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Paul Claudel in der Kunst seiner Schwester Camille Claudel

©2011 Bachelorarbeit 42 Seiten

Zusammenfassung

Wenn der Name der Bildhauerin Camille Claudel fällt, dann meist in Verbindung mit den Männern, die sie umgaben - Auguste Rodin, ihr Lehrer und Geliebter, Louise-Prosper Claudel, ihr Vater, der auch als ihr Mäzen fungierte, und schließlich Paul Claudel, ihr Bruder, der bekannte Diplomat und Dichter. Auch wenn lange behauptet wurde, Camille habe die Flamme des Genies in Paul entzündet und die Gewissheit ihrer beider Bestimmung sei das Ergebnis ständigen Miteinander-Wetteiferns gewesen, so wird Pauls künstlerisches Schaffen das Andenken seiner Schwester lange überschatten.
Zwischen 1881 und 1910 verewigt Camille Claudel ihren Bruder in fünf Büsten - die größte Büstengruppe, die sie von einer Einzelperson schafft. Welches Bild wird von Paul in den Werken vermittelt? Inwieweit wirkt das Geschwisterverhältnis, die Nähe und auch Distanz auf die Darstellungen ein? Werksbeschreibungen, biographische Angaben und Zitate aus Briefen tragen dazu bei ein umfassendes Bild der Beziehung zu liefern. Kurze Exkurse zur antiken Büste oder der Mythologie vervollständigen dies. Neben der kunsthistorischen Analyse werden auch soziologische, literarische und kulturgeschichtliche Ansätze berücksichtigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1913).
7
Da die Portraits von Paul in der ersten sowie der letzten Phase
entstanden sind, sollen diese dezidiert behandelt werden. Die Lebensphase
von 1886 bis 1905 soll verstärkt aus der Sicht Pauls dargestellt werden, da
für den Zeitraum zwischen 1899 und 1904 ein Großteil der biographischen
Daten über Camille fehlt.
Problematisch dabei ist das mangelnde und lückenhafte Material,
welches die Gefahr eines subjektiven Ergebnisses in sich birgt. Für eine
biographische Studie ist man auf Zeugnisse Dritter angewiesen; einige
wenige Briefe von Camilles Hand sind erhalten; viele Werke von ihr selbst
zerstört. Als Basis dienen daher vornehmlich die zuvor genannte Biographie
von Dominique Bona sowie die Werke von Reine-Marie Paris und Jacques
Cassar.
2. Die Geschwisterbeziehung und ihre künstlerische
Umsetzung
In der soziopsychologischen Fachliteratur werden
Geschwisterbeziehungen im Allgemeinen wie folgt beschrieben:
,,Die Beziehung zwischen Geschwistern gehören zu den intensivsten und längsten
Beziehungen in unserem Leben. Die meisten Geschwister fühlen sich auf eine
selbstverständliche Weise zusammengehörig und miteinander verbunden. Anders
als bei Freundschaften oder Paarbeziehungen kommt es nur selten vor, dass
Beziehungen zwischen Geschwistern abgebrochen werden. Und selbst wenn
Geschwister dies versuchen, besteht ihre Beziehung unterirdisch weiter und wirkt
sich auf ihr Leben aus. Brüder und Schwestern beeinflussen sich gegenseitig in
ihrer Entwicklung und stehen sich zugleich mit ambivalenten Gefühlen gegenüber:
Einerseits sind sie einander innige Vertraute und manchmal bewunderte Vorbilder,
andererseits oft auch eifersüchtige und erbitterte Rivalen".
8
Bei den Kindern des Ehepaars Louis-Prosper und Louise-Athenaise
Cerveaux treffen die hier beschriebenen Beziehungsmuster nur teilweise zu.
Während Camille und ihr vier Jahre jüngerer Bruder Paul eine fürsorgliche,
jedoch zum Teil aber auch rivalisierende Beziehung führen, wird ihre
Schwester Louise scheinbar außen vorgelassen. Sie ist das häuslichste der
Geschwister und teilt die Lebensvorstellungen ihrer Mutter.
9
Es lohnt sich
daher auch nicht, sie in dieser Arbeit zu berücksichtigen.
7
Vgl. Flagmeier 1984, S. 8.
8
Jungbauer 2009, S.54.
9
Paris (wie Anm. 1), S. 23.
5

Als Erstgeborene nimmt Camille eine dominante und
leistungsorientierte Rolle ein. Camille muss auf Paul aufpassen, ihn
beschützen und Verantwortung für ihn übernehmen. Er blickt im Gegenzug
jedoch zu ihr auf, schützt und liebt sie und lernt auch seinerseits,
Gefälligkeiten zu erweisen. ,,Camille spannte ihren Bruder, kaum dass er
laufen konnte, für ihre Leidenschaften ein. Paul musste für seine Schwester
Steine und Hölzer anschleppen. Und sie nahm ihn mit, wenn sie sich
draußen in der Formwelt der Felsen einlebte, jeden erreichbaren Stein durch
ihre Hände führte und mit den Steinen sprach".
10
Die konventionelle
Vorstellung der Beziehung von Mann und Frau wird in diesem
Geschwisterverhältnis umgekehrt und lässt Camille damit unabhängig und
stark werden. Paul hingegen entwickelt zunächst ein mangelndes
Selbstvertrauen, ,,Paul hat Angst vor seiner älteren Schwester. Er fürchtet
ihre Urteile. Verglichen mit ihr wirkt er schwach und sanft. Für sie bleibt er
der kleine Bruder; sein Hochschulstudium, sein Wissen, seine Diplome
schüchtern sie in keiner Weise ein".
11
Seitens Pauls entwickeln sich
ambivalente Gefühle für seine Schwester. Er genießt ihre Zuneigung und
hegt Bewunderung für sie, allerdings nimmt er auch deutlich wahr, dass ihre
Beziehung sich dem sittengerechte Rollenbild von Mann und Frau entzieht.
Selbst später wird er dies noch in seinem Stück Goldhaupt von 1889
thematisieren, ,,Ist das Weib in seinem Hauswesen Abbild des glühenden
Verzichts, unterweist es in gutem Willen;/ Wie einstmals die Magd des
Hauses, wird sie nun Gottes Magd".
12
Camille ihrerseits hegt keine
gespaltenen Gefühle für Paul. Sie konzentriert sich voll und ganz auf ihre
künstlerische Laufbahn und ist weniger auf die Bestätigung von außen
angewiesen. Sie nimmt Paul in diesem Zusammenhang überhaupt nicht als
Konkurrenten wahr; er ist der kleine Bruder ­ manchmal lästig und
hinderlich, immer aber von ihr geliebt und respektiert.
Die enge Geschwisterbindung wird durch das distanzierte Verhalten
der Mutter zusätzlich bestärkt. Dominique Bona geht sogar so weit zu
10
Wais 1994, S. 14.
11
Bona (wie Anm. 6), S. 76 (übersetzt von Eva Moldenhauer).
12
Claudel 1959, Band 2, S.158 (übersetzt von Edwin Maria Landau). Im Original:,,La
femme dans son ménage nous présente l'image de l'ardente résignation; elle enseigne la
bonne volonté, comme jadis, servante de la maison, elle devint servante de Dieu ", aus:
Claudel 2011, Band 2, S. 156.
6

behaupten, dass sich bei Paul die Fixierung auf die Mutter in Form einer
Fixierung auf die Schwester vollzogen habe, die zumindest bis zur Reife,
den ersten Platz in seinem Herzen einnimmt.
13
Es ist nicht die mangelnde
Liebe, welche der Mutter den herzlichen Umgang mit ihren Kindern
verbietet, vielmehr bestimmt Konformität ihr Verhalten.
14
Vom
Pflichtgefühl geleitet, übt sie die traditionelle Rolle in Haushaltsführung und
Mutterfunktion aus und vermittelt sittenstrenge Lebensregeln. Ihre Tochter
Camille passt nicht in dieses Bild, wodurch zahlreiche Konflikte entstehen,
die bis zum Tod von Louise-Athenaise Cerveaux reichen werden. Die
Mutter wird ihr die Beziehung zu Rodin nicht verzeihen. In einem Brief an
Camille schreibt sie: ,,Und ich war naive genug, den großen Mann mit Mme
Rodin, seiner Konkubine, nach Villeneuve einzuladen! Und Du spielst das
Unschuldslamm, lebst mit ihm und ließt Dich von ihm aushalten".
15
Auch
sonst erinnert sich niemand aus der Familie an ein harmonisches
Zusammenleben. Zwist, Streitigkeiten und Wutausbrüche beherrschen das
Haus. Paul Claudel verglich die Stimmung in Villeneuve mit jener in Emily
Brontës Roman Sturmhöhe von 1847: ,,Im Haus wütete der Sturm, jeder
stritt mit jedem in dieser Familie".
16
Auch Camille war von Natur sehr
aufbrausend, ,,lediglich zwischen Camille und Paul [schien] es eine Art von
Harmonie gegeben zu haben; dies aber offenbar nur, weil er ihrer
Herrschsucht nichts entgegenzusetzen hatte".
17
Damit gehen die Kinder
zunächst vor allem ein komplizenhaftes und solidarisches Bündnis
gegenüber den Eltern ein. Diese enge Verbindung findet ihren Ausdruck in
den Büsten, die Camille von ihrem Bruder anfertigt.
Der catalogue raisonée führt sechs Werke für die Zeit von 1881 bis
1910 auf, in denen Camille ihren Bruder portraitiert. Bei fünf davon handelt
es sich um plastische Werke, genauer Büsten (Abb. 2-6), eines ist eine
Buntstiftzeichnung aus dem Jahre 1888.
Zunächst stellt sich die Frage, warum es sich bei allen Skulpturen
ihres Bruders um Büsten und nicht um Vollplastiken handelt. Die Büste
erscheint heute als ein gängiges Sujet, dennoch muss bedacht werden, dass
13
Vgl. Bona (wie Anm. 6), S. 50.
14
Vgl. Holterhof 1993, S.11 f.
15
Paris (wie Anm. 1), S. 122, undatierter Brief.
16
Paul Claudel zitiert nach: Paris (wie Anm. 1), S.23.
17
Wais (wie Anm. 10), S. 15.
7

es sich dabei um eine Fragmentierung handelt, die durch ihre Verringerung
eine neue Aussagekraft bekommt. Wie Sacha Guitry in Ceux de chez nous
so scherzhaft sagt:
,,[...] gewöhnliche Menschen finden es außergewöhnlich, dass man einen Körper
ohne Kopf ausstellt, während sie es absolut natürlich finden, dass man einen Kopf
ohne Körper ausstellt, d.h. eine Büste. Eine Büste ist überhaupt nichts
Aussergewöhnliches, und es wird registriert, <wie lebendig sie doch ist>, obgleich
es ebenso unmöglich ist, ohne Körper zu leben, wie ohne Kopf zu existieren".
18
Die Büste ist die plastische Darstellung des menschlichen Oberkörpers. Sie
besteht aus Kopf, Hals und oberem Teil der Brust, vielfach ohne Arme. Seit
der römischen Antike dient sie vor allem der Porträtdarstellung.
19
Als
Portrait verleiht sie dem Portraitierten eine Art künstliche Langlebigkeit und
Allgegenwart.
20
Kopf und Gesicht werden zum unangefochtenen Zentrum
der Darstellung. Büsten dienten traditionell der Memoria und
Repräsentation herausragender Persönlichkeiten, Angehörigen sozialer oder
ethisch-religiöser Eliten, von deren virtus und Verdiensten sie kündeten.
21
Dabei kann das Portrait auch Charakteristika anderer Person vermitteln, wie
die Verwandtschaft mit einem göttlichen oder heroisierten Wesen. Es wird
nicht nur das tatsächliche, sondern auch das erwünschte Aussehen
festgehalten. Gerade im 19. Jahrhundert galt das Portrait als ,,Quintessenz
und Maßstab künstlerischen Könnens".
22
Ziel war es nicht nur körperliche
Merkmale mit größtmöglicher Ähnlichkeit darzustellen; die Gesichtszüge
sollten zugleich die ganze ethische und psychische Persönlichkeit des
Dargestellten wiederspiegeln.
23
Die Akzentuierung des Gesichts hebt die Individualität der Person
hervor. Der Statuenkörper ist austauschbar und meist ohne Gehalt.
Besonders für Paul als Dichter, Diplomat und Denker scheint dieses Sujet
angemessen, da es auf seinen Geist und weniger auf seinen Körperbau
verweist ­ alles ist auf den Kopf konzentriert, den Ort des Denkens und der
Inspiration.
18
Diese Filmszene ist zitiert in: Schulze 1990, S. 159.
19
Vgl. Winter 1985, S. 65.
20
Vgl. Bruneau 1996, S. 105.
21
Vgl. Kohl 2007, S. 17.
22
Hekler 1962, S.8.
23
Vgl. Hekler (wie Anm. 22), S. 7.
8

2.1 Mein kleiner Paul ­ Die Darstellungen als junger Römer
In den Jahren von 1881 bis 1886 entstehen drei Büsten von Paul, die
ihn als jungen Römer darstellen. Buste de Paul Claudel à treize ans oder
Jeune Achille (Abb. 2) entstand im Jahre 1881 und misst 40x36,5x22cm.
24
Das Bildnis des dreizehnjährigen Pauls wird 1887 sogar im Salon der
Sociéte des Artistes Français ausgestellt.
25
Die Gipsfassung ist bis heute
verschollen, es wurde allerdings eine Bronze für die Baronin Nathaniel de
Rothschild gegossen und 1903 von Baron Alphonse de Rothschild dem
Museum von Châteauroux gestiftet. Alphonse de Rothschild kaufte
insgesamt sieben Werke der Camille Claudel,
26
keines davon war als
Auftrag ausgeführt. Dieses zunächst unwesentlich erscheinende Detail
erklärt die Wahl des Materials bei dem Werk Buste de Paul Claudel à treize
ans, aber auch bei allen darauf folgenden Portraits des Bruders. Quellen
zufolge war der Marmor Camilles Lieblingsmaterial. Mehrfach wird in der
zeitgenössischen und späteren Literatur darauf verwiesen, wie wichtig die
,,taille directe" für die Künstlerin war.
27
Das Interesse Camilles für
komplizierte Steinbearbeitung widerspricht der impressionistischen
Verkörperung augenblicklicher Eindrücke in skizzenhaft wirkenden, sich im
Licht auflösenden flüchtigen Formen.
28
Andere Büsten wie die der
Comtesse Arthur de Maigret (1897) oder die des Comte Christian de
Maigret im Kostüm Heinrichs II. (1899), werden auch aus dem Stein
geschaffen. Warum also verwendet sie diesen nicht, wenn sie ihren
geliebten Bruder darstellt ­ zumal die Materialikonographie das Portrait in
seiner Wirkung bereichern würde. Tatsächlich mag dies einen finanziellen
Hintergrund haben. Ohne Auftraggeber, der einen Vorschuss leistet, sind die
Materialkosten für die junge Künstlerin nicht tragbar. Die Umsetzung in
Gips und der spätere Guss in Bronze sind nicht nur finanziell weniger
belastend, sie ermöglichen ebenfalls einen mehrfachen Abguss und bieten
damit eine Vervielfältigung an. Für mich stellt sich die Frage nach dem
Grund für den Erwerb der anderen beiden Darstellungen durch die
24
Paris (wie Anm. 1), S. 355.
25
Vgl. Laurent; Gaudichon 1948, S. 63.
26
Vgl. Paris; de la Chapelle 1991, S. 27.
27
Vgl. Flagmeier (wie Anm. 7) , S. 32.
28
Vgl. Flagmeier (wie Anm. 7), S. 32.
9

Rothschilds. Weder der Baron Alphonse de Rothschild noch seine
Schwester pflegten ein persönliches Verhältnis zu den Claudels. Ihr Motiv
kann daher nur in der Wertschätzung der Werke und einer
Sammelleidenschaft liegen. Virginia Cowles merkt dazu an:
,,Fast alle Rothschilds hatten die Sammlerleidenschaft, eine Freizeitbeschäftigung,
die noch aus dem Ghetto on Frankfurt stammte, wo Mayer Amschel Rothschild
sich mit dem Sammeln alter Münzen beschäftigt hatte [...] die Rothschilds der
dritten Generation bewiesen bei ihrer Erwerbung mehr Verstand, und in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ihr Name ein Synonym für die besten
Sammlungen Europas".
29
Die Bronze sitzt auf einem Sockel auf und ist auf der Rückseite
signiert. Es handelt sich um eine Büste mit einem knappen Brustausschnitt.
Dieser umfasst Schlüsselbein und den Ansatz der Armkugeln und beschreibt
unten einen sinusförmigen Bogen. Die runde Büstenform verbindet das
Bildnis deutlich mit dem antiken Typen. Alle später entstandenen Portraits
des Bruders schließen nach unten hin gerade ab und sind nicht aufgesockelt.
Ein ernstes Kindergesicht ist dem Betrachter zugewandt, der Blick
jedoch in die Ferne gerichtet. Das Portrait wirkt zerbrechlich und
zurückhaltend. Paul hat wie auch in den anderen Werken mandelförmige,
leere Augen. Vertieft in etwas unbestimmbares, strahlt sein Gesicht
Zärtlichkeit, Unschuld und Ruhe aus. Durch die starren Gesichtszüge wirkt
das Portrait statisch ­ ganz und gar nicht altersgerecht. Auch das stolze,
erhobene Haupt erinnert vielmehr an eine Person von Rang als an einen
Jungen von dreizehn Jahren. Die Oberfläche ist glatt und poliert, der
Kontrast von Licht und Schatten subtil, sodass das Werk leicht und ohne
jegliche Schwere erscheint. Camille vereint gegensätzliche Strukturen in
ihren Skulpturen; so verwendet sie ein hartes, zeitloses Material wie Bronze,
um ein vergängliches Gefühl festzuhalten. Die gleichen Aspekte finden sich
auch in Camilles späteren Kinderportraits. So haben die Büsten von Charles
Lhermitte als Kind (1889) und Das kleine Schlossfräulein (1893) eine
enorme Ähnlichkeit mit diesem Werk.
Vergleicht man die Büste mit einem Foto von Paul als
dreizehnjähriger Junge (Abb. 1), so wird deutlich, dass Camilles Portrait ihn
jünger und zarter erscheinen lässt. Seine Gesichtszüge sind rundlicher und
29
Cowles, Virgina: Die Rothschilds 1763-1973. Geschichte einer Familie, Würzburg 1974,
S. 78.
10

selbst das Haar liegt in weichen Wellen auf. Sie schafft eine Synthese aus
idealisierendem Charakter und individuellen Zügen und knüpft damit an
antike Traditionen an. Das Werk stellt wohl am deutlichsten ihre
Traditionsverbundenheit dar. Camille ist eine belesene und gebildete
Jugendliche; ihr Interesse galt besonders den Figuren der Antike und den
Herrschergestalten aus allen Jahrhunderten.
30
Der Rückbezug zur Antike
wird im Folgenden immer wieder auftreten. Die Mächtigen der Geschichte
zogen sie an, und ihre ersten ernsthaften Plastiken waren Büsten von
Napoleon, Bismarck, David und Goliath.
Die antikisierenden Züge ihrer Skulpturen, deuten auf eingehende
Studien und direkte Kenntnisse antiker Bildniskunst hin. Die klaren
Konturen strahlen einerseits Kühle aus, verleihen der Büste andererseits
aber auch Ruhe, Harmonie und ideale Schönheit. Einflüsse für den Bezug
auf die Antike sind zum einen die väterliche Bibliothek, die sie begeistert
studiert,
31
zahlreiche Besuche im Louvre mit ihrem Vater und später mit
ihren Gefährtinnen als Teil des Studienprogramms
32
sowie ihr erster Lehrer,
Alfred Boucher,
,,Camille Claudel, das auf seine Art bäuerliche Kind aus der Champagne, fand in
Boucher den angemessenen Lehrmeister: auch er war ein Mann aus dem
Volk, der
aber kraftvoll und harmonisch zwei widersprüchliche Tendenzen der Bildhauerei
seiner Zeit, die sich beide dem sanktionierten Akademismus entgegenstellten,
miteinander verband: den Quattrocentismus, den Dubois ihr gelehrt hatte, und den
Populismus, den er in sich trug [...]".
33
Camille Claudel schafft diese Büste im Alter von siebzehn Jahren. Reine-
Marie Paris bemerkt dazu in ihrem Werk:
,,Das sind keine Versuche einer Anfängerin mehr, und in der Gesamtschau sind sie
mehr als bloße Dokumente: in ihnen drückt sich bereits ein Können aus, das
geradezu verblüffend ist in einer Zeit, da man an frühvollendete Genies, wie sie in
den großen Kunstepochen zutage traten, schon lange nicht mehr gewohnt war".
34
Sie ordnet die junge Camille in die Reihe der großen Künstler des
Quattrocento ein, welche schon in jungen Jahren Meisterwerke schafften.
30
Vgl. Wais (wie Anm. 10), S. 15.
31
Vgl. Paris (wie Anm. 1), S. 26.
32
Vgl. Bona (wie Anm. 6), S. 59 f.
33
Paris (wie Anm. 1), S. 208.
34
Paris (wie Anm. 1), S. 30.
11

Bemerkenswert ist, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt allein autodidaktisch
mit dem Modellieren von Tonfiguren beschäftigt.
35
Wenn François Varillon nun anmerkt, dass Pauls Leben auf einer
unglücklichen Liebe basiert,
36
einer Zuneigung für seine Schwester, die
nicht auf Gegenseitigkeit beruhe, so kann ihm in Anbetracht einer solch
zärtlich-gestalteten Darstellung nur widersprochen werden. Liebe ist das
Thema, das sich durch alle Werke von Camille Claudel zieht ­
Verbundenheit in der Familie, Innigkeit zwischen Geliebten. Ferner beruht
die Portraitähnlichkeit auf einem Ich-Du-Verhältnis zwischen Künstler und
Modell. Sie ist darum nicht wörtlich-objektiv, sondern immer nur ähnlich.
37
Damit wird das Kunstwerk nicht zu einem simplen, naturgetreuen Abbild,
es fungiert als Bedeutungsträger. In dieser Büste drückt Camille Claudel
ihre Zuneigung für den Bruder aus und stellt den kleinen Jungen als stolzen
Römer dar. Dieser Stolz mag unter anderem auf der Fertigstellung seines
ersten Stückes, Die Schlummernde, im selben Jahr, begründet sein. Joseph
Beulay geht sogar davon aus, der Titel Jeune Achille beinhalte ,,romantische
Intentionen" der Künstlerin,
38
wobei dieser Ansatz fragwürdig ist und
deshalb auch nicht näher ausgeführt werden soll.
39
Das Jahr 1881 markiert ferner auch einen neuen Lebensabschnitt der
Familie Claudel. Nach einem Umzug von Villeneuve nach Paris, besucht
Paul dort das Gymnasium Louis-le-Grand, Camille besucht die Zeichen-
und Anatomiekurse an der Académie Colarossi. Frauen waren in jener Zeit
noch nicht zum Studium an der Akademie zugelassen, doch gibt es in Paris
private Kunstschulen, wo man weibliche Studierende unterrichtet. Alfred
Boucher, selbst in Paris tätig, empfiehlt vermutlich auch eine Begegnung
mit seinem Lehrer Paul Dubois in der Akademie und nach dessen und seiner
Empfehlung dann den Besuch der Akademie Colarossi.
40
An dieser Stelle
wird die enorme Förderung durch den Vater deutlich. Die im letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts gegründete Akademie gehörte zu den gefragtesten
35
Vgl. Flagmeier (wie Anm. 7), S. 9.
36
Vgl. Kuthy 1985, S. 143.
37
Vgl. Imdahl 1979, S. 11.
38
Vgl Laurent;Gaudichon (wie Anm. 25), S. 63.
39
Die Autorin lehnt Thesen bezüglich des Inzests ab und möchte diese auch nicht weiter
verfolgen.
40
Vgl. Schmoll (wie Anm. 4), S. 18.
12

Pariser Privatschulen.
41
Die Kurse dort bieten Camille die Möglichkeit
zusätzlich technische Fähigkeiten zu erwerben. Nebenbei unterhält sie mit
anderen Frauen ein selbst finanziertes Atelier, in welches Alfred Boucher
regelmäßig zur Korrektur der Arbeiten kommt.
42
1883 überträgt er diese
Aufgabe seinem Freund Auguste Rodin.
Während dieser Zeit sind die Geschwister unzertrennlich und Paul
scheint ohne Camille nicht mehr auszukommen. Camille ist Pauls
,,weibliche Gefährtin". Bis zur Begegnung mit Rosalia Vetch im Jahr 1900,
seiner großen Liebe, wird er nach eigener Aussage ,,Kameradschaft und
Gesellschaft von Frauen" meiden, mit Ausnahme der von Camille.
43
Drei Jahre später, 1884, entsteht eine weitere Büste ihres Bruders
(Abb. 3) mit den Maßen 44x43x24cm.
44
Der Titel variiert zwischen Mon
frère, Jeune Romain und Buste de Paul Claudel à seize ans.
Der ernste Gesichtsausdruck wird auch hier übernommen. Paul wirkt
im Vergleich zum vorherigen Werk reifer. Sein kindliches Gesicht ist
verschwunden und er wird als stolzer und selbstbewusster junger Mann
dargestellt. ,,Auffallend ist ihr strenger Aufbau, eine glatte
Oberflächenmodellierung und die verschlossenen Gesichtszüge, die eine
statische Wirkung erzeugen".
45
Sein Haar ist wellenförmig gekämmt. Kiefer
und Stirnpartie sind stark herausgearbeitet, sodass in der Bewegung der
Gesichtsmuskeln eine innere Spannung ausgedrückt wird. Ein beherrschtes
Äußeres trifft auf eine starke innere Unruhe. Camille verleiht seinem
Charakter und Geist einen wachen Ausdruck. Bei der Büstenform handelt es
sich um eine im Quattrocento gebräuchliche Form der Halbfigur, welche
den Brustmuskel und seitlich die Ansätze der Oberarme umfasst.
,,Das Geheimnis des Menschen ist mithin in seiner Brust verschlossen [...]. Seele
und Geist, das Allerheiligste des Menschen sind in Kopf und Brustkasten
41
Berger 1990, S. 35.
42
Vgl. Flagmeier (wie Anm. 7), S. 10.
43
Vgl. Paris (wie Anm. 1), S. 319.
44
,,Laut Morhardt sollen mehrere Gipsfassungen existiert haben, eine im Besitz von Marcel
Schwob. Auch mehrere Bronzefassungen, unten an der Schulter signiert mit Camille
Claudel, sind verzeichnet. Das erste Exemplar wurde 1899 von Baron Alphonse de
Rothschild dem Musée d'Art et d'Achéologie in Toubon geschenkt. Ein zweites, für
Baronin Nathaniel de Rothschild, Schwester des oben Genannten, hergestelltes Exemplar,
ging 1897 als Stiftung von Baron Alphonse de Rothschild an das Musée Calvet in
Avignon. Ein drittes, von dem oben Genannten dem Museum in Tourcoing gestiftet,
wurde 1978 ausgestellt und dann dem Musée des Beaux Arts et de la Dentelle von Calais
in Verwahrung gegeben", aus: Paris (wie Anm. 1), S. 356.
45
Flagmeier (wie Anm. 7), S. 11.
13

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783956845994
ISBN (Paperback)
9783956840999
Dateigröße
3.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
antike Büste Geschwisterbeziehung Junger Römer Ehrenstatue Kunst Büste Bildhauer

Autor

Christine Engelke, B.A., wurde 1989 in Essen geboren. Ihr Studium der Anglistik und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum schloss die Autorin im Jahre 2008 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. Seitdem studiert sie Moderne und Zeitgenössische Kunst.
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