Paradoxe Ordnung: Dekonstruktivismus des Rechts
Zusammenfassung
All diesen Fragen soll anhand von Ingeborg Bachmanns Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ nachgegangen werden. Vor allem durch das Werk „Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autoriät«“ von Jacques Derrida zeigt sich, dass die bestehende Rechtsordnung nicht so sicher und unumstößlich ist, wie es zu sein scheint. Letztendlich tun sich innerhalb der Rechtsordnung unerwartet Paradoxien auf, die möglicherweise eine Erklärung für den Ausgang des Hörspiels liefern.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
5. Die Liebe ̶ Das Mittel zur Destruktion sozialer Ordnung
„RICHTER: […] Damit ein natürliches und gesundes Empfinden ̶ GUTER GOTT: ̶ etwa zu seinem Recht kommt? Aber es ist weder natürlich noch gesund. Sie umarmten einander und dachten schon an die nächste Umarmung. Sie gaben einem Verlangen, das von der Schöpfung nicht so gedacht sein kann, mit einer Laune nach, die ernsthafter war als jeder Ernst, und schwuren sich Gegenwart und sonst nichts, […].“[1]
Die Einstellung des guten Gottes scheint eindeutig. Die Liebe in ihrer vollkommensten und schönsten Form ist für ihn alles andere als wunderbar. Für den guten Gott stellt sie eine besonders schlimme Bedrohung für die Ordnung dar, eine furchtbare Gefahr für die Gesellschaft. Das beste Gefühl der Welt wird hier zum Gegner der Ordnung erklärt und damit auch zum Feind des guten Gottes.
Auf den ersten Blick gewinnt man den Eindruck, als hätte Ingeborg Bachmann lediglich diesen Kontrast Liebe ̶ Ordnung gewählt, um scharfe Kritik an der Welt üben zu können, an all ihren Regeln und Gesetzen. Eine Gesellschaft, in der die höchste Form von Liebe keinen Platz hat, in der Menschen, die anders denken, fühlen und handeln nicht mehr Teil der Gemeinschaft sind. Eine Ordnung, die gnadenlos ist, gegen die man sich nicht wehren kann und am Ende scheitern muss. Das Streben nach dem Unmöglichen, dem „anderen Zustand“, ist zum Untergang verdammt.[2] Selbst Ingeborg Bachmann gesteht ein, „daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen.“[3]
Allerdings wird man schnell erkennen, dass es nicht nur um eine bloße Gesellschaftskritik geht. Wie die Figuren, ist auch die Ordnung, die hier dargestellt wird, keinesfalls klar und eindeutig. Sie ist geprägt von tiefen und komplexen Widersprüchen. Das soziale Leben wird von Paradoxien bestimmt und genau darum soll es sich in den folgenden Kapiteln drehen. Zunächst wird der Handlungsort Manhattan eine Rolle spielen. Dort ist die Ordnung verankert, die für den guten Gott enorm wichtig ist. Die Stadt präsentiert sich als der Bewahrer von Sicherheit und bildet den Hort der Gesellschaft. Da sich die Ordnung in der Großstadt befindet, wird diese als Erstes gründlicher untersucht. Anschließend erfolgt die genauere Betrachtung der Liebe, das heißt, wie sie dargestellt wird und warum sie nach Meinung des guten Gottes die soziale Ordnung gefährdet.
5.1. Der Schauplatz Manhattan
Der gute Gott hat präzise Vorstellungen davon was Ordnung bedeutet und warum es so wichtig ist, sie mit allen vorhandenen Mitteln zu verteidigen. Ebenso verfügt er über konkrete Ansichten, was die Liebe angeht und was die Menschen betrifft, die sich diesem Gefühl hingeben. Er verteidigt die Ordnung und positioniert sich aufseiten der Gesellschaft bewusst gegen die absolute Liebe. Das Leben in der Ordnung, innerhalb von Regeln und Gesetzen, ist besser als jede Utopie. Selbst wenn das bedeutet niemals völliges Glück und uneingeschränkte Freiheit genießen zu können. Aus der Welt und der Gesellschaft auszubrechen, stellt in seinen Augen ein Vergehen dar. Die Liebenden sind seiner Meinung nach Kriminelle, die in der Großstadt ihr Unwesen treiben und dafür bestraft werden müssen.
Im Folgenden geht es nun darum zu zeigen, wie genau die Welt im Hörspiel aussieht. Zudem wird untersucht, ob sich in ihr bereits erste Anzeichen von Ordnung wiederfinden lassen.
Durch den Titel wird bereits impliziert, wo die Handlung stattfindet. Ähnlich zu „Malina“ ist es wieder eine Großstadt,[4] in der alles entschieden werden soll. „[…] New York City, den … August, neunzehnhundertund … fünfzig … […].“[5] Diese Angaben macht der Richter zu Beginn des Hörspiels. Eine Großstadt als Schauplatz von Ordnung und Recht. Ein Ort für Leichtfertige und Gelangweilte, für Einsame und Verlorene sowie für Kameradschaften und wirtschaftliche Interessengemeinschaften.[6] In einer Stadt dieser Größe ist Ordnung notwendig. Um Chaos zu verhindern, gibt es spezielle Instanzen, zu denen auch der Richter und der Polizist in Ingeborg Bachmanns „Der gute Gott von Manhattan“ gehören. Die Bürger müssen sich an Regeln und Gesetze halten, damit ein reibungsloses Miteinander gewährleistet ist. Wer dagegen verstößt, wird zur Rechenschaft gezogen.
„GUTER GOTT: Der Tag war da. In allen Senkrechten und Geraden der Stadt war Leben, und der wütende Hymnus begann wieder, auf die Arbeit, den Lohn und größren Gewinn. Die Schornsteine röhrten und standen da wie Kolonnen eines wiedererstandenen Ninive und Babylon, und die stumpfen und spitzen Schädel der Gigantenhäuser rührten an den grauen Tropenhimmel, der von Feuchtigkeit troff und wie ein unförmiger ekliger Schwamm die Dächer näßte. Die Rhapsoden in den großen Druckereien griffen in die Setzmaschinen, kündeten die Geschehnisse und annoncierten Künftiges. Tonnen von Kohlköpfen rollten auf die Märkte, und Hunderte von Leichen wurden in den Trauerhäusern manikürt, geschminkt und zur Schau gestellt.
Unter dem Druck hoher Atmosphären wurden die Abfälle vom vergangenen Tag vernichtet, und in den Warenhäusern wühlten die Käufer nach neuer Nahrung und den Fetzen von morgen. Über die Fließbänder zogen die Pakete, und die Rolltreppen brachten Menschentrauben hinauf und hinunter durch Schwaden von Ruß, Giftluft und Abgasen. […] Und die Menschen fühlten sich lebendig, wo immer sie gingen, und dieser Stadt zugehörig ̶ der einzigen, die sie je erfunden und entworfen hatten für jedes ihrer Bedürfnisse […].“[7]
Greift man nun Stellen heraus, wie „wütender Hymnus“, „stumpfe […] und spitze […] Schädel“, „graue […] Tropenhimmel“, „Leichen wurden […] zur Schau gestellt“ oder „Schwaden von Ruß, Giftluft und Abgasen“, dann erhält man kein positives Bild von New York durch den guten Gott. Die Stadt, in der alles möglich ist, wird keineswegs von ihrer schönsten Seite gezeigt.
Zugleich verbirgt sich in diesem Abschnitt aber auch eine Anspielung auf die Ordnung, die für das Funktionieren einer Stadt und der Gesellschaft wichtig ist. Erkennbar ist dieses in Passagen wie „der wütende Hymnus begann wieder, auf die Arbeit, den Lohn und größren Gewinn“, „Tonnen von Kohlköpfen rollten auf die Märkte“, „die Abfälle vom vergangenen Tag [wurden] vernichtet“ oder „die Rolltreppen brachten Menschentrauben hinauf und hinunter“. Sie beschreiben nicht nur das Stadtleben, sondern auch eine gewisse Regelhaftigkeit. Jeden Tag aufs Neue beginnen Menschen ihre Arbeit, vollziehen wieder und wieder die gleichen Handlungen. Keiner von ihnen weicht scheinbar im größeren Ausmaß von der Norm ab. Die meisten halten sich an die Regeln, die ihnen vorgegeben werden. Die Händler sorgen mit ihren Kohlköpfen und anderen Nahrungsmitteln für die Versorgung der Bürger, die Arbeiter in den Druckereien versorgen die Menschen mit dem aktuellsten Tagesgeschehen. Durch ihre Tätigkeiten halten sie die Ordnung aufrecht und bewirken, dass die Gesellschaft, in der sie leben, funktioniert und kein Chaos ausbricht. Die Bürger sind sich bewusst, dass Ordnung wichtig ist, damit jeder ein geregeltes und sicheres Leben führen kann.
Zum Beispiel ist die Frau aus dem Stundenhotel sehr erbost darüber, dass sie durch Jan und Jennifer nicht wie gewohnt ihrer Arbeit nachgehen kann. Nach der Hotelvorschrift muss das Zimmer bis mittags geräumt werden, damit das Personal den Raum anschließend reinigen kann.[8] Die Frau versucht sich strikt an die Vorgaben des Hotels zu halten, denn sie weiß, dass ihr bei Zuwiderhandeln die Kündigung drohen kann. Auch der Polizist, ein Hüter von Recht und Gesetz, ist zuallererst bestrebt seiner alltäglichen Arbeit nachzugehen. „[…] Zuerst [muss ich] die Kinder da über die Straße führen. Dann reden wir weiter, […].“[9] Alles der Reihe nach, alles geordnet und gesittet.
Ganz wichtig sind hierbei auch die Stimmen, die Ingeborg Bachmann in ihr Werk einflechtet. Sie verweisen an mehreren Stellen auf Regeln, die besser befolgt werden, da bei Entgegenhandeln schlimme Konsequenzen drohen. Somit ist es wichtig, dass man bei grünem Licht die Straße überquert und bei rotem Licht stehenbleibt. Sie warnen zudem am Anfang davor, einem solchen Gefühl, wie es Jan und Jennifer erleben, nachzugeben. Immer wieder beschwören sie zur Umkehr, zum Aufgeben, bevor es zu spät ist. Die Stimmen fordern, sich der Welt und der Gesellschaft zu offenbaren, anstatt völlig aus ihr auszutreten. Am Ende des Hörspiels sehen auch sie nur noch ein einziges Mittel, um die Ordnung aufrechtzuerhalten ̶ die Gewalt. Ob Bomben oder Raketen, nun gibt es keine Gnade mehr für diejenigen, die sich nicht an die Regeln halten. Jetzt zählt nur noch die Verteidigung der Ordnung.[10]
Letztendlich ist es das Individuum, das in der Großstadt unwichtig wird. Weder der Polizist, die Hotelfrau noch die Stimmen haben Zeit und Verständnis für Jan und Jennifer. Sie sind zwei Figuren, die in ihrer eigenen Welt leben, sich aus der bisherigen Gemeinschaft ausschließen und damit keinen Anspruch mehr auf Hilfe haben. „Glück, Freiheit, Freude und individuelle Selbstverwirklichung haben in [der Welt] wenig Chancen.“,[11] so Claus Reinert. In dieser Gesellschaft, die eigentlich alles andere als schön ist, sondern grau, monoton und trist, sind die Liebenden eher unerwünscht. Natürlich gibt es Menschen, die vielleicht ab und an etwas abweichen von dem, was der gute Gott unter Ordnung versteht, aber das ist erlaubt. Er sagt selbst, dass ihm die Menschen egal sind, die nur ein schnelles Abenteuer erleben möchten oder sich leichtfertig einer Sache hingeben. Solange sie „[…] noch unter dem Gesetz […]“ sind und nach jenem handeln,[12] ist alles in Ordnung.
Die Welt und die Menschen, die in ihr leben, werden als kühl und unfreundlich präsentiert. Bettler haben in dieser Gesellschaft genauso wenig Platz, wie die Liebenden oder die Zigeunerin, denn sie sind nicht mehr Teil der Ordnung oder der Gemeinschaft.[13] Der erste Widerspruch zeigt sich nun in der Verteidigung dieser Welt. Das Leben, das strikt den Regeln und Gesetzen folgt, ist wichtiger als jenes, das nach absoluter Liebe, Freiheit und Glück strebt. Die Stadt, die ihren Bürgern vorschreibt, wie sie zu leben, zu handeln, zu denken und zu fühlen haben, ist der Ort, der gesichert werden muss. Beschützt vor solchen, die einen Austritt daraus wagen.
Dieser erste Widerspruch gab einen Anstoß für viele Arbeiten, Diskussionen und Studien zum Hörspiel. Ingeborg Bachmann ist laut Horst Bienek „eine Autorin, die Unruhe in die Welt bringt, den Leser verstört und verwirrt […]. Ihre Prosa ist ein Gefängnis; mit schönen poetischen Lockbildern lädt sie den Leser ein, aber dann erspart sie ihm nichts, er muß durch das Fegefeuer quälender Gedanken und Reflexionen hindurch […]“,[14] schreibt Bienek weiter. Um die Verwirrung und Verstörung beseitigen zu können, um auf die vielen offenen Fragen Antworten zu finden, muss man sich mit dem Hörspiel auseinandersetzen. Anders ist es kaum möglich aus dem „Gefängnis“ zu entkommen. Das führt letztendlich dazu, dass man sich allen Paradoxien, mit denen man hier konfrontiert wird, stellen muss.
5.2. Die Liebe als Gefahr für Leben und Ordnung
Um den guten Gott und seine Tat besser verstehen zu können, wird zunächst die Liebe gründlicher beleuchtet. Man muss sich hier die Frage stellen, warum sie angeblich gefährlich ist. Zudem ist wichtig zu erfahren, wieso die Liebenden mit ihrem Verhalten eine scheinbare Bedrohung darstellen.
Zu Beginn der Erzählung beschreibt der gute Gott „die Gefahr“, die „im Verzug“ ist nur mit einem mysteriös klingenden „es“.[15] Im weiteren Verlauf wird der gute Gott allerdings konkreter. Er zeigt am Anfang, wie „es“ beginnt und langsam immer stärker wird. Er beschreibt ganz bestimmte Anzeichen, die charakteristisch für diese Gefahr sind. Ebenfalls erfährt man, wie diese geheimnisvolle Bedrohung von Jan und Jennifer Besitz ergreift und sie zu vermeintlichen ‚Tätern‘ macht. Die Darstellungen, die durch den guten Gott erfolgen, sind erste Hinweise auf eine vermeintliche Destruktion der Ordnung.
Die Liebe in ihrer höchsten und vollkommensten Form unterminiert die Ordnung. Sie fängt an sie zu zerlegen, zu zergliedern und schleichend aufzulösen bis nichts mehr von ihr da ist. Jedoch ist nicht jeder Zustand von Liebe gefährlich. So sind die Nachbarn mit ihren fünf Kindern oder die Jugendfreundin, die mit einem Arzt zusammen ist,[16] keine Bedrohung für die Ordnung oder die Gesellschaft. Nur die absolute Liebe muss aufgehalten werden, denn sie brennt, „[…] wie ein glühendes Zigarettenende […] ein Loch [in die verkrustete Welt]. […].“[17] Die Aussage des guten Gottes zeigt die angebliche Gefährlichkeit, die von der Liebe ausgeht. Was unbedingt verhindert werden muss, ist, dass eventuell Chaos ausbricht. „[…] Der Gang aller Dinge [muss] der bleib[en], den [alle] bevorzugen.“,[18] sagt der gute Gott, um sich zu rechtfertigen. Jürgen Kriz bemerkt hinsichtlich der Gegenüberstellung von Ordnung und Chaos:
„Wir mögen ein noch so festes Bollwerk aus Sicherheit, Vertrautheit, Regelmäßigkeit und Ordnung aufgebaut haben: Unversehens zeigen sich Risse in den Fassaden. Träume, allzu großer Streß, Schicksalsschläge oder einfach eine unerklärliche Sensibilität können zu Erschütterungen führen, durch die eine Gedanken- und Empfindungsflut über uns hereinbricht und unsere Alltagsordnung in einem gewaltigen Strom in den Abgrund zu reißen droht.“[19]
Der gute Gott weiß ebenfalls um diese Risse und ihm ist klar, wie sie entstehen. Allein die Stellung eines Uhrzeigers, ein bestimmter Ort, eine spezielle Musik können Anzeichen für die ersten winzig kleinen Spalten sein. Alles Hinweise auf eine beginnende Zerstörung. Vergrößert werden sie zum Beispiel durch ein ganz rücksichtsloses Lachen, das zwar in der Öffentlichkeit stattfindet, aber diese dennoch nicht mit einbezieht. Die stummen Umarmungen der Liebenden finden noch innerhalb der Ordnung statt, sind aber ebenso Vorboten der Destruktion, wie das Lachen.[20]
Dass es nur Hinweise oder Anzeichen gibt und keine wirkliche Vernichtung der Ordnung, durch die Liebe stattfindet, dafür sorgt der gute Gott. Er merzt die nahende Gefahr aus, bevor sie großen Schaden anrichten kann. Dazu kommt noch, dass neben einer Bedrohung für die Ordnung die Liebe auch eine gefährliche Sache für das Leben der anderen Menschen darstellt. Nach Meinung des guten Gottes ist die Liebe „[…] verderblicher als jedes Verbrechen, als alle Ketzereien. […].“[21] Bürger, wie die Frau aus dem Stundenhotel, der Polizist, der Zeitungsverkäufer oder der Richter, sind Teil der Gesellschaft und müssen beschützt werden. Der gute Gott versucht daher schnell zu reagieren und eine solche Liebe, wie die von Jan und Jennifer, sofort im Keim zu ersticken. Ohne sein Eingreifen wäre es vielleicht zur endgültigen Destruktion gekommen und die Ordnung würde verschwinden.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass in den Augen des guten Gottes die Liebe etwas Verwerfliches ist. Sie löst die Ordnung langsam auf, nutzt dazu ihre „[…] Strahl- und Brandkraft, die alles zersetz[t] und die Welt in Frage stell[t]“.[22] Zudem entzieht sie sich der Öffentlichkeit und damit der Ordnung und den überwachenden Instanzen. Er bannt sie, indem er Jennifer tötet und somit verhindert, dass sich die absolute Liebe verbreiten kann. Der bereits erwähnte Widerspruch bleibt damit aber bestehen, denn Liebe ist natürlich nicht das Böse, das versucht die Ordnung und die Welt zu zerstören. Alle negativen Darstellungen der Liebe erfolgen durch den guten Gott. Damit erhält man eine relativ einseitige Beschreibung. Allerdings zeigt sich schon hier, dass hinter der Verteidigung von Ordnung mehr steckt als irrtümliche Ansichten eines „alten Mann[es]“.[23]
„Ihre Sätze sagen ätzende Wahrheiten und beklemmende Einsichten.“,[24] so Bienek über Ingeborg Bachmann. Viele ihrer Werke hinterlassen diesen Eindruck beim Publikum, so auch „Der gute Gott von Manhattan“, und es wird versucht, diesen auch in der vorliegenden Arbeit nachzuweisen. Doch bisher ist noch ungeklärt geblieben, inwiefern die Liebenden selbst mit ihrem Verhalten zur Gefährdung der Ordnung beitragen. Die Beobachtung der beiden Verliebten ist deshalb wichtig, weil die vollkommene Liebe in den Liebenden entsteht und heranwächst und das Paar damit zum ‚Träger‘ der vermeintlichen Destruktion wird.
5.3. Der Austritt aus aller Ordnung
„GUTER GOTT: […] Denn die hier lieben, müssen umkommen, weil sie sonst nie gewesen sind. Sie müssen zu Tode gehetzt werden ̶ oder sie leben nicht. […].“[25]
Mit dieser Aussage beschreibt der gute Gott die Zwangslage, in der die beiden Liebenden stecken. Um den Zustand vollkommener Glückseligkeit zu erreichen, müssen sie die Welt und ihr bisheriges Leben verlassen, das heißt sie müssen sterben. Impliziert wird damit, dass ein Austritt aus aller Ordnung die einzige Möglichkeit ist, Freiheit zu erlangen. Der endgültige Übergang von der Welt der Ordnung in die „Gegenzeit“ ist nur durch den Tod zu erzielen.[26] Verbleibt man in der hiesigen Welt unterliegt man auch Regeln und Gesetzen. Doch der Tod ist nur das letzte Mittel, um den „anderen Zustand“ zu erreichen.[27] Zwischen der ersten Begegnung von Jan und Jennifer und dem Tod der Frau gibt es allerdings noch mehr Hinweise darauf, dass sich die Liebenden der „Gegenzeit“ annähern.
Das erste Anzeichen dafür bilden die Entscheidungen Jans, die er im Laufe des Hörspiels trifft. Ihm wird mehrmals die Möglichkeit gegeben, alles wie ein reines Abenteuer, ein kleines Vergnügen zu behandeln und dann seiner Wege zu gehen. Diese „Reisebekanntschaft[…]“,[28] wie der Richter es nennt, wäre auch im Sinne des guten Gottes nicht gegen die Ordnung und müsste daher auch keinesfalls geahndet werden. Aber die Entscheidungen, die Jan immer wieder trifft, ob bewusst oder unbewusst, bewirken eine langsame Annäherung an die vollkommene Liebe. Mit Entscheidungen sind hier folgende Passagen gemeint:
„JAN nach kurzem Nachdenken: Hören Sie ̶ […] Flieder steht Ihnen nicht. Wie alt sind Sie?“
„JAN: Ein Brief vom Eichhörnchen? JENNIFER endgültig: Kein Brief vom Eichhörnchen.“
„JAN laut, dann lauter und zuletzt in Verzweiflung: Jennifer! ̶ Jennifer! ̶ Jennifer!“
„JAN: […] Du wirst warten und nicht mehr weinen, wenn ich jetzt geh ̶ nur um die Schiffskarte zurückzugeben, um für immer das Schiff fahren zu lassen. […].“[29]
Jeder dieser Abschnitte birgt eine Entscheidung Jans in sich, Jennifer nicht zu verlassen, sondern die Beziehung zu vertiefen und bei ihr zu bleiben. In der ersten Aussage erfährt man, dass Jan sich, obwohl er dieses gar nicht vorhatte, doch dazu entschließt Zeit mit Jennifer zu verbringen. Als Jennifer meint, in ein fliederfarbenes Taxi zu steigen und dass Jan ein weiß-blaues nehmen wird, antwortet er darauf, dass Flieder nicht das Richtige für Jennifer wäre.[30] Somit geht er letztendlich auf Jennifers Kontaktversuche ein. Dadurch, dass er seine Entscheidung überdenkt und nicht einfach fortgeht, beginnt die erste winzige Annäherung an die „Gegenzeit“.[31] Erst durch die Handlung Jans wird es überhaupt möglich, dass sich etwas wie Liebe zwischen den beiden entwickeln kann. Allerdings muss man sagen, dass Jan zunächst nur auf ein Abenteuer aus ist. Er hat nicht vor etwas Ernsteres mit Jennifer einzugehen, sondern möchte nur die Zeit überbrücken, die er vor dem Auslaufen des Schiffes hat.
Die zweite Textstelle bezieht sich auf den Tag, nachdem sie eine Nacht in einem Stundenhotel verbracht haben. Für Jan ist das Abenteuer zu Ende und er denkt an Abschied. Jennifer, sehr unglücklich darüber, lässt Jan deutlich spüren, dass sie eigentlich mehr erwartet hätte, als nur ein kurzes sexuelles Vergnügen. Jan tut seine Haltung schließlich leid und er versucht sich durch die Frage, sensibel und gut zuredend, wieder Jennifer anzunähern.[32] Ein zweites Mal überdenkt Jan seinen Entschluss und verlässt Jennifer doch nicht. Er hätte einfach gehen können, doch er tut es nicht und so kommt man an den „anderen Zustand“ wieder etwas heran.[33] Das erkennt auch, im Gegensatz zum Richter, der gute Gott und weist diesen daraufhin, dass „es“ anfängt und nun „Gefahr im Verzug“ ist.[34]
Der dritte Abschnitt deutet auf eine noch stärkere und schnellere Annäherung hin. Beide haben nun etwas Zeit zusammen verbracht. Sie schlendern durch die Stadt, gehen in Bars und schauen sich Sehenswürdigkeiten an. Sie checken in ein neues Hotel ein und verbringen dort wieder die Nacht zusammen. Danach soll es eigentlich erneut zum Abschied kommen. Jennifer, nicht glücklich darüber, willigt dennoch ein und verlässt noch vor Jan das Hotel. Jedoch ergreift dieser wieder die Initiative und läuft ihr hinterher. Er sucht sie auf der Straße, fragt einen Zeitungsverkäufer und einen Polizisten nach ihr. Schließlich findet er sie und ist furchtbar verärgert darüber, dass sie es einfach gewagt hat fortzugehen.[35] Jan wird sich bewusst, dass es längst mehr ist als ein Abenteuer. Er ist sich zwar noch nicht klar darüber, was ihn dazu gebracht hat hinter Jennifer herzulaufen, aber er merkt, dass es stark ist. Zudem wird ihm klar, dass er sie nicht verlieren will.
Die letzte Passage zeigt das kurz bevorstehende Finale auf. Beide wollen nun ewig zusammenbleiben. Jan hat durch Jennifer erkannt, wie großartig und wunderbar die Liebe sein kann. Er möchte sie nie wieder verlassen, sondern für immer mit ihr zusammen sein, auch wenn das den Tod, das Ende, bedeuten sollte.[36] Hier offenbart sich, wie nah beide dem „anderen Zustand“ gekommen sind.[37] Eigentlich bleibt nur noch der Tod als letzter Schritt übrig. Allerdings kommt es zum Schluss dann doch anders. Jennifer stirbt allein, erreicht als Einzige die vollkommene Liebe. Eine erneute Entscheidung Jans führt zu dem vorliegenden Ende. Anstatt wie vereinbart die Schiffskarte zurückzugeben, kehrt Jan in eine Bar ein, um ein bisschen Zeit für sich zu haben. Währenddessen fliegt Jennifer durch die Bombe des guten Gottes in die Luft.[38] Ob Jan sich mit dem Besuch der Bar bewusst gegen Jennifer und die absolute Liebe entscheidet, wird nicht deutlich. Fest steht, dass durch seinen letzten Entschluss Jennifer alleine stirbt und er sozusagen davon kommt. „Er war gerettet. Die Erde hatte ihn wieder. […].“,[39] resümiert der gute Gott.
Die Entscheidungen Jans tragen einen entscheidenden Anteil zum Handlungsablauf bei. Ohne sie wäre es nie zu einer Annäherung an den „anderen Zustand“ gekommen.[40] Zwar ist Jennifer diejenige, die Jan dazu bringt, immer wieder seine Vorhaben zu überdenken und sich für sie zu entscheiden, aber es liegt allein in seiner Hand, ob er es auch wirklich tut.
Neben den Entschlüssen, die Jan im Laufe der Erzählung trifft, spielt auch das Stockwerk der Hotels eine wichtige Rolle. Im Hörspiel wechseln die beiden insgesamt vier Mal die Etagen. Zu Beginn haben sie das Zimmer Nummer eins im Erdgeschoss des Stundenhotels. Dann wechseln sie ins Atlantic Hotel und zugleich ins 7. Stockwerk. Anschließend ziehen sie noch zwei Mal um, vom 7. ins 30. und von dort in die 57. Etage.[41] Der letzte Umzug wird durch die zwei Helfer des guten Gottes, die Eichhörnchen Billy und Frankie, eingeleitet.[42]
Der Aufstieg von Stockwerk zu Stockwerk ist zu vergleichen mit einem Weg zum „anderen Zustand“.[43] Je höher die Liebenden kommen, desto mehr nähern sie sich der vollkommenen Liebe und der völligen Freiheit an. Am Anfang sind sie, wie schon gesagt, in einem Zimmer im Erdgeschoss. Ein schmutziges und finsteres Zimmer, das keinen angenehmen Aufenthalt verspricht.[44] Dieser Raum im Parterre ist sozusagen auf gleicher Höhe wie die Welt außerhalb des Hotels. Man befindet sich quasi mitten in ihr und innerhalb aller Ordnung. Eine Welt, die vielleicht genauso schmutzig ist und von „feuchter Zuckerluft“ klebt[45] wie das Zimmer. Jennifer ist alles andere als begeistert von dem Raum und dem Hotel. Jan allerdings stört das weniger. Er erkennt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass für ein absolut glückliches Dasein der Abstand zur Welt nötig ist. Doch auf dieser Ebene gelingt es nicht, eine Distanz zur Ordnung aufzubauen. Das siebente Stockwerk im Atlantic Hotel ist da schon etwas besser. Das zeigt sich vor allem an Jennifers Reaktion:
„JENNIFER in das Fluggeräusch hinein, selig: Auffahrt! Was für eine Auffahrt! Meine Ohren spüren´s. Und du wirst sehen, was es oben gibt: eine Luftmaschine mit kalter Luft, viel Wasser und Sauberkeit jede Stunde.“[46]
Schon ein wenig weiter oben ist die Sommerhitze nicht mehr ganz so schwer zu ertragen. Die Auffahrt mit dem Fahrstuhl kann man auch sinnbildlich als den langsamen Aufstieg hin zur Liebe bezeichnen. Das nächste Stockwerk ist das Dreißigste. „[Dieses] ist natürlich besser als siebentes, und beides ist sehr viel besser als zu ebener Erde zu wohnen. Besonders hier.“,[47] bemerkt der Richter. Dem stimmt auch der gute Gott zu.[48] Nur das Wissen um die Bedeutung einer höheren Etage ist bei beiden nicht gleich. Der Richter sieht in dem Stockwerk nur die Möglichkeit, noch besser der Hitze, dem Schmutz sowie dem Lärm zu entkommen. Der gute Gott allerdings weiß, dass ein höheres Stockwerk die Liebenden dichter an die „Gegenzeit“ heranbringt.[49] Der letzte Stock des Hotels ist der Siebenundfünfzigste. Der Einzug dort wurde speziell vom guten Gott arrangiert. Der Richter versteht nicht ganz, wozu das Ganze dienen soll.
„RICHTER: Was für ein Manöver, dieser Umzug! Dachten Sie, oben unbemerkter handeln zu können? GUTER GOTT: Nein, nur rascher. Ich trieb nur die Dinge voran, die nicht mehr aufzuhalten waren.“[50]
Auch hier zeigt sich wieder das unterschiedliche Verständnis bezüglich der Stockwerke vom Richter und gutem Gott. Ersterer sieht keinen Grund für eine Beschleunigung der Vorgänge, doch letzterer ahnt, dass er nun sehr schnell reagieren muss, bevor es zu spät ist und die Gefahr auszuufern droht. Solange sich die Liebe in der Welt befindet, stellt sie eine Bedrohung dar. Diese kann nur gebannt werden, indem man die Liebe regelrecht aus der Welt schafft, also die Liebenden tötet. Die Liebe darf sich keinesfalls innerhalb der Ordnung ausbreiten, da sie sie destruieren würde. Zwar hat man es immer mit einer abgeschwächten Form der absoluten Liebe zu tun, da die höchste Stufe nur mit dem Tod erreicht werden kann, aber diese reicht bereits aus, um die Ordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern und eventuell sogar aufzulösen.
Damit wurden bisher zwei Punkte angesprochen, die zeigen, wie sich die Liebenden dem „anderen Zustand“ langsam annähern.[51] Zum einen durch die einzelnen Entscheidungen Jans und zum anderen durch die immer höher liegenden Stockwerke. Allerdings gibt es noch einen dritten Aspekt, der eine Annäherung sichtbar macht. Dieser wird im nächsten Abschnitt genauer erläutert.
5.3.1. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit
Diejenigen, „die sich absentier[en]“,[52] müssen sterben. Worauf der gute Gott hier anspielt, sind die Liebenden. Diese beginnen sich seiner Meinung nach gegenüber der Welt zu verschließen und das stellt eine Bedrohung dar. Indem sich die beiden zurückziehen und ihr privates Glück genießen, treten sie langsam aus der Öffentlichkeit aus. Je mehr sie die hiesige Welt ausgrenzen, desto stärker nähern sie sich dem „anderen Zustand“ an.[53] Damit geht die Möglichkeit verloren, Jan und Jennifer zu kontrollieren, sie sind nicht mehr Teil der Gesellschaft.
Zu Beginn ist es vor allem für Jan nicht mehr als ein Abenteuer, ein kleiner Flirt, um sich den Aufenthalt in Manhattan zu ‚verschönern‘. Erst im Laufe der Zeit wird mehr daraus. Allerdings haben Jan und Jennifer bald nur noch Augen für einander und vergessen die Welt und die Menschen um sich herum. Nun könnte man sagen, dass dieses verständlich ist. Beide sind frisch verliebt und wollen allein sein. Allerdings sieht der gute Gott genau in dieser Weltvergessenheit und Abgrenzung zur Ordnung eine Bedrohung. In Kapitel 5.2. wurde schon einmal darauf hingewiesen, dass das Lachen der Liebenden die Öffentlichkeit ausschließt und ein Anzeichen für die bevorstehende Destruktion ist.[54] Die Liebenden verbannen sozusagen alle anderen aus ihrem Leben und damit auch die Ordnung. Hinter diesem Lachen verbirgt sich laut dem guten Gott scheinbar ein Geheimnis, dass nur die Liebenden kennen. Sie verhalten sich „[…] wie Verschwörer, die andere nicht wissen lassen wollen, daß die Spielregeln bald außer Kraft gesetzt werden. […].“[55] Der gute Gott spricht davon, dass die Liebe anfängt sich zu entwickeln und somit auch die Zerstörung der Ordnung herannaht.
Neben dem Lachen ist der Tagesablauf der beiden entscheidend. Da Jan und Jennifer ineinander verliebt sind, ist ihnen die Zeit nicht mehr so wichtig. Man schlendert gemütlich durch die Stadt und genießt die Tage, die man zusammen hat. Der normale Alltag scheint langsam unwichtig zu werden und somit auch die Ordnung, die genau diesen Alltag strukturiert. „Gegen Mitternacht standen sie auf. Natürlich ist das eine Zeit, in der außer Bankräubern, Barmädchen und Nachtwächtern niemand aufsteht.“[56] All diese Gestalten, die der gute Gott hier aufzählt, sind Figuren der Nacht und auf der Nachtseite befindet sich auch die Liebe.[57] Die Ordnung und der Alltag allerdings liegen auf der Tagseite der Welt. Die Liebenden werden damit in seinen Augen zu Kriminellen, die sich mit ihrem Verhalten gegen die bestehende Ordnung auflehnen.
Der gute Gott hat kein Verständnis für ein solches Benehmen. Trotzdem versucht er Jennifer und Jan noch zur Umkehr zu bewegen. Er lässt seine beiden Helfer, Billy und Frankie, im Theater diverse Tragödien mit Puppen nachspielen. Darunter die Geschichten von „Tristan und Isolde“, „Romeo und Julia“, „Abälard und Heloїse“ sowie „Francesca und Paolo“.[58] Diese Geschichten spiegeln die Situation von Jennifer und Jan wider. Die einzelnen Dramen sollen die beiden daran erinnern, dass sie ihre Beziehung lieber beenden, bevor auch sie zu Grunde gehen. Doch die Verliebten erkennen die tiefere Bedeutung, die sich dahinter versteckt, nicht. Für sie ist es spaßig und dient lediglich der Unterhaltung.[59] Hier lässt sich ebenfalls die Weltvergessenheit des Paares sehen. Sie nehmen nicht wahr, was ihnen der gute Gott mitteilen möchte, welche Warnung er für sie hat. Für den guten Gott ist dieses ein weiteres Zeichen, dass sich die Liebenden immer weiter von der Welt entfernen und für sie keine Rettung mehr besteht.
Der gute Gott scheint ein Mann zu sein, der mit einem Gefühl wie Liebe nicht viel anfangen kann. Als Teil der Welt und der Ordnung ist er kühl, pragmatisch und realistisch. Man gewinnt schnell den Eindruck, dass der gute Gott durch seinen Mangel an Verständnis recht absurde Ansichten entwickelt hat. Für ihn sind Kleinigkeiten wie ein Lachen oder ein Mitternachtsspaziergang verbrecherische Handlungen. Doch bei näherer Betrachtung der Beweggründe für seine Tat, wird man erkennen, dass dem vielleicht gar nicht so ist. Seine Sorge besteht darin, dass die Liebenden, mit ihrem Verhalten, Regeln der Ordnung brechen, diese somit destruieren und es zu Chaos kommt. Wie Verbrecher sind sie in seinen Augen gewalttätig, da sie Löcher in die Welt brennen und „[…] die natürlichen Klammern […] lösen, um dann keinen Halt mehr in der Welt zu finden. […].“[60] Deshalb müssen sie um jeden Preis gestoppt werden.
Bereits früher wurde gesagt, dass es durch die Liebenden und ihre Liebe nicht zur Destruktion kommt, da der gute Gott vorher eingreift. Auffällig ist aber auch, dass nicht die Liebenden Gewalt ausüben, sondern der gute Gott, denn er ist es, der mordet. Allerdings steckt in dieser Erkenntnis mehr als auf den ersten Blick scheint. Worum es dabei genau geht, soll im sechsten Kapitel dargelegt werden. Ein Punkt muss an dieser Stelle jedenfalls noch erwähnt werden. Bisher wurde die Wirkung der Liebe und der Liebenden auf die Welt und die Ordnung gründlicher untersucht. Jedoch hat auch das Leben dort für sie besondere Folgen, die nicht außer Acht gelassen werden sollen.
5.4. Die Folgen der Ordnung für das Dasein der Liebenden
„JAN: Ich bin jetzt nicht zornig. Ich möchte nur ausbrechen aus allen Jahren und allen Gedanken aus allen Jahren, und ich möchte in mir den Bau niederreißen, der Ich bin, und der andere sein, der ich nie war.“[61]
Für Jan ist das Leben in der Ordnung und der Welt, nachdem er erkannt hat wie schön die Liebe ist und welches Glück sich ihm bietet, etwas Schreckliches. Offenbart wird ein Dasein voller Schranken, bestehend aus Gesetzen und Regeln.[62] Diese versprechen zwar ein Leben in Sicherheit, aber auch ein eingeschränktes unfreies. Die Liebenden empfinden ihr Dasein wie in einem goldenen Käfig. Vieles steht ihnen zur Verfügung ̶ Essen, Trinken, ein Platz zum Wohnen. Die völlige Freiheit und Glückseligkeit bleiben ihnen aber verwehrt.
Der gute Gott beschreibt das Leben als „[…] Fleisch, das vor Traurigkeit bitter schmeckte und in dem sie gefangen lagen, verurteilt zu lebenslänglich.“[63] Er weiß genau, dass ein solches Dasein kein Schönes ist. Dieses ist auch ein Grund dafür, warum sie seiner Ansicht nach sterben müssen.[64] Doch obwohl er sich dessen bewusst ist, bleibt der gute Gott ein Feind der Liebe und der Liebenden, denn schlussendlich tötet er Jennifer.[65] Er gibt dem Paar erst gar nicht die Chance in der hiesigen Welt eine Liebe wie die Ihrige auszuleben, sondern hält diese von vornherein für unmöglich und äußerst gefährlich. Zudem ist er der Auffassung, dass ein Leben in völliger Freiheit, Liebe und Glück in der Welt keinen Platz hat. Zu finden sind durchaus Positionen, die den guten Gott nicht als Feind der Liebe ansehen.[66] Dennoch wird durch seine Haltung deutlich, dass er kein Gott der Liebenden sein kann. Letzten Endes sind damit der gute Gott und die Gesellschaft, mit all ihren Regeln und Gesetzen, eine Bedrohung für die Liebe und das Glück, wie es auch die Liebe für sie ist.
„Galeerensklaven sind sie ja wohl alle, ob sie nun Laurenz heißen, Mandl, Nowak, Anna (Ein Geschäft mit Träumen), Mr. und Mrs. Brown, Salvatore, Prinz Ali, Jeanette, Robinson oder einfach »der Gefangene« (Die Zikaden), ob sie Generaldirektoren sind, Richter, Studenten oder gar gute Götter (Der gute Gott von Manhattan). Sie lenken ihr Lebensschiff nicht auf freier Fahrt. Die Ordnung, in der sie leben, ist eine Ordnung auf dem »Todten Meer«, eine Ordnung der toten Seelen ... denn diese Ordnung ist nicht mehr veränderungs- oder gar verbesserungsbedürftig, [...].“[67]
Mit diesen Worten Erika Tunners schließt das fünfte Kapitel der Arbeit. Untersucht wurden auf der einen Seite die Stadt und die Gesellschaft. Auf der anderen Seite die Liebe und ihre ‚Träger‘ sowie die Auswirkungen beider Positionen aufeinander. Im sechsten Teil soll es nun um die Figur des guten Gottes gehen und genauer noch um die Gerichtsverhandlung.
[...]
[1] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 46.
[2] Ebenda. S. 79f.
[3] Bachmann, Ingeborg: Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays. 6., durchgesehene Auflage. München u.a.: Piper Verlag 1981. S. 301.
[4] Hier handelt es sich um Ingeborg Bachmanns Roman „ Malina “, der Teil ihres Todesarten-Projekts ist: Bachmann, Ingeborg: Malina. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1980.
[5] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 8.
[6] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 23, 32, 81.
[7] Ebenda. S. 33.
[8] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 25, 30.
[9] Ebenda. S. 52.
[10] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 15, 30, 49, 82, 90f.
[11] Reinert, Claus: Unzumutbare Wahrheiten? Einführung in Ingeborg Bachmanns Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan". Bonn: Bouvier Verlag 1983. S. 64.
[12] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 41.
[13] Ebenda. S. 23, 57.
[14] Bienek in. Koschel, Christine; von Weidenbaum, Inge (Hrsg.): Kein objektives Urteil ̶ nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München u.a.: Piper Verlag 1989. S. 62.
[15] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 31.
[16] Vgl. ebenda. S. 81. Siehe ebenso dazu: Kriz, Jürgen: Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 1997. S. 22: „Die Reduktion eines komplexen, einmaligen Prozesses [die Liebe] in regelhaft, wiederkehrende Klassen von Phänomenen [die Nachbarn mit den fünf Kindern] strukturiert das Chaos, ermöglicht Prognosen, reduziert damit die Unsicherheit und schafft so Verlässlichkeit.“
[17] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 38.
[18] Ebenda. S. 82. Vgl. dazu ebenfalls: Wondratschek/Becker in: Koschel, Christine; von Weidenbaum, Inge (Hrsg.): Kein objektives Urteil ̶ nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München u.a.: Piper Verlag 1989. S. 116.
[19] Kriz, Jürgen: Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 1997. S. 12.
[20] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 14, 38, 41.
[21] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 80.
[22] Ebenda. S. 86.
[23] Ebenda. S. 11.
[24] Bienek in: Koschel, Christine; von Weidenbaum, Inge (Hrsg.): Kein objektives Urteil ̶ nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München u.a.: Piper Verlag 1989. S. 64.
[25] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 86.
[26] Ebenda. S. 78.
[27] Vgl. Anm. 20.
[28] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 31.
[29] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 17, 31, 51, 85.
[30] Vgl. ebenda. S. 17.
[31] Vgl. Anm. 44.
[32] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 28-31.
[33] Vgl. Anm. 20.
[34] Vgl. Anm. 33.
[35] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 35-55.
[36] Vgl. ebenda. S. 83-85.
[37] Vgl. Anm. 20.
[38] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 87-92.
[39] Ebenda. S. 93.
[40] Vgl. Anm. 20.
[41] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 25, 35, 61, 83.
[42] Vgl. ebenda. S. 71.
[43] Vgl. Anm. 20.
[44] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 26.
[45] Ebenda. S. 27.
[46] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 36.
[47] Ebenda. S. 56.
[48] Vgl. ebenda. S. 57f.
[49] Vgl. Anm. 44.
[50] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 73.
[51] Vgl. Anm. 20.
[52] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 60.
[53] Vgl. Anm. 20.
[54] Vgl. Anm. 38.
[55] Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 38.
[56] Ebenda.
[57] Vgl. ebenda. S. 80.
[58] Vgl. ebenda. S. 42-45.
[59] Vgl. ebenda. S. 45f.
[60] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 80; Vgl. Anm. 35.
[61] Ebenda. S. 68.
[62] Kriz, Jürgen: Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 1997. S. 28f.
[63] Bachmann, Ingeborg: Der gute Gott von Manhattan. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper Verlag 2011. S. 46.
[64] Vgl. Anm. 43.
[65] An dieser Stelle werden Wolfgang Hädecke und Horst-Günter Funke erwähnt als zwei Vertreter der Position, die den guten Gott als Feind der Liebenden ansieht: vgl. dazu: Hädecke in: Koschel, Christine; von Weidenbaum, Inge (Hrsg.): Kein objektives Urteil ̶ nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München u.a.: Piper Verlag 1989. Des Weiteren vgl. dazu: Funke in: Hirschenauer, Rupert; Weber, Albrecht (Hrsg.): Interpretationen zum Deutschunterricht. 2. Aufl. München: Oldenbourg Verlag 1973. Vgl. ebenfalls dazu Ingeborg Bachmanns Aussage aus dem Interview mit Ekkehart Rudolph vom 23. März 1971. Zu finden in: Koschel, Christine; von Weidenbaum, Inge (Hrsg.): Ingeborg Bachmann. Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. München: Piper Verlag 1983. S. 87.
[66] Die Gegenposition zu Hädecke und Funke nehmen unter anderem Stefanie Golisch und Christine Lubkoll ein. Vgl. dazu: Golisch, Stefanie: Grosse Denker. Ingeborg Bachmann. Eine Einführung. Wiesbaden: Panorama Verlag 2005. Des Weiteren vgl. dazu: Lubkoll in: Mayer, Mathias (Hrsg.): Werke von Ingeborg Bachmann. Stuttgart: Reclam Verlag 2002.
[67] Tunner in: Koschel, Christine; von Weidenbaum, Inge (Hrsg.): Kein objektives Urteil ̶ nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München u.a.: Piper Verlag 1989. S. 421f.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783956845444
- ISBN (Paperback)
- 9783956840449
- Dateigröße
- 760 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,3
- Schlagworte
- Ausnahmezustand Rechtsordnung Schweigen Entscheidung Souveränität