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Sprache als Medium: Wie mediale Formen den Poetry Slam prägen

©2013 Bachelorarbeit 44 Seiten

Zusammenfassung

Der Poetry Slam gewinnt derzeit immer mehr und rasanter an Bekanntheit. In Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein gibt es derzeit über 200 regelmäßige Slam-Veranstaltungen, die Teilnehmer- und Zuschauerzahlen der deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam sind in den letzten sieben Jahren drastisch angestiegen.
In diesem relativ neuen, populären Literaturformat entsteht eine neue Freude am Umgang mit Sprache. Diese Neuentdeckung der Sprache genau nach den Verbindungen mit der Sprache als Medium hin abzutasten, liegt im Fokus der vorliegenden Arbeit. Es erscheint rentabel, sich zu fragen, was am Poetry Slam medial ist, wie sich das Mediale bemerkbar macht und auf welche Weise es sich auf das Format und seine Teilnehmer auswirkt.
Die Arbeit befasst sich mit dem Kulturformat Poetry Slam in Deutschland und geht dabei hauptsächlich den medialen Formen statt den Inhalten nach. Gesprochene, verkörperte und geschriebene Sprache sind die zentralen Elemente des Poetry Slams, den man auch als Vollzugsort der Sprache beschreiben und entdecken kann. Mündlich-, Schriftlich- und Körperlichkeit erzeugen den Kern dieser neuen Kunstform und hinterlassen dabei ihre medialen Spuren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Poetry Slam?
2.1 Historische Entwicklung
2.2 Format
2.2.1 Akteure
2.2.2 Ablauf

3. Liveness und Rezeption
3.1 Technische Vermittlung
3.2 Symbolisches Kapital
3.3 Interaktionen
3.4 Imaginäre Räume

4. Technizität
4.1 Medialität
4.1.1 Materialität der Stimme
4.1.2 Medienwechsel
4.2 Technik
4.2.1 Sprachtechnik
4.2.2 Schreibprozess

5. Authentizität

6. Fazit
6.1 Reflexion
6.2 Zusammenfassung, Ausblick

Literaturverzeichnis

Videoverzeichnis

1. Einleitung

Der Poetry Slam gewinnt derzeit immer mehr und rasanter an Bekanntheit. 10.000 Besucher haben letztes Jahr den Slam2012, die deutschsprachigen Meisterschaften, besucht, die Teilnehmer- und Zuschauerzahlen sind dabei in den letzten sieben Jahren rasant angestiegen.[1] In Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein gibt es momentan über 200 regelmäßige Slam-Veranstaltungen, „von Großveranstaltungen in den Theaterhäusern der Metropolen […] bis zu familiären Kleinst-Slams in verrauchten Kaschemmen provinzieller Kleinstädte.“[2] Trotz der in den letzten Jahren drastisch angestiegenen Popularität ist hier jedoch durchaus nicht von einem brandneuen Phänomen die Rede: Poetry Slams gibt es in den USA inzwischen schon seit 27 Jahren, in Deutschland immerhin seit 17 Jahren.

Dieses relativ neue Kulturformat auf einige medienwissenschaftliche Gesichtspunkte hin zu untersuchen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Es erscheint rentabel, sich zu fragen, was am Poetry Slam medial ist, wie sich das Mediale bemerkbar macht und auf welche Weise es sich auf das Format und seine Teilnehmer auswirkt. Bereits am Titel dieser Arbeit lässt sich erkennen, dass es vor allem um die Wechselwirkungen und Auswirkungen von gesprochener, geschriebener und verkörperter Sprache gehen wird. Kein Wunder, stehen diese drei doch im Zentrum des Poetry Slams.

Die getrennte Betrachtung der Phänomene Liveness, Technizität, Authentizität und Medialität haben lediglich heuristischen Wert. Vor allem die Frage nach Authentizität ist mit allen Bereichen verknüpft. Außerdem bildet diese Arbeit eine Annäherung, die sich herausnimmt, unvollständig zu bleiben. Performanz, Medieninhalte, Kontexte und Framing können nur angerissen werden, obwohl sie im Sinne des Themas noch stärker behandelt werden könnten. Im Rahmen dieser Bachelorarbeit wird das Aufzeigen jedoch reichen müssen. Ziel ist, einen Katalog an Ideen, Verknüpfungen und Herangehensweisen anzubieten, der gleichsam neue, medienbezügliche Anstöße gibt sowie als Basis für weitere Forschung dienen kann.

Für das Lesen (und auch das Hören)[3] dieser Arbeit ist es wichtig zu wissen, dass mein wissenschaftliches Interesse mit meinem literarischen Interesse einhergeht. Durch den Besuch von Poetry Slams als Zuschauer sowie die Teilnahme als Autor, Veranstalter und Moderator haben sich für mich Einblicke in das Format ‚Poetry Slam in Deutschland‘ und die derzeitige deutsche Slam-Szene ergeben.[4] Auf dieser Grundlage entstand mein Engagement, mich in dieser Arbeit mit dem Poetry Slam zu befassen und dadurch auch dem nach wie vor bestehenden Mangel an wissenschaftlicher Auseinandersetzung ein Stück weit entgegenzuwirken.

In dem neuen, populären Literaturformat entsteht eine neue Freude, sich mit Literatur zu beschäftigen, entsteht ein neuer Spaß am Umgang mit Sprache.[5] Diese Neuentdeckung der Sprache genau nach den Verbindungen mit der Sprache als Medium hin abzutasten, liegt in meinem Interesse als Medienwissenschaftler. Die Beziehungen zu Disziplinen wie z.B. der Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft oder den Performance Studies dürfen dabei jedoch nicht übersehen werden.[6]

Zunächst werde ich die Geschichte des Poetry Slams, seine Entstehung in den USA sowie den Import nach Europa und Deutschland, kurz darstellen, um die Herkunft des Formates sowie Einflüsse aus literarischen Vorgängern zu veranschaulichen. Die Beschreibung des Ablaufs eines Poetry Slams sowie den dazugehörigen Akteuren ist nötig für das Verständnis der weiteren Darlegungen dieser Arbeit. In den darauf folgenden Kapiteln werde ich mich den Themen Liveness und Rezeption, Technizität und Authentizität widmen, jeweils vor dem Hintergrund der medialen Ebenen von gesprochener, geschriebener und verkörperter Sprache beim Poetry Slam. Meine Ausführungen werden sich dabei auf den Poetry Slam (bzw. die Slam-Szene) in Deutschland beziehen.

2. Poetry Slam?

Der Poetry Slam steht in einer langen Tradition von literarischen und musischen[7] ‚Lesewettkämpfen‘. Sein Ursprung lässt sich über den mittelalterlichen Meistersang, das japanische utaawase (Wettdichten) bis hin zum musischen Agon (Wettstreit) in Griechenland sogar bis 700 v.Chr. zurückverfolgen.[8] Das soll an dieser Stelle nicht geschehen. Die vorliegende Arbeit setzt sich mit dem konkreten Format des Poetry Slams auseinander, das in den 1980er Jahren in Chicago aufkam.

2.1 Historische Entwicklung

In den fünfziger Jahren entstand in den USA „eine multikulturelle literarische Bewegung mit Mündlichkeit als spezifischem Merkmal, […] eine alternative poetische Gemeinschaft, abseits vom akademischen Literaturbetrieb.“[9] Die ‚Spoken Word‘ Bewegung, die ursprünglich vor allem von den afroamerikanischen und hispanischen Minderheiten in den USA gepflegt wurde, wuchs zu einer immer größer werdenden Szene heran, die Lesungen in Cafés, Lofts und Kirchen veranstaltete.[10] Ablauf und Regeln, wie die Begrenzung der Lesezeit auf fünf Minuten, ähnelten dem heutigen Poetry Slam und machen die Verwandtschaft der beiden Formate deutlich.[11]

In den 70er Jahren waren es vor allem die Einflüsse des Punk und des Hip-Hop, welche die alternative Literaturszene in Amerika beeinflussten. Entscheidende Merkmale dieser Prägung waren die Redefreiheit des Punk, die Worteflut der Rap-Sprechgesänge sowie ihr thematischer Bezug zum Lebensalltag.[12] Um 1980 herum wirkten (aufgrund der allgemeinen Ansicht, die moderne Literatur sei monoton und unzeitgemäß) zusätzlich performative Einflüsse auf die Dichtung ein,[13] die den Vortrag betonten und dem Poetry Slam somit endgültig den Weg bereiteten.

1986 veranstaltete der „Performance Poet und ehemalige Bauarbeiter“[14] Marc Kelly Smith dann den ersten Poetry Slam in einem Jazz Club in Chicago. Der Abend begann mit der Möglichkeit für jeden Anwesenden, etwas vorzutragen (Open Mic), verlief über Vorträge von eingeladenen Autoren und endete in einer Lesung mit Wettbewerb-Charakter.[15] Vor allem der dritte Teil des Abends, bei dem das Publikum als Jury aktiv werden sollte, war ein voller Erfolg, wobei die Dichterlesung als Show, nicht als Wettkampf, für Marc Smith im Mittelpunkt stand.[16] „The points are not the point; the point is poetry“,[17] so formulierte Allan Wolf das Slam-Credo auf poetische Weise. Die teilnehmenden ‚Performance-Poeten‘ überarbeiteten ihre Lesetexte, kürzten Textstellen und übten „den präzisen und expressiven Ausdruck ihrer Gedanken, Ideen und Gefühle, […] eben das »to slam«“.[18] Schnell wurde der Dichterwettbewerb zu einem eigenen Event entkoppelt und verbreitete sich in den USA.[19] Weitere Veranstaltungsorte entstanden, Slam-Poeten reisten durch die Lande, nationale Wettbewerbe (Nationals) fanden statt und das Non-Profit-Unternehmen Poetry Slam Inc. wurde zum Schutz der Nationals vor dem Zugriff industrieller Interessen gegründet.[20]

Inzwischen hatte der Poetry Slam den Sprung nach Europa bereits geschafft. 1993 starteten Finnland, Schweden und Großbritannien mit ihren ersten Slams, in Deutschland zogen die in Berlin lebenden Amerikaner Priscilla Be und Rik Maverik im Frühjahr 1994 nach.[21] Doch die deutsche Slam-Szene war keinesfalls ein reines Import-Wunder; auch in Deutschland hatte es Wegbereiter gegeben. Die literarische Untergrund-Bewegung ‚Social Beat‘, die aus kleinen Künstlergruppen und Aktivisten bestand, welche abseits vom Mainstream ihre Literatur publik machten, sowie der deutschsprachige Rap – der wiederum amerikanische Wurzeln hat – schufen Anfang der neunziger Jahre die Basis für die Einführung des Poetry Slams nach Deutschland.[22] Als dann die ersten deutschen Autoren, Journalisten und Veranstalter nach Besuchen des ‚Nuyorican Poets Café‘ in New York City, einem Poetry Slam Veranstaltungsort der ersten Stunde, begeistert wiederkehrten, fassten sie den Entschluss, „das gleiche in Deutschland zu etablieren.“[23] So entstanden die ersten Slams in vereinzelten Großstädten wie Berlin, München, Köln, Hamburg, Stuttgart und Hannover.[24]

1997 trafen sich die Veranstalter der Poetry Slams von Berlin, Hamburg und München, um eine engere Zusammenarbeit zu beschließen, was den Beginn der deutschen Slam-Szene darstellt.[25] Im selben Jahr fand in Berlin die erste deutschsprachige Meisterschaft im Poetry Slam statt: Sechs Teams und relativ wenige Einzel-Teilnehmer traten vor einer kleinen Zuschauerzahl gegeneinander an.[26] Im Laufe der Jahre wurde die Slam-Szene in Deutschland immer größer. Die Großstädte bauten ihre Angebote aus und auch in vielen kleineren Städten wagte man den Versuch, Poetry Slams zu veranstalten.[27] Landesmeisterschaften, U20- und U18-Slams sowie neue Varianten (Science-Slams, Dead-or-Alive-Slams u.v.m) entstanden.[28] Auch hierzulande wurde das Format immer bekannter und beliebter. Im Jahr 2010 fanden ca. 100 regelmäßige Slam-Veranstaltungen in über 80 deutschen Städten statt,[29] die Poetry Slam Meisterschaften 2012 waren ein fünftägiges Event mit 24 Teams und 108 Einzel-Wettbewerbern vor insgesamt etwa 10.000 Zuschauern.[30]

2.2 Format

Trotz der Vielzahl an Varianten und regionaler Unterschiede gibt es einige charakteristische Merkmale des Poetry Slams, die im Folgenden dargelegt werden sollen, um eine Grundlage für die weiteren Ausführungen in dieser Arbeit zu schaffen.

2.2.1 Akteure

Der Veranstalter ist[31] der Ausgangspunkt eines jeden Poetry Slams. Er plant den Termin, organisiert einen passenden Veranstaltungsort[32] und hält Kontakt zu den Slammern, damit bei den ersten Veranstaltungen oder bei Ausfällen genügend Poeten auftreten.[33] Der Veranstalter legt darüber hinaus Turnus und Ablauf des Slams fest (siehe Kapitel 2.2.2), beschafft musikalische Untermalung für die Pausen sowie Preise für die besten Poetry Slammer und bewirbt die Veranstaltung über Flyer, Plakate, Mitteilungen via Internet etc.[34]

MC (Master of Ceremony) wird der Moderator des Abends genannt.[35] Seine Aufgabe besteht in der souveränen Leitung des Poetry Slams, d.h. er führt durch den Ablauf, stellt die auftretenden Slammer vor und erklärt die geltenden Regeln (je nach Ablauf, siehe Kapitel 2.2.2). Er animiert das Publikum oder weist es bei aufkommenden Aggressionen zurück und er sorgt für die Einhaltung der Slam-Etikette (‚respect the poets‘ & ‚respect the audience‘).[36]

Als Slammer werden die Autoren und Poeten bezeichnet, die bei einem Poetry Slam auftreten. Zum Slammer kann jeder werden, der einen eigenen Text geschrieben hat und diesen auf einer Bühne einem Publikum vortragen möchte.[37] Ob Lyrik, Prosa, Geschichten, Performance-Poems oder Lautmalereien: das Genre spielt keine Rolle.[38] Nach Anmeldung beim Veranstalter, beim MC oder nach Eintrag in eine offene Liste, die beim Poetry Slam ausliegt, hat man den Schritt zur Teilnahme gemacht und darf sich über freien Eintritt sowie ein paar Getränkemarken freuen – dafür gestaltet man den Abend jedoch auch aktiv von der Bühne aus mit.[39] Das Prinzip Poetry Slam funktioniert über die wechselseitige Identifikation von Autor und Rezipienten. Da der Auftritt von den Zuhörern direkt kommentiert und bewertet wird, haben die Poetry Slammer die Aufgabe, sie mitzureißen und sich (in gewisser Weise)[40] mit den Inhalten und Performances der Texte auf sie auszurichten. Der Autor wird somit zum ‚Sprachrohr des Publikums‘:

„Die Dichtung auf der Bühne ist […] nicht dazu da, den Poeten zu würdigen, sondern die Gemeinschaft zu zelebrieren. Damit werden die Slammer ein Teil des Publikums und sprechen das aus, was jeder im Publikum aussprechen könnte.“[41]

Auch ohne Publikum gäbe es keine Poetry Slam Veranstaltung. Einerseits aus dem banalen Grund, dass es sich um eine Veranstaltung handelt, die finanziert und angesehen werden will, andererseits, weil es am Geschehen aktiv teilnimmt. Die Jury bildet entweder das gesamte Publikum oder ein ernannter Teil davon. Sie bewertet „nicht nur die Qualität des Vorgetragenen, sondern auch die Qualität des Vortrags selbst.“[42] Je nach Art der Abstimmung (siehe Kapitel 2.2.2) wird das Klatschen ‚gemessen‘, werden Stimmzettel gezählt oder Punkte von hochgehaltenen Punktetafeln addiert. Abgesehen von der Bewertung haben die Rezipienten die Möglichkeit, während des Vortrags dazwischen zu rufen (je nach Härte des MC), mitzugehen, ihre Meinung zu äußern und sich hinterher mit den Autoren auszutauschen. Die Atmosphäre des Abends hängt zum großen Teil von der Stimmung des Publikums ab.

Aufgrund der Offenheit des Formats können für die Beteiligten bei Poetry Slams die Rollen fließend sein: „Da wird ein Zuschauer zum Juror oder Slammer, ein Veranstalter zum MC, ein Slammer zum Zuschauer. [Hervorh. i. O.]“[43]

2.2.2 Ablauf

Poetry Slams finden in der Regel abends statt. Veranstalter und MC haben bereits alles vorbereitet und das Publikum steht vor dem Veranstaltungsort Schlange. Als Slammer hat man sich entweder im Vorfeld beim Veranstalter oder MC angemeldet (bzw. wurde eingeladen) oder trägt sich in eine nun ausliegende offene Liste ein. Meistens sind an einem Slam-Abend etwa zur Hälfte Gast-Slammer und zur anderen Hälfte private, unbekannte Autoren vertreten (diese Konstellation wird challenging system genannt),[44] wobei darauf geachtet werden muss, dass die lokalen Slammer nicht von den ‚großen Namen‘ und deren Bühnenerfahrung abgeschreckt werden.[45]

Nachdem das Publikum im Raum Platz genommen hat, eröffnet der MC die Veranstaltung von der Bühne aus, begrüßt die Zuhörerschaft und erklärt die Regeln [46] des Poetry Slams: Ausschließlich selbstverfasste Texte dürfen von den Autoren vorgetragen werden, die eigenen Gedanken und Worte der Poeten sollen zur Sprache kommen. Die Slammer haben dafür eine begrenzte Zeitspanne zur Verfügung, das Zeitlimit variiert dabei zwischen fünf und zehn Minuten.[47] Der MC hat es in der Hand, das Zeitlimit ein wenig auszudehnen. Wenn er merkt, dass ein Text beim Publikum gut ankommt, der Autor aber noch nicht bis zum Schluss des Textes gelangt ist, fragt er die Zuhörer, ob der Poet noch eine Minute weiterlesen soll. Weiterhin soll der Vortrag nicht durch die Verwendung von Verkleidung, sonstigen Requisiten oder durch Gesang und Musik aufgebessert werden. Der vorgetragene Text soll im Mittelpunkt stehen und die Slammer mit den gleichen Voraussetzungen auf die Bühne treten.[48] Rap sowie kurze Gesangsparts werden in der Regel toleriert.

Nachdem die für die Slammer relevanten Regeln erläutert wurden, erklärt der MC dem Publikum das Procedere der Abstimmung.[49] Hier gibt es die Möglichkeit, dass eine Jury (von etwa fünf bis zehn Personen, gut verteilt im Raum) aus dem Publikum ausgewählt wird. Diese Jury bekommt vorgefertigte Punktetafeln mit Nummern von 0 bis 10 und darf damit – mancherorts mit, mancherorts ohne Dezimalstellen – die Vorträge bewerten. Um einen Lokalbonus oder Wertungen aufgrund von negativ eingestellten Personen zu vermeiden, werden häufig die beste und die schlechteste Wertung gestrichen. Bei dieser Art der Abstimmung wird die Jury dazu angehalten, sich mit den Rezipienten, die in ihrer unmittelbaren Nähe sitzen, zu beraten, damit ein möglichst repräsentatives Ergebnis zustande kommt. Bei großem Unmut des Publikums aufgrund einer Wertung hat die Jury mit heftigen verbalen Reaktionen zu rechnen, was einerseits ein gewolltes ‚raues Klima‘ schafft und die aktive Teilhabe der Rezipienten betont, andererseits auch vom MC unter Kontrolle gehalten werden sollte. Eine andere Form der Abstimmung sieht vor, dass das gesamte Publikum per Applaus entscheidet, was jedoch schwer auszuwerten ist und oft zu Doppel- oder Dreifachsiegen führt. Rayl Patzak und Ko Bylanzki, die Veranstalter und Moderatoren des Münchner ‚Substanz Slam‘, schreiben dazu jedoch trefflich:

„Da der Wettbewerb nicht das Wichtigste sein sollte und an schönen Abenden mit vielen guten Poeten sowieso in den Hintergrund tritt, ist das auch nicht weiter dramatisch. Der Preis ist ohnehin meist symbolisch und so wird übertriebener Konkurrenzkampf unter den Dichtern verhindert.“[50]

Manchmal sind auch Mischformen vertreten, wenn z.B. die Vorrunde per Jurybewertung und die Finalrunde per Applaus entschieden wird. Spezielle Sonderformen wie das Verteilen von Rosen oder Dichtungsringen an die Poetry Slammer treten nur in Einzelfällen auf.

Anschließend an die Einführung des MC in den Ablauf des Abends und die Rolle des Publikums wird (wenn nicht schon vor Beginn des Slams geschehen) die Reihenfolge der auftretenden Slammer ausgelost und das sogenannte Opferlamm angekündigt. Dies ist meist ein eingeladener featured poet, der außerhalb der Wertung auftritt,[51] um der Jury die Möglichkeit zu geben, ein gewisses Gefühl für die Abstimmung zu bekommen und eine gerechtere Bewertung der Autoren im folgenden Wettbewerb zu gewährleisten.

Und so nimmt der Abend seinen Lauf; alle Slammer werden anekdotenreich vom MC anmoderiert und treten in der Vorrunde auf, es gibt eine Pause mit Musik (gewöhnlich von einem DJ oder Singer-Songwriter, manchmal auch von einer Band)[52] und die besten drei des Abends dürfen im Finale einen weiteren Text performen.[53] Die Vorträge werden jeweils vom Publikum bewertet, mit Applaus honoriert und zwischendrin kommentiert (wobei es oft am meisten Zwischenrufe während den Moderationen des MC gibt). Zum Schluss wird der Gewinner ermittelt und der Poetry Slam mit einer Preisverleihung abgeschlossen. Die Preise haben dabei nur symbolischen Wert (Flasche Schnaps, Pokal, Buchgutschein), vereinzelt gibt es auch Preisgelder zu gewinnen.[54] Dann ist der Poetry Slam vorbei, man sitzt zu den Klängen der Band oder des DJ noch mit einem Bier zusammen, tauscht sich aus und lässt den Abend ausklingen.

3. Liveness und Rezeption

Nach dieser Einführung in die Entstehung und das Format des Poetry Slams gilt es nun, den Blick auf das Mediale zu richten. Wo ist es zu finden? Wie verläuft es? Und welche Auswirkungen entstehen daraus? In einem ersten Schritt wird der Fokus auf Liveness sowie Rezeption(sräumen) liegen.

3.1 Technische Vermittlung

Im Zentrum des Poetry Slams steht die Vortragssituation auf der Bühne. Autoren und Zuschauer treffen direkt aufeinander, ihre physikalische Kopräsenz erzeugt die Live-Situation.[55] Doch entgegen der allgemeinen Wahrnehmung sprechen die Slammer ihr Publikum nur sehr selten direkt an. Immer steht ein technischer Verstärker zwischen ihnen. Auf diese Live-Problematik weist schon Philip Auslander hin. In seinem Buch ‚Liveness: Performance in a mediatized culture‘ zeigt er die heutige Verzahnung von Live-Event und technischer Mediatisierung[56] an den Beispielen Theateraufführung, Performancekunst und Rockkonzert auf. Live bedeutet nicht mehr einfach Abwesenheit von Aufnahme und vice versa; die Dichotomie vom ‚realen‘ Live-Event (das sich in der körperlichen Anwesenheit aller Akteure vollzieht) und seiner künstlichen (technischen) Reproduktion greift nicht mehr.[57] Auch beim Poetry Slam ist die Live-Aufführung mit technischer Vermittlung verwoben. Die Slam-Bühne ist meistens kahl gehalten, doch ein Mikrofon inklusive Ständer ist überall fester Bestandteil. Die Poeten sprechen ihre Texte größtenteils in das Mikrofon hinein und beschallen den Raum über die Lautsprecher. „What we actually hear is the vibration of a speaker, […] not the original (live) acoustic event.”[58] Die Töne, die vom menschlichen Stimmapparat erzeugt werden (mit seinem Kehlkopf, Atemapparat, der Glottis, den Stimmbändern, der Zunge etc.),[59] kommen nicht direkt beim Publikum an, sondern werden von den technischen Apparaten Mikrofon, Verstärker und Lautsprecher verarbeitet und übersetzt.[60] Doch diese Übersetzungsleistung (die allen Medien inne ist)[61] nehmen wir selten wahr. Die ‚ausgehende‘ Stimme, die über die Boxen zu hören ist, klingt anders als die ‚eingehende‘ Stimme. Verstärkung, Rauschen und leichte Verzerrung, die in den Lautsprecherstimmen hörbar sind, klingen in unseren Ohren jedoch nicht mehr unnatürlich – wir haben uns daran gewöhnt und die technischen Medien naturalisiert. Auslander argumentiert, dass die elektrisch verstärkten Stimmen für uns natürlich klingen, da wir die Realität oft nur noch über Medien erfahren und sich unsere Ohren durch das Stereo-Fernsehen sowie rauschfreie Musik auf Compact Discs[62] an lautsprecherverstärkte Stimmen gewöhnt haben.[63]

Da es sich beim Poetry Slam um ein Live-Format handelt (mit Live-Performances), müssen wir die technische Reproduktion immer gleich mitdenken.[64] Die Verstärkung über ein Mikrofon[65] unterstützt Philip Auslanders These. „[Live] events are becoming more and more identical with mediatized ones“,[66] wenn auch nicht in gleichem Maße. Je größer das Event, desto mehr technische Mediatisierung scheint genutzt zu werden.[67] Die Finals der deutschsprachigen Nationals etwa werden seit 2009 im arte-Livestream übertragen, ebenso werden bei den Nationals große Videoleinwände genutzt, auf denen während des Events die Namen der Vortragenden, die Punktestände sowie auch die Performances gezeigt werden. Ohne diese technischen Medien würde der Poetry Slam als großes Event scheitern, da in der Hamburger O2-Arena von den 4000 Zuschauern (beim National-Finale 2011)[68] ohne Mikrofone, Lautsprecher und Leinwände höchstens 300 etwas von den Vorträgen mitbekommen hätten.

3.2 Symbolisches Kapital

Live-Events haben kulturellen Wert, denn wer sagen kann, dass er ‚da war‘ und es ‚live gesehen‘ hat, genießt in den zugehörigen Kreisen entsprechende Anerkennung.[69] Auf diese Weise entspringt einer Live-Performance symbolisches Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu. Ihr wird ein besonderer Status beigemessen. Sie wird als Prestige wertgeschätzt und kann ihre Rezipienten in gewisser Weise hervorheben.[70] Doch woher kommt dieses hohe Ansehen?

[...]


[1] Vgl. SLAM2009-Historie & SLAM2012-Presse & SLAM2012-Meisterschaften.

[2] SLAM2012-Meisterschaften.

[3] Das Hören der eigenen Stimme beim leisen Lesen (siehe Kapitel 3.4).

[4] Ähnlich wie bei Boris Preckwitz, der seine Magisterarbeit über den Poetry Slam ebenfalls aus seiner Sicht als Autor, Veranstalter und Moderator von Slams verfasste. Vgl. Preckwitz 1997: 18f.

[5] Vgl. Neumeister/Hartges 1996: 14 & Preckwitz 1998: 24.

[6] Vgl. Novak 2011: 11.

[7] Dichtung und Musik standen schon immer in enger Verbindung. Vgl. Westermayr 2010: 11.

[8] Wie es etwa Boris Preckwitz im Anhang seiner Magisterarbeit getan hat. Vgl. Preckwitz 1997: 163-173.

[9] Westermayr 2010: 17f.

[10] Vgl. ebd.

[11] Vgl. ebd.

[12] Vgl. Preckwitz 1997: 132ff.

[13] Vgl. Westermayr 2010: 18f.

[14] Bylanzki/Patzak 2004: 166.

[15] Vgl. Preckwitz 1999: 35f. & Bylanzki/Patzak 2004: 166.

[16] Vgl. Westermayr 2010: 22.

[17] Allanwolf.com.

[18] Anders 2008: 306.

[19] Vgl. Westermayr 2010: 24.

[20] Vgl. Preckwitz 1999: 36f. & Bylanzki/Patzak 2004: 167-171.

[21] Vgl. Bylanzki/Patzak 2004: 167f.

[22] Vgl. Westermayr 2010: 30ff. Auch der Dadaismus hat als früher Vorläufer in gewisser Weise dazu beigetragen. Parallelen wie der Aufführungscharakter an ‚Autoren-Abenden‘ oder die Auflehnung gegen die intellektuelle Kulturszene sind nachzulesen bei: Genzmer 2008: 149ff.

[23] Westermayr 2010: 32.

[24] Vgl. ebd.: 59.

[25] Vgl. Bylanzki/Patzak 2004: 170.

[26] Vgl. Westermayr 2010: 72.

[27] Vgl. ebd.: 59.

[28] Vgl. ebd.: 78-86.

[29] Vgl. ebd.: 59.

[30] Vgl. SLAM2012-Presse & SLAM2012-Meisterschaften.

[31] Im Folgenden werden aufgrund besserer Lesbarkeit die männlichen Varianten verwendet (Veranstalter, Master of Ceremony, Slammer, Moderator).

[32] Wichtig ist ein Ort, an dem der Slam regelmäßig stattfinden kann, um ein Netzwerk aufzubauen. Technische Voraussetzungen (Scheinwerfer, Mikrofon, Verstärker etc.) sowie Gastronomie und Personal sind notwendig, um die Veranstaltung durchführen zu können. Gute Erreichbarkeit (z.B. die Nähe zu einem Bahnhof) ist ein Kriterium für die meist aus entfernten Städten anreisenden eingeladenen Slammer. Meistens finden Slams in Szene-Kneipen statt, inzwischen auch oft in Theaterräumen. Ein ‚passender‘ Ort lässt den direkten Kontakt zum Publikum zu. Vgl. Westermayr 2010: 37ff.

[33] Vgl. Westermayr 2010: 39f.

[34] Vgl. ebd.: 40.

[35] In Deutschland ist auch die Bezeichnung ‚Slammaster‘ üblich. Vgl. Westermayr 2010: 41.

[36] Vgl. Bylanzki/Patzak 2002: 7 & Bylanzki/Patzak 2004: 12f.

[37] Vgl. Bylanzki/Patzak 2002: 7.

[38] Vgl. Westermayr 2010: 42.

[39] Vgl. Bylanzki/Patzak 2002: 7.

[40] Es gilt (wie bereits erwähnt) auch immer ‚respect the poets‘ für das Publikum. Nicht immer muss ein Text gebracht werden, den das Publikum von seiner aktuellen Stimmung her verlangt. Vielfalt und Wendungen eines Abends sind meines Erachtens Faktoren, die einen Slam aufwerten.

[41] Anders 2008: 307.

[42] Westermayr 2010: 48.

[43] Westermayr 2010: 39.

[44] Vgl. ebd.: 50f. Der Begriff ‚challenging system‘ ist ein wenig irreführend, da sich alle teilnehmenden Slammer in einem ‚Wettkampf‘ befinden, ob sie nun Anfänger oder Profis sind, eingeladene Gäste oder Teilnehmer von der offenen Liste.

[45] Vgl. Bylanzki/Patzak 2004: 10.

[46] Die Regeln entnehme ich meiner eigener Erfahrung sowie: Bylanzki/Patzak 2002: 8 & Bylanzki/Patzak 2004: 10f.

[47] Fünf Minuten sind bei vielen Slams die Regel, zehn Minuten eher eine seltene Ausnahme, um besonders Storytellern (Erzählern) die Hektik zu nehmen. Bei Ablauf der Zeit wird das Mikrofonsignal von Musik übertönt oder der Slammer vom MC von der Bühne gedrängt.

[48] Dies gilt in Anbetracht der Verkleidung und Requisiten – gleiche Voraussetzungen vor dem Publikum sind aufgrund unterschiedlicher Bühnenerfahrung, Bekanntheit, Lebensalter und weiterer Faktoren nie vollkommen gegeben.

[49] Die Formen der Abstimmung entnehme ich meiner eigener Erfahrung sowie: Bylanzki/Patzak 2002: 9 & Bylanzki/Patzak 2004: 11f.

[50] Bylanzki/Patzak 2002: 9.

[51] Das Opferlamm wird ebenso bewertet, jedoch nur zu ‚Testzwecken‘ für das Publikum. Die Wertung zählt nicht, d.h. sie geht nicht in den Wettbewerb des Abends ein.

[52] Vgl. Westermayr 2010: 50.

[53] Anzahl der Runden, Pausen und Finalteilnehmer kann variieren – je nach Veranstalter, MC, Stimmung des Abends, spontanen Slammer-Ausfällen etc.

[54] Vgl. Westermayr 2010: 50.

[55] Vgl. Novak 2011: 49+63.

[56] Die Diskussion über die Begriffsunklarheit von ‚Medialisierung‘ und ‚Mediatisierung‘ möchte ich an dieser Stelle übergehen. Gemeint ist der Einsatz technischer Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien.

[57] Vgl. Auslander 1999: 3.

[58] Ebd.: 24.

[59] Zur Physiologie der Stimme siehe auch: Goerttler 1972: 188ff. & Bose 2010: 35f.

[60] Der Medienwechsel Stimme-Mikrofon-Lautsprecher bzw. Luft-Elektronik-Luft bewirkt in diesem Fall die Übersetzung.

[61] Vgl. Faßler 2002: 115.

[62] Besonders im Vergleich zur vorherigen Technik: der Langspielplatte.

[63] Vgl. Auslander 1999: 32+34. Auslander zitiert an dieser Stelle Roger Copeland, der das Wort ‚conditioned‘ verwendet und damit die Betonung eher auf eine negativ konnotierte Wirkungsmacht der Medien legt.

[64] Auslander betont, dass es – historisch gesehen – vor der Mediatisierung kein ‚live’ gab. ‚Live’ ist sozusagen Effekt der Mediatisierung. Erst durch die Entwicklung von Aufnahmetechnologien konnte etwas als ‚live’ wahrgenommen werden. Daraus folgt, dass etwas ‚live‘ ist, wenn es aufgenommen werden kann. Vgl. Auslander 1999: 51.

[65] Vielleicht ebenso (den Slam-Auftritten jedoch zeitlich nachrangige) Aufnahmen der Bühnenauftritte auf YouTube und künstlerische Poetry-Clips. Siehe dazu auch: Anders 2008: 310ff.

[66] Auslander 1999: 32.

[67] Vgl. ebd.

[68] Vgl. SLAM2011-News.

[69] Vgl. Auslander 1999: 57f.

[70] Vgl. Fröhlich/Rehbein 2009: 137ff.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956846687
ISBN (Paperback)
9783956841682
Dateigröße
1.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Bildende Künste Braunschweig
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Note
1
Schlagworte
Mündlichkeit Schriftlichkeit Körperlichkeit Liveness Medialität verkörperte Sprache gesprochene Sprache

Autor

Andreas Hundacker wurde 1988 in Wolfsburg geboren und studierte Medienwissenschaften und Kunstwissenschaft an der HBK (Hochschule für Bildende Künste) sowie der TU in Braunschweig. Seit 2008 ist er Poetry Slammer und Autor. Außerdem veranstaltet und moderiert er neben Poetry Slams auch Schul-Workshops und Jugendfreizeiten. Zurzeit lebt er in Berlin und liebäugelt mit der der Medienpädagogik.
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