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Theologie als „unmögliche Möglichkeit“ bei Franz Overbeck und in den Anfängen der Theologie Karl Barths

©2013 Diplomarbeit 63 Seiten

Zusammenfassung

Die leitende Grundthese dieser Arbeit ist, dass der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck in mäeutischer Weise zentral ist für die anfängliche Theologie Karl Barths, insofern beide auf ihre Weise der Frage nach „Theologie als unmöglicher Möglichkeit“ nachgehen. Es werden zentrale Fragestellungen verglichen und es wird geschaut, wo nach Barth die Möglichkeiten von Theologie angesichts der ihr inhärenten dialektischen Schwierigkeiten liegen. Ebenso untersucht der Autor, worin sich nach Overbeck die Unmöglichkeit von Theologie angesichts ihrer eigenen positiven Selbstverortung zeigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3.1 Die Historisierung des Christentums oder: Von „idealem“ und „realem“ Christentum

Was ist unter „einst“ zu verstehen, welchen Geschichtsbegriff unterlegt Overbeck dieser Zuordnung des Christentums zur Welt?

Geschichte ist für Overbeck grundlegend Betrachtung der Vergangenheit,[1] dargestellte Entwicklung,[2] die in der Tradition geborgen ist und aus ihr geborgen wird.[3] Um nun das, was Overbeck unter Christentum versteht, genauer zu bestimmen, sei eine Trennung innerhalb des Overbeck’schen Geschichtsbegriffes skizziert, die für den Verlauf der weiteren Arbeit von wesentlicher Wichtigkeit sein wird: Christentum kommt Overbeck als ‚historisches‘ einerseits und als ‚Urchristentum‘ andererseits in den Blick; er differenziert zwischen ‚Geschichte‘ und ‚Urgeschichte‘[4], zwischen dem Ur- als Ideal- und dem Realzustand des Christentums. Es ist dies wohl die größte Leistung, die Overbeck vollbrachte, wie es etwa auch Walter Nigg sieht: „Er fand wieder die dem Christentum eigentümlichen Kategorien und lehrte dadurch auch die nachfolgenden Geschlechter wieder etwas von dem realen Sein des Christentums verstehen.“[5] Dabei ist allerdings auffällig, wie sehr sich Overbeck auf die rein historische Genese des Christentums konzentriert; im Christentum waren ihm „nicht seine Dogmen und Mythen das Wesentliche […], sondern eine Stellung zur Welt […]. Overbeck hat es stets mit dem Christentum als historischer Erscheinung zu tun“.[6]

Zunächst abstrahiert Overbeck ausgehend von der Beobachtung, dass das Christentum als „Ding“ resp. „Organismus“[7] ein „histori[sches] Leben, d.h. eine histor[ische] Wirksamk[ei]t“[8] hat, dass es wie jede andere historische Erscheinung neben und vor dieser historischen eine „praehistori[sche] Zeit“ hat. Diese prähistorische Zeit ist die Zeit der Entstehung des Christentums,[9] aus der heraus es sich erst verwirklicht und selbst noch nicht als eigenständige historische Größe zu verstehen ist. Das bedeutet zugleich, dass ‚Urchristentum‘ nicht „ein beliebiges Stück des [Chri]s[ten]th[u]ms der Vergangenh[ei]t“[10], sondern in der Überzeitlichkeit selbst jeder Vergangenheit enthoben, ihr vorgeordnet, in kategorialer wie in qualitativer Hinsicht „mehr als vergangene[s] [Chri]s[ten]th[u]m“[11] ist. Es hat seinen Platz in der Urgeschichte, jenem Bereich hinter der Geschichte, welche – mit Leopold von Ranke – erst dort beginnt, „wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige schriftliche Aufzeichnungen vorliegen“[12]. Das bedeutet für das Urchristentum formell, dass seine Denkmale nie ganz verständlich sind, seine Überlieferungen stets hinter einem besonders undurchsichtigen Schleier sich vor späterer Betrachtung verbergen.[13] Eine Unterscheidung innerhalb der eigenen Quellen – etwa zwischen Ort und Zeit, Ursache und Ziel der Abfassung – liegt der ‚Ur-Zeit‘ des Christentums fern: In dieser sind die Monumente und Aufzeichnungen des Christentums gekennzeichnet durch eine „unmittelbare[ ] Einh[ei]t ihrer Entsteh[un]g und ihrer Wirksamk[ei]t“[14].

Deren Auflösung geschieht im Moment der Vergeschichtlichung des Christentums als dem Interesse an der Trennung dieser „unmittelbaren Einheit“. Materiell ist das Urchristentum nämlich nach Overbeck zunächst zu bestimmen über sein noch nicht differenzierendes Verhältnis zur Welt: „Im Urchristenthum hat das [Chri]s[ten]th[u]m die Welt […] ganz in sich, aber unter der Vorauss[e]tz[un]g, dass die Gesch[ichte] und mit ihr zugl[eich] es (das [Chri]s[ten]th[u]m) selbst mit dieser Welt fertig ist“[15] ; es befindet sich in einem Stadium, in dem es anders als in späteren, historischen Zeiten eben nicht „ein jederzeit lösliches Verhältniss“[16] zur Welt und ihren Erscheinungsformen hat, sondern: ein ‚unlösliches‘.[17]

Die wesentliche A-historizität des Christentums bedeutet zwangsläufig, dass sich dieses nicht historisch fassen lässt.[18] Die Folge historischer Betrachtung und der Charakterisierung des Christentums als eigenständige historische Größe ist nach Overbeck zudem aber in einer weiteren Hinsicht sogar fatal: Konzediert man, dass das Christentum historisch greifbar wurde, so denkt man damit notwendig seine Weltlichkeit mit – und als weltlich-historisches existiert es mit einem historischen Anfang, der ein historisches Ende impliziert: Das Christentum, das als historisches begriffen wird, ist „rett[un]gslos dem Begriff der Endlichkeit oder auch der Decadence verfallen“.[19]

Mittels einer biologistisch anmutenden Diktion[20] vermittelt Overbeck die Begriffe des historischen Seins und Werdens in den Analogien von Geburt, Leben und Tod[21] – und gerade die Tatsache, dass das ‚wirkliche‘ Christentum seit über fast zwei Jahrtausenden eine wahrnehmbare historische Größe ist, qualifiziert es in absoluter[22] Hinsicht als in seinem Sterbeprozess befindlich, seinem Tod entgegengehend: „Denn im Leben gibt es kein Alter, das nicht Vorabend des Todes wäre“[23]. Im Grunde vollzieht Overbeck hier eine gewaltige Transformationsleistung: Sobald das Chrisentum aufhört, als ‚ursprüngliches‘ betrachtet zu werden, sobald es mithilfe historischer Begriffs-instrumentarien erfasst wird, wird es zum ‚historischen Christentum‘ und dem Regelwerk der Zeit unterworfen: Es wird endlich,

„[d]enn es ist klar, dass die Aeternität des [Chri]s[ten]th[u]ms sich auch nur sub specie aeterni vertreten lässt, d. h. von einem Zeitp[un]kt der von Zeit und dem unter sie fallenden Gegensatz von Jugend und Alter nichts weiss“[24].

Dies ist freilich das, was Overbeck durchgehend tut: Er betrachtet das Christentum historisch, und dadurch wird es ihm ein un wirkliches. Und dies ist es schließlich, worauf der Theologe Overbeck seinen Unglauben gründet: „Er hat seine eigene Distanz zum christlichen Glauben im Medium der Geschichte zu reflektieren versucht. Der eigene Unglaube kann ihm als logische Konsequenz der Tatsache erscheinen, daß geschichtliches Christentum per historiam – ehrlicher: per definitionem – nicht möglich ist“[25]. M.a.W.: Die Vergeschichtlichung des Christentums ist seine Mortalisierung (wenn nicht gar seine Mortifizierung).

Das Christentum wird in formeller Hinsicht in dem Moment, in dem es historisch betrachtet wird, periodisiert. Dadurch aber kann es nur unter dem Gesichtspunkt seines Verfalls und Vergehens betrachtet werden, wobei seine Vitalität stets abnehmend verstanden werden muss.[26] So gilt für Overbeck gar: „‚[h]istorisch‘ [d.h. unter historischer Betrachtung; FH] kann das [Chri]s[ten]th[u]m nur zu Grabe getragen werden“[27]. Zwar erkennt Overbeck in dem auch bei seinen Zeitgenossen konstatierten Versuch, dass Christentum als historisches zu fassen, den Wunsch, es zu Bedeutung, zu innerweltlicher(!) Ewigkeit kommen zu lassen, aber er unterstreicht das wesentlich Andersartige des Resultats dieses Versuchs, nämlich die dadurch aufgeworfene Frage,

„ob das [Chri]s[ten]th[u]m in der Menschengeschichte mehr ist und sein kann als ein Räthsel, ein in der Geschichte alles in Frage stellendes Problem von fundamental räthselhafter Natur“[28].

Und gerade das ‚Rätsel‘ und das ‚Problem‘ des Christentums wurzeln in seiner schillernden Zwiespältigkeit: Es ist eben zugleich ein historisches und ein a-historisches, das in seinem Ursprung nur eine Tendenz nach historischer Existenz hatte und so gleichsam auf der Schwelle zwischen Noch-Nicht-Sein und Sein stand.[29] Es ist dieses Stehen auf der Scheidelinie zur Historizität, es ist die Janusköpfigkeit des Christentums, die es so rätselhaft-problematisch erscheinen lässt – und Overbeck sah deutlich, dass dieses Problem weder auf geschichtswissenschaftliche noch auf Weise der Dogmatik zu lösen sei.[30] Overbeck leiten in der davon ausgehenden Analyse des Christentums deswegen zwei geschichtsphilosophische Begriffe von Christentum: ‚historisches‘ und ‚prähistorisches‘ resp. ‚reales‘ und ‚ideelles‘ Christentum, was nichts anderes bedeutet als dass „[d]er Gegensatz zum historischen d. h. wirklichen [Chri]s[ten]th[u]m […] ein gedachtes“[31] ist.

‚Historisches‘ Christentum, wie Overbeck es versteht, ist dadurch gekennzeichnet, dass es „die Welt in sich hat und ihr unterlegen ist“[32]. Symptomatisch gelten ihm dafür v.a. die Erfahrungen, die ihn die Kirchengeschichte lehrt: Es war dem ‚historischen‘ Christentum, das mit dem paulinisch begründeten Heidenchristentum einsetzt (nicht mit der „histor[ischen] Person“ Jesu![33] ), nicht möglich, eine andere Existenz zu führen als jede andere geschichtliche Erscheinung; es ist durch und durch weltlich, „[n]icht ein Greuel der Geschichte […] fehlt in den Erfahr[un]g[en] der K[irchen]G[eschichte]“[34]. Auch seine Moral opferte es auf dem Altar der Geschichte, denn diese war weltlich-geschichtlich immer insofern, als sie jeder geschichtlichen Veränderung treue Anpassung zollte: „Insbesondere hat es [scil. das historische Christentum] eine ganz verschied[ene] Moral gepredigt, je nachdem es weltl[ich] unterdrückt war oder herrschte“[35]. ‚Historisches‘ Christentum ist für Overbeck ganz präzise die „Welt-Kirche“, und als solche steht sie im schärfsten Gegensatz zu seinen Ursprüngen – „weil es [scil. das ursprüngliche Christentum] selbst gar keine Gesch[ichte] zu erleben erwartet hat“[36]. Vielmehr sträubte sich das Christentum dagegen, eine Geschichte zu haben oder geschichtlich zu werden und erlebte dies auch nur unfreiwillig, d.h. „gegen seinen eigenen ur anfängl[ich] ausgesprochenen Willen“[37]. Widerwillig inmitten der Welt sich wiederfindend, entwickelt sich das Christentum nun nach deren Modalitäten; einst angetreten, die Welt zu transformieren, assimiliert sich das ‚historisch‘ gewordene Christentum in die Welt und überwindet in seiner Ursprungsignoranz schließlich seinen Widerwillen.

Anzeichen für die Verweltlichung des Christentums entdeckt Overbeck aber nicht nur in der Kirchengeschichte und in der Relativierung und Trivialisierung von Moral, sondern auch in der Aufgabe ursprünglicher Glaubenspfeiler, allen voran des Glaubens an die (baldige!) Parusie Christi: „Wie es mit dem modernen [Chri]s[ten]th[u]m steht lehrt viell[eicht] nichts eindringlicher als das Leben, das die Vorstell[un]g der Wiederkehr [Christ]i darin führt“[38] – nämlich ein Scheinleben, wo überhaupt noch eines, denn das ist die Konsequenz daraus, dass sich das Christentum nicht weniger in die Geschichte emanzipiert als ihr vielmehr sein zeitloses Selbst preisgegeben hat.[39] Die Vorstellung der Parusie ist dem gegenwärtigen Christentum Overbeck zufolge so fremd geworden, dass es sie auch in der theologischen Beschäftigung mit seinem Ur-Stadium nicht mehr nachzuvollziehen vermag resp. als wesentlich betrachtet.[40] Vielmehr konstatiert Overbeck sogar Bestrebungen, Christentum und Eschatologie gänzlich voneinander zu trennen und das Christentum entsprechend zu verweltlichen, indem „es ledigl[ich] der Glaube des Individuums an einen gnädi[gen] Gott“[41] wird – denn dieser Glaube ist historisch möglich, weil er sich in die Immanenz der Geschichte einrichtet.

Auch in diesem Sinne ist das ‚historische‘ Christentum weltklug geworden – in der Welt klüger, als es nach Overbeck im Sinne von Mt 18,3 hat ursprünglich sein wollen: „‚Werdet wie die Kinder‘ – ganz gewiss ein Grundgesetz des Evangeliums, aber freilich auch einer der härtesten Steine des Anstosses für alle Weltmöglichkeit desselben“[42]. In der engen Verbindung, die Overbeck von diesem Satz Jesu zu dessen Überzeugung vom nahenden Weltende zieht, wird die weltliche Aporie des ‚ursprünglichen‘ Christentums für Overbeck am deutlichsten zu fassen: Die Forderung nach dem Kinderglauben in der zum Untergang sich neigenden Welt und die Ankündigung der Parusie „hängen in der That aneinander und beweisen sich gegenseitig“[43]. Das bedeutet: Nur eschatologisch lässt sich ‚ursprüngliches‘ Christentum fassen, als ‚historisches‘ ist es gegen Mt 18,3 erwachsen geworden, weltlich. In seinem prähistorischen Stadium war dies dem Christentum bewusst. Historisch geworden negiert es diesen Grundsatz, das Welt-Kirche gewordene Christentum hebt das Evangelium mit seiner Forderung nach Kindersinn und diese wiederum jenes auf – Evangelium und Welt bilden ein widersprüchliches Begriffspaar.[44]

Die Grundaporie zwischen gegenwärtigem und ursprünglichem Christentum lässt sich nach Overbeck auf eine einfache Formel bringen: Dieses gab nichts auf die Welt und sah sie dem Untergang geweiht, jenes hingegen gibt auf diesen Glauben nichts mehr und wünscht sich nichts sehnlicher als eine ewiglich fortbestehende Welt,[45] die sie dem Christentum weiht, denn in ihr hat es sich eingerichtet:[46] „Der urchristliche Glaube an das Weltende ist die Scheidewand, die uns vom [Chri]s[ten]th[u]m gegenwärt[ig] überh[aupt] trennt“[47]. Zum Verständnis dieser These ist es wichtig, Overbecks ‚einseitige‘ Deutung des grundsätzlichen Ausdruckes dieses urchristlichen Glaubens in der Weltentsagung zu verstehen.[48] Urchristentum im prähistorischen Sinne genau wie im Sinne des Glaubens Christi ist Overbeck zufolge durch und durch vom Trieb der Weltflucht bestimmt; sein Verhältnis zur Welt ist prinzipiell negativer und abweisender Natur. Es kehrt sich ab von Kultur und Politik, und selbst das individuelle Weltende (als Ende der individuell gelebten Welt) seiner Anhänger verdichtet sich um den Grundsatz des „memento mori“: Der Christ sagt dem Leben zu Lebzeiten ‚lebewohl‘.[49] Dies, so erkennt Overbeck, tut das Christentum teilweise selbst auch noch in seinem vergeschichtlichten Stadium, um die Enttäuschung zu überwinden, dass „[i]n Wahrheit […] weder das Alte vergangen, noch das Neue eingetroffen“[50] ist, indem es sich in der Welt aus dieser in die Askese – „in der That eine Metamorphose des urchristlichen Glaubens an die Wiederkehr Christi“[51] – zurückzieht, denn nur in dieser idealen Form konnte der Glaube überhaupt noch bestehen, nachdem er die Hoffnung auf die baldige Wiederkehr Christi aufgegeben hatte.

3.2 Die Modernisierung des Christentums oder: Von kultureller Attraktion und Aversion

Ist nun aber das wesentliche Kennzeichen der A-historizität des Christentums gerade nicht seine Diesseitigkeit und Weltbezogenheit, sondern sein Bruch mit der Welt, der es außer und über ihr, jenseits ihrer zu stehen kommen lässt, dann ist für die weitere Betrachtung Folgendes ausschlaggebend: Overbeck setzt ‚Welt‘ und ‚Christentum‘ in ein streng antagonistisches (fast ist man versucht zu sagen: dualistisches) Verhältnis. Das Christentum will sich in der Welt nicht behaupten, weil es mit ihr „entschieden gebrochen“ und an einen „Bestand in der Welt selbst gar nicht gedacht“[52] hat. Doch im Vergessen dieses seines Urverhaltens haftet dem Christentum etwas Tragisches an: sein Vorhaben der Welteroberung seit dem Moment seines Erwachsens in die Geschichte. Dieses Verhalten zur Welt ist tragisch insofern, als es damit einen Kampf aufnimmt, den es nur unter Gesichtsverlust zu führen vermochte – und auch diesen in der Konsequenz, wie noch zu sehen sein wird, verlor:

„Das stillere, urspr[ün]glichere, noch weniger aus Selbstbewusstsein excedirende Christenth[um] hat gerade davon nichts gewusst, dass es die Welt erobern solle. Es hat von ihr nur nichts wissen wollen. Schließlich hat sich ihm die verschmähte Welt aufgezwungen“[53].

Entscheidend für das Welt-Verhalten des Christentums ist nach Overbeck der Aspekt von ‚Macht‘: ‚Historisches‘ Christentum trachtet nach Macht und wird als Macht betrachtet; es will die Macht der Welt sich unterwerfen, indem es ihr entspricht. ‚Reines‘ Christentum hingegegen „hat keine Macht und will auch keine haben, ist vielm[ehr] geg[en] alle Macht (auch für sich) mistrauisch“[54].

Zur Beschreibung dieses Gegeneinander-Strebens bietet sich darüber hinaus eine weitere Distinktion an: Christentum, das in die Diesseitigkeit und in die Welt tritt, wird nach Overbeck ‚modernes‘, gegenwärtiges Christentum; er kann auch sagen: ‚Religion‘, worunter er positive Religion versteht[55] bzw. ein menschliches Kulturerzeugnis.[56] Seine Diktion ist dabei so zu verstehen, dass ‚historisches‘ Christentum den Prozess der Weltwerdung als Religion bezeichnet, wohingegen ‚modernes‘ das (stets und jeweils innerhalb der Geschichte) gegenwärtige Christentum meint. Präzise (wie sonst eher selten) definiert Overbeck seine Begriffsgrundlagen, indem er unterscheidet zwischen ‚Modernität‘, ‚Modernismus‘ und ‚modern‘. ‚Modernität‘ ist ihm die ganz gewöhnliche, noch nicht reflektierte Verbindung jedes Seienden mit dessen Gegenwart,

„die Totalität der Eigenschaften, die an einem Dinge o[der] Individuum diesen Zusammenh[an]g [scil. mit der Gegenwart an sich] erkennen lassen“[57].

Wird dieser Zusammenhang reflektiert und darauf rekurriert, verkommt Modernität zu ‚Modernismus‘, d.h. zur „krankhafte[n] Ausartung“[58] der Modernität – und dies ist das Kennzeichen derjenigen Moderne, die sich selbst als eine solche bezeichnet, ihre „heute grassirende[ ] Modernitis“[59]. Das Adjektiv ‚modern‘ hingegen vermag Overbeck nicht zu übersetzen, vielmehr liegt ihm daran, aufzuzeigen, was sein Gebrauch bedeutet: nichts anderes nämlich als „‚[d]er Mode unterworfen‘“[60], gleich einem ‚modernen‘ Kleidungsstück, das getragen wird, wenn und wann es dem Träger genehm erscheint, das in seinem Wert dem Urteil seiner Zeitgenossen untersteht und seiner ‚Dignität‘ verlustig geht, sobald sich die ‚Mode‘ ändert. Christentum ‚modern‘ zu nennen (ein Vollzug, der nicht auf Overbeck zurückgeht, der von ihm vielmehr konstatiert wird), heißt das gleiche: es zu trivialisieren, ihm jeglichen Anspruch auf zeitlose Geltung und Bedeutung zu bestreiten. Historisch gewordenes, gegenwärtiges Christentum ist, so verstanden, ‚modern‘: Indem es ‚modernistisch‘ seine ‚Modernität‘ als außergewöhnlich herausstellt, trivialisiert es sich selbst.[61]

Folgt man Overbeck darin, dass historisch-weltlich gewordenes Christentum, das in der Moderne betrachtet wird, als ein machthungriges getrieben ist von Eroberungsbestrebungen, wird das Christentum vermittels dieser sich selbst fremd, weil es ein ihm fremdes Gebiet betritt. Zwar kann diese ‚Eroberung der Moderne‘ als die Suche nach einem Platz in ihr auch Erfolge zeitigen, insofern modernes Christentum als eine gleichzeitig moderne Erscheinung in der Gegenwart neben jeder anderen – und damit auch gleich-gültig – auftritt. Dieser Quartierbezug beraubt das Christentum allerdings nach Overbeck folgerichtig seiner Christlichkeit, indem es ganz Moderne wird und in dieser sich auflöst.[62] Die Moderne erobert schließlich das Christentum, weswegen Overbeck von ‚modernem‘ Christentum nicht mehr als eigentlichem, ursprünglichem sprechen kann.[63] Zumal in der Flucht nach vorn in die Kultur, die das Christentum am Anfang seines Historisierungsprozesses antrat, verdeutlicht sich seine Metamorphose, und zwar zunächst als Attraktion von Christentum und Kultur, späterhin als Aversion von Kultur und Christentum. In diesem Problemhorizont verdichtet sich Overbecks Hauptanliegen.[64]

Kultur ist für Overbeck menschliche Schöpfung, und zwar „ Alles […] was in den unter uns bestehenden allgem[einen] Verhältnissen, an ihrer Form aus menschlicher Denkweise hervorgegangen ist“[65]. Diese umfassende Definition umgreift auch das historische gewordene, moderne Christentum, sofern und weil es Religion ist. Religion nimmt aber innerhalb der Kultur nach Overbeck keine Sonderstellung, schon gar keinen ‚Primat‘ neben anderen Phänomenen menschlicher Erfahrung ein. Sie ist „in der Gesammth[ei]t der unter uns Menschen in einer für unsere Gedanken fassbaren Form bestehenden Verhältnisse nur ein Ding neben anderen“[66].

Innerhalb der Geschichte war die christliche Religion – sie fällt bei Overbeck unter den Religionsbegriff und meint nichts anderes als ‚historisches‘ Christentum – dabei einst eine angesehene Kulturmacht, überhaupt mächtig und wertvoll für die Entstehung von Kultur, insbesondere in ihrem Blütezeitalter, dem Mittelalter.[67] Und so finden sich die Ableger des historisch gewordenen Christentums als (Welt-)Kirche durchaus auch noch in der Moderne. ‚Modernes‘ (zugleich im oben beschriebenen pejorativen Sinne sowie neutral als gegenwärtig verstandenes) Christentum ist ein Element dieser Kultur.[68]

War das Christentum (ur-)anfänglich ausgesprochen verhältnislos in einem Umfeld von vergehenden Hochkulturen, der griechischen und der römischen, angesiedelt, so übernahm es im Zuge seiner Verweltlichung mehr und mehr deren Kultur(en). „Dabei hat es sich die Formen geschaffen, welche ihm gestatteten, diese Accomodation auch unter neuen Verhältnissen zu versuchen und die ihm nun den Anschein geben, als sei überhaupt sein Wesen diese Fähigkeit sich zu accomodieren“[69] – und gerade dies ist es nach Overbeck nicht. Der Akkomodationsprozess ist ihm geradezu wesenswidrig,[70] und es trat in diesen nur ein, weil es darin die Konsequenz aus seinem gescheiterten Verkündigungsvorhaben des Evangeliums erblickte.[71] Das historisch-antike Christentum bemächtigte sich zwar der antiken Bildung, löste sie von deren vergehenden Kulturen und kleidete sich in ihr Gewand – es ad-trahierte die Kultur schon in seiner patristischen Epoche, weil die es umgebenden Hochkulturen im Christentum eine Stütze ihrer potentiellen Fortdauer entdeckten.[72] Die Folge davon war, dass zum Wesen des Welt-Kirche gewordenen Christentums schlechterdings die (vorerst antike, hochkulturelle, später generelle) Bildung hinzukam; auch und gerade hierin ist der wichtige Unterschied zwischen historischem und ursprünglichem Christentum zu suchen![73] Allerdings sind die Overbeck gegenwärtigen Vorzeichen verändert: Es ist ihm nun das moderne Christentum, das zu seinem Erhalt auf die Kultur angewiesen ist, und dass diese ihm die Sicherung nicht mehr gewährleisten kann, begründe seine desolate Situation.

Overbeck bestimmt das Verhältnis des Christentums zur Kultur ausgehend von seiner Beobachtung, dass es als historisch gewordenes, gegenwärtig-modernes an Lebenskraft verloren habe. Denn als kräftige sollte die christliche Religion eigenständig und autark leben. „Ist sie aber einmal in unsere Cultur übergegangen, so ist sie als Religion todt und lebt nur vom Leben, das ihr die Cultur noch gönnt“[74]. Dies ist nach Overbeck überhaupt das Grundmoment von Kultur: die „Möglichkeit, das Todte unter uns leben zu lassen“[75]. Das sicherste Anzeichen für dieses ‚tote Leben‘ des Christentums ist für Overbeck, dass moderne Christen sich in dem unermüdlichen Prozess befinden, es zu verteidigen – und das heißt, es der Selbstverständlichkeit entkleiden, mit der allein es lebensfähig wäre. Im Ringkampf mit der Welt, als deren Form die Kultur bestimmt wurde, unterliegt sie schließlich im Wettbewerb der Verteidigung; die Kultur löst sich vom Christentum und wird von ihren Zeitgenossen in diesem Ablösungsprozess nur vorangetrieben, noch stärker gegen die Religion verteidigt. Dafür findet Overbeck eine einfache anthropologisch-evolutionäre Begründung: „Was wir zuletzt verlassen ist nicht was uns Illusion so lange als Geschenk eines Gottes […] vorgestellt hat, sondern was wir uns in der Welt selbst erworben zu haben bewusst sind“[76] – in dogmatischeren Worten: Religion als Illusion vergeht in den Fängen der Skylla: certidudo und der Charybdis: securitas; d.h. die Kultur a-vertiert sich vom Christentum, und dieses wird beliebig: „Cultur u[nd] Religion werden unter modernen Menschen als Alternative anerkannt“[77].

4. Theologie in und vermittelt durch die Moderne

Innerhalb der Overbeck’schen Diktion kann man qualitativ betrachtet ihrem formalen wie materialen Gehalt nach eine Begriffs evolution erkennen: Das wesentlich weltlose Urchristentum vergeschichtlicht sich im Eintritt in die Geschichte, wird historisches Christentum; sein Wesen wird seine Weltbezogenheit und sein Ausdruck seine Geschichte. Das historische Christentum modernisiert sich, es wird kulturelles, wird ‚Kulturchristentum‘, dessen wesentliches Merkmal seine Kulturaffinität und dessen Ausdruck, d.h. Form, seine Theologie ist.[78]

Kurz: Den Begriffen ‚Welt und Kultur‘ korrespondieren die Begriffe ‚Christentum und Theologie‘; und was für das Christentum festgestellt wurde, gilt analog für die Theologie als die ‚Hülle‘ des (modernen) Christentums.[79] [80]

4.1 Die Vertretung des Christentums durch die moderne Theologie oder: Über Verzweckungsabsichten

Theologie ist für Overbeck kaum mehr als die Vertretung des Christentums in der Welt – von dieser einfachen Grundthese aus lässt sich seine Kritik wie folgt darstellen: Formell ist Theologie für Overbeck das Mittel der Weltbeherrschungsabsichten jedes Stadiums des historischen Christentums schlechthin, das sich dieses schuf, um „‚sich vor der Welt sehen zu lassen‘“[81]. Sie ist gekennzeichnet von einem verzweifelten Absolutheits-anspruch: Sie will Primärwissenschaft sein, d.h. sie setzt voraus, dass sie die Grundlegung jeder anderen Wissenschaft bildet, diese also in unverbrüchlicher Abhängigkeit von sich weiß und vermittels dieser Abhängigkeit weltgestaltend wirken kann. Gilt dies nach Overbeck realiter zumindest noch für die frühe Theologie in Spätantike und Mittelalter, so beruht diese Voraus-Setzung gegenwärtig nurmehr auf einer Einbildung der Theologie.[82] Gerade aber die Tatsache, dass die Theologie als Wissenschaft keine eigenen Erkenntnisprinzipien hat, sondern diese sich nur von anderen Wissenschaften borgen kann,[83] gibt den Glauben in die Abhängigkeit der Paralleldisziplinien und wertet die Theologie selbst ab – es ist dieser Wahn, der Overbeck reizt, dass sich die Theologie als Reflexionswissenschaft auf den Glauben bezeichnet und dieser begriffsinhärenten Aporie nicht einmal gewahr wird.[84]

In materieller Hinsicht ist als Rückschau auf das Vorige die treffende Zusammenfassung Arnold Pfeiffers vorzustellen: „Daß es Theologie gibt, ist also Ergebnis jener Grundverlegenheit des Christentums, die mit der Parusieverzögerung gegeben ist.“[85] Dies äußert sich für Overbeck darin, dass ihm Theologie der Versuch ist, „den relig[iösen] Glauben [scil. das Christentum] jeder Generation annehmbar zu machen“[86], indem es ihn „rationell zu begründen“[87] sich anschickt. Dafür kleidet sie sich in das Gewand der ‚Wahrhaftigkeit‘, nämlich der Wissenschaftlichkeit. Verkürzt und im Anschluss an das Vorige lässt sich sagen: Das moderne Christentum ließ sich durch seine einst lebenskräftige Kulturaffinität von einer Theologie vertreten, die sich nun aufgrund der Kulturaversion umgekehrt mit einem Scheinchristentum beschäftigt. Formell entpuppt sich die Theologie (insbesondere, aber nicht nur, die moderne, zur Zeit Overbecks gegenwärtige und u.a. an den Namen Harnack und Ritschl festzumachende) dabei „als die ancilla mundi et temporis die sie ist“[88]. Die moderne Theologie vertritt Overbeck zufolge gerade nicht, wie es ihr Anspruch gleichwohl sei, das Christentum in der Welt, sondern sie handelt geradezu umgekehrt und vertritt die Welt als eine christliche[89] – und sie muss als ‚moderne‘ auch so handeln, weil sie von der Voraussetzung aus denkt, dass erst in der vollen Anerkennung der Welt ihre Beherrschung möglich wird.[90] Das ist das Eigentliche, das Overbeck abstößt: Die Theologie verschweigt das skandalon des Christentums und bietet es der Moderne als ein ungefährliches Spielzeug dar.[91]

Den Grund dieser Verkehrung der eigentlich theologischen Aufgabe bestimmt Overbeck dort, wo die Theologie mit wachsender Kenntnis über die historischen Ursprünge des Christentums sich vom Anspruch der Erhellung dieser immer weiter abwandte, stattdessen zum Zwecke des Selbsterhaltes in das Konzert der neuzeitlichen Wissenschaften wie den ‚modernen Naturwissenschaften‘ einstieg oder sozialpolitischen Fragestellungen und schließlich der Schaffung „einer selbstfabricirten Metaphysik“[92] (idealistischer Färbung) ihre Kraft widmete. Die (moderne) Theologie gerät dabei in eine doppelte Schieflage: Das Wesentliche des Christentums, seine A-historizität und seine Askese, kann sie im Blick auf das historisch gewordene, dieser beiden Grundmomente beraubte Christentum, nicht mehr vertreten – zu sehr sind Welt, Kultur, Christentum und Moderne ineinander verschlungen.[93] Sie flüchtet sich in ein rein innerlich verstandenes Christentum, das als Privatangelegenheit betrachtet durchaus im Getriebe der Welt und ihrer Pluralismusvorstellungen zu existieren vermag, je nachdem, wie es sich diesen anpasst; der Theologie fehlt jede „Empfindung für die Entfremdung der Neuzeit von den Forderungen des Evangeliums“[94]. Im Anspruch auf die Vertretung des Christentums in der (modernen) Welt aber steht sie vor der Sisyphos-Aufgabe, als christlich darzustellen, was mit dem ursprünglichen Christentum nichts zu tun hat; mindestens die moderne Theologie hat die Fähigkeit verloren, eine Klärung ihrer ureigenen Probleme zu schaffen, und weicht in das Feld von Politik und Ethik aus, um Geltungsansprüche zu behaupten. Hierin mündet Overbecks positive Kritik des Christentums: „Overbecks Schrift [scil. seine „Christlichkeit] beabsichtigt den Nachweis, daß von einer ‚Christlichkeit unserer heutigen Theologie‘ höchstens sensu allegorico die Rede sein könnte. Es wird also ein Mißbrauch des Christennamens gerügt.“[95] Die moderne Theologie repräsentiert Overbeck zufolge ein ethisiertes,[96] sozial-pragmatisiertes, politisiertes Christentum (das sich u.a. der Frage nach dem Sozialismus im Urchristentum widmet – wie viele andere auch eine Frage, die dieses nicht kannte[97] ), das ihr auch die Moderne nicht recht glauben möchte – und so ist sie ein eigentümliches Hybridwesen zwischen Urchristentum und Moderne. Schließlich verfällt sie gerade darin, dass sie sich ihrer Modernität rühmt, dem Modernismus:[98] Je lauter sie ihre Gegenwärtigkeit betont, desto obsoleter erscheint und wird sie.

Im Vollzug dieser Tendenzen widmet sie sich andererseits vornehmlich historischen Scheinfragen,[99] begreift Bildung als Selbstzweck und lenkt von der Relevanz des Christentums mithilfe philologischer Problematisierungen ab. Sie vollbringt damit in der praktischen Konsequenz nicht weniger, als auch dem theologischen Nachwuchs hinsichtlich der Ausübung eines theologischen Berufes in Fragen der praktischen Relevanz des Christentums den Blick zu trüben.[100] Aber auch grundlegend ist gerade der Stolz moderner Theologie darauf, Geschichtswissenschaft zu betreiben und zu sein, für den Kirchenhistoriker Franz Overbeck ein anschauliches Zeichen für seine Ursprungsvergessenheit und Verzweckung der Moderne. Sie entlehnt nicht nur ihre Methodik, sondern auch ihre Begriffe und damit Ideen der modernen Wissenschaft und kleidet das von ihr vorgeblich verteidigte Christentum in dieses geliehene Gewand – pointiert: sie ersetzt Christologie durch Geschichtswissenschaft, wo nicht überhaupt Offenbarung durch Wissenschaft.[101]

Zum Verhalten der (modernen) Theologen als Historiker tritt noch ihre Kunst als allegorische Exegeten, die sie zur Bibel als einem Buch, das „für seine Leser geschrieben [ist], nicht für seine Ausleger“[102] – und das heißt ja: für Christen, nicht für Theologen; für Laien, nicht für Experten! – erst recht in eine künstliche Distanz rückt. Dabei macht Overbeck zwei Phasen der Behandlung und Betrachtung eines (jeden) Textes aus: Auf das Verhalten der Leser zu einem Text als „Unterwerf[un]g unter ihn“ folgt die „Emancipation von ihm“[103] durch seine Ausleger. Für die theologische Fragestellung dieser Arbeit bietet sich folgende Konsequenz dieser Beobachtung an: Die erste Periode ist vor allem dadurch bestimmt, dass sich die Leser der Bibel mit und in ihr wiederfinden, sich von ihr ansprechen und auslegen lassen wollen; zwei Subjekte begegnen einander, die Bibel ist, als Wort Gottes geglaubt, das Gegenüber auf gleicher Augenhöhe ihres Lesers. Erst in der zweiten Periode, der Emanzipation, kehrt sich das Verhältnis um: Die Bibel wird ausgelegt, das Subjekt-Objekt-Gefälle wird ein ‚wissenschaftliches‘ (der Mensch ist das Subjekt, der Text das Objekt), und die Bibel wird zum Stichwortgeber für die „Attentate ungewaschener Subjectivität ihrer Ausleger“[104], der Theologen. Dies zeigt für Overbeck im Übrigen auch die Auslegungsgeschichte der Bibel seit Origenes, insofern die Exegese biblischer Texte diese (selten bis) nie in ihrer Bedeutung erhellte, sondern stets nur immer mehr verdunkelte. Auch hier erkennt Overbeck den Selbstzweck (wissenschaftlich-moderner) Theologie.[105]

Wesentlich für den selbstreferentiellen Charakter dieser Theologie ist das schon angedeutete grundsätzliche Verhältnis zur Kultur: Nach Overbeck besteht das Wesen der modernen Theologie nicht mehr in christlicher Lehre, sondern in bildungsbeflissener Betriebsamkeit, die um die Quantität der Arbeit so sehr besorgt ist, dass sie die Qualität – und das hieße bei Overbeck konsequent gedacht immerhin die Erkenntnis der Unmög-lichkeit der Theologie! – dieser unterordnet.[106] In der Beschäftigung mit Spezial-problemen, die in existentieller Hinsicht weder für die Theologen selbst noch gar für die Laien des Christentums von Relevanz wären, erscheint die Theologie höchstens noch als eine Wissenschaft mit „rein gelehrten oder polemischen Zwecken“[107]. Overbeck bezeichnet diesen Arbeits- und Lebensmodus der Theologie als „Bildungsphilistertum“, die Theologen als die „beredtesten, lebensvollsten Repräsentanten“ desselben und „wortreichsten Praeconen der Bild[un]g“[108]. Bildungsphilister – ein Wort, das er nach der Lektüre von Rudolf Hayms „Die romantische Schule“ vor allem in seinem Gebrauch um die 19. Jahrhundertwende dem Austausch mit und der Prägung durch Friedrich Nietzsche verdankte[109] – definiert er genauer als „Menschen, die für Bild[un]g wohl passioniert sind, aber keinen Beruf dazu haben, wohl gebildet sein möchten, der Bild[un]g indessen nur mit halbem Herzen und gewissermaassen nur Anstandshalber anhängen“[110] – anstandshalber in doppelter Hinsicht des Wortes: Theologen sind ‚moderne‘ Wissenschaftler, sind überhaupt ‚moderne‘ Menschen und als solche angehalten und bestrebt, im Chor der Kultur mitzusingen. Dafür bedürfen sie der Bildung; in dieser Hinsicht sind sie für Bildung passioniert. Andererseits aber ist diese Bildung eine „Weltbild[un]g, die Bild[un]g mit schlechtem Gewissen“[111] jedes reflektierten Christlich-Seins, hinter dem es stets anstehen muss. Theologie, die sich nach Overbeck der Verteidigung eines eigentlich bildungsfernen, ja -feindlichen Christentums verschrieben hat, kann Bildung und damit Weltlichkeit nur philistäisch, d.h. uneigentlich und zum Zwecke der Zur-Schau-Stellung ihrer Modernität gebrauchen.

Es lassen sich in dieser Hinsicht abschließend zwei Verzweckungsabsichten der (modernen) Theologie nach Overbeck benennen: Einerseits benutzt die Theologie die Kultur (d.h. hier nicht zuletzt: die Bildung) für ihr Anliegen, das Christentum zu vertreten, indem es im Diskurs und Konzert der modernen Wissenschaften und Fragestellungen auf die Relevanz des Christentums abzuheben bestrebt ist. Das bedeutet aber andererseits, dass die Theologie das Christentum dem Anliegen der Bildung (d.h. hier nicht zuletzt: der Kultur) verzweckt, es also von seinen ursprünglichen Grundvorstellungen löst und der Kultur einverleibt, nur innerhalb deren sie es schließlich rechtfertigt. Die moderne Theologie formuliert das Ultimatum ihrer Verzweckungs-absichten an das Christentum: „Man ist wohl noch bereit mit ihm zu ‚leben‘, doch mit Vorbehalt“[112] – dem Vorbehalt der Modernität. Der kurze Zirkelschluss lautet nach Overbeck: Realiter vertritt die moderne Theologie zwar das Christentum, aber nur insofern sich dieses als ‚modernes‘ Christentum verzwecken lässt – zum Zwecke der Modernität ihrer Vertreter. Denn (moderne) Theologen sind nach Overbeck nur uneigentlich Christen, die das weltlose Christentum in der Welt, in der sie selbst stehen, vertreten; sie sind „im günstigsten Fall Unterhändler des [Chri]s[ten]th[u]ms mit dieser Welt“[113]. Dass nach Overbeck die Theologie aber in der Mittelposition zwischen Welt und Christentum steht, erkennt er auch am zeitweiligen Dank der Welt für die Dienste der Theologie,[114] denn in diesen hat sie zuweilen Bündnisgenossen im Gebrauch des Christentums gefunden, insofern dass die Theologen „aus derselben Ecke einer nur relativen Schätzung des [Chri]s[ten]th[u]ms kommen“[115] wie sie selbst. Wie die Welt das Christentum zu ihrer Selbstdeutung[116] verzweckt, so dient es den Theologen zu ihrer Weltlichkeit. Sie sind gerade als Vertreter des Christentums in der Welt „in Wahrheit […] seine geborenen Verräther“[117], und weil nach Overbeck Weltlichkeit nicht unter christlichen Vorzeichen zu halten ist, verraten sie zum Zwecke dieser Vertretung zu allererst ihr eigenes Christentum.[118]

[...]


[1] Vgl. aaO., 387f. und 374f.

[2] Vgl. aaO., 374.

[3] Vgl. aaO., 391.

[4] ‚Urgeschichte‘ ist ein Begriff, der zwar nicht ausschließlich, aber maßgeblich auf Overbeck selbst zurückgeht; vgl. OWN 5, 610: „Ich selbst habe überh. den Begriff in die KGeschichtschreibg einzuführen erst versucht […]“.

[5] Nigg, Versuch einer Würdigung, 171.

[6] So Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik, 184. Bis hierher ist Pfeiffer durchaus zuzustimmen; den zweiten Halbsatz wird man allerdings nicht unbesehen übernehmen können: „[E]s ist Voraussetzung seiner Argumentation, daß mit dem Offenbarungsanspruch des Christentums für den Denkenden nichts anzufangen sei“. Dies mag auf Schopenhauer, mit dem Pfeiffer Overbeck hier parallelisiert, zutreffen; für Overbeck selbst bleibt Pfeiffer den Nachweis allerdings schuldig.

[7] Jörg Weber, Finis Christianismi, beobachtet S. 27 sehr scharf, wenn er feststellt: „Overbeck benutzt diesen pluralen Singular ‚Organsimus‘ nicht zufällig. […] Organsimus bedeutet den Komplex von Wechselwirkungen einzelner, verschiedener Organe, ‚Werkzeuge‘. Der Organismus ist also das ganze Instrumentarium.“ Gerade darin wird er sich zum Selbstzweck und verfällt dem Naturgesetz von Werden und Vergehen. „Der Organismus, von dem Overbeck spricht, konstituiert sich aus der sich selbst abgrenzenden Tätigkeit, besser den Tätigkeiten der verschiedenen ‚Werkzeuge‘. Diese Tätigkeiten sind nicht aktive, natürliche, die über sich hinaus zu ihrem Zweck hinarbeiten. Sie sind determiniert defensive, sich im Rückzug erst erschaffende Tätigkeiten, die sich in ihrem Tun erschöpfen. Ihre Nichtigkeit ist die Voraussetzung für ihre Selbsterzeugung aus dem Nichts “; aaO., 28.

[8] OWN 5, 619.

[9] So gebraucht Overbeck auch die Begriffe ‚Urgeschichte‘ und ‚Entstehungsgeschichte‘ synonym und bewahrt damit die Urgeschichte vor der Klassifikation als ‚uralt‘, insofern er ‚Entstehung‘ generell als ‚zeitlos‘ charakterisiert und die Geschichte generell in die relativ-subjektive Zeitlosigkeit versetzt; vgl. aaO., 621; vgl. ebd.: „[A]lle Beziehung zur Zeit, die sie [scil. die Geschichte] hat, ist ihr erst durch das Subject ihres Betrachters verliehen“. Vgl. ausführlicher, aber in der gleichen Richtung ferner: aaO., 678ff.

[10] AaO., 610.

[11] Ebd.

[12] Leopold von Ranke, Weltgeschichte, zitiert nach OWN 5, 616. Overbeck betont bei diesem Zitat nachdrücklich den Aspekt der intelligiblen Rezeption von Geschichte, das verständlich Werden der Monumente und die Glaubwürdigkeit schriftlicher Aufzeichnungen – „nicht einfach wo Monumente u. Aufzeichngen beginnen“.

[13] Vgl. aaO., 617.

[14] AaO., 620f.

[15] AaO., 618.

[16] Ebd. Der hier von Overbeck angeführte christliche Sozialismus dient als Beispiel und muss synekdochisch verstanden werden.

[17] Dies stellt nun freilich innerhalb der Overbeck’schen Diktion einen scheinbaren Widerspruch dar zwischen ‚die Welt ausser sich haben‘ einerseits und sie ‚in sich haben‘ andererseits. Dieser Widerspruch kann aufgelöst werden, wenn man das ‚Ur-Verhältnis’ beider Größen als ein ungeteilt-symbiotisches versteht. Das Urchristentum unterscheidet, weil es noch keinen historischen Begriff von sich selbst, keine Vergangenheit und keine Entwicklung hat, so wenig zwischen sich und der Welt, dass es nicht nur Teil dieser, sondern dass v.a. diese Teil des Christentums ist. In eschatologisch-apokalyptischer Perspektive verschmelzen Christentum und Welt ineinander, weil die Zukunft schon antizipiert worden ist (Perfekt!) – Christentum und Welt sind miteinander ‚fertig‘, noch bevor sie miteinander beginnen.

[18] Vgl. Nigg, Versuch einer Würdigung, 180: „Denn weder Christus für sich noch der Glaube, den er gefunden, hatte auf Erden historisches Dasein. Die Darstellung des Wesens des Christentums ‚rein historisch‘ ist deshalb ein Gallimathias.“

[19] OWN 4, 198.

[20] Zur „Bedingung der Möglichkeit einer Betrachtung des Christentums unter biologischen Kategorien“ siehe Wehrli, Alter und Tod, 184–190.

[21] Synonym für seine Geschichtsbetrachtung stehen hier „Anfang, […]Blüthezeitalter, […]Ende“: OWN 4, 198.

[22] Overbeck vermag auch eine relative Altersbestimmung des Christentums anhand der „altindi. Religion“ vorzunehmen, deren noch deutlich größeres Alter ihn bedenken lässt, dass „das Alter des Xsthms noch kein Argument geg. seine Fortdauer“ sein muss – allein dies nutzt er nicht zur Korrektur seiner These, sondern sieht für den Sterbeprozess nunmehr „die Decadenz des Xsthms, welche sich vor Allem in seiner gegenwärt. Theologie offenbart“, verantwortlich; aaO., 150f.

[23] AaO., 198. Overbeck kann auch in handwerklicher Terminologie von der Auflösung des gegenwärtigen, des historischen Christentums sprechen: „Die Geschichte des Xsthms ist sein Gebrauch. Was gebraucht wird nutzt sich ab und so thut’s auch das Xsthm in dieser Welt“; aaO., 199; oder schlichter: es ist „ zu alt“; ebd. et passim.

[24] OWN 4, 147.

[25] Eberlein, Theologie als Scheitern, 213.

[26] Vgl. OWN 5, 611.

[27] OWN 4, 203.

[28] AaO., 201.

[29] Vgl. ebd.

[30] Vgl. dazu Nigg, Versuch einer Würdigung, 103

[31] Overbeck unterscheidet also zwischen ‚wirklichem‘, d.h. historischem, und ‚echtem‘, ‚reinem‘, ‚ursprünglichem‘, d.h. prähistorischem Christentum – dieses ist gewissermaßen die Idee von jenem, dessen ‚Gedachtes‘, welches einzuholen wissenschaftlich nicht mehr möglich ist.

[32] OWN 4, 204.

[33] AaO., 207.

[34] AaO., 148.

[35] AaO., 195.

[36] AaO., 196.

[37] AaO., 197. Hervorhebung FH.

[38] AaO., 237.

[39] Vgl. dazu auch Nigg, Versuch einer Würdigung, 180f.

[40] Vgl. OWN 4, 243. Zum Vergleich seiner detailierten Kritik religionsgeschichtlicher Methoden zur Erforschung der Reden Jesu über die Parusie siehe auch OWN 5, 35–39.

[41] OWN 4, 182.

[42] OWN 5, 684.

[43] AaO., 685.

[44] Vgl. OWN 4, 217: „[D]as Evgelium [ist] weltunmöglich und schon jene Forderung [hebt] die Weltmöglichkeit des Evgel’s auf[…], oder die Kirche in der Welt aus den Angeln“. ‚Evangelium‘ ist hier für Overbeck einem weiteren Verständnis nach die Keimzelle, aus der das Christentum stammt, gewissermaßen das prähistorische Embryonalstadium des Christentums; vgl. dazu aaO., 184.

[45] So auch Karl Löwith, der Overbecks schon 1873 formulierten Standpunkt so zusammenfasst: „[D]ieser Widerspruch der altchristlichen Eschatologie und der Zukunftsstimmung der Gegenwart ist ein fundamentaler […, d]enn nichts liegt unserer sich selbst vorantreibenden Gegenwart ferner als der Glaube an ein nahes Weltende“; ders., Von Hegel zu Nietzsche, 480.

[46] Vgl. auch Hans Schindler, Barth und Overbeck, 9: „In der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Anbruchs jener hyperhistorischen Welt sieht Overbeck das eigentliche Wesen des Christentums. Dieses Christentum aber hat sich selbst ad absurdum geführt“.

[47] OWN 4, 188; vgl. insgesamt aaO., 188f.

[48] Niklaus Peter ist zwar zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass Overbeck „das ursprüngliche Wesen des Christentums einseitig von der Eschatologie, von der Ablehnung der […] Welt her“ (Im Schatten der Modernität, 240) fasst – es bleibt aber zu fragen, ob diese Bestimmung wertende Konseuqenzen nach sich ziehen sollte oder ob Overbeck in dieser Bestimmung nicht tatsächlich, wenn schon nicht das, so doch ein wesentliches Merkmal des ursprünglichen Christentums erfasst hat. Denn in der Tat kann Overbeck nur in dieser einseitigen Grundbestimmung des Christentums „von einer schon fixierten Position aus die ganze Fragestellung von Christentum und Moderne so behandel[n], dass sie aporetisch ausgehen muss, dass wirkliche Alternativen gar nicht bestehen“ (aaO., 241). Aber um den Aufweis von Alternativen war es Overbeck ja gerade nicht zu tun, wie auch Peter erkennt – insofern verwundert diese Kritik der Aporie unter und neben ihrem gleichzeitigem Lob doch auch.

[49] Vgl. zum asketischen Charakter des Urchristentums insgesamt OWN 4, 163–169.

[50] Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 481.

[51] OWN 1, 216.

[52] OWN 4, 265.

[53] AaO., 267f.

[54] AaO., 218. Aufschlussreich für Overbecks Verständnis der ursprünglichen Welt- und Machtlosigkeit des Christentums ist u.a. auch seine Deutung von Lk 6,30 in OWN 4, 264f.

[55] Vgl. Nigg, Versuch einer Würdigung, 171: „Overbecks Interesse richtete sich in dieser Frage auf das Christentum und nicht auf das Problem der Religion. […]“.

[56] Vgl. Wehrli, Alter und Tod, 187.

[57] OWN 5, 150.

[58] Ebd.

[59] AaO., 153.

[60] AaO., 163.

[61] Zu Recht weist Niklaus Peter, Im Schatten der Modernität, 237, auf Overbecks „gedankliche Engführung des ganzen Themas ‚Moderne‘ auf die Problematik Christentum und Theologie“ hin, die davon geprägt sei, dass er die seinerzeitige Diskussion um die ‚Moderne‘ weder in ihrer Tiefe noch in ihrer Breite rezipiert hätte. Allerdings gilt dieser Diskussion, wie Peter einräumt, auch gar nicht Overbecks Hauptinteresse, sondern vielmehr von Grund auf der Theologie und dem Christentum. Man wird ihm die ‚Engführung‘ entsprechend nicht zur Last legen können, sondern sie in dem Kontext verstehen müssen, in den Overbeck selbst sie gesetzt hat.

[62] Vgl. OWN 4, 226: „Die Eroberung kann sich unter Umständen als nur zu wohl gelungen erweisen. Sie ist diess, sobald sich zeigt, dass das Unverkennbare am modernen Xsthm das Moderne ist, aber vollkommen problematisch das Christliche daran geworden ist“.

[63] So auch Peter, Im Schatten der Modernität, 239: „Für Overbeck ist ein wesentliches Charakteristikum [der Moderne] […] die Überwindung des Christentums. Infolgedessen können Christentum und Theologie, wenn sie ihre Zeitgenossenschaft […] behaupten wollen, nur als Anpasser oder eroberte Eroberer erscheinen“.

[64] Vgl. Nigg, Versuch einer Würdigung, 169: „Wer Overbeck in dieser Frage verstanden hat, hat ihn in seinem Zentrum begriffen.“

[65] OWN 4, 299.

[66] AaO., 300.

[67] Vgl. aaO., 305: „Die Bdtg, welche die Religion für Gegenwart und Zukunft verloren hat, hat sie unzweifelhaft einst besessen. Ja die übergreifende Bdtg der Religion in der Vergangenheit mag der Grund ihres späteren Verfalls sein“.

[68] Und zwar nach Overbeck ein sehr bedeutendes Element dieser Kultur – etwa in der neuzeitlichen Politik, die sich aus der kirchengeschichtlich nachvollziehbaren Kirchenpolitik ausgehend u.a. vom Synodalwesen zu Parlamenten gestaltet.Vgl. OWN 4, 303.

[69] OWN 1, 212; vgl. auch OWN 4, 172.

[70] Vgl. OWN 4, 173.

[71] Karl Löwith fasst dies so zusammen: „Die Welt ließ sich nicht überzeugen, dass Gott die Menschen liebt“; ders., Von Hegel zu Nietzsche, 480.

[72] Vgl. OWN 1, 213: „In der That hat denn auch das Christenthum, weit entfernt, in seiner altkirchlichen Periode besonders weltflüchtig zu sein […], vielmehr nie größere Fähigkeit gehabt in die Welt einzugehen als in dieser Periode, weil diese Welt damals so schwach war und des Christenthums so sehr bedurfte“.

[73] Vgl. OWN 4, 63: „Das Xsthm mag man im Allgem. asketisch und bildungsfeindlich nennen, für die Kirche wäre solche Bezeichnung ganz falsch.“

[74] AaO., 305.

[75] AaO., 299.

[76] AaO., 305.

[77] AaO., 306. Abschließend bietet sich an dieser Stelle ein Exkurs zur Frage nach den Vorbildern des ‚modernen Christentums‘ an: Es ist für Overbeck dessen Charakteristikum, dass es seine Vorbilder nach bildungsbürgerlicher Art in der Gegenwart sucht, weil es die Beziehung zu seinem Ursprung verloren hat. Diese Suche verläuft in der Perversion der Negation, „wenn [scil. weil] sich in der modernen Welt kein bedeutender Mensch als Antichrist mehr geberden kann, ohne mit Vorliebe für das Xsthm angerufen zu werden. Das müssen sich unter Xsten moderner Observanz Goethe und Schiller, L. Feuerbach, Schopenhauer, Wagner, Nietzsche […] gefallen lassen“ [aaO, 239]. Das moderne Christentum bedarf der Berufung auf große Namen, um selbst noch für etwas zu gelten – und über diesen Versuch verunmöglicht es sich selbst, weil seine Suche erfolglos bleibt: Die Zeitgenossen der Moderne, welche sich in ihrer Kultur vom Christentum abgewandt hat, weigern sich, dieses zu vertreten, und täten sie es, erwiesen sie dem Christentum einen Bärendienst, weil sie allein in quasi-christologischer Überhöhung und Verfremdung die Rolle von Grund-Figuren des Christentums einzunehmen vermöchten – aber „[d]gl. Namen giebt es in unserer gegenwärt. Welt nicht mehr, und eben darum kommt auf die Respectirung des Namens Xi aus der Vergangenheit so viel an“ [aaO., 240]. Für das moderne Christentum ist dementsprechend zweierlei symptomatisch: Zum einen zeigt sich in dieser ‚Anrufung bedeutender Menschen‘ seine verlorene Beziehung zum Namen Christi, auf den allein sich das Christentum (auch nach Overbeck!) zu gründen vermag. Daraus folgt, dass das moderne Christentum auf Substitute angewiesen ist, denen sie diesen Verlust als Entwicklung anhängt – und darin schimmert die Grundaporie modernen Christentums durch.

[78] Wichtig ist für die Beurteilung des Christentums nach Franz Overbecks Lesart der Geschichte auch, Karl Löwiths Urteil festzuhalten: „Dass dies [scil. die Ausbildung einer theologischen Wissenschaft und einer Kirche] dennoch so rasch geschah, erklärt sich nicht aus dem Christentum selbst, sondern aus seinem Eintritt in die heidnische Bildungswelt“; ders., Von Hegel zu Nietzsche, 472.

[79] Zwar ist es Overbeck zunächst um seine zeitgenössische Theologie zu tun; selbst in seiner Zeit und an diese gebunden hat er vor allem den Kulturprotestantismus um die 19. Jahrundertwende im Blick. Da sich in seinem Nachlass allerdings durchgängig ein generalisierender Unterton heraushören lässt, wird im Folgenden auf die Unterscheidung zwischen kulturprotestantischer moderner Theologie und im zeitlos verstandenden Sinne gegenwärtiger moderner Theologie bzw. Theologie überhaupt verzichtet und, wo diese Unterscheidung nicht relevant ist, das Prädikat ‚modern‘ mit Klammern versehen. Vgl. zum prinzipiellen Charakter seiner Kritik nur Overbecks allgemeine und Allgemeingültigkeit beanspruchende Notizen in OWN 5, 471–479.

[80] Im Folgenden können nur die groben Striche der Kritik Overbecks angedeutet werden; für eine ausführliche Würdigung etwa auch des Kampfes Overbecks an den beiden Fronten, die er ausmacht, der liberalen und der apologetischen Theologie, ist neben OWN 1, 184–231 immer noch die „Würdigung“ Walter Niggs zu empfehlen, dort bes. 229–237.

[81] OWN 5, 491.

[82] Vgl. aaO., 482.

[83] Freilich setzt Overbeck hier voraus, dass die Wissenschaftlichkeit der Theologie sich von ihren Paralleldisziplinen bestimmen lassen muss und verwehrt er der Theologie zugleich, diese Bestimmung aus ihrem Gegenstand selbst zu vollziehen; auch dieser profane Wissenschaftsbegriff ist dabei typisch für Overbecks gesamte profane Betrachtungsweise; vgl. dazu Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik, 180.

[84] Vgl. Nigg, Versuch einer Würdigung, 225. Was hierbei andererseits auch nicht verschwiegen werden darf: Es schimmert durch, wie hochschätzend Franz Overbeck vom Glauben an sich reden kann, vom Glauben „als Gefühl, als glaubender Lebensvollzug“, der „für die Wissenschaft letztlich unfassbar ist“; Wehrli, Alter und Tod, 109; vgl. zu Overbecks Wertschätzung des Glaubens insgesamt aaO., 109–115.

[85] Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik, 180.

[86] OWN 5, 471; vgl. auch aaO., 482, 508 et passim.

[87] AaO., 474.

[88] OWN 5, 508. Overbecks Gebrauch des ‚tempus‘-Begriffs verweist hier vor allem auf die Zeit des zweiten Deutschen Reiches. Damit eng zusammen hängt das Problem des Verhältnisses von Christentum und Nationalismus (vgl. hier etwa OWN 4, 247 et passim), dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann. Ich schlage aus diesem Grund folgende Arbeitsübersetzung vor, die sich an die oben getroffenen Unterscheidungen anleht: Die Theologie als Magd der Welt und ihrer Kultur. Dass hier wie auch anderen Stellen auf die Schule Ritschls oder die Theologie Harnacks nicht eingegangen werden kann, obwohl sich dies grundsätzlich anböte und sicherlich einer Vertiefung bedürfte, muss leider eingeräumt werden. Im Rahmen dieser Arbeit liegt dabei der wesentliche Fokus auf Overbeck als eigenständigen Theologen, dessen Gedanken, so gut es unter Absehung seiner inhaltlichen Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen geht, auch eigenständig dargestellt werden. In diese Richtung vertiefter zu arbeiten, scheint mir dennoch ein wichtiges Anliegen zu sein, von dem ich bedaure, es hier nicht weiter verfolgen zu können.

[89] Vgl. OWN 4, 275–287, bes. 275 und 283; beredtes Beispiel dafür ist für Overbeck die von ihm als Organ der modernen Theologie ausgemachte, von Martin Rade seit 1887 herausgegebene Zeitschrift „Die christliche Welt“ – allein der Titel zeigt ihm das verkehrte Verhältnis an.

[90] Vgl. OWN 5, 492.

[91] Walter Nigg formuliert dies so: „Overbeck nahm […] nicht an den dem menschlichen Verstande widersinnig erscheinenden Lehrsätzen des Christentums Anstoß, sondern daran, daß man das Absurde des Christentums verschweigen und aus ihm ein durchaus passables und in sich verständliches Kulturgebilde machen wollte.“; Nigg, Versuch einer Würdigung, 261; ganz anders Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik, 142f.

[92] Beide Zitate: OWN 5, 477; vgl. auch aaO. 477f.

[93] Vgl. OWN 5, 563: „Die moderne Theologie hat kein Bedenken dagegen den classi. Character des Urchristenthums vor irgend einer anderen Periode der Gesch[ichte] des Xsthms ausdrückl. zu bestreiten […]. An die Stelle ursprglicher Empfindg ist hier das abstract theologi. Bewusstsein der Absolutht des Xsthms getreten“.

[94] Nigg, Versuch einer Würdigung, 266. Es wird bei Nigg nicht grundsätzlich deutlich, was diese „Forderungen“ für Overbeck sind; richtig ist jedenfalls seine Beobachtung der „Entfremdung der Neuzeit“ vom „Evangelium“; und man wird die „Forderung“ gut als jene nach „Kindersinn“ verstehen können; vgl. oben S. 14.

[95] Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik, 197.

[96] Vgl. OWN 5, 517f. et passim.

[97] Vgl. aaO., 431–434 und OWN 4, 251–255.

[98] Vgl. OWN 5, 510.

[99] Vgl. die Liste neuester Publikationen zu pädagogischen Zwecken in der theologischen Ausbildung, die Overbeck hier vorschwebt: OWN 5, 569; vgl. dafür insgesamt aaO., 569ff.

[100] Vgl. aaO., 570.

[101] Vgl. insgesamt dazu aaO., 529–542. An dieser Stelle sei ein längeres Zitat von Overbeck angebracht, dass in seiner theologischen Scharfsinnigkeit und Präzision das Grunddilemma ‚moderner‘ Theologie sehr einprägsam deutlich macht: „In der altgläubigen Theologie ist der Sohn der göttliche Vermittler der Offenbarg des Vaters an die Welt. Und seine Gottht ist darum das Centraldogma der Theologie. In der modernen Theologie offenbart sich der Vater den Menschen selbst und es fällt den Gläubigen dieser Theologie die Aufgabe zu ihm den Ersatzmann für den überflüssig gewordenen und ausgefallenen Sohn zu schaffen. Sie schaffen ihn, indem sie sich in der Wissenschaft als ihre ungebetenen Kostgänger umsehend die Geschichte dafür herausgreifen und einsetzen und nun behaupten, der Vater offenbare sich durch die Geschichte, und nur die Zuversicht (das Vertrauen) zum Vater als Offenbarer, nicht dessen Offenbarung selbst gebe den Menschen ihr Geschlechtsgenosse, der Sohn. So wird die Geschichte als Offenbarerin des Vaters an die Menschen (d. h. in der Gesch.) zum Centraldogma der christl. Theologie und in dieses Wortspiel löst sich das alte Dogma des Christenthums heutzutage auf“, aaO., 542.

[102] OWN 4, 330.

[103] Ebd.

[104] OWN 4, 331; vgl. auch OWN 5, 593f.598.

[105] Vgl. OWN 4, 331: „Das N. T. der modernen Theologen kann man als das Buch bezeichnen, das um seiner Heiligkt willen vor anderen zum ludibrium seiner Ausleger geworden ist“.

[106] Vgl. dazu Overbecks Urteil über den Arbeitsmodus A. v. Harnacks, der hier durchaus pars pro toto steht, in OWN 4, 481: „Die Masse der Arbeit schlechthin thut es wenigstens nicht, es kommt vor Allen Dingen auf ihre Qualität an“; vgl. auch zum Umgang moderner Theologie mit dem Urchristentum in Hinsicht auf den Arbeitsmodus OWN 5, 564.

[107] OWN 1, 203.

[108] OWN 4, 66.

[109] Vgl. aaO., 67; vgl. auch Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, 161: „Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber […] wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein“.

[110] OWN 4, 66.

[111] Ebd.

[112] OWN 1, 316.

[113] OWN 5, 487.

[114] Vgl. dazu wie auch zur oben gemachten Unterscheidung zwischen ‚echtem‘ und ‚unechtem‘ Christentum auch OWN 5, 492: „Das Theologenchristenthum ist stets das mit dem Beifall der Zeit (und zwar der wechselnden Zeit) ausgestatte Xsthm, d. h. stets nur ein maskirtes und gefälschtes Xsthm, nie das echte.“

[115] OWN 5, 488.

[116] Dies unter den Bedingungen des Nationalismus und eines „deutschen Christentums“; siehe dazu oben Anm. 121; vgl. auch OWN 4, 179f. und OWN 5, 488f.490.

[117] OWN 5, 489.

[118] In Walter Niggs überdeutlichen Worten: Die ‚moderne‘ Theologie habe das Christentum „in der widerwärtigsten Weise verbürgert. In dem bewußten Verzicht auf die Verwirklichung des christlichen Glaubens im realen Leben hat sie sich durch Akkomodation an die moderne Welt ein bequemes Salonchristentum zurecht gemacht“, ders., Versuch einer Würdigung, 253.

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Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956846120
ISBN (Paperback)
9783956841125
Dateigröße
981 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Christentum Karl Barth Glauben finis christianismi Christ
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Titel: Theologie als „unmögliche Möglichkeit“ bei Franz Overbeck und in den Anfängen der Theologie Karl Barths
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