, Falten und seinem durch das Leben gezeichneten Körper. Dennoch enthob er ihn der Alltäglichkeit und wertete seinen Status in Form einer Heroisierung, durch seine Positionierung, auf.[25] Die dadurch entwickelte Monumentalität in Vergleich zu seinen Zeitgenossen ist unbestreitbar: „ No modern sculptor had succeeded in placing a monumental nude statue of a well known figure in a public space as the ancients had done. Previous attempts had all ended in failure.[26]

Das Denkmal an sich ist in den bereits kurz besprochenen allegorischen Kontext eingebunden, welcher sich von seiner inhaltlichen Qualität nicht zu den vorherigen Entwürfen unterscheidet. Die fortschreitende Umstrukturierung des Körpers hatte jedoch zur Folge, dass die Musen in einer differenzierten Anordnung um Hugo platziert werden mussten. Die Musen mussten vom Torso der Hauptfigur abweichen und ließen somit der Figur der Meditation einen gesonderten Freiraum, in welchem sie sich ungehindert entfalten konnte. Die Haltung der Meditation gewinnt an Ausdruck, wohingegen die Melancholie und die Idealgestalt in den rechten unteren Bereich der Rückenpartie gerückt wurden . Sie nehmen eine indifferente, abwehrende Haltung ein, welche mit dem Prinzip der Überbrückung des Genies und der Artikulation durch die Person des Victor Hugo kontrastiert. Die Frontalität der rechten Muse, nahe der ausgestreckten Hand Hugos, kann auch durch die horizontale Positionierung nicht an Einbindung in die Gesamtkonzeption gewinnen und räumt somit der Melancholie Wichtigkeit in der Anordnung ein.[27] Das Problem der Musen war für Rodin von großer Bedeutung und somit entschied er sich dafür, in der Genese des letzten Entwurfs, die Anzahl jener, um zwei zu reduzieren und nur die Melancholie bestehen zu lassen, die dann schlussendlich ebenfalls entfernt wurde (Abb. 15).[28] Die Auseinandersetzung mit der Positionierung der Musen bedeutete eine tiefgreifende ästhetische Diskussion für Rodin und zog sich ungefähr von 1895 bis zur Präsentation im Jahr 1909 im Palais Royal. Seiner Argumentation zu Folge, war die Arbeit an seinem zeitgleich entstandenen Balzac Denkmal und dessen simple Oberflächenstruktur ausschlaggebend für die drastische Reduktion seines Hugo Konzepts[29] Rodin versah seinen monumentalen Victor Hugo bewusst mit Unvollständigkeiten, besserte die Risse in seinen Armen nicht aus und erwog bewusst eine Stütze für die linke Hand -- ein skulpturales Element, welches später als unumstößlicher Ausdruck der Plastik im 20. Jahrhundert seinen Wiederhall finden sollte.[30] Seine gesamte Konstruktion beschäftigt sich mit der Abkehr vom Naturalistischen, hin zu seinem Verständnis von Schönheit in der Plastik. Hugo schwebt wie auf einer Woge in seinem schrägen Sockel aus Granit, mit absolutem Verzicht auf überflüssige Schönheit. Die Wichtigkeit des Sockels wurde in Rodins Umfeld ebenfalls heftig diskutiert, da der Ansatz, das Denkmal soll nicht im Verhältnis zu seiner Präsentationsform auf dem Sockel platziert werden, noch wenig bis kein Ansehen in der Bewertung von Skulptur im frühen 20. Jahrhundert hatte. Dieser sollte für Rodin möglichst flach und unspektakulär sein, um nicht von der Großartigkeit des Kunstwerks abzulenken. Es wurde lange sogar auf eine Inschrift verzichtet, da die Personalisierung des Gesichts, gemäß der Büste von Hugo, detailgetreu nachgestaltet wurde und so laut Rodin keine Notwendigkeit auf einen namentlichen Verweis bestünde.[31]

Der Künstler wurde für die Zerlegung und Unvollständigkeit seiner Figur laut Pingeot immer missverstanden. Sie betont, dass während des andauernden Historismus in Frankreich die Wirkung, einer auf dem Prinzip des Fragments, also der Zerstückelung eines Körpers in individuelle, selbstreferenzielle Körper als eigenständige Formen einer Plastik, in diesem Rahmen nicht als Skulptur verstanden wurde. Rodins Verständnis vom Fragment, als selbstständige Repräsentations- und Kunstform, drückt sich gerade in dieser Zerstückelung seiner Figuren, wie dem Victor Hugo während der Trennung von seinen Musen, aus. Er erteilte jedem einzelnen Teil der Gesamtskulptur seinen eigenen Wertigkeitsraum und sobald das innere Gleichgewicht der wirkenden Einheit, welche die Hugo Statue verdeutlichen sollte, gestört wurde, musste die Gesamtform dementsprechend reduziert werden. So endete sein Victor Hugo ohne Muse und in seiner technischen Ausführung mit fragmentierten Unvollständigkeiten, welche laut seines Erschaffers nur auf seine großmächtige Schönheit verweisen.[32] Zur Tendenz der Fragmentierung seiner Körper äußerte sich Rainer Maria Rilke mit folgenden Worten: „ Es fällt auf, daß die Arme fehlen. Rodin empfand sie in diesem Falle als eine zu leichte Lösung seiner Aufgabe, als etwas, was nicht zu dem Körper gehört, der sich in sich selber hüllen wollte, ohne fremde Hülfe. […] bei den armlosen Bildsäulen Rodins […] fehlt nichts Notwendiges. Man steht vor ihnen als etwas Ganzem, Vollendetem, das keine Ergänzung zuläßt.“[33]

2. Das Denkmal für Balzac

2.1 Entstehungsgeschichte

Der Auftrag für das Monument für Balzac – verstorben am 18.8.1850 - wurde von der Société de Gens de Lettre,[34] deren zweiter Präsident Balzac war, im Jahr 1885 öffentlich ausgeschrieben. Zu Beginn fiel die Entscheidung auf Henri Chapu, welcher jedoch unvorhergesehen verstarb und sein Werk bis zum Jahr 1891 nicht vollendet hatte. Neben Chapu standen auch weitere namenhafte französische Künstler wie Paul Dubois, Antonin Mercié und Jean-Alexandre-Joseph Falguiére zur Auswahl, diesen hochdotierten und ehrenhaften Auftrag auszuführen. Im Jahr 1891 wurde Emile Zola, ein Bekannter Rodins, zum Präsidenten der Société gewählt und ebnete ihm somit den Weg die Gestaltung des Denkmals für Honoré de Balzac zu übernehmen.[35] [36] Rodin sah sich nun mit der Aufgabe konfrontiert diesen nächsten Heroen der französischen Literatur, neben seinem Victor Hugo, selbstreferentiell und archaisch zu präsentieren und durch die Qualitäten des Denkmals die Erscheinung des Balzac in den öffentlichen Kontext einzubetten. Diese herausfordernde Tätigkeit meisterte Rodin in der geschickten Zerstückelung der Produktionsweise des Denkmals in verschiedene, simultan ablaufende Phasen der Formfindung. Sein erstes Konzept von 1891 stellte Balzac in einem zeitgenössischen Gewand, stehend und mit verschränkten Armen dar (Abb. 16). Dieser Entwurf zeigt einen gelassenen, ruhigen Balzac mit einem realistisch ausgeführten Kostüm, welches sich adäquat an die Auflagen für ein öffentliches Denkmal um die Jahrhundertwende anpasste. Der beschwingte Ausdruck in Balzacs Gesicht bezog sich wohl auf eine Beschreibung des Literaten von Alphonse de Lamartine:

„His legs on which he occaisonaly rocked a little, easily carried his body […] But the predominant characteristic of his face was the goodness it communicated […] It was a loving kindness aware of itself and others.“[37]

Somit war die erste Ausführung im Gedenken an einen sanftmütigen und wohlmeinenden Balzac orientiert, welcher sich idealisiert in sein öffentliches Umfeld integrieren konnte. Dadurch werden die formalen Qualitäten von Rodins bisherigen Auftragsarbeiten relativiert, was wahrscheinlich der Grund gewesen sein mag warum dieser erste Entwurf sich noch drastisch vom fertigen Produkt unterschied. Eines der eklatantesten Probleme während der Entstehung des Denkmals war das Arbeiten ohne ein Modell. Balzac war im Jahr 1891 bereits vor mehr als 40 Jahren verstorben und es existierte keine Totenmaske oder entsprechende Fotografien die ihn in all seinen Lebensphasen zeigten.[38] Rodin war daher gezwungen mit den Aufzeichnungen von Balzacs Schneider ein Gefühl für dessen Körperproportionen zu bekommen und sich nach der berühmten Daguerreotypie von Bisson zu orientieren (Abb. 17).[39] Balzacs markante Physiognomie, sein kräftig gebildeter, muskulöser Hals und sein ausdrucksvolles Gesicht, waren für Rodin Grund genug, in seinen späteren Studien, maßgeblich die Funktion des Kopfes als das zentrale Element der Skulptur einzusetzen. Durch die Anerkennung des Kopfes, als den Hauptaspekt im Denkmal, war Rodin mit seinem persönlichen, komplexen Portraitbegriff konfrontiert:

Er (der Bildhauer) muss die geistige Ähnlichkeit zum Ausdruck bringen können, darauf kommt es allein an. Der Bildhauer oder der Maler muss hinter der Ähnlichkeit der Maske die der Seele suchen. Kurz, alle Züge müssen ausdrucksvoll sein, das heißt, sie müssen helfen, seelisches Leben anschaulich zu machen. Tatsächlich beansprucht kaum eine andere künstlerische Aufgabe so viel Scharfblick wie die Büste und das Portrait.“[40]

Aus diesem Grund kann man Rodins Entwurf stilistisch nicht direkt mit zeitgenössischen Arbeiten wie der Büste von Faulgiére (Abb. 18) oder der Sphinx Statuette von Vasselot (Abb. 19) vergleichen, da sie die Struktur von Balzacs Ausdruck auf einer rein materiellen Ebene erfassten und somit den Qualitäten von Rodins Anspruch an das Portrait nicht gerecht werden konnten. Nach eigenen Angaben war er davon überzeugt, falls jemand eine Statue für Balzac anfertigen würde, dieser seine Arbeit zwangsweise der Büste von David d´Angres aus dem Jahr 1844 nachempfinden müsse (Abb. 20).[41] [42] Diese kurze Ausführung ist notwendig um die Konzeption für das finale Monument herleiten und in seinem Umfeld verstehen zu können.

Zu den Aufgaben der Denkmalplastik des 19. Jahrhunderts zählte es außerdem, ein würdiges Portrait des Dargestellten zu liefern und somit war er immer noch mit dem Problem konfrontiert, eine klare Körperform entwickeln zu können, die Balzac möglichst realistisch nachempfunden war.[43] Aus diesem Grund unternahm Rodin mehrere Reisen in Balzacs Heimatstadt Tours, um dort die Konstitutionstypen der Einwohner zu studieren. Auf seiner Fahrt begegnete ihm eine Person, die für Rodins zweiten Entwurf, den nackten Balzac, Modell stand (Abb. 21).[44] [45] Die gewaltige Aktstudie von 90cm zeigt Balzac mit gespreizten Beinen, verschränkten, triumphierenden Armen und seinem beachtlichen Leibesumfang in seiner ganzen Robustheit.[46] Die weit voneinander angeordneten Beine begrenzen einen, aus Balzacs Geschlecht dringenden Pfeiler, durch welchen die Silhouette der Figur an die Form einer Pik-Ass erinnern lässt (Abb. 22).[47] Bei diesem viel diskutierten Entwurf treten generell drei miteinander verbundene Probleme auf: Zum einen die Darstellung eines nackten Körpers in der Auftragsplastik, zweitens das Alter der dargestellten Person und das damit verbundene Körperproblem. Alle drei Aspekte treffen sich mit Rodins Vorstellung der Portraithaftigkeit, die bereits erwähnt wurde. Er stellte Balzac selbstbewusst in seiner unvorteilhaften, entidealsierten Erscheinung dar und verband diesen Aspekt mit einer Nacktheit, welche nach antikem Vorbild metaphorische Qualitäten versinnbildlicht und somit der ungünstigen Beschaffenheit des Körpers, durch diese Erweiterung seine artistische Wertigkeit zuspricht.[48] Die Nacktheit der Figur entwertet zugleich die Barriere des Alters, da Rodin seinen Balzac nicht in jungen Jahren sondern mit knapp 50 zeigt und dadurch jeglichen Bezug zu einem Heroen, aufgrund seiner mangelnden körperlichen Überzeugungskraft verliert. Wenn man nun den Aspekt des Alters mit der Umwandlung des Körpers vom alten Mann in eine antikisierte Idealfigur nach Rodins Portraitbegriff versteht, kann dem menschlichen Makel der Figur kein Vorwurf auf seine Unzulänglichkeiten erbracht werden, da sich die Person nicht als eine klassifizierte Darstellung einer Person sieht, sondern als verkleideter Held der Literatur in einem mythologischen Kontext, bedingt durch seine Nacktheit und Positionierung. Elsen betont unter anderem, dass diese Art der figuralen Transformation im Kontext einer Erweiterung vom barocken Verständnis über Ästhetik verstanden werden kann, welche den Körper als ein reiches, expressives Vehikel zur Abstraktion begreift. Balzac wird somit als Athlet im Geist dargestellt, der in seinem Genie nicht den Anspruch auf eine körperliche Idealvorstellung erhebt.[49]

Das finale Modell schuf Rodin im Jahr 1898. Dieses Bozzetto aus Gips zeigt Balzac in seiner berühmten Dominikanerkutte die er nach eigenen Angaben während des Schreibens zu Hause trug (Abb. 23). Dieser bekleideten Figur liegt der Akt F (Abb. 24,) mit am Gesäß überkreuzten, das Geschlecht streifenden Händen und gebeugtem Schritt, zugrunde.[50] Die Verwendung der Dominikanerkutte wurde bereits im Denkmal von Puttinati bearbeitet (Abb. 25), jedoch fehlt Rodins Ausführung vergleichsweise jegliche Statik in der Skulptur und die Drapierung der Kleidung unterscheidet sich nicht nur in der Art wie sie gestaltet wurde, sondern in ihrer kompletten Funktion. Caso verweist in Bezug auf die Konzeption der Kleidung auf einen Ausflug nach Burgund in den Jahren 1894-1895, bei welchem Rodin in Kontakt mit Trauerfiguren von Claus Sluter für das Grab von Phillipe le Hardi gekommen sein soll. Die Art wie mittelalterliche Kleidung bei sakralen Innenraumfiguren drapiert wurde, stellt laut Caso einen markanteren Einfluss als die zeitgenössischen Arbeiten zum Balzac Thema dar, weil sie sich in ihrer Beschaffenheit und Struktur weitaus ähnlicher sind.[51] Wie bereits erwähnt wurde, nimmt in der finalen Ausführung der Kopf von Balzac das Zentrum der Skulptur ein. Man kann die Büste von Falguiére, mit ihrer spielerisch naturalistischen Detailverliebtheit in keinen Vergleich zu Rodins Entwurf setzen. Er betont die Solidität des Kopfes und die klaren Abgrenzungen des Gesichts verlieren sich in bestimmten Partien vollständig. Das Kinn betont durch den nach hinten geneigten Kopf die Erhabenheit des Schriftstellers und geht mit dem Hals widerstandslos ineinander über. Die Haare sind strähnig um das Gesicht gelegt und bilden eine ungestörte Verdichtung mit den Ansätzen der Kutte an der Schulter. Das bestimmende Element des Gesichts ist laut Schneider Balzacs Lächeln welches sich in einem offenen Ausdruck von Glückseligkeit zeigt. Sie verweist hierbei auf Baudelaire welcher sich folgendermaßen zur Bedeutung des Lachens äußerte:[52]
Das Lachen kommt von der Idee der eigenen Überlegenheit […] der immer wiederkehrende Ausbruch seines Zorns und seines Leidens ist – verstehe man mich recht – die notwendige Resultante seiner widerspruchsvollen Doppelnatur.“[53]

Das Lachen Balzacs versteht sich somit als eine notwendige Konstante, die ihn durch seine Art definiert und in einen allmächtigen Zustand versetzt, mit dem man seine Natur beschreiben kann. Es ist daher notwendig auf jegliche allegorische oder überindividualisiert naturalistische Darstellung zu verzichten, da die Person des Balzacs nicht anhand seiner offensichtlichen Attribute in einem Denkmal abgebildet werden soll, sondern nur über die intensive psychologische Auseinandersetzung mit dem Menschen an sich und den in seinen Werk vorkommenden Figuren, welche ihn, durch die Arbeit in seinem Leben, exemplarisch beschreiben. Neben dem Gesicht tragen nur das Volumen und die Konturen der Köperform beziehungsweise der Kleidung den Inhalt und Ausdruck des Denkmals. Bothner beschreibt die Kleidung des Balzac mehr als denaturierte zweite Haut, welche nur dem plastischen Ausdruck der Skulptur dient. Die Positionierung des nicht sichtbaren Körpers übernimmt dadurch parallel zum Kopf die Existenz des Dargestellten und benötigt daher keiner weiteren allegorischen Untermalung.[54]

Balzac kann somit aufgrund seiner Inszenierung unmöglicher Weise direkt mit zeitgenössischen Arbeiten verglichen werden und es besteht ein gesonderter Zugang zu den Annahmen der Mythologisierung oder Verkleidung des Schriftstellers. Da Rodin diesen in seiner mächtigen Kutte darstellt, die symbolisch für Verzicht und Einsamkeit steht, bearbeitet er inhaltlich die geistige Abgeschiedenheit des Genies. Dieses Genie im Künstler spiegelt die immerwährende Glorifizierung der Person wider und Balzac wird nicht als Mönch betrachtet, sondern als umfassender Geist in einem symbolisch antiken Kostüm, welches seine Größe und geistigen Fähigkeiten auf subtile Art zeigt. Es besteht demnach eine Verkleidung und Sublimierung der Figur im Sinn einer mythologischen Erweiterung und Umwandlung der innerlichen Beschaffenheit der Person, da die Figur durch die Verhüllung des Gewandes in die Zeitlosigkeit gerückt und damit mythisiert wird.[55] Rodin näherte sich dem Thema der mythologischen Verkleidung bei seinem Balzac noch einmal auf eine besondere Art und Weise und zeigte ihn im übertragenen Sinne noch unumstößlicher als seinen Victor Hugo, da bei Balzacs finalem Monument gar keine Aneignung eines offensichtlich idealisierenden Typus mehr vorhanden ist und erst bei genauerer Identifizierung mit der Person die Glorifizierung an die Oberfläche dringt. Balzac steht nicht repräsentativ für einen Herkules oder eine göttliche Idealfigur sondern für einen Helden der Arbeit, welcher in seiner schlichten Verkleidung, sein Genie aus sich selbst schöpft und seine Verantwortung und Schaffenskraft dem Volk Frankreichs in Form seiner Literatur widmete.

Rodin stieß mit seinem letzten Entwurf für das Denkmal für Balzac stark an die Grenzen dessen, was das zeitgenössische Publikum vertragen konnte. Daher wurde das Denkmal von der Société auch wiederholt nicht akzeptiert. Rodin lehnte es aus verschiedenen Gründen ab, sein Werk zu Lebenszeiten in Bronze gießen zu lassen. Die Skandale rund um seinen Balzac führten sogar so weit, dass Rodin nachfolgend keinen öffentlichen Auftrag mehr angenommen hat. „ Never again would he take on a new monumental project and sucessfully bring it to completion. Balzac was Rodin´s best and last monument.“[56]

Resumée

Abschließend sollen nun die erarbeiteten Positionen zu Rodins Dichtermonumenten für Balzac und Hugo in ihrer Fülle auf einen gemeinsamen Aspekt hin analysiert werden, welcher zum einen die Bedeutung von Rodins Arbeiten für die Entwicklung der modernen Skulptur behandelt, sowie das Thema der mythologischen Verkleidung anhand dieser beiden Denkmäler noch einmal kurz skizziert und somit versucht, die forschungsleitende Frage zu beantworten.

Es wurde breit ausgeführt, dass Rodins radikales Verständnis von den Darstellungsqualitäten im Denkmal und im Portrait eine Fülle an Skandalen über ihn gebracht haben. Diese Skandalisierung seines Werks ist natürlich auf die neudefinierte Art der Formfindung und Präsentation wichtiger Persönlichkeiten in der Öffentlichkeit zurückzuführen. Für Rodin war es nicht mehr ausschlaggebend ein idealisiertes, möglichst naturalistisches Bild von einem Menschen abzuliefern, sondern seine Art und Weise der Lebensführung, die ihn auszeichnet, mit einer Monumentalität zu verbinden die seinem Stand und seiner Wirkungskraft gerecht wird. Daher ist es fragwürdig ob man bei dieser Art des Denkmals überhaupt von einem klassischen Denkmal reden kann, da ein Denkmal ein objektives Zeichen für die Nachwelt postuliert und dies bei Rodin nicht der Fall ist. Durch die starke Beschäftigung mit den darzustellenden Personen müsste man daher eher von einem Grabmal sprechen, welches von jemanden geschaffen wurde, der um die Person trauert und sie daher in all ihren Eigenheiten und spezifischen Charakteristika zeigt. Der Künstler schafft somit kein einfaches Bild, sondern begibt sich auf die Suche nach der Entschlüsselung des Charakters und wie man diesen in einer Plastik zum Ausdruck bringen kann. Man müsste hierbei also von einem emotionalen, individualisierten Zugang zu Produktion von Skulpturen im öffentlichen Raum sprechen.[57] Daher ist es auch wahrscheinlich falsch Rodins Arbeiten als eine fortschreitende Entwicklung zur allgemeinen Entidealisierung des Denkmals zu verstehen. Es handelt sich eher um eine gesonderte Platzierung des Begriffs des Ideals und um einen neuen Zugang zur formalen Darstellung. In diesem Kontext muss auch die Mythologisierung oder Verkleidung beziehungsweise Aufwertung der Skulpturen verstanden werden. Rodin richtet sich nun nicht mehr nach den historistischen Präsentationsformen, sondern erschafft einen individualisierten Weg, den Begriff des Ideals oder der Erhabenheit in seinen Arbeiten umzusetzen. Es geht nicht mehr um eine direkte Vergöttlichung aufgrund diverser Attribute in der Skulptur, sondern um den reinen künstlerischen Akt beziehungsweise die Symbiose zwischen Bildhauer und Schriftsteller die in beidseitigem Respekt zueinander stehen und um eine Darstellungsform, die keinem kanonisierten Ideal entspricht, sondern immer nur durch die persönliche Beschäftigung an der Person erreicht werden kann. Durch die Studie des Wesens, der Arbeit oder des Lebens der Person wird ein Konzept entworfen, dass den Menschen hinter dem Ideal zeigt und durch die Verschmelzung mit bedachten Instrumenten der indirekten Heroisierung ein Bild schafft, welches fernab von klassischen Vorstellungen rund um das Denkmal des 19. Jahrhunderts in Frankreich gedacht werden muss.

In kurzen Worten beschrieben, war genau das die Entwicklung der öffentlichen Auftragsplastik im anbrechenden 20. Jahrhundert, für welche Rodin als der maßgebliche Vertreter galt, und durch dessen Einwirken ein neues Formenvokabular entstehen konnte, dass nicht als eine reine Abkehr von jeglichen klassischen Idealen verstanden werden darf, sondern eher als eine Transformation des Denkmalductus, die amorphe, individualisierte und abstrakte Zugänge zu einer neuen Form der Skulptur im öffentlichen Raum ermöglichte.

[...]


[1] Anm.: Man muss auch bedenken, dass Rodin zeitgleich an zwei voneinander verschiedenen Skulpturen arbeitete. Zum einen an der Realisierten, welche im Palais Royal präsentiert wurde und zum Anderen an jener Apotheose für Hugo, die nie fertiggestellt wurde und sich an Jean-Antoine Injalberts Monument für Mirabeau orientierte. Es wird im Rahmen der folgenden Entstehungsphasen des Denkmals noch genauer darauf eingegangen werden. Vgl. Normand-Romain 2010, S. 83.

[2] Anm.. Das Pantheon wurde bereits in den Jahren 1791 und 1830 zu einer säkularen Gedenkstätte erklärt. Vgl. Pingeot 1990, S. 203-204.

[3] Vgl. Pingeot 1990, S. 203.

[4] Roos 1986, S. 641.

[5] Anm.: Für eine detaillierte Beschreibung rund um die Ausstattung des Pantheons, die beteiligten Künstler sowie die bürokratischen Prozesse für die Realisierung des Programms, siehe: Roos 1986.

[6] Vgl. Roos 1986, S. 642-643.

[7] Vgl. Butler 1993, S. 241.

[8] Vgl. Normaind-Romain 2010, S. 87-88.

[9] Normaind-Romain 2010, S.88.

[10] Anm.: Für eine gezielte und tiefgehende Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Michlangelos Werk in Rodins Oeuvre, siehe: Flavio Fergonzi / Maria M. Lamberti / Pia Ragionieri: Rodin and Michelangelo: A Study in Artisitc Inspiration, Florenz 1997.

[11] Schneider 1977, S. 244.

[12] Vgl. Esposito 2006, S. 224.

[13] Anm.: Welche Rolle dieser Umstand für die mythologische Verkleidung und die darstellerischen Qualitäten seines Victor Hugos hat, soll im abschließenden Kapitel diskutiert werden.

[14] Vgl. Normain-Romain 2010, S. 88.

[15] Vgl. Roos 1986, S. 637

[16] Vgl. Möller 1992, S. 44.

[17] Vgl. Pingeot 1990,208-210

[18] Vgl. Roos 1986, S. 633.

[19] Vgl. Manthey 2007, S. 61-62.

[20] Vgl. Roos 1986, S. 636-640.

[21] Elsen 1965, S. 165.

[22] Vgl. Möller 1992, S. 40.

[23] Anm.: Pigalles Voltaire wurde jedoch auch nicht von der Société de Beaux Art akzeptiert, vgl.: Butler 1993, S. 308.

[24] Möller 1992, S. 40

[25] Vgl. Möller 1992, S. 40-42.

[26] Butler 1993, S. 308.

[27] Vgl. Schneider 1977, S. 251-252.

[28] Vgl. Garnier 2007, S. 256.

[29] Normand-Romain 2010, S. 96.

[30] Vgl. Pingeot 1990, S. 207.

[31] Vgl. Normand-Romain 2010, S. 96-98.

[32] Vgl. Pingeot 1990, S. 209-211.

[33] Rainer Maria Rilke 1966 zitiert nach Pingeot 1990, S. 210.

[34] Anm.: Diese Vereinigung - gegründet von George Sand, Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Victor Hugo, Théophile Gautier etc. – entstand während der Julimonarchie und sah ihre Verantwortung darin, den Schriftstellern die Rechte ihrer eigenen Publikationen zu sichern. Vgl.: Butler 1993, S. 252.

[35] Vgl. Levkoff 1994, S. 102-106.

[36] Anm.: Zur Vertiefung in die Vorgeschichte rund um das Denkmal für Balzac und die damit einhergehenden Konflikte unter den Künstlern die vor Rodin an diesem Auftrag arbeiteten, siehe: Caso 1964.

[37] Lamartine zitiert nach Levkoff 1994, S. 104.

[38] Anm.: Puttinati fertigte im Jahr 1837 eine kleine Marmorstatuette von Balzac an, es ist jedoch nicht überliefert ob Rodin diese gekannt hat.

[39] Vgl. Elsen 1967, S. 606-607.

[40] Rodin zitiert nach Gsell 1916, S. 95.

[41] Vgl. Elsen 1967, S. 607.

[42] Anm.: D´Angres gestaltete auch Medaillen und Münzen mit Balzacs Profil zu dieser Zeit, welche jedoch in der Wissenschaft keine intensive Beachtung fanden.

[43] Vgl. Schneider 1977, S. 283.

[44] Vgl. Lampert 2006, S. 100.

[45] Anm.: Das Modell war ein Kutscher aus Tours und ist der Wissenschaft nur als Estager bekannt.

[46] Anm.: Es existieren jedoch mehrere Ausführungen in verschiedenen Körperhaltungen.

[47] Vgl. Lampert 2006, S. 100-102.

[48] Vgl. Elsen 1967, S. 611.

[49] Vgl. Elsen 1967, S. 616.

[50] Vgl. Lampert 2006a, S. 241.

[51] Vgl. Caso 1964, S. 282.

[52] Vgl. Schneider 1977, S. 282-283.

[53] Baudelaire zitiert nach Schneider 1977, S. 283.

[54] Vgl. Bothner 1993, S. 38.

[55] Vgl. Möller 1992, S. 48.

[56] Butler 1993, S. 329.

[57] Vgl. Möller 1992, S. 53.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956845093
ISBN (Paperback)
9783956840098
Dateigröße
6.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Plastik Moderne Skulptur Klassische Moderne Torso Historismus Frankreich

Autor

Bakk. phil. Daniel Lippitsch B.A., wurde 1990 in Klagenfurt geboren. Er studierte Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaften und Internationale Betriebswirtschaft an der Universität Wien. Bereits während des Studiums sammelte der Autor umfassende praktische Erfahrungen in der Kunstbranche und schreibt aktuell für das Onlinemagazin Art&Signature. Seine Schwerpunkte liegen auf den Problemen der Gegenwartskunst, der zeitgenössischen Fotografie und den Mechanismen des Kunsthandels.
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Titel: Auguste Rodins Dichterdenkmäler: Victor Hugo und Honnoré de Balzac
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