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Inklusion: Der Index für Inklusion als Instrument für die praktische Umsetzung in Kindertageseinrichtungen

©2010 Studienarbeit 42 Seiten

Zusammenfassung

Ausgangspunkt der Untersuchung sind die theoretischen Erkenntnisse zur inklusiven Pädagogik. Im Besonderen werden diverse Aspekte zur Entwicklung von der Integration zur Inklusion im internationalen und nationalen Bildungsbereich dargestellt. Zudem wird die Umsetzung der inklusiven Arbeit in Bildungseinrichtungen diskutiert und diese anhand der Vorstellung der Evaluationsmethode des Index für Inklusion kritisch untersucht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.4 Unterschiede zwischen Integrations- und Inklusionspraxis

In der Intention Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu integrieren, effiziert dieser Gedanke ungewollt die Entstehung einer Zwei-Gruppen-Klassifizierung. Zum einen gibt es Kinder, die in einem System uneingeschränkt und vollberechtigt etabliert sind und zum anderen gibt es Kinder, die sich in das System zu integrieren haben.

„Während in der Integrationspraxis einzelne Andere einer bestehenden Mehrheitsgruppe hinzugefügt oder zwei Gruppen zusammengefügt werden, besteht der Inklusionspraxis gemäß eine unteilbare heterogene Lerngruppe, die unter pädagogischen Gesichtspunkten nicht mehr trennscharf in zwei Teilgruppen unterschieden werden kann.“ (Heinzel/Geiling 2004: 39)

Bis dato geben administrative Vorgaben der Integrationspraxis vor, zwischen Kindern mit und Kindern ohne besonderen Förderbedarf zu unterscheiden. Ausschließlich diese Differenzierung und der damit einhergehende spezifizierte sonderpädagogische Förderbedarf bildet die Grundlage der zusätzlichen Ressourcen, die wiederum die individuellen integrationspädagogischen Förderschwerpunkte und –maßnahmen ermöglichen. Die Inklusionspraxis lehnt diese Vorgehensweise als diskriminierende Etikettierung vehement ab und richtet den Fokus darauf, auf welchem Wege alle Kinder mit ihren individuellen Lernvoraussetzungen und –erfahrungen am gemeinsamen Curriculum teilhaben können (ebd. 2004). Inklusion wird somit als kontinuierlicher Prozess angesehen und nicht als ein Status der erreicht werden kann. Die Wertschätzung der Vielfalt, die Vermeidung von Kategorisierung sowie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen bilden dabei eine unabdingbare Voraussetzung (Booth et al. in ebd. 2004).

In gleicher Weise hat sich im deutschsprachigen Raum Andreas Hinz in Anlehnung an den Kanadier Gordon L. Porter (s. Anhang 1, S.32) differenziert mit Unterscheidungskriterien zwischen integrativer und inklusiver Praxis beschäftigt und in einer Gegenüberstellung (s. Anhang 2, S.33) anschaulich demonstriert (Götzendorfer 2009). Anhand der Gegenüberstellung wird deutlich, dass es sich bei der Neuorientierung im Rahmen der Inklusion um eine Hinwendung zur Persönlichkeitsentwicklung und Leistungsförderung aller Individuen innerhalb einer heterogenen Gruppe handelt. So sollen Probleme gemeinsam diskutiert und kooperativ nach Lösungen gesucht werden. Kollegiale Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team sowie die Stärkung der Strategien und Handlungskompetenzen des Fachpersonals müssen im Mittelpunkt der pädagogischen Professionalisierung stehen, um jedem Kind eine adäquate Unterstützung in der heterogenen Gruppe offerieren zu können.

Fazit:

Obgleich die Inklusionsdebatte und somit die Auseinandersetzung mit zwei divergenten Begrifflichkeiten – der Inklusion und der Integration - erst vor Kurzem den deutschen Sprachraum erreicht hat, ist eine dezidierte Reflexion der bis dato praktizierten Integration in Deutschland wahrnehmbar. In diesem Zusammenhang werden das Konzept und die Umsetzung der Inklusion zum einen als Vertiefung und Erweiterung der bisherigen Integrationspraxis betrachtet und zum anderen als eine unbedeutende Perspektivenverschiebung in Form einer Begriffsmodernisierung angesehen. Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene finden Autoren und Fachleute wie oben erörtert über diesen Gegenstand keine Einigung. Dennoch wird deutlich, dass die Kritik an der Integration aus inklusionspädagogischer Sicht insbesondere auf zwei Merkmale reduzierbar ist. Zum einen wird in der Integrationspädagogik von einer Zwei-Gruppen-Klassifizierung ausgegangen und zum anderen agiert die Integrationspraxis individuumszentriert, indem sie das Kind mit besonderen Bedürfnissen isoliert in den Mittelpunkt der pädagogischen und therapeutischen Bestrebungen stellt. Im Gegensatz dazu geht die Inklusionspädagogik von einer heterogenen Lerngruppe aus, die alle Kinder in den Fokus der gemeinsamen Interaktionen stellt und als Ziel hat, mit der Verschiedenheit als Ressource umzugehen und Erziehungs- und Bildungsmomente zu gestalten.

Positiv zu erwähnen ist, dass in den vergangenen Jahren aufgrund zahlreicher Diskussionen auf theoretischer Ebene eine deutlich wahrnehmbare Interessenssteigerung im pädagogischen Bereich bezüglich gemeinsamer Erziehung und Bildung zu vermerken ist. Den Anstoß des neuen fachlichen Diskurses lieferten - wie auch in zahlreichen Publikationen bestätigt - die Konferenz in Salamanca sowie die gesetzlichen Neuerungen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Allerdings stellt sich hierbei die Frage, was dies für die Umsetzung in der Praxis bedeutet. Handelt es sich bei der Inklusion um eine utopische Fantasiekonstruktion oder können die Bildungseinrichtungen den inklusiven Ansprüchen Folge leisten? Wie gestaltet sich die dafür notwendige Qualifizierung und fachliche Unterstützung für die Pädagogen in der Praxis? Das sind Fragen, die es in Zukunft zu beantworten gilt, um inklusives Denken und Handeln in der Pädagogik, aber vor allem auch in der alltäglichen Praxis zu etablieren.

3. Inklusion im Bildungsbereich

Wenn Kinder mit unterschiedlichen Bedürfnissen gemeinsam Bildungseinrichtungen besuchen, ist es für sie normal, zusammen zu sein. Von Beginn an lernen sie, dass es unterschiedliche Menschen mit divergenten individuellen Kompetenzen gibt. Alle Kinder können sich mit ihren vielfältigen Talenten gegenseitig unterstützen und erfahren, dass es Spaß macht und bereichernd ist, gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Anhand des gemeinsamen Lebens und Lernens in Bildungseinrichtungen wird verhindert, dass sich Kinder mit unterschiedlichen Bedürfnissen auseinander leben und dass Barrieren entstehen. Die praktische Umsetzung dieses inklusiven Grundgedankens soll im Folgenden anhand struktureller Gegebenheiten des Bildungssektors als auch mittels konkreter Handlungssituationen dargestellt werden.

3.1 Inklusion als Herausforderung für das Bildungssystem

Während die Integration wie im ersten Abschnitt erörtert, im Bildungssystem noch an einer Kategorisierung festhält, nämlich Kinder mit und Kinder ohne Förderbedarf separat zu begreifen respektive zu unterrichten, sieht die Inklusion als Leitidee die Lerngruppe als einheitlich an und nimmt alle am Bildungsprozess Beteiligten in den Blick. Somit ist für Ainscow (2009) das Ziel der inklusiven Pädagogik der völlige Verzicht auf soziale Exklusion. Diese Basis der Heterogenität und Vielfalt ergibt sich für ihn weiter als logische Konsequenz aus einer inklusiven pädagogischen Haltung. Die vielfältigen Lernwege, die direkt proportional zu den individuell gegebenen Voraussetzungen des einzelnen Kindes oder der Gruppe stehen, versteht Schäfer (2007) in diesem Zusammenhang als entscheidende Ressource im Bildungsprozess. Mit der Annahme, dass Bildung ein Grundrecht des Menschen ist, legt die inklusive Pädagogik somit auch das Fundament für eine gerechtere Gesellschaft. Des Weiteren kann für Ainscow (2009) die soziale Teilhabe nur aus einem Prozess des sozialen Lernens hervorgehen, der aus gemeinsamen Interaktionen innerhalb einer zielstrebigen Gemeinschaft resultiert. Demzufolge muss die Inklusion - obgleich diese eine komplexe Angelegenheit in den sich rapide ändernden Bildungssystemen ist - die größte Herausforderung sein, der sich Schulsysteme auf der ganzen Welt und schließlich der gesamte globale Bildungssektor widmen und elaboriert damit auseinandersetzen (Ainscow in Heimlich/Behr 2009).

Dennoch ist zu konstatieren, dass viele Barrieren, die den Lernenden nach wie vor zuteilwerden, reziprok zu den vorhandenen Denkweisen und Strukturen im gegenwärtigen Bildungssystem sind. Die subtilen Differenzen zwischen den Konzepten und Begrifflichkeiten führen zu Unsicherheiten bezüglich der praktischen Umsetzung der Inklusion, einhergehend mit einem unzureichenden Verständnis der Fachkräfte, was die kontextgebundene Realisation dieser pädagogischen Reform angeht (ebd. 2009). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was das Recht auf Inklusion für die bildungspädagogische Arbeit konkret bedeutet und wie dieses adäquat umgesetzt werden soll.

Folglich liegt das Augenmerk auf Faktoren, die zum einen in den Bildungseinrichtungen und zum anderen im gesellschaftlichen Umfeld zu finden sind und die die Entwicklung des Denkens und Handelns aller am Prozess Beteiligten etikettieren. Infolgedessen müssen Strategien für die Entwicklung einer inklusiven Praxis Denkprozesse intervenieren, um bisher nicht wahrgenommene Potenziale zur Entwicklung der Praxis zu exponieren (ebd. 2009).

Aus diesen Gründen sollte über grundsätzliche Prioritäten im Bildungssystem nachgedacht werden, um die Qualität und die Handlungskompetenz aller Regeleinrichtungen zu stärken, um Kinder mit divergenten Lernvoraussetzungen im lokalen Kontext bestmöglich unterstützen zu können und somit eine soziale Teilhabe für alle zu ermöglichen.

3.2 Inklusive Qualität und Bildungsstandards

Qualität ist im pädagogischen Kontext kein obligatorischer und abgeschlossener Status, sondern eher ein kontinuierlicher Prozess, der alle Segmente der pädagogischen Arbeit umfasst (Heimlich/Behr 2009).

Während Elitebildung und Hochbegabtenförderung im öffentlichen Interesse Hochkonjunktur haben, wird die Frage nach einer erfolgversprechenden Förderung von Kindern mit erschwerten Lernvoraussetzungen eher selten gestellt. Obgleich nach Knauer (2002) Bronfenbrenner bereits vor über 30 Jahren nachweisen konnte, dass eine einseitig an Lerninhalten ausgerichtete Förderung ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit und Wohnraumnähe der Schüler inneffizient ist, werden nach wie vor systematisch falsche bildungspolitische Konsequenzen – insbesondere nach der PISA-Katastrophe - abgeleitet. Auch die gemeinsame Unterrichtung von Kindern in lokalen Regelschulen ist bisweilen kein zwingendes Qualitätsmerkmal für schulische Leistungsfähigkeit (Deppe-Wolfinger in Geiling/Hinz 2005). Sander (2002) spitzt die Sache zu, indem er die gegenwärtige Praxis des gemeinsamen Unterrichtes als bloßes Additum eines unveränderten Regelunterrichtes sieht, indem die zusätzliche Unterstützung auf das Kind mit dem Förderbedarf ausgerichtet ist (Geiling/Hinz 2005).

„In irgend einer Klasse sitzt irgend ein Kind mit irgend einem Förderbedarf und irgend ein Sonderschullehrer kommt ab und zu vorbei, bringt das neue Programm mit und kümmert sich. Die Schule als Ganzes verändert sich kein bisschen, aber immerhin, man kann sagen, dieses Kind sei voll integriert.“ (Hinz 2002: 356)

Für Geiling und Hinz (2005) stehen Qualität und Inklusion in Reziprozität zueinander. Somit wird die Realisierung inklusiver Pädagogik zu einem programmatischen Ziel im Bildungsbereich. Um zu einer qualitativ hochwertigen Schule für alle zu gelangen, bedarf es nach Boban und Hinz (2003) einer dreidimensionalen Entwicklung, wie sie im „Index für Inklusion“ (s. Punkt 4) vorgestellt wird. Hierzu gehören die Bildung inklusiver Kulturen, die Etablierung inklusiver Strukturen und die Entwicklung inklusiver Praktiken. In diesem Sinne und in der Intention jedem Kind Bildungsfähigkeit zuzuschreiben, werden schulschwache Kinder nicht länger delegiert, sondern von allen wahrgenommen und unterstützt.

„Qualität von (praktischer) Pädagogik ist um so mehr gegeben, je besser alle Kinder in ihrer leistungsmäßigen und sozialen Entwicklung individuell gefördert werden.“ (Sander in Geiling/Hinz 2005: 110)

Dementsprechend ist für Sander (2005) Qualität von Inklusion nichts anderes als die Qualität einer praktischen Pädagogik im Erziehungs- und Bildungswesen, die eng mit einer allgemeinen Pädagogik zusammenhängt.

In Bezug auf Qualitätsansprüche und -forderungen, im Besonderen als Reaktion auf den PISA-Schock, sind in den vergangenen Jahren immer wieder Forderungen nach bundesweiten Bildungsstandards laut geworden. Dass die Einführung solcher Bildungsstandards, einhergehend mit zunehmenden Leistungsmessungen in den Schulen nicht unbedingt förderlich für einen inklusiven Schulalltag ist und dass solche Intentionen nicht notwendigerweise zu einer angestrebten nationalen Verbesserung des Schulleistungsniveaus führen, liegt nahe. Solche Bildungsstandards nehmen indes in Kauf, zwischen Erfolgreichen und Nichterfolgreichen zu differenzieren und somit auch anstandslos das Scheitern, Diskriminieren und Separieren von Kindern bewusst zu akzeptieren. Solche verbindlichen Standards können als Rückmeldung für die Pädagogen nützlich sein, dürfen aber ferner nicht statuieren, wer in der Lerngruppe verweilen kann und wer ausgesondert wird. Bildungsstandards sollten in inklusiven Lernsettings lediglich als Orientierung gelten aus denen sich in der praktischen Arbeit individualisierte Bildungsziele ableiten lassen (Sander in Geiling/Hinz 2005).

3.3 Inklusive Interaktionen und Beziehungsaufbau

In der gegenwärtigen „strukturlosen anybody-does-everything-everywhere-anytime-Society“ (Kobi 2010: 8) bilden soziale Begegnungen und Interaktionen der Kinder die Basis der gemeinsamen Erziehung in Bildungseinrichtungen. Die neue Kindheitsforschung hat in diesem Konnex die enorme Bedeutung der Beziehung innerhalb einer Kindergruppe aufgezeigt und transparent gemacht. Kinder in einer inklusiven Bildungseinrichtung treffen in diesem Sinne nicht nur auf vorhandene strukturelle Rahmenbedingungen und eine dezidierte pädagogische Grundhaltung einer gemeinsamen Erziehung, sondern insbesondere auch auf die individuellen Persönlichkeiten aller anderen Kinder.

„In der Peer-Group verhandeln Kinder von gleich zu gleich und regen sich ko-konstruktiv zu wichtigen psychosozialen und kognitiven Entwicklungen an. Der [gemeinsame] Kinderalltag enthält eine bedeutende Chance, die Fähigkeiten zur Selbstachtung einerseits und zur Anerkennung der Anderen andererseits zu üben und Gleichheit und Differenz immer wieder neu auszuhandeln.“ (Krappmann & Oswald in Prengel in Geiling/Hinz 2005: 25)

In diesem Zusammenhang finden die Kinder, einhergehend mit ihrem großen Gerechtigkeitsempfinden nach Prengel (2005) Wege, ihre Über- und Unterlegenheit tabulos zu verbalisieren und sich als Gleiche, als Verschiedene und auch als Ungleiche wahrzunehmen und dennoch gegenseitig anzuerkennen und zu akzeptieren. Deshalb sollte sich die Planung und Durchführung pädagogischer Interventionen stets an der Beziehung und Kommunikation der Kinder untereinander orientieren, um Gelegenheiten zur gemeinsamen ko-konstruktiven Interaktion zu ermöglichen und Heterogenität als Ressource für alle Kinder transparent zu machen. Primär geht es bei den Begegnungen der Kinder darum, Achtsamkeit für die Besonderheit des anderen zu entwickeln und die Singularität der Situation wahrzunehmen (Kobi 2010).

Das daraus wachsende wechselseitige Verständnis macht es möglich, zwischenmenschliche Beziehungen unter den Kindern entstehen zu lassen, die letzten Endes zum Wohlbefinden Aller im Zusammenleben beitragen (Fischer 2010). Die Pädagogen sollen demnach allen Kindern zu größtmöglicher Autonomie verhelfen, um Partizipation und Zugehörigkeit innerhalb der Gruppe zu ermöglichen. Im Hinblick auf diese pädagogische Zielorientierung der Selbstbestimmung und Selbständigkeit bekommen Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung an verlässliche Bezugspersonen eine hohe Relevanz im pädagogischen Alltag (ebd. 2010). Dabei fordert der von den Bezugspersonen respektive anderen strukturgebenden Faktoren ausgehende Halt sowohl einen stützenden Kontext als auch einen freien Gestaltungsraum (Kobi 2010). Die daraus entstehende Sicherheit und die relative Autonomie auf der Grundlage der individuellen Möglichkeiten machen es realisierbar, dass sich alle Kinder im geschützten Rahmen der Einrichtungen und Schulen in Interaktionen mit ihrer Umwelt entfalten und ausprobieren können. Des Weiteren können die Kinder in diesem Rahmen explorierend aufeinander zugehen und sich gegenseitig in ihrer Heterogenität kennenlernen. In diesem Zusammenhang fügt Fischer (2010) hinzu, braucht die Entwicklung von Beziehungen Zeit und positiv erlebte Kontakte, die in alltäglich wiederkehrenden Begegnungen stattfinden. Wenn das Unbekannte und zunächst Fremde für die Kinder in gemeinsamen Handlungen und Interaktionen im Gruppenalltag plausibel und von den Pädagogen als normal und selbstverständlich wahrgenommen wird, dann ist auch ein dialogischer Aushandlungsprozess individueller Bedürfnisse und Grenzen und somit der Aufbau von soliden Beziehungen realistisch denk- und umsetzbar.

3.4 Inklusive Spiel- und Lernprozesse

Kaum etwas anderes fördert in so umfangreichem Ausmaß die Entwicklung der Kinder, wie das Spiel. Die Kinder entwickeln in einer vereinbarten Struktur aus einer ausgedachten Situation eine neue Realitätskonstruktion, in der sie sich mit Hilfe von Wiederholungen und Ritualen bewegen. So können sie einhergehend mit ihrer Akteurrolle im Spiel divergente Valenzen und Veränderungen ihrer eigenen Person erfahren und mit der Spieltätigkeit assoziiert, ihre individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen einbringen (Oerter 1999). In diesem Zusammenhang können sich alle Kinder einer inklusiven Kindertageseinrichtung - vor allem im frühpädagogischen Bereich - im Spiel begegnen und das dazu beitragen, was sie können. Die soziale Spieltätigkeit gestaltet sich somit als ein zentraler Ansatzpunkt für inklusive Interaktionen, da diese unabdingbar mit individuellen Bedürfnissen und Kompetenzen sowie den Alltagserfahrungen aller Kinder behaftet ist (ebd. 1999).

„[Inklusive] Spielsituationen entstehen dann, wenn alle Kinder auf der Basis ihrer jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnisse solche Spieltätigkeiten hervorbringen können, die ihre persönliche Unverwechselbarkeit im Verhältnis zu ihrer sozialen Umwelt zum Ausdruck bringen und ihnen eine Vielfalt an leiblich-sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen.“ (Heimlich 2003: 90)

In diesem Kontext lernen die Kinder tolerant, respektive intolerant, mit den spezifischen Fähigkeiten der anderen Kinder umzugehen und ex aequo in der direkten Interaktion positive oder negative Reaktionen des Gegenübers anzuerkennen. Unmittelbare Wirkungen auf das eigene Verhalten können erlebt und in Form des sozialen Lernens nach individuellen Möglichkeiten verändert werden (Fischer 2010). Nach Heimlich (2003) ergeben sich daraus resultierend für Pädagogen diverse Komponenten einer Förderung des gemeinsamen Spiels. (s. Anhang 3, S.34) Infolge der vorangegangenen Überlegungen sollen die Kinder in ihrer Kontaktinitiierung und der sozialen Spieltätigkeit einhergehend mit damit assoziierten Lernprozessen unterstützt und begleitet werden sowie Rahmenbedingungen für das Spiel in der Inklusionspraxis geschaffen werden. Insbesondere die Beobachtung der Spielsituation ist als Basiselement des Konzeptes zu verstehen, da sich daraus resultierend Interventions- und Fördermöglichkeiten der heterogenen Gruppe für die Pädagogen aufzeigen (Heimlich 2003).

Bezogen auf schulische Lernprozesse macht das Bild von Schule als ein ‚Haus des Lebens und Lernens‘ (s. Anhang 4, S.35) deutlich, dass inklusives Lehren und Lernen in einer Umgebung stattfinden soll, die sich als Ort der Begegnung und des Miteinanders, als Stätte der Annahme, der Kooperation und des Dialogs sowie als Raum der Anregung, Orientierung und Lebenserschließung versteht.

„Wenn es Lernenden und Lehrenden im Unterricht gelingen soll, Lernwelten so zu gestalten, dass die Vielfalt an Perspektiven und Möglichkeiten nicht als Hürde, sondern als Wesen der Weltgestaltung und damit als grundlegender Zugang zum Erkenntnisgewinn erlebt wird, dann ist Teilhabe an Bildungsprozessen notwendige Voraussetzung.“ (Rihm 2008: 47)

Es liegt nahe, dass die Diskrepanz zwischen Individualität und Heterogenität, innerhalb deren sich inklusiver Unterricht bewegt, nur mit didaktischen Methoden entsprochen werden kann, die den Differenzen der Schüler gerecht werden und zugleich bedeutende individuelle sowie ko-konstruktive Lernprozesse unterstützen (bidok.ui-bk.ac.at 2010). Folglich sollen ganzheitliche und selbstbestimmte reflexive Prozesse der Wissensaneignung und des Fertigkeitserwerbs in inklusiven Schulen weitestgehend in kooperativer Selbsttätigkeit stattfinden.

Fazit:

Die Inklusion geht in erster Linie von einer unteilbaren Lerngruppe aus, die aufgrund der individuellen Voraussetzungen der Kinder vielfältige Lernwege ermöglicht und Differenzen als Ressource im gemeinsamen Bildungsprozess wahrnimmt. Aufgrund der besonders profilierten, essenziellen Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Kommunikation der Kinder untereinander, kommt der gemeinsamen Interaktion und Ko-Konstruktion eine wichtige Rolle in allen pädagogischen Interventionen zu. Besonders im frühpädagogischen Bereich eignet sich die soziale Spieltätigkeit als Ansatzpunkt inklusiver Lernsettings.

Da analog zu einem gesamtgesellschaftlichen Inklusionsverständnis auch im Bildungsprozess die Denkweisen und Strukturen aller Beteiligten ausschlaggebend für ein Gelingen der Umsetzung sind, stellt sich die Frage, inwieweit das Recht auf Inklusion in der Realität konkret umgesetzt werden kann. Nach persönlicher Einschätzung haben die Fachkräfte in den Bildungseinrichtungen bis dato keine adäquate Unterstützung und Weiterbildung für die Entwicklung einer inklusiver Grundhaltung, da persistierende Rahmenbedingungen für eine Separation in der Praxis – gewollt oder ungewollt - aufrechterhalten werden. Deutlich wird dies vor allem am Beispiel der Finanzierung, die schon im ersten Abschnitt erwähnt wurde und auch im Bildungsbereich neben den vorhandenen ausgrenzenden Denkstrukturen einen zentralen Kritikpunkt an der mangelnden Umsetzung der Inklusion darstellt.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783956846885
ISBN (Paperback)
9783956841880
Dateigröße
5.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Katholische Stiftungsfachhochschule München
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Bildung Heterogenität Pädagogik Ressourcenorientierung Pädagogische Qualität

Autor

Monika Thiem, Bildungswissenschaftlerin M.A. und Kindheitspädagogin B.A, wurde 1985 in München geboren. Nach dem Abitur absolvierte die Autorin eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin. Ihr anschließendes berufsbegleitendes Bachelorstudium ‘Bildung und Erziehung im Kindesalter’ an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München schloss sie im Jahr 2011 mit Auszeichnung ab. Der Fokus der inhaltlichen Auseinandersetzung lag dabei insbesondere bei der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zur pädagogischen Didaktik und Methodik sowie zur Bildung, Entwicklung und Förderung im Kindesalter unter besonderer Berücksichtigung von pädagogischer Qualität und beruflicher Professionalisierung. Von 2012 bis 2014 studierte sie im Masterstudiengang ‘Angewandte Bildungswissenschaften’. Schwerpunkte waren dabei insbesondere Aspekte des Bildungsmanagements, der Bildungsevaluation und der Bildungsplanung in diversen pädagogischen Handlungsfeldern. Umfassende praktische Erfahrungen im Bildungsbereich sammelte die Autorin unter anderem in leitender Position in einer großen integrativen Kindertageseinrichtung.
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