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Philosophieren mit Kindern: Ansätze und Eignung des Philosophieunterrichts in der Grundschule

©2012 Bachelorarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

In der vorliegenden Arbeit sollen die Ansätze für das Philosophieren mit Kindern auch auf ihre Eignung als Grundschulfach diskutiert werden. Oftmals kommen dabei die Fragen auf, ob Kinder überhaupt dazu geeignet sind zu philosophieren, ob man das Philosophieren mit Kindern als Philosophie einstufen kann und/oder ob man Kinder mit Philosophieunterricht nicht ohnehin überfordern würde. Diese Fragen gründen auf divergenten Auffassungen von dem, was Philosophie überhaupt ist oder zu sein hat. Geht man von der Philosophie im akademischen Sinne aus, dann sind Kinder damit fraglos überfordert und es wäre natürlich nicht sinnvoll, Kinder die Geschichte der Philosophie, Logik, Erkenntnistheorie, politische Philosophie, Sprachphilosophie oder philosophische Anthropologie zu lehren. Aber zu den genannten Disziplinen gehört natürlich auch die praktische Philosophie und genau hier ist das Philosophieren mit Kindern einzuordnen. Aber auch in die Didaktik der Philosophie muss das Philosophieren mit Kindern eingeordnet werden, da für diesen Bereich spezielle didaktische Prinzipien gelten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Geschichte der Didaktik der Philosophie

2.1 Philosophen über Kindheit und Erziehung

Um nachvollziehen zu können, weshalb die Didaktik der Philosophie beziehungsweise das Philosophieren mit Kindern durchaus aktuell ist, obwohl die ersten philosophiebezogenen Didaktikansätze schon vor fast einem Jahrhundert erdacht und publiziert wurden, muss selbstverständlich ein klärender Exkurs in die Vergangenheit gemacht werden.

Um den Rahmen nicht zu überreizen und nicht allzu weit vom eigentlichen Thema abzurücken, wird in diesem Kapitel nicht auf die Geschichte der allgemeinen Pädagogik eingegangen, sondern die Auffassungen zur Erziehung aus Sicht von ausgewählten Philosophen aufgezeigt.

Aber nicht nur die Auffassung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit mit Kindern zu philosophieren hat sich gewandelt, sondert auch der Begriff und die Wahrnehmung der Kindheit als eine eigene Entwicklungsphase hat sich stark gewandelt und unsere moderne Auffassung von „Kindheit“ war zu keiner Zeit selbstverständlich.

In der „Geschichte der Kindheit“ skizziert der französische Historiker Philippe Ariès in dem Kapitel „Die Entdeckung der Kindheit“ sehr treffend, wie sich beispielsweise in den bildenden Künsten die Darstellung von Kindern gewandelt hat. Diese Skizzierung bietet sich vor allem deshalb an, weil sie unabhängig von Fragestellung und Hintergrundwissen von jedem betrachtet werden kann:

„Bis zum 17. Jahrhundert kannte die mittelalterliche Kunst die Kindheit entweder nicht oder unternahm doch jedenfalls keinen Versuch, sie darzustellen.“[1]

Ariès beschreibt anhand ausgewählter Beispiele seine Auffassung, in den bildlichen Darstellungen biblischer Geschichten (hierbei zentral die Darstellung des Jesuskindes) seien Kinder lediglich „[…]hinsichtlich der Größe reduzierte Erwachsene; ihr Ausdruck sowie die übrigen Merkmale unterscheiden sich in nichts von denen Erwachsener.“[2]

Und ebenso wird die Teilhabe von Kindern am mittelalterlichen Alltag von Aries beschrieben: Kinder nehmen am alltäglichen Geschehen teil, als wären sie kleine Erwachsene. Ihnen werden keine speziellen Bedürfnisse zugeschrieben und es wird auf sie nicht gesondert eingegangen; es gibt keine Erziehung im heutigen Sinne. Sobald sie in der Lage sind, sich einigermaßen selbstständig zu verpflegen, müssen sie sich der Ordnung der Erwachsenen anpassen und nehmen an der „Welt der Erwachsenen“ teil. Auch an öffentlicher Folter nahmen Kinder selbstverständlich teil.[3]

Erstaunlich ist der mittelalterliche Umgang mit Kindern, wie ihn Ariès beschreibt, vor allem deshalb, weil es einige hundert Jahre zuvor in Griechenland bereits die ersten „Vorschläge“ zur Kindererziehung und zum lehrenden Umgang mit Kindern gab.

Im Griechenland der Antike war der Umgang mit Kindern und die Frage der Erziehung aber durchaus zwiespältig. Zum einen war es verbreitet, dass (wohlhabende) Personen mit Bürgerrechten ihre Kinder von einer Amme und/oder einem Sklaven pflegen und erziehen zu lassen, anderseits war es nicht ungewöhnlich, unerwünschte Kinder auszusetzen.[4]

Da das antike Griechenland mit seinen Philosophen und Denkstilen prägend für die gesamte Kultur der Philosophie Europas gewesen ist, finden sich hier bereits erste Positionierungen zum Lehren der Philosophie. Besonders gut verdeutlichen kann man diese anhand von Platons Schriften.

Platon lebte circa 427 bis 347 vor Christus[5] und war einer der einflussreichsten Philosophen der griechischen Antike. Er war Schüler von Sokrates und einer der wenigen Philosophen, die Sokrates und dessen Lehren in ihren Aufzeichnungen beschrieben haben; von Sokrates selbst gibt es keinerlei Aufzeichnungen und alle Informationen über ihn sind aufgrund dessen subjektiv vom jeweiligen Verfasser „eingefärbt“.

Nun hat Platon sich zwar nicht explizit mit einer Didaktik der Philosophie beschäftigt, jedoch kann man seine Haltung zur Erziehung und zum Lehren der Philosophie aus seinen niedergeschriebenen Dialogen herauslesen. Zunächst muss dazu in groben Zügen erläutert werden, welches Weltbild das Denken Platons beeinflusste. Platon war der Auffassung, es gäbe eine Welt der Ideen, die unveränderlich und ewig ist; aus ihr gehen die unsterblichen Seelen hervor und hierhin gelangen sie nach dem Tod des Körpers wieder. Erfahrungen und Wissen des Lebens werden von der Seele mit in diese Ideenwelt genommen, jedoch beim erneuten Hervorgehen der Seele in die sinnliche Welt vergessen. An Erfahrungen und Erkenntnisse, beziehungsweise die der veränderbaren, sinnlichen Welt um uns herum zugrunde liegenden Ideen muss sich die Seele erst wieder erinnern. Platon nennt diesen Vorgang des Erinnerns ἀνάμνησις[6] (Anamnesis).

Aber dieses Erinnern und auch das Erlangen von Erkenntnis und Wissen passiert nach Platon keineswegs zufällig, sondern wird unter Anleitung eines Philosophiekundigen erlangt. Methodisch bedient sich Platon des „Sokratischen Gesprächs“ beziehungsweise des „Sokratischen Dialoges“, indem er (Sokrates) einen Dialog führt, mithilfe dessen er seinen Gesprächspartner dazu bringt, selbst zu einer Erkenntnis zu gelangen. Das geschieht in Form von Gedankenkonstrukten, die Sokrates seinen Dialogpartner „nachdenken“ lässt und Fragen, die er seinem Dialogpartner stellt und mit denen er seine Gesprächspartner dazu bringt, ihre Überzeugungen zu hinterfragen und über deren Ursprung zu reflektieren. Das Wissen, beziehungsweise die Erkenntnis wird also nach dieser Methode nicht vom Gelehrten oktroyiert, sondern wird vom Lernenden selbst erlangt. Auf diese Weise unterrichtete Platon auch die Schüler seiner Akademie.

Allerdings ging Platon davon aus, dass nicht jeder für die Philosophie geeignet ist und sie nur philosophisch Veranlagten unter Anleitung zugänglich sei:

„Der wahre Philosoph aber >>spannt […] alle Kräfte an, seine eigenen und die seines Führers auf diesem Wege, und läßt nicht los, bis er in allem ans Ziel gekommen ist oder sich wenigstens die Fähigkeit erworben hat, um ohne Führer sich selber den Weg weisen zu können. In solchen, nur in solchen Gedanken lebt der philosophisch Veranlagte.<<“ [7]

Demnach bestünde also die Gefahr, dass das Philosophieren mit nicht philosophisch Veranlagten der Philosophie insofern schaden könne, als dass sie haltlos wäre. Eine Auffassung, die man heutzutage bei einigen Skeptikern der Philosophie mit Kindern wiederfindet.

Niewiem beschreibt in „Über die Möglichkeiten des ‚Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen’“ den entscheidenden Wandel, der sich seit Platon in Bezug auf das Denken Heranwachsender vollzogen hat:

„Alle drei Philosophen (gemeint sind Rousseau, Montaigne und Locke – Anm. der Verf.) heben die Vernunftbegabung der Kinder hervor und nehmen sie zum Ausgangspunkt ihrer Darstellungen. Die Vernunftbegabung ist aber der wesentliche Faktor, welcher den Gedanken an die Möglichkeit des >>Philosophieren mit Kindern<< im Grunde erst überlegenswert macht. Die antiken Philosophen hingegen verneinen die Vernunftfähigkeit der Jugend[…]“[8]

Besonders Jean-Jacques Rousseaus 1762 erschienener pädagogischer Roman „Émile oder über die Erziehung“ bleibt hervorzuheben, da hier erstmals die Eigenheit der Psyche und Entwicklung des Kindes akzeptiert wird und das Kind in seiner Erziehung nicht nur als „Mängelwesen“ mit autoritären Mitteln gelenkt wird, sondern ihm so viele Freiheiten als nur möglich eingeräumt werden. Er hilft dem Kind, sich selbst zu helfen.

Kindern wird nun auch eine Vernunftbegabung zugeschrieben und das nicht nur von den drei im Zitat gemeinten Philosophen Rousseau, Montaigne und Locke, sondern beispielsweise auch von Kant. Der von Platon geprägte Ansatz, Individuen zum selbstständigen Denken anzuregen, wird im Laufe der Geschichte um die Betrachtung und Einbeziehung der Erziehung und Aufklärung erweitert.

„Aufklärung in einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh genug anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen.“ [9]

Diese kurzen Beispiele verdeutlichen durchaus, was das Ziel der Erziehung und nicht zuletzt der Philosophie sein soll: Eine Befähigung zu selbstständigem Denken und Hinterfragen von Tatsachen und auch Begriffen, die als selbstverständlich hingenommen werden.

Besonders ausschlaggebend ist jedoch die „neuerliche“ Auffassung, dass Verstehen wichtiger als auswendig gelerntes Wissen sei. Das geht mit einer Differenzierung von Wissen und Verstehen einher.

2.2 Erste Ansätze der Kinderphilosophie

In Deutschland trifft man auf die ersten Ansätze der Kinderphilosophie in den 1920er Jahren. Da die Kinderphilosophie selbstverständlich nicht in das nationalsozialistische Weltbild der Hitler-Diktatur passte, wurden die Werke der Philosophen später in Deutschland verboten.

Bis es dazu kam, beschäftigten sich die ersten Philosophen und Pädagogen ganz explizit mit der Frage, wie und unter welcher Zielsetzung Philosophie vermittelt werden kann und auch, in welchem Alter man den Kindern (oder Schülern)[10] welche philosophischen Themen zumuten könnte. Es ist davon auszugehen, dass die Autoren die Ansätze der jeweils anderen entweder nicht besonders achteten oder auch gar nicht kannten, da sie nicht aufeinander Bezug nehmen.

Es bildeten sich, bis zum Verbot durch das NS-Regime, vier besonders interessante Ansätze heraus, die folgend dargelegt werden, da jedem Ansatz interessante Denkweisen für die moderne Kinderphilosophie zu entnehmen sind beziehungsweise entnommen wurden.

2.2.1 Der „Metaphysik-Ansatz“

Zur Einstufung der kognitiven Fähigkeiten von Kindern hat zunächst Herman Nohl ein, wenn auch stark vereinfacht dargestelltes, aber sehr praktisches 3-Phasen-Modell entwickelt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[11]

Dieses 1922 entwickelte 3-Phasen-Modell und Nohls didaktischer Ansatz sind insofern hervorzuheben, als dass hieraus seine Auffassung hervorgeht, dass Kinder viel stärker metaphysisch denken, als Erwachsene und von daher besonders gut für das Philosophieren, auch schon in jungen Jahren, geeignet sind. Damit verbunden ist natürlich, aufgrund der Fähigkeit zur „phantastischen Synthese“ (s. Abbildung), dass Kinder im Grundschulalter noch oft dazu neigen, Fantasie und Realität zu verwechseln. Deshalb war es Nohls Forderung gerade in der Grundschule keinen nach Fächern strukturierten, sondern eine Art „Gesamtunterricht“ anzubieten, in dem die Kinder immer wieder die Zeit und die Möglichkeit bekommen sollten, über die Gegenstände des Unterrichtes zu staunen und ausreichend zu reflektieren. Nach dieser Auffassung solle Philosophie bzw. das Philosophieren Bestandteil des von Nohl für die Grundschule geforderten „Gesamtunterrichts“[12] sein. Sein Ansatz wird als „Metaphysik-Ansatz“ beschrieben.

Nohl wird aber, unter anderem von Ekkehard Martens, häufig dafür kritisiert, was seiner Meinung nach Ziel dieses Unterrichts sein sollte:

„Kritisierbar aber ist auf jeden Fall Nohls Zielvorstellung eines >>höheren Lebens<< aus der verengten Sicht eines bürgerlichen Männlichkeitsideals.“ [13]

Diese Kritik bezieht sich darauf, dass Herman Nohl als zu verfolgendes Ziel des Philosophieunterrichts die Erziehung zu Tugend und Tapferkeit fordert.

2.2.2 Der „Führer-Ansatz“

Allerdings scheint es eine ähnlich geartete Zielvorstellung auch bei Arthur Liebert gegeben zu haben, dem der „Führer-Ansatz“ zugeschrieben wird. Damit ist gemeint, dass Liebert der Auffassung war, dass die philosophische Begabung nur wenigen gegeben sei. In etwa wie eine Gnade, sowie auch große Künstler oder Mathematiker „begnadet“ seien.[14]

„Alle aber brauchen die Philosophie in der Form einer festen, systematisch aufgebauten Weltanschauung“ [15]

An dieser Forderung Lieberts nach der Philosophie im Sinne einer Weltanschauung sieht man die gedankliche Fortsetzung der Forderung von Wilhelm Dilthey an die Philosophie. Er forderte ebenfalls, dass Philosophie eine Deutung der Welt und damit des Ganzen zu sein hat.[16]

Für die moderne Kinderphilosophie wird aus Lieberts Ansatz vor allem die „Forderung“ entnommen, dass alle Philosophie brauchen. Auch, wenn er die Gabe des Philosophierens nicht jedem zutraut, so müsse doch jedem gezeigt werden, wie Philosophie, genauso wie Mathematik oder Kunst, zu sein habe.

2.2.3 Der „Methoden-Ansatz“

Der deutsche Philosoph Leonard Nelson begründete den Methoden-Ansatz. Das tat er nicht in erster Linie, um mit Kindern zu philosophieren, denn sein Interesse galt vor allem der (Aus-) Bildung von Erwachsenen.

Zu diesem Zweck eröffnete Nelson 1924 in Kassel das Landerziehungsheim „Walkemühle“, welches an sich aus zwei Schulen bestand. Hauptsächlich sollten in der Schule Mitglieder des „Internationalen Sozialistischen Kampfbundes“ zu politischen Führungskräften ausgebildet werden. In der zweiten Schule wurden Heranwachsende zu selbstständigem Denken und Selbstbestimmung mit erzogen, wozu sich Nelson der „sokratischen Methode“ bediente. In seiner Auffassung von der philosophischen Fähigkeit unterschiedet er sich, wie auch die Begründer der anderen Methoden, grundsätzlich von Liebert. Nelson ist der Ansicht, dass das Philosophieren lehrbar sei, so denn man einen lernwilligen Schüler vor sich habe.[17] Die Lernwilligkeit zeigt sich nach Nelsons Ansicht vor allem dadurch, dass die Schüler dazu bereit sein müssen, von eigenen Vorurteilen und von der Selbstverständlichkeit von Begriffen und Dingen abzurücken und diese zu hinterfragen. Genau dafür eignet sich die „sokratische Methode“, in der durch gezieltes Fragen ergründet werden soll, woher Wissen und Erkenntnis stammen und vorher man sich beispielsweise des Ursprungs und der Bedeutung von Worten, die im normalen Sprachgebrauch verwendet werden, sicher sein kann. Auf diese Weise werden die Schüler von Nelson dazu angeregt sich selbst Urteile zu bilden:

„Wir haben gefunden, daß die Philosophie jener Inbegriff der allgemeinen Vernunftwahrheiten ist, die nur durch Denken klar werden. Philosophieren ist demnach nichts anderes, als mit Hilfe des Verstandes jene abstrakten Vernunftwahrheiten zu isolieren, und in allgemeinen Urteilen auszusprechen.

Jene allgemeinen Wahrheiten lassen sich, sofern sie in Worten ausgesprochen werden, zu Gehör bringen. Aber sie werden darum keineswegs eingesehen. Einsehen kann sie nur derjenige, der von ihrer Anwendung ausgeht in Urteilen, die er selbst fällt, und der dann, indem er selbst den Rückgang zu den Voraussetzungen dieser Erfahrungsurteile vollzieht, in ihnen seine eigenen Voraussetzungen wiedererkennt.

Man kann daher nicht Philosophie, den Inbegriff dieser philosophischen Prinzipien, unterrichtend vermitteln, wie man etwa geschichtliche Tatsachen vermitteln kann, ja wie sich selbst geometrische Grundsätze vermitteln lassen. Tatsachen der Geschichte können als solche überhaupt nicht eingesehen werden. Sie können nur zur Kenntnis genommen werden.“ [18]

Sicherlich auch begründet durch seinen Widerstand, der durch die brisante politische Situation seiner Zeit ausgelöst wurde, ist es für Nelson von zentraler Bedeutung, dass seine Schüler lernen, Dinge nicht unreflektiert hinzunehmen und sich einer autoritären Führung unterzuordnen. Und die für ihn einzig praktikable Methode, um auch das autoritäre Lehrer-Schüler-Verhältnis zu entschärfen, ist die „sokratische Methode“, die einen einigermaßen gleichberechtigten Dialog zustande kommen lässt. Dieser Grundgedanke wird sich im weiteren Verlauf der Kinderphilosophie vor allem bei Gareth B. Matthews wiederfinden lassen, der zwar weniger auf die Einhaltung der Methode Wert legt, jedoch ebenfalls eine größtmögliche Gleichberechtigung von Lehrern und Schülern fordert.

2.2.4 Der „Aufklärungs-Ansatz“

Dieser Ansatz wurde, wie Martens in „Sich im Denken orientieren“ 1990 beschreibt, vor allem durch den Philosophen Walter Benjamin geprägt.

Mit seinen Rundfunkbeiträgen in den Jahren zwischen 1929-1932 zur „Aufklärung der Kinder“[19], bereichert er die parallel existierenden Ansätze um den Faktor der Aufklärung. Benjamin ist davon überzeugt, dass das (Weiter-) Denken zunächst jedem zuzutrauen ist und alle dazu fähig sind. Methodisch ging Benjamin in seinen Rundfunkbeiträgen so vor, dass er geschichtliche Ereignisse oder Ereignisse aus der direkten Alltagswelt der Kinder aufgreift und vorträgt. Das Vortragen geschieht ohne Wertung der geschilderten Inhalte, soll die Kinder aber nicht nur in die passive Haltung, wie beispielsweise beim Hören von Märchen, drängen, sondern soll zum aktiven Nachdenken über philosophische Grundbegriffe wie Vernunft oder Gerechtigkeit führen. Das macht er unter anderem mit dem Beispiel der Hexenverbrennung, in dem er von den Ereignissen selbst berichtet aber auch davon, wie man glaubte eine Hexe erkennen zu können, was ihnen ohne tatsächliche Beweise vorgeworfen wurde und welche Prozesse die Frauen durchlaufen mussten[20].

Für Benjamin ist es wichtig, dass die Geschichten und die damit einhergehende Aufklärung keine Überforderung darstellen und an die Leistungsfähigkeit der angesprochenen Kinder weitgehend angepasst sind.

Diese Anpassung an die Leistungsfähigkeit der Kinder ist auch in den modernen Ansätzen der Kinderphilosophie durchweg wiederzufinden.

3. Philosophieren mit Kindern

3.1 Begriffsabgrenzung

Recherchiert man zum Thema „Philosophieren mit Kindern“, so fallen bald auch andere Formulierungen, wie das

- „Philosophieren über Kinder“,
- „Philosophieren von Kindern“,
- „Philosophieren für Kinder“ oder
- „Nachdenken mit Kindern“ ins Auge.

Diese Begriffe voneinander zu trennen ist nicht nur eine rein formale Aufgabe, sondern hat auch mit der Separation der verschiedenen Ansätze zur modernen Kinderphilosophie zu tun.

So schreibt beispielsweise Ekkehard Martens in „Philosophieren mit Kindern – Eine Einführung in die Philosophie“:

„Philosophieren mit Kindern ist daher in besonderer Weise zugleich eine (Wieder-) Einführung in die Philosophie.“ [21]

Damit ist aber grundsätzlich noch nicht geklärt, wie Martens „Philosophie“ definiert.

Auch werden die Begriffe Philosophie, Philosophieren und Nachdenken häufig parallel verwendet, was wiederum für Unklarheiten sorgen kann und viele Skeptiker zur Kritik veranlasst.

Es ist bereits an der Bezeichnung zu erkennen, dass „Philosophieren über Kinder“ vom „Philosophieren mit Kindern“ definitiv abzugrenzen ist, da sich Erwachsene hierbei zu den philosophischen Fähigkeiten von Kindern und ihrer Eignung zu philosophieren äußern. Demnach sind beim „Philosophieren über Kinder“ Kinder und deren Fähigkeiten zwar Gegenstand der Betrachtungen, haben aber an den philosophischen Interaktionen keinen (aktiven) Anteil. Deshalb hat dieses Gebiet mit dem, was unter „Philosophieren mit Kindern“ verstanden wird, nicht viel gemein.

Das „Philosophieren von Kindern“ ist kaum angemessen abgrenzbar, denn hierbei ist das Philosophieren unter Kindern gemeint, welches einerseits wichtige Beobachtungen für alle anderen Teildisziplinen birgt, aber andererseits kaum ohne Anleitung Erwachsener geschieht.

Am ehesten sind „Philosophie für Kinder“ und das „Philosophieren mit Kindern“ vertiefend zu betrachten, wenn gefragt wird, was Kinderphilosophie eigentlich ist. Auf diese Frage ließen sich jedoch vielerlei Antworten geben, je nachdem welche Motive und Traditionen betrachtet werden (sollen).

Es bleibt aber besonders wichtig festzuhalten, dass es beim Philosophieren mit Kindern nicht darum geht, philosophisches Fachwissen auf ein für Kinder verständliches Niveau „herunterzubrechen“,

„(…) sondern darum, das eigenständige kreative und kritische Denken und selbstverantwortliche Handeln von Kindern zu fördern.“ [22]

3.2 Didaktische Ansätze

Alle Methoden der modernen Kinderphilosophie orientieren sich im Grunde an den vier Ansätzen von Matthew Lipman, Gareth B. Matthews, Helmut Schreier und Ekkehard Martens.

Dabei unterscheiden sich die Forderungen unter anderem dahingehend, ob Philosophie als ein fächerübergreifendes Prinzip des Unterrichts oder als eigenständiges Fach praktiziert werden sollte.

Einigkeit besteht bei allen darin, dass im Gespräch das eigenständige Denken angeregt und das (Hinter-) Fragen motiviert werden soll.

Im Folgenden sollen nun die Theorien der oben genannten Philosophen vorgestellt werden. Darauf aufbauend werden dann im Kapitel „Praktische Beispiele didaktischer Ansätze“ praktische Übungen der Philosophen gezeigt und auf ihre Tauglichkeit in der Grundschule hin untersucht werden.

3.2.1 „Philosophieren für Kinder“ – Ein logisch-argumentativer Ansatz

Diese Richtung wurde von dem Amerikaner Matthew Lipman geprägt. Ausschlaggebend für seinen Entwurf der „Philosophie für Kinder“ war, diversen Berichten zufolge, dass Lipman bei einigen Philosophiestudenten feststellte, dass ihr Faktenwissen zwar beachtlich war, jedoch fast gänzlich eine reflektierte Haltung zu eigenen Überzeugungen fehlte.

„Lipman hatte als Professor festgestellt, dass sich seine Studenten und Studentinnen zwar gut in der Philosophiegeschichte auskannten, jedoch das eigene Nachdenken über Sinn und Zweck der Welt nicht gelernt hatten.“ [23]

Aus diesem Grund machte sich Lipman Gedanken darüber, wie und wann man beginnen sollte, Kindern die philosophische Kompetenz beizubringen, damit sie möglichst früh selbstständig denken und sich in der Welt orientieren können.

Nach Lipmans Auffassung fangen Kinder schon an zu philosophieren, wenn sie beginnen nach dem „Warum“ zu fragen. Sicherlich eine Auffassung, der man kritisch gegenüberstehen kann, aber da diese Frage von Kindern schon sehr früh gestellt wird und sie somit ihren enormen Wissenshunger zum Ausdruck bringen, ist für Lipman auch klar, dass das Philosophieren schon in der Elementary beziehungsweise Primary School (in Deutschland wäre das die Grundschule) gelehrt werden solle.

1974 gründete er deshalb, zusammen mit Ann Margaret Sharp, einer Professorin für Erziehungswissenschaften, das „Institute for the Advancement of philosophy for Children“ (IAPC), für die Lipman die philosophischen Inhalte ausarbeitete, während Sharp durch ihre Tätigkeit als Erziehungswissenschaftlerin präzises Wissen über die Ausbildung von Lehrkräften und den Aufbau des Schulsystems einfließen lassen konnte. Beiden war es wichtig, dass das Fach „Philosophie“ so früh wie möglich Einzug in die Schule hält.

“The aim ist not to get the children to learn philosophy, but to encourage them to think philosophically.“[24]

Das Ziel seiner Arbeit soll also sein, die Denkfähigkeit („reasonsing skills“) der Kinder in Gang zu setzen und zu einer Verstandesfähigkeit („reasonableness) zu formen.[25]

Für Matthew Lipman ist dieses Ziel grundsätzlich auch förderlich für alle anderen Fächer, bei denen es für Lipman eben so wichtig ist, dass die Inhalte nicht bloß auswendig gelernt, sondern möglichst durchdrungen und verstanden werden.

„Die Denkfertigkeiten, die die Schüler im Philosophieunterricht erwerben, stellen für Lipman eine wertvolle Grundlage für den Erwerb von Kenntnissen und geistigen Fähigkeiten in den übrigen Schulfächern dar. Kinder, die grundlegende Denkfähigkeiten wie die Fähigkeit zu klassifizieren und definieren, induktiv und deduktiv zu schließen, Implikationen zu erkennen, Hypothesen aufzustellen u.s.f. erworben haben (…), sollten eher in der Lage sein, die intellektuellen Anforderungen der übrigen Fächer zu meistern(…)“[26]

Von der klassischen Lehrer-Schüler-Hierarchie im Frontalunterricht wird in gewisser Weise auch abgerückt, denn die „community of inquiry“, in der Schule ist damit die Klassengemeinschaft gemeint, soll hauptsächlich zur Bearbeitung und Klärung der aufgeworfenen Fragen beitragen. Der Lehrer soll viel eher als ein Moderator der Gespräche fungieren, der an geeigneten Stellen die Inhalte vereinfacht und zusammenfasst und dafür sorgt, dass die Inhalte jedem Schüler zugänglich sind und bleiben.[27] Das hat unter anderem auch den Effekt, dass die Kinder die Grundregeln der Gesprächsführung lernen und diese wie nebensächlich verinnerlichen (sollten), da die Gesprächsinhalte interessant genug sein müssten, als dass alle Kinder sich diesen Regeln freiwillig anpassen, um am Gespräch teilnehmen zu können.

Lipman setzt bei der Umsetzung seines Ansatzes im Unterricht auf Geschichten:

„Children are born story-lovers“ [28]

Die Geschichten sollten größtenteils aus Dialogen bestehen, da sie dann zum einen von Kindern besser und lieber gelesen würden und man so zum anderen die Bereitschaft der Kinder steigere, selbst in einen Dialog zu treten.

„Im Dialog selbst wird jedoch die Denkfähigkeit der am Dialog Partizipierenden gefördert. Geschichten können sich also zweifach positiv auf die Denkfähigkeit der Schüler auswirken: einmal in der Interdependenz von Lesen und Denken und zum anderen in der Aufforderung zum gemeinsamen Dialog über das Gehörte.“[29]

Methodisch bedient sich Lipman bei seinem logisch-argumentativem Philosophieunterricht Geschichten, die er selbst verfasst und auf verschiedene Altersgruppen beziehungsweise Klassenstufen ausgerichtet hat. Für die Grundschule sind dafür seine „Pixie“-Geschichten die bekanntesten Beispiele. Hier erzählt Pixie von ihrer Familie, ihren Freunden, ihrem Besuch im Zoo und auch einigen Dingen, die auf die ersten Blick vielleicht banal wirken, im späteren Gespräch mit den Kindern aber einen gelungenen Anlass bieten, auch hierüber Fragen zu stellen und zu diskutieren.

Hier sei bereits angemerkt, dass Lipmans Methode deshalb oft auf Kritik stößt, da er selbst zu seinen Geschichten verfasste Handreichungen für Lehrkräfte veröffentlicht hat, in der Fragenkataloge und Diskussionsthemen vorgegeben sind. Das heißt also, dass die Gespräche immer auf ein Ziel ausgerichtet sind und die Lehrkraft, auch aufgrund der beharrlichen „Methoden-Schulungen“, die Lipman angeboten hat, kaum Spielraum für ungeplante, spontane Einwürfe der Kinder hat. Ein Beispiel dazu wird im Kapitel „Praktische Beispiele didaktischer Ansätze“ folgen.

3.2.2 „Philosophieren mit Kindern“ – Gleichberechtigte Dialoge

Im Gegensatz zu der vom Lipman in den 1970er Jahren begründeten „Philosophie für Kinder“ und der damit einhergehenden Methode, eine Geschichte nach einem vorgefertigten Fragenkatalog „abzuarbeiten“, forderte der amerikanische Philosoph Gareth B. Matthews viel mehr die Gleichberechtigung von Kindern ein. 1980 wurde sein Werk „Philosophy and the Young Child“ veröffentlicht. Darin veröffentlichte er Gespräche, die er selbst mit Kindern führte und die ihn oft in seinen Annahmen darüber bestätigen, zu welchen philosophischen Einsichten und tiefgründigen Fragen schon sehr junge Kinder fähig sind:

„Meine vorrangige Absicht ist, Erwachsene für eine Reihe von faszinierenden Fragen zu interessieren, über die sie gewinnbringend mit Kindern nachdenken können, Fragen, die nicht als das ausschließliche Terrain von Berufsphilosophen betrachtet werden sollten. (…) Diese Beziehung [Jene zwischen Erwachsenen und Kindern – Anm. der Verf.] ist frei von Herablassung – frei von der Herblassung des Versuchsleiters seiner Versuchsperson, des Lehrers dem Anfänger oder Versorgers dem Empfänger von Fürsorge gegenüber.“[30]

Der entscheidende Unterschied von Matthews Philosophie mit Kindern zu Lipmans Philosophie für Kinder ist zum einen die gleichberechtigte Behandlung der Kinder und ihrer Fragen und zum anderen, dass seine Philosophie mit Kindern nicht zielgerichtet ist, also auch keine vorgefertigten Fragen- oder Diskussionstabellen bereitlegt. Zudem erkennt Matthews in vielen Kinderfragen Parallelen zu den Fragen, die die Philosophen diverser philosophischer Denkrichtungen seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten, beschäftigen. Auch auf die meisten dieser Fragen kann es keine fertigen Antworten geben und es ist auch nicht sinnvoll, Kindern solche fertigen Antworten aufzudrängen.

Skeptiker bringen oft das Argument hervor, dass in Fragen von Kindern, wenn man sie nur in den richtigen Kontext rücken würde, häufig Analogien zu Thesen, Erkenntnissen oder Entdeckungen großer Denker und Philosophen zu finden seien. Um dem entgegenzuwirken wird es hilfreich sein, einen Versuch zu unternehmen, sich an die ganz persönlichen großen (philosophischen) Fragen der Kindheit zu erinnern. Dabei treten oft erstaunliche Fragen oder Gedankenexperimente zutage, wie beispielsweise die Frage, woher man wissen kann, dass man in diesem Moment, im Hier und Jetzt, nicht alles nur träumt; dass man diesen und alle anderen Momente nicht vielleicht nur erträumt. Ein Ansatz, der sich in René Descartes „Meditationen“ fast gleichartig wiederfinden lässt und eine Frage, deren Diskurs auch einen Diskurs zu einer der kantianischen Fragen, nämlich „Was kann ich wissen?“, darstellt.

Die kindliche Art, alles erfragen und wissen zu wollen, sich Fantasien auszumalen, die einem „Was-Wäre-Wenn-Schema“ folgen et cetera bezeichnet Matthews als eine Beunruhigung, in der sich die Kinder befinden.

„Ich schlage vor, die Philosophie der Erwachsenen als ausgereifte Antwort auf kindliche Fragen zu sehen. Die Philosophie der Erwachsenen kann als eine Idealisierung der Kindheit betrachtet werden, als bewußte Rekonstruktion der besten Art und Weise, Sinn aus der Welt zu machen angesichts der Bedrohung für Verstand und Moral , denen sich das heranwachsende Kind gegenübersieht.“[31]

Sie aus dieser „Beunruhigung“ zu befördern kann dann gelingen, wenn die Kinder mit ihren Fragen zuallererst ernst genommen werden und mit ihnen ein ernsthafter Dialog über ihre Fragen geführt wird.

Dabei ist Matthews nicht darauf bedacht, Methoden vorzuschlagen, die befolgt werden müssen, da das seiner Ansicht nach kontraproduktiv wäre. Auch zu den von ihm verfassten Geschichten äußert er sich nicht dahingehend, wie genau mit ihnen umgegangen werden sollte.[32]

Es bietet sich allerdings an, mit den Kindern gemeinsam die Geschichten von Matthews, die meistens ein offenes oder gar kein Ende haben, weiterzuerzählen. Damit das passieren kann, muss ein philosophisches Problem oder eine (versteckte) philosophische Frage gefunden, besprochen und darauf eingegangen werden, die zu Beginn der Geschichte auftaucht und die ebenfalls nicht zu Ende erzählt wird. Aber wie sich solche Gespräche entwickeln oder was nun besonders wichtig ist, wird nicht vorgegeben. Denn das würde Spontaneität unterbinden und würde auch der Gleichberechtigung der Kinder am Diskurs widersprechen, denn wenn die Kinder andere inhaltliche Punkte der Geschichte als wichtig erachten, dann muss darauf eingegangen werden.

Matthews fordert von den Lehrenden, dabei ist es fast gleichgültig ob in Schule oder Studium, die Begeisterung eines Kindes an der Philosophie zu fördern und nicht auf den eigenen Wissensvorsprung zu pochen, um philosophische Gespräche lebendig und facettenreich zu gestalten.

„Meine vorrangige Absicht ist, Erwachsene für eine Reihe von faszinierenden Fragen zu interessieren, über die sie gewinnbringend mit Kindern nachdenken können…

Was nicht ernstgenommen oder gar weithin nicht erkannt wurde, ist die Möglichkeit, sich mit Kindern in einer Beziehung gegenseitiger Achtung den tiefen, >naiven< Fragen der Philosophie zu stellen.“[33]

3.2.3 „Nachdenken mit Kindern“ – Fächerübergreifendes Prinzip

Von den beiden vorher beschriebenen Ansätzen unterscheidet sich das „Nachdenken mit Kindern“ vor allem darin, in welcher Form Philosophie mit Kindern gestaltet werden sollte. Denn während Matthew Lipman und Gareth B. Matthews eindeutig einen separaten Philosophieunterricht beschreiben, ist Helmut Schreier viel mehr daran interessiert, dass Philosophie als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip Anwendung findet.

Er beschreibt seinen Ansatz als ein Sammelsurium von nicht fachgebundenen Nachdenk-Aktivitäten; daher „ Nachdenken mit Kindern“. Schreier ist es weniger wichtig, dass bereits große Philosophen diese oder jene Gedankengänge schon einmal hatten. Treten bei Schreiers Aktivitäten philosophiegeschichtlich relevante Probleme oder Fragen auf, dann geschieht das in zweiter Linie und wird nicht als Ausgangspunkt oder Ziel in erster Linie aufgegriffen und verfolgt.

Helmut Schreier ist Professor für Didaktik der Geografie, Geschichte, Politik und Sachunterricht. Besonders im Bereich der Didaktik des Sachunterrichts fordert Schreier dazu auf, immer wieder mit den Kindern gemeinsam nachzudenken, das gelernte Fachwissen entweder deduktiv durch Dialoge und Beobachtungen zu vertiefen oder einen induktiven Einstieg zu einem Thema zu wählen, bei dem vor der Festigung des Fachwissens direkt Beobachtungen gemacht werden können und sollen.

Dabei geht Schreier im Grunde genommen ähnlich vor wie Gareth B. Matthews: Mit Geschichten, die zum Nachdenken und zu Gesprächen anregen sollen. Allerdings sind die „Problematiken“ seiner Geschichten oftmals sehr an das Erfahren der Natur gebunden und es empfiehlt sich die Geschichten, die Helmut Schreier schreibt, nicht einfach nur vorzulesen, sondern sich gemeinsam mit den Schülern in ein ähnliches Umfeld zu begeben oder einen Versuch zu wagen, Dinge aus der Geschichte nachzumachen.

Schreiers Forderung lautet „Enttrivialisierung“ des gesamten Schulunterrichts. Um das zu erreichen ist es ihm wichtig, dass in seinen Geschichten die unterschiedlichen Meinungen und Haltungen der Personen deutlich werden, die dann von den Kindern nachempfunden, nachgespielt und diskutiert werden können.

„Eine philosophische Geschichte verhält sich in diesem Fall zur philosophischen Theorie, ähnlich wie ein Anwendungsfall zu dem zugrundeliegenden Gesetz.“[34]

Dabei betont Schreier immer wieder, dass es zum Erhalt einer gesunden Gesprächskultur nicht förderlich ist, wenn nach dem uralten Unterrichtsprinzip verfahren wird, bei dem die Kinder jahrelang darauf „abgerichtet“ werden, richtige Antworten zu geben; die Antworten, die die Erwachsenen hören wollen.[35] Er fordert, dass es in jedem Unterricht, ganz gleich welcher Gegenstand behandelt wird, zu Diskussionen und Dialogen kommen muss, um eine gute Gesprächskultur überhaupt erst zu ermöglichen.

Schreier stellt für eine „idealtypische Verlaufsform“ vier Stufen dar:

„1. Darstellung des Problems: Zuerst wird der Fall wiedergegeben, die Geschichte vorgelesen, das Dilemma geschildert.
2. Erinnerungen und Einzelfälle zum Problem: Die Kinder äußern ihre Assoziationen; Erlebnisse von Ähnlichem, Anknüpfen an Fernseh-Sendungen, Stellungnahmen und Überlegungen. Zunächst sind alle Äußerungen willkommen. Rückfragen dienen der Klärung. Dann werden die Beiträge im Gespräch auf die dritte Phase hin >>gebündelt<<.
3. Untersuchung des Problems: Es kommt darauf an, die dem Fall angemessene Form zu finden, wie etwa: Rollenspiel, zeichnerische Darstellung, Plädoyer, Gerichtsverhandlung, Disput unter zwei Kontrahenten. Es gilt zu entscheiden, welche Vorarbeiten notwendig sind, beispielsweise Studium von Texten in Kleingruppen, Umfragen, Proben usw.. Entscheidend wichtig ist die Beteiligung der Kinder an der Planung der Untersuchung. Manchmal führt die Arbeit auf Präsentationen oder in der Klassenöffentlichkeit arrangierte Disputationen zu einem späteren Zeitpunkt hin.
4. Endgültige Formulierung des Problems: Am Ende steht die genauere und klarere (erneute) Formulierung des Problems. Manchmal kommt es zu einer Verschiebung der Fragestellung, manchmal gelangen die Kinder über die Untersuchung zu tiefliegenden Schichten ihrer anfänglichen Fragestellung, die wie eine Zwiebel aus mehreren übereinanderliegenden Häuten bestehen mag.“[36]

In diesem Sinne ist Helmut Schreier, im Gegensatz zu anderen Philosophen, die die Philosophie mit Kindern begründen und rechtfertigen, mit seinen Beiträgen sicher interessant für alle Fachlehrer, die Interesse an einem ambivalenten Unterricht und der Förderung von Gesprächskultur haben.

3.2.4 „Philosophieren mit Kindern“ - In Deutschland

Die Ansätze der Kinderphilosophie von Matthew Lipman und Gareth B. Matthews brachte erstmals der deutsche Philosoph und Philosophiedidaktiker Ekkehard Martens in den 1970er Jahren sehr erfolgreich nach Deutschland. Und im Fall von Martens ist damit weniger die Kinderphilosophie aus angewandter Sicht gemeint, sondern er versucht die Ansätze und Umsetzung zu kategorisieren und die „Philosophie mit Kindern“ als Teilgebiet der Philosophie zu etablieren.

Befasst man sich mit der Didaktik der Philosophie, ferner mit „Philosophie mit Kindern“, dann ist es unabdingbar sich mit Ekkehard Martens Schriften ausführlich auseinander zu setzen.

„Zweifellos, philosophieren darf jeder, und das Philosophieren ist Ausdruck der freien Persönlichkeit.“[37]

Für Martens ist in erster Linie wichtig das Philosophieren mit Kindern von Nicht-Philosophie abzugrenzen und dafür bestimmte Kriterien herauszuarbeiten, die beim Philosophieren mit Kindern erfüllt sein müssten, damit es mit Recht als ordentliches Unterrichtsfach bezeichnet werden kann. Um das tun zu können muss natürlich zunächst beschrieben werden, was Philosophie eigentlich ist beziehungsweise sein soll, aber darüber scheint es auch unter Philosophen seit jeher Uneinigkeit zu geben.

„Dabei spannt sich der Bogen von Philosophie als Denken des Weltganzen und rationales Rechenschaftgeben bis hin zur Philosophie als revolutionäre Weltverbesserung und persönliche Lebenshilfe.“[38]

Uneinigkeit über das eigentliche Ziel der Philosophie sind für Martens aber weniger wichtig als ein guter Philosophieunterricht, um der „schlechten Akademisierung“ vorzubeugen und „schlechte Popularisierung“[39] zu vermeiden. Die Gefahr schlechter Akademisierung bestünde seines Erachtens nach dann, wenn hochanspruchsvolle Inhalte in einer für Schüler unangemessenen und uninteressanten Unterrichtsform dargestellt werden. Schlechte Popularisierung nennt es Martens, wenn nur nette, interessante Gespräche mit Kindern geführt würden, die letztendlich mit Philosophie nichts mehr zu tun haben. Diese Art von popularisiertem Philosophieunterricht ist einer der Hauptangriffspunkte für Skeptiker des Philosophierens mit Kindern.

Martens fordert „Methodenkompetenz als wesentliche philosophische Kompetenz“[40]. Und die ausschlaggebende Methode der Philosophie beziehungsweise des Philosophierens ist es nicht, nur zu Fragen und zu bezweifeln, sondern auch das Suchen nach Antworten, das Herausbilden einer eigenen Meinung, sowie die Fähigkeit, diese Meinung zu erklären und zu begründen.

In „Philosophieren mit Kindern als elementare Kulturtechnik“ beschreibt Martens, dass das Philosophieren aus Reflexionshandlungen besteht, die sich immer wieder kreuzen und gemeinsame „Schnittmengen“ haben.

Er nennt folgende Reflexionshandlungen, denen jeweils große Denkrichtungen entspringen, das Fünf-Finger-Modell[41]:

- Das genaue Betrachten und Definieren (Phänomenologie)
- Einfühlen und Nachempfinden anderer Denkweisen und Meinungen (Hermeneutik)
- Die Prüfung von Begriffen und Argumenten (Analytische Philosophie)
- Die Fähigkeit zu widersprechen und sich zu streiten (Dialektik)
- Mit Fantasie und Vorstellungskraft weitere Möglichkeiten ausmalen (Utopienforschung)

Das Fünf-Finger-Modell hat seinen Namen daher, da alle 5 Reflexionshandlungen, wie die Finger an einer Hand „zusammenlaufen“ beziehungsweise eine gemeinsame Basis haben. Aber sie funktionieren durchaus auch für sich allein stehend.

Diese Reflexionshandlungen sind, wenn man sie gelöst von den wissenschaftlich etablierten Denkrichtungen betrachtet, im Grunde auch von Kindern zu leisten. Daher steht es für Martens außer Frage, dass Kinder zum Philosophieren in der Lage sind. Viel mehr fordert er, dass die Lehrkräfte genügend qualifiziert sind, um einen gehaltvollen Unterricht zu gestalten. Sie müssen den Übergang vom naiven zum elementaren Philosophieren anleiten.

Martens beschreibt das wie folgt:

„Erst wenn aber die naiven Reflexionshandlungen methodisch geordnet vollzogen werden, kann man von einem elementaren Philosophieren sprechen. Wenn Kinder oder auch Erwachsene bereit und fähig sind, nicht nur etwas Grundsätzliches zu beschreiben, zu verstehen, zu prüfen, miteinander zu streiten, und zu sinnieren, sondern auch dazu bereit und fähig sind, darüber genauere Beobachtungen anzustellen, sich und andere deutlicher zu verstehen, ihre Wörter und Satzverbindungen klarer zu prüfen, geregelter miteinander zu streiten und ihre Einfälle ein Stück weit zu entwickeln, können sie elementar philosophieren.“[42]

Um nicht im naiven Philosophieren festzustecken, benötigen die Kinder Kultivierung und Förderung durch Erwachsene.

Mit seinem dialogisch-pragmatischen Ansatz hat Ekkehard Martens die didaktische Begründung zum Philosophieren mit Kindern systematisiert.

[...]


[1] Ariès, 1981, S. 92

[2] Ebd.

[3] Ebd., S. 209

[4] Anmerkung: Das wohl berühmteste Beispiel für die Aussetzung eines Kindes im antiken Griechenland ist

der Mythos des Ödipus, der von seinen Eltern ausgesetzt wurde, nachdem das Orakel von Delphi

vorhersagte, das Kind würde als junger Erwachsener seinen Vater töten und seine Mutter heiraten.

[5] Law, 2007, S. 244

[6] Platon1, Menon, 81c-e

[7] Platon2, Der siebente Brief

[8] Niewiem, 2001, S. 34

[9] Kant, A330 in: Martens, 1999, S. 54

[10] Nicht alle lassen sich der „Kinderphilosophie“ zuordnen, jedoch entspringen jedem Ansatz Erkenntnisse, die auch für die moderne Kinderphilosophie von Bedeutung sind und für die Zeit, in der sie verfasst wurden, völlig neuartig waren.

[11] Niewiem, 2001, S. 63

[12] ebd., S. 64 ff.

[13] Martens, 1999, S. 18 f.

[14] Martens, 1999, S. 20

[15] Liebert, 1927, S. 78

[16] Anmerkung: Arthur Liebert war ein Bewunderer Diltheys und veröffentlichte ihm zu Ehren 1933 das Werk „Wilhelm Dilthey : Zum hundersten Geburtstage des Philosophen“

[17] Vgl. Niewiem, 2001, S. 70

[18] Liebert in: Niewiem, 2001, S. 71 f.

[19] Vgl. Martens, 1990, S. 10 f.

[20] Vgl., Niewiem, 2001, S. 76 ff.

[21] Martens, 1999, Vorbemerkung

[22] Fournès, 2006, S.138

[23] Brüning, 2010, S. 17

[24] Lipman, 1980, S. 30

[25] Vgl. Fournés, 2006, S. 142

[26] Freese, 1994, S. 109 f.

[27] Vgl. Lipman, 1980, S. 149

[28] Lipman in: Fournés, 2006, S. 145

[29] Niewiem, 2001, S. 67

[30] Matthews, 1993, S. 22

[31] Matthews in: Martens, 1994, S. 26

[32] Im Gegensatz zu Lipman, der in der Handreichung für Lehrkräfte zu „Pixie“ sehr genau beschreibt, wie mit dem Handbuch umzugehen sei, worauf man bei den Kindern und bei dem Umgang mit den Kindern zu achten habe und wie man sich in „Schweigesituationen“ am besten verhält.

[33] Matthews, 1993, Bucheinband

[34] Schreier1, 1993, S. 18

[35] Vgl. Fuornés, 2006, S. 188

[36] Schreier1, 1993, S. 10 f.

[37] Martens in: Müller/Pfeifer, 2004, S. 7

[38] Ebd.

[39] Ebd., S. 8

[40] Ebd., S. 9

[41] Vgl. ebd., S. 10 ff.

[42] Ebd., S. 11

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783956845543
ISBN (Paperback)
9783956840548
Dateigröße
725 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Philosophiedidaktik Philosophie Grundschule Kinderphilosophie Didaktik der Philosophie

Autor

Anna Borggreve wurde 1985 in Westerland auf Sylt geboren. Ihr Studium der Bildungswissenschaften bzw. das Lehramtsstudium mit den Fächern Deutsch und Philosophie an der Universität Flensburg begann sie im Jahr 2009. Ihre Abschlussarbeiten schrieb die Autorin im Bereich der Philosophie- und Sprachdidaktik. Die praktischen Erfahrungen in Schulen zeigten ihr, dass trotz Lehrplansatzung des Landes Schleswig-Holstein der Philosophieunterricht oftmals nur als Wahlpflichtkurs in den höheren Klassen angeboten wurde. Daher hat sie sich in ihrer Arbeit „Philosophieren mit Kindern - Ansätze und Eignung des Philosophieunterrichts in Grundschulen“ mit der Möglichkeit der Umsetzung von Philosophieunterricht in der Primarstufe auseinandergesetzt.
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Titel: Philosophieren mit Kindern: Ansätze und Eignung des Philosophieunterrichts in der Grundschule
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