Selbstbestimmung über Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter(-sheim): Aktueller Forschungsstand und Empfehlungen für zukünftige Forschung
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit gibt im Folgenden einen theoretischen Einblick über die Situation der alternden Gesellschaft. Verwendete Begriffe werden erläutert, abgegrenzt und miteinander in Bezug gesetzt. Hierzu wird die Literatur anhand folgender leitender Fragen überprüft: Wirkt sich Selbstbestimmung über Liebe, Partnerschaft und Sexualität in Hinsicht auf Wohlbefinden und Gesundheit im Alter(-sheim) aus? Und welche Unterschiede gibt es im Erleben von Liebe und Sexualität in Partnerschaften und Beziehungen im Alter? Anschließend wird mittels bisheriger empirischer Befunde zu den unterschiedlichen Schwerpunkten überprüft, ob sich Zusammenhänge soweit belegen lassen, dass sich als übergreifendes Ziel der Arbeit konkrete Hypothesen für die zukünftige Forschung formulieren lassen. In der anschließenden Diskussion werden die Ergebnisse der Studien und Implikationen weiterführender Forschung hinsichtlich der Fragestellung erörtert. Die Erkenntnisse sollen die Wichtigkeit zukünftiger spezifischer Altersforschung hervorheben, besonders für das Gesundheits- und Sozialwesen, die psychosoziale und medizinische Beratung, Alters-, Pflege- und Wohnheime, die Marktwirtschaft, die Politik und nicht zuletzt für die allgemeine Bevölkerung selbst. Es sollen Vorurteile und Ängste vor […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2.2 Liebe und Partnerschaft im Alter
Berberich und Brähler (2001) sehen Zufriedenheit in den Bereichen Liebe, Zuneigung und Partnerschaft als wichtige Determinante für das subjektive Wohlbefinden jedes Menschen. Ebenso stellt das Zusammensein mit einem Partner, in Verbindung mit Liebe und Vertrauen, eines der wichtigsten Lebensgüter älterer Menschen dar (von Sydow, 1992). Die Liebe wird in dieser Arbeit aus bindungstheoretischer Sicht betrachtet, damit ist nach Weiss (1980), die Verfügbarkeit des anderen wichtig für das eigene Wohlbefinden. Zudem sollen Gründe für eine positive Wertschätzung wie Respekt und Bewunderung, oder für den anderen zu sorgen, vorhanden sein. Eine Untersuchung von Davis, Katz und Jackson (1999) beschreibt die sexuelle Zufriedenheit als ausschlaggebend für die Stabilität von Partnerschaften. Am stärksten ausgeprägt, wenn beide Partner Anstrengungen unternehmen auf die Wünsche des anderen einzugehen. Die Bindung an den anderen scheint dafür verantwortlich zu sein, dass man sich nicht mehr einsam fühlt. Fisher, Aron, Mashek, Li und Brown (2002) stellten in ihrer Studie fest, dass als Basis sozialer Bindungen und als grundlegendes Element für Paarbindung, das Ausleben sexueller Lust zu sehen ist. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff von Partnerschaft , schließt jede Form von zwischenmenschlicher Beziehung ein, in der nicht ausschließlich Sexualität gelebt wird. Es gelten Aspekte emotional naher Partnerschaften, wie häufiges Interagieren, sich gegenseitig beeinflussen und eine Vielzahl gemeinschaftlicher Aktivitäten ausüben, auch auf die Zukunft bezogen (McKinney & Sprecher, 1991). Aus diesem Grund wird der Begriff Ehe in dieser Arbeit mit dem Begriff Partnerschaft synonym verwendet. Einige Forschungen haben sich nur auf die Auswirkungen von Ehe auf die Gesundheit gerichtet, in diesem Fall wird Ehe unter Partnerschaftlichen Aspekten betrachtet, auch wenn es einer genaueren Differenzierung bedarf. Daher ist es nicht nur im Bereich der Forschung bedeutsam, sowohl die Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen im Alter zu betrachten, als auch die Verfügbarkeit von Lebens- und Sexualpartnern.
2.3 Gesundheit, Wohlbefinden und Selbstbestimmung
Die Lebensqualitätsforschung beschäftigte sich bisher hauptsächlich mit sozialen und ökonomischen Indikatoren der Lebensqualität. In jüngerer Zeit rückten auch subjektive Indikatoren, wie Lebenszufriedenheit und das subjektive Wohlbefinden in den Forschungsfokus (Diener & Suhl, 1997). Schwerpunktmäßig befasste sich die Forschung dabei mit der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Health-Related Quality of Life. HRQOL). Nach Bullinger (1997) stellt sie heute ein zentrales psychologisches Forschungsthema und ein zunehmend an Bedeutung gewinnendes Evaluationskriterium in der Gesundheitspsychologie, der Medizinischen Psychologie, der Soziologie und auch in der Psychotherapieforschung dar. Betrachtet man den aktuellen Forschungsstand in Hinsicht auf die Frage nach der Beziehung von Gesundheit, körperliches, psychisches sowie soziales Wohlbefinden und Sexualität, so ergibt sich ein recht positives Bild. Lauman, Gagnon Michael und Michaels (1994) fanden eine deutliche Assoziation persönlicher Zufriedenheit mit der Häufigkeit von sexueller Aktivität und Orgasmen, insbesondere bei Frauen. Ebenfalls bei Frauen konnte Ellison (2000) die entspannenden und Stress reduzierenden Funktionen von Sexualität durch den Oxytocin-Anstieg erklären. In einer schwedischen Längs-schnittuntersuchung bei 292 Frauen im Alter von 30 - 65 Jahren mit Herzerkrankungen, identifizierte Orth-Gomér, Wamala, Horsten, Schnek-Gustafsson und Schneidermann (2000) die Gruppe mit Partnerschaftsproblemen, mit einem fast 3-fach höheren Risiko für Koronare Herzkrankheiten, im Gegensatz zu der Gruppe mit Problemen oder Stress am Arbeitsplatz. Bei Männern, die mehr als einmal pro Woche einen Orgasmus hatten, erwies sich die Sterblichkeitsrate um 50% geringer, als bei Männern mit geringerer Orgasmus Frequenz. Dies ergab eine 10 Jahres Kohorten Folgestudie mit 918 Probanden zwischen 45 und 59 Jahren (Smith, Frankel & Yarnell, 1997). Für Frauen konnte diese Korrelation in einer Studie von Palmore (1982) nicht bestätigt werden. Hier zeigte sich der Genuss von sexueller Aktivität als signifikanter Prädiktor für eine höhere Lebenserwartung. Das Fazit dieser Studien: Sexuelle Aktivität und Genuss scheint eine schützende Wirkung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Männern und Frauen zu haben.
Selbstbestimmung, auf Partnerschaft und Sexualität im Alter(-sheim) bezogen, wurde in keiner einzigen dieser Studien als Variable berücksichtigt. Hahns (1995) ethische und auch in dieser Arbeit priorisierte Sichtweise, beschreibt Selbstbestimmung als einen Bestandteil der Autonomie (im Sinne von Selbstständig- bzw. Unabhängigkeit) und Willensfreiheit, welches ein natürliches biologisches Bedürfnis des Menschen darstellt. Das Wohlbefinden ist unter anderem davon abhängig ob dieses Bedürfnis befriedigt werden kann. Allerdings schließt er nicht aus, dass Menschen in bestimmten Lebensbereichen auch bewusst auf Selbstbestimmungsmöglichkeiten verzichten können, wenn dies als vorteilhaft beurteilt wird. Demnach ist Selbstbestimmung an kognitive Fähigkeiten gebunden. Keller und Novak (1993) verstehen unter Selbstbestimmung die Möglichkeit und die kognitive Fähigkeit eines Menschen, selbst Entscheidungen über sein Handeln, Verhalten und seinen Körper zu treffen. Die rechtliche Sichtweise auf Selbstbestimmung ist sogar im Grundgesetzes (1995) Art. 2 Abs. I verankert. Damit zählt das Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ und damit das Recht zur Selbstbestimmung zu den Menschenrechten. Umso wichtiger erscheint die Erkenntnis, dass die Forschung sich der Thematik bisher nicht angenommen hat. Es gibt Untersuchungen hinsichtlich subjektiv wahrgenommener Kontrolle und persönlicher Verantwortung mit positiven Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit, wie beispielsweise die von Langer und Rodin (1976) und Rodin & Langer, (1977). Die Intervention bezog sich auf die selbstverantwortliche Pflege von Zimmerpflanzen und der Auswahl an Aktivitäten in einem Pflegeheim. Es ließ sich ein positiv signifikanter Effekt hinsichtlich der Lebhaftigkeit, des Glücksempfindens, der Aufmerksamkeit und der Gesundheit feststellen. Zunächst wurde sogar von einer hoch signifikant geringeren Mortalitätsrate, 18 Monte nach der Intervention, berichtet. Aber selbst nach einer Ergebniskorrektur durch die Autorinnen, erwies sich dieser Effekt immer noch als signifikant (Rodin & Langer, 1978). Solche Untersuchungen treffen nicht den Kern dieser Arbeit, sind aber hinsichtlich der unterschiedlichen Definitionen von Selbstbestimmung interssant. Die mangelnde Forschungslage in Hinsicht auf Selbstbestimmung über Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter(-sheim) hängt möglicherweise mit der Schwierigkeit zusammen, die Bedeutung der Begriffe Selbstbestimmung, im Sinne Autonomie und Willensfreiheit auch adäquat in der Praxis umzusetzen. Viele alte Menschen sind pflegebedürftig und können ihr Leben nur noch sehr vermindert selbst gestalten. Umso schwieriger wird es wenn restriktive Einstellungen des Pflegepersonals, fragwürdige Regeln in Wohn- und Pflegeheimen und gesellschaftliche Vorurteile Selbstbestimmung unterbinden (Matthiesen, 2007). Wie oben beschrieben, lassen bisherige Studienergebnisse darauf schließen, dass sich Liebe, Partnerschaft und Sexualität positiv auf die Gesundheit auswirken kann. Es ist davon auszugehen, dass diese menschlichen Verhaltensweisen in aller Regel keiner Kontrolle unterliegen und jeder Mensch ganz individuell seine Handlungen diesbezüglich selbst bestimmt. Liegt damit nicht der Schluss nahe, dass Selbstbestimmung darüber, in welcher Form ein Mensch seine ganz individuelle Liebe, Partnerschaft und Sexualität, auch im Alter leben will und kann, ebenfalls positive Auswirkungen auf seine Gesundheit haben könnte?
2.4 Fragestellung
In Hinsicht auf den Titel dieser Arbeit und aufgrund der bisher angeführten Studienergebnisse können folgende Fragestellungen aus dem theoretischen Hintergrund abgeleitet werden. Hat Selbstbestimmung über Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter (-sheim) Auswirkungen auf die Gesundheit? Und gibt es möglicherweise Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Erleben dieser Dimensionen? Da empirische Forschung in Bezug auf Selbstbestimmung über Partnerschaft und Sexualität im Alter bisher unbeachtet blieb, fokussiert sich diese Arbeit auf den Bereich der Partnerschafts- und Sexualforschung im Alter, den Einstellungen zur Sexualität im Alters- und Pflegeheimen und den Auswirkungen von Partnerschaft und Sexualität auf die Gesundheit. Gemeinsame Variablen werden in einen theoretischen Zusammenhang gestellt um als Grundlage für zukünftige praktische Forschung, im Bereich der Selbstbestimmung über Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter, zu dienen.
3 Literaturrecherche
Die vorliegende Arbeit wurde als Literaturarbeit konzipiert und die dazugehörige Recherche folgendermaßen durchgeführt:
3.1 Datenbanken
Die Basis der Literaturevaluation bildet eine systematische Literaturrecherche im Zeitraum Februar und März 2013. Hierzu wurde in allen über die Universitätsbibliothek Hagen verfügbaren Datenbanken unter den in 3.2 genannten Schlagwörtern recherchiert. Insbesondere wurde auf fachspezifischen Datenbanken, wie PsycArticles, PsycInfo, Psyndex, PsyJournals, Psychology, WISO Sozialwissenschaften und Psychologie, Sociological Abstracts und dem Sondersammelgebiet Psychologie (SSG) gesucht. Auch fachübergreifende Datenbanken aus dem naturwissenschaftlichen Bereich und deutsche und internationale Kataloge erwiesen sich als erfolgreich. Hierbei besonders die Recherche in englischsprachigen Datenbanken wie PubMed und Medline.
Die erweiterte Suche erfolgte über die Datenbanken der elektronischen Zeitschriftenbibliothek (EZB) um hier auch Bereiche der Medizin, insbesondere die der Gerontologie, der Geriatrie und der Sexualforschung mit einzubeziehen. Die Quellen der Literaturarbeit wurden dann ausschließlich nach Aktualität und Relevanz für die Thematik ausgewählt, wobei Titel und Abstracts nach der Ableitung der Fragestellung bewertet wurden. Als ebenfalls ergebnisreich stellten sich die Literaturverzeichnisse gesicherter Studien und ausgewählter Autorinnen und Autoren dar, die ebenfalls über die EZB oder den oben genannten Datenbanken zugänglich waren.
3.2 Schlagwörter
Folgende Suchbegriffe standen im Focus der Recherche:
Deutsche Begriffe: Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter, Sexualität in Altersheimen (Altenheimen und Wohnheimen), Sexualität und Alter, Sexualität, Gesundheit und Zufriedenheit, Selbstbestimmung über Sexualität und Liebe, Tabuisierung von Sex im Alter, Gesundheit im Alter, Selbstbestimmung im Alter, Sexualverhalten, Einstellungen zur Sexualität, Alter, Alterssexualität, Bindung.
Englische Begriffe: sexuality, sexual activity, sexuality and health, sexuality and older adults, relationship satisfaction, sexual satisfaction, sexual behavior, sexuality and well-being, love in old age, self-determination und self-definition in old age, old age and relationships, sexuality in residential or nursing homes, staff attitudes, elderly.
3.3 Ein- und Ausschlusskriterien
Trotz häufig großer Trefferzahlen in den verschiedenen Suchgebieten wurden nur die, für die Fragestellung relevanten Veröffentlichungen, herangezogen. Forschungsbefunde, die sich auf psychische Erkrankungen oder andere patologische Erscheinungsformen in Verbindung mit Sexualität beziehen wurden ausgeschlossen. Ebenfalls nicht berücksichtigt wurden Befunde zu sexuellen Problemen, Sexualstörungen, Sexualität demenzkranker Menschen, geschlechtsspezifische Studien zu homosexuellen und lesbischen Paaren, Studien zur Sexualität behinderter Menschen, sexuelle Gewalterfahrungen, interkulturelle Unterschiede, negative Auswirkungen von Sexualität und Partnerschaft, wie z.B. bedingt durch Tod oder Krankheit, sowie auch Studien zur Selbstbestimmung mit anderen Schwerpunkten.
4 Ergebnisse
Im folgenden Kapitel werden die für die Fragestellung relevanten Forschungsbefunde, aus den Bereichen Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter; Einstellungen zur Sexualität in Alters- und Pflegeheimen und den Auswirkungen von Sexualität auf die Gesundheit, vorgestellt.
4.1 Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter
Die folgenden vier Studien beschäftigen sich mit den Themen: Wie wichtig ist Sexualität im späteren Leben, sexuelle Aktivität und sexuelles Verlangen über die Lebensspanne betrachtet, und den Auswirkungen von Alter, biologischen und psychosozialen Faktoren auf sexuelles Verhalten. Die Studien sind sehr umfangreich und bedürfen einer ausführlichen Vorstellung, da die Vorgehensweisen und die Art der Erhebungsmethoden bei solch hochsensiblen Themen als besonders wichtig erachtet werden.
4.1.1 Sexualität im Alter
How important is sex in later life? The views of older people (Gott & Hinchliff, 2003)
Gott & Hinchliff gingen 2003 in ihrer Studie, anhand von qualitativer und quantitativ erhobener Daten, der Frage nach wie Sexualität im mittleren Alter und späteren Leben priorisiert wird. Den Hintergrund dazu stellte die Annahme, dass stereotype Vorstellungen eines asexuellen Alters allgegenwärtig sind. Diese beeinflussen nicht nur die Darstellung des späteren Lebens, sondern auch die empirische Forschung und politische Agenden. Das Ziel dieser Studie sollte sein, die Stimmen älterer Menschen selbst zu erfassen, um Perspektiven in Bezug auf die Rolle und die Bedeutung von Sexualität im späteren Leben aufzuzeigen.
Stichprobe: Die Stichprobe umfasste während der semi-strukturierten Interviews 69 Personen. Jeweils ca. 10 Männer und Frauen aus drei Altersgruppen: 30 - 49, 50 - 69 und >70 Jahren wurden aus der Patientenliste einer Chirurgischen Praxis in Sheffield, Nord England rekrutiert. Alle hatten zuvor die Quality of Life Questionaires (WHOQOL-100 und WHOQOL Important Scale) Fragebögen zur Erfassung der Lebensqualität, durchgeführt. Der Focus dieser Studie lag schließlich bei 44 heterosexuellen Teinehmerinnen und Teilnehmern, davon 21 Männer und 23 Frauen zwischen 50 - 92 Jahren. Unterschieden wurde der materielle Status zwischen Alleinstehend, Single, Verheiratet und Geschieden.
Untersuchungsdurchführung: Kontaktiert wurden die Teilnehmer zuerst per Brief dazu aufgefordert, durch eine vorbereitete Rückantwort, ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Studie mitzuteilen. Die Einladung wies explizit auf das Ziel der Studie: “Look at the importance of sexual health to people of all ages” hin und versicherte den vertraulichen Umgang mit den persönlichen Daten. 25 % der angeschriebenen Personen interessierten sich für eine Teilnahme. Die Beteiligtenrate war nicht gleich verteilt nach Geschlecht und Alter. Unterdurchschnittlich repräsentiert waren Männern im Alter von 30 - 49 Jahren mit nur 16% und Frauen >70 Jahre mit nur 18 %. Als Gründe für eine Nichtteilnahme gaben 70 Personen (24%) der Rückantworter an, diesen Abschnitt der Sexualität in ihrem Alter beendet zu haben. 16 Personen gaben sogar an, „das Thema der Studie schrecke sie ab“. Die Interviews wurden in der Praxis durchgeführt und dauerten zwischen 45 Minuten und 2 Stunden. Der Interviewzeitplan ließ großen Spielraum zur Erörterung von Fragen und Schilderungen persönlicher Geschichten, seitens der Teilnehmer, zu. Die zuvor durchgeführten Fragebögen WHOQOL-100 und WHOQOL Importance Scales wurden ausgewählt, da sie zu den wenigen Lebensqualitäts Erfassungsinstrumenten gehören, die auch Elemente zur Erhebung von Sexualität enthalten.
Ergebnisse: Die qualitativen Daten wurden nach den Prinzipien der Grounded Theory und die quantitativen Daten mit SPSS ausgewertet, codiert und auf Richtigkeit überprüft. Angesichts der geringen Stichprobengröße waren multivariate Analysen nicht angebracht. Die qualitativen Interview Daten wurden in Bezug zu den Antworten aus dem WHOQOL Important Scale Item: „How important to you is your sex life?“ gesetzt und ausgewertet. 17 Teilnehmerinnen und Teilnehmer schätzten ihren Sex auf der fünf-stufigen Likert Skala als „moderatly important“, 20 als „very important“ und fünf sogar als „extremely important“ ein. Dagegen bewerteten sechs Frauen und drei Männer im Alter von 62 - 92 Jahren ihren Sex als „not important“ und ein Mann und zwei Frauen zwischen 56 und 84 als „little important“. Ihrer Ansicht nach lagen die wichtigsten Determinanten für die geringe Wichtigkeit der Sexualität im aktuellen Partnerstatus. Acht Personen hatten keinen Partner und vier hatten nicht mehr regelmäßig Sex mit ihrem Partner. Dennoch ergeben sich individuelle Differenzen in Hinsicht auf eine mögliche zukünftige sexuelle Bindung. Für die acht verwitweten, geschiedenen, alle ohne Partner lebenden Teilnehmer, stellten sich die Ansichten „niemand Anderen zu wollen“, „die einzig richtige Person finden zu wollen“ und „vom Pech verfolgt zu sein“ als Hauptgründe für die geringe Wichtigkeit heraus. Die zwei verheirateten Männer und Frauen gaben physische und psychologische Barrieren für ihre sexuelle Abstinenz an. Die meisten der 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einem moderaten Interesse an Sex beschrieben gesundheitliche Probleme als Grund dafür, warum Sex an Wichtigkeit verloren hat. Das Alter an sich erwies sich dabei nicht als wichtige Determinante der aktuellen Priorisierung von Sex. Positiv bewerteten sie eine langjährige Beziehung als Hilfe zur Bewältigung, wenn Sex nicht mehr statt finden konnte. 11 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von 54 - 79 Jahren, stuften Sex als „very important“ und vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von 52 - 81 Jahren, als „extrem important“ ein. Alle, bis auf eine Person, hatten einen regelmäßigen Sexualpartner und die meisten führten die Bedeutung von Sex auf die enge Beziehung zu ihrer Partnerin oder ihrem Partner zurück. Insgesamt gab es eine gute Konsistenz zwischen den Beurteilungsskalen des WHOQOL Importance Scale Fragebogens und den Darstellungen aus den Interviews. Die eine Datenquelle konnte die andere validieren. Die Ergebnisse lassen laut der Autorinnen folgende Schlussfolgerungen zu:
1. Sex ist ein wichtiger Bestandteil in einer engen emotionalen Beziehung im späteren Leben. Für Personen, die nicht in einer Beziehung leben, hat Sex keine so große Bedeutung. Insbesondere die Personen, die das Gefühl haben zukünftig in ihrem Leben nicht mehr sexuell aktiv sein zu wollen. Sie können als sexuell zurückgezogen bezeichnet werden.
2. Erlebte Barrieren, vor allem gesundheitliche Probleme, können bei älteren Menschen dazu führen, dass Sex an Priorität verliert. Hier scheint körperliche Intimität durch Kuscheln und Berühren von zentraler Bedeutung für das Wohlbefinden zu sein, wenn penetrativer Sex nicht mehr möglich ist.
3. Das Alter an sich hat keine Auswirkungen darauf wie Sex priorisiert wird, eher assozierte Faktoren, die mit dem Älter sein verbunden sind, können auf ein geringeres Interesse an Sex schließen lassen.
Diskussion: Diese Studie unterliegt nach Ansicht der Autorinnen mehreren Einschränkungen:
1. Nahmen nur etwa ein Viertel der ursprünglich kontaktierten Personen an der Studie teil, was zu einem möglichen Bias führen und damit die interne Validität beeinträchtigen kann, obwohl das nach Meinung der Autorinnen, keine erheblichen Auswirkungen auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse hat.
2. Wurde die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs „Sex“ für die Teilnehmer nicht vollständig erforscht. Einige Teilnehmer setzten Sex mit Penetration gleich, dies wurde nicht als mögliche „Angst vor Verletzungen“ berücksichtigt.
3. Die Altersgruppierung unterlag einer relativ hohen Spanne von 50 bis 92 Jahren, da in unterschiedlichen Definitionen „ältere Menschen“ typischerweise ab 50 gelten. Die Autorinnen erkennen, dass die Definition und die damit verbundene Problematik in der aktuellen Studie ihre Grenzen aufzeigen. Es wird nicht klar wie sich Einstellungen und Verhaltensweisen von 50-jährigen und 80-jährigen Versuchspersonen unterscheiden.
4.1.2 Sexuelle Aktivität über die Lebensspanne
„Sind Sie in den letzten 12 Monaten mit jemanden intim gewesen?“
Ergebnisse einer deutschen Repräsentativbefragung (Brähler, 1999)
In einer repräsentativen Befragung in Deutschland erfasste Elmar Brähler (1999) neben soziodemographischen und Personenmerkmalen, auch Angaben zur sexuellen (koitalen) Aktivität und gesundheitsbezogenen Kognition. Seiner Ansicht nach sind Kenntnisse gesellschaftlicher Realitäten, z.B „Wie alt werden Männer und Frauen?“ oder „Wieviele Singles gibt es?“ und normativer sexueller Verhaltensweisen, die Voraussetzung für eine sichere Bedarfsanalyse gesundheitlicher, sexualmedizinischer und präventiver Angebote.
Stichprobe: Insgesamt wurden 3047 Einwohner aus den alten (2025) und neuen (1022) Bundesländern, per Zufallsprinzip nach dem Random-Route-Verfahren, im Alter von 14 - 92 Jahren erfasst. 1700 Frauen (M = 46; 36 Jahre; SD = 18.02) und 1347 Männer (M = 46.27; SD = 17.57), aufgeteilt in 4 Altersgruppen: 14 - 17 Jahre, 51 Mädchen (3,0%) und 48 Jungen (3,6%); 18 - 40 Jahre, 693 Frauen (40,8%) und 521 Männer (38,7%); 41 - 60 Jahre, 537 Frauen (31,6%) und 431 Männer (32,0%); älter als 60 Jahre, 419 Frauen (24,6%) und 347 Männer (25,8%). Das durchschnittliche Alter betrug 46 Jahre.
Untersuchungsdurchführung: Die Teilnehmer wurden an je 210 „sample-points“ in Ost- und Westdeutschland durch eine Zufallsauswahl an und in den Haushalten ermittelt. Geschulte Interviewer/innen befragten in „face-to-face-interviews“ die Versuchspersonen. In dieser Mehrthemenumfrage füllten alle Befragten die Einzelfragen wie z.B. zur sexuellen Aktivität selbst aus. Zur Erfassung des Selbstkonzepts wurde der Gießen-Test (GT) von Beckmann, Brähler und Richter (1991) zur Individual- und Gruppendiagnostik eingesetzt. Dieser Test enthält 40 Items, die bipolar sieben-stufig formuliert sind und sich den fünf Skalen „Soziale Resonanz“, „Dominanz“, „Kontrolle“, „Grundstimmung“ und „Durchlässigkeit“ zuordnen lassen. Subjektive Körperbeschwerden wurden mit Hilfe der Kurzform (GBB-24) des Gießener Beschwerdebogens (GBB) von Brähler und Scheer (1995) erhoben. Den 24 Items liegen vier faktorenanalytisch gewonnenen Skalen zugrunde: „Erschöpfung“, „Magenbeschwerden“, „Gliederschmerzen“ und „Herzbeschwerden“. Zusätzlich wurde noch, mit Hilfe einer modifizierten Form des Fragebogens zur Erfassung der Lebenszufriedenheit (FLZ) der Bereich „Sexualität“ erfasst. Dabei insbesondere die Zufriedenheit mit: Der körperlichen Attraktivität, der Häufigkeit sexueller Kontakte und zärtlicher partnerschaftlicher Zuwendung, der Zufriedenheit mit den eigenen sexuellen Reaktionen, mit der Unbefangenheit über sexuelle Themen zu sprechen und mit der partnerschaftlichen sexuellen Harmonie.
Ergebnisse:
Soziodemographische Merkmale: 9% der befragten Personen waren verheiratet und 61.9% lebten in einer Partnerschaft. Erwartungsgemäß waren mehr Frauen als Männer verwitwet (18.5% versus 6%). Als relevantes Kriterium für Sexualität stellte sich aber nicht der Familienstand, sondern das Vorhandensein einer Partnerschaft heraus. Es zeigte sich, dass deutlich mehr Frauen ohne feste Partnerschaft lebten als Männer.
Sexuelle Aktivität in Abhängigkeit vom Alter: Nur 2% der Befragten verweigerten die Beantwortung der drei Fragen zur sexuellen Aktivität. Mehr als zwei Drittel (71%) gaben an im letzten Jahr mit jemanden intim gewesen zu sein. Davon jeweils ein Drittel unter den ganz jungen von 14 - 17-jährigen und den älter als 60-jährigen.
Sexuelle Aktivität in Abhängigkeit von Geschlecht, Partnerschaft und Alter: In die folgenden Ergebnisdarstellungen wird die ganz junge Altersgruppe nicht mehr einfließen, da nur eine Person angab in einer festen Partnerschaft zu leben. Partnerschaft stellte sich aber in den anderen Altersgruppen als bedeutender Prädiktor für sexuelle Aktivität heraus. Insgesamt waren mehr Männer (75%) als Frauen sexuell aktiv (67%). Unter Einbeziehung des Alters ergab sich für die 18 - 40-jährigen Frauen allerdings ein anderes Bild. Wie aus den Prozentangaben in Abbildung 1 ersichtlich, stellten sie mit 89% die sexuell aktivste Subgruppe überhaupt, dagegen die über 60-jährigen Frauen die sexuell inaktivste dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Ergebnisse: Sexuelle Aktivität in Abhängigkeit vom Geschlecht und Alter
Ein wirklich differenziertes Bild ergab sich vor allem unter Einbeziehung der Mediatorvariablen „Vorhandensein einer Partnerschaft“. Aus den Prozentangaben in Abbildung 2 ist zu erkennen, dass fast doppelt so viele Personen mit einer Partnerin oder einem Partner, als Personen ohne Partnerin oder Partner sexuell aktiv (85% versus 45%) waren. Beim Vorhandensein einer Partnerschaft gab es kaum einen Unterschied der sexuellen Aktivität zwischen einem 18-jährigen (94%) und einem 60-jährigem (90%) Menschen, dagegen einen erheblichen Generationsunterschied bei ungebundenen Menschen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2. Ergebnisse: Sexuelle Aktivität in Abhängigkeit vom Alter und Vorhandensein einer Partnerschaft
Ein deutlicher Geschlechtsunterschied zeigte sich in der Subgruppe der Personen ohne Partnerschaft. Hier waren nur noch knapp 4% der über 60-jährigen Frauen im Gegensatz zu knapp 17% der Männer sexuell aktiv. Ein weiterer interessanter Zusammenhang ließ sich feststellen, so gaben auch in dieser Gruppe mehr Männer als Frauen an, im letzten Jahr mit jemandem intim gewesen zu sein (56% versus 37%). Aber auch hier stellte sich wieder ein Umkehrverhältnis in der Frauengruppe der 18 - 40-jährigen dar, somit waren fast 5% der Frauen sexuell aktiver als die Männer dieser Altersgruppe, wie die Prozentangaben in Abbildung 3 zeigen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3. Ergebnisse: Sexuelle Aktivität in Abhängigkeit vom Geschlecht und Alter in der Subgruppe der Personen ohne Partnerin oder Partner
Anzahl der IntimpartnerInnen: In der Gesamtstichprobe hatten insgesamt 18% der Befragten mehr als eine/n Intimpartnerin/partner in den letzten 12 Monaten. Bei den 18 - 40jährigen 24.3%, bei den 41 - 60jährigen 11.1% und bei den über 60-jährigen nur noch 6.1%. Insgesamt gaben durchgehend deutlich mehr Männer als Frauen an mehr als eine Intimpartnerin oder einen Intimpartner gehabt zu haben.
Zufriedenheit mit der Sexualität: Die Ergebnisse, des Fragebogens zur Zufriedenheit mit der eigenen Sexualität zeigten, dass die Vorstellung “je älter, desto unzufriedener“ nicht stimmt. Sexuelle Zufriedenheit war abhängig vom Vorhandensein sexueller Aktivität und nicht vom Alter oder dem Vorhandensein einer Partnerschaft. So waren über 60-jährige ohne Partnerschaft sexuell zufriedener (M = 4.7), als jüngere Personen zwischen 40 - 60 Jahren innerhalb einer Partnerschaft ohne praktizierende sexuelle Intimität (M = 4.5). Am zufriedensten zeigten sich die, unabhängig von einer Partnerschaft, sexuell Aktiven 18-40-jährigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer (M = 5.5 bzw. M = 5.3). Am unzufriedensten die sexuell Inaktiven über 60-jährigen. Alle Mittelwertsunterschiede erwiesen sich aufgrund des großen Stichprobenumfangs als statistisch signifikant. Nach Ansicht des Autors schien das Vorhandensein von koitaler Sexualität auch im höheren Lebensalter noch maßgeblich zur sexuellen Zufriedenheit beizutragen.
Vorhersagbarkeit der sexuellen Aktivität: Aufgrund einer schrittweise multiplen Regressionsanalyse erwiesen sich als bedeutendste Variablen in der Gesamtstichprobe „das Vorhandensein einer Partnerschaft“ (β = 0.38) und das „Alter“ (β = 0.29). Auch die „Zufriedenheit mit der eigenen Leistungsfähigkeit“ (β = -0.20), die „Unbefangenheit über Sexualität zu sprechen“ (β = -0.14) und der „Bildungsstand“ (β = -0.10) trugen stark zur Vorhersage bei. (E s gab keine näheren Angaben zu den negativ Werten, diese hängen möglicherweise mit der Polung der Fragen zusammen).
Diskussion: Die Ergebnisse sollten, laut Autor, keine kausalen Erklärungen zwischen der tatsächlichen sexuellen Aktivität und der kognitiven Zufriedenheit implizieren. Auch die Frage, ob das eine das andere bedingt, ist seines Erachtens nicht sinnvoll, da von einer noch höheren Variablenkomplexität auszugehen ist. So konnten beispielsweise Variablen wie Körperwahrnehmung, moralische Einstellungen und Werte keine Berücksichtigung finden. Ebenso bedeutend für das sexuelle Verhalten scheinen individuelle Lebenserfahrungen in der eigenen soziosexuellen Biografie zu sein, aber auch eigene erste und spätere sexuelle Erfahrungen oder das generelle Familienleben. Seiner Ansicht nach besteht gerade zum Themenbereich „Alterssexualität“ im deutschsprachigen Raum intensiver qualitativer und quantitativer Forschungsbedarf.
[...]
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2013
- ISBN (PDF)
- 9783956846717
- ISBN (Paperback)
- 9783956841712
- Dateigröße
- 801 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- FernUniversität Hagen
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Schlagworte
- Gesundheit Lebensqualität Pflegeheim Langzeitpflege Altersheim
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing