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Autismus im Kontext der Neurowissenschaft: Besteht ein Zusammenhang zwischen autismusspezifischen Symptomen und dem Spiegelneuronensystem?

©2013 Bachelorarbeit 62 Seiten

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund, dass die Zahlen Betroffener mit Autismus-Spektrum-Störungen in den vergangenen Jahrzehnten laut Statistiken drastisch angestiegen sind, und in Anbetracht der Tatsache, dass sich neue Forschungszweige aufgetan haben, wird in dieser Arbeit der Frage nach den Ursachen der Entwicklungsstörung nachgegangen. Mittels bildgebender Verfahren haben Forscherteams herausgefunden, dass ein defektes Spiegelneuronensystem bei Menschen mit Autismus eine Antwort auf die Frage der Ursachenerklärung liefern könnte. Mit diesem Ansatz machen die Forscher Hoffnung auf zukünftig neue Möglichkeiten insbesondere in der Diagnostik autistischer Störungen. Hauptaufgabe der vorliegenden Arbeit besteht darin, Kontroversen innerhalb des noch relativ jungen Spiegelneuronen-Forschungszweiges aufzugreifen, auf sie einzugehen sowie Pro- und Kontraargumente einander gegenüberzustellen und herauszuarbeiten, ob es überhaupt möglich ist, die heterogene und durchaus komplexe Symptomatik des Autismus allein durch die Minderaktivierung bestimmter Hirnareale zu erklären.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Einleitung
Vor dem Hintergrund, dass die Zahlen Betroffener mit Autismus-Spektrum-Störungen
in den vergangenen Jahrzehnten laut Statistiken drastisch angestiegen sind und der
Tatsache, dass sich neue Forschungszweige aufgetan haben, wird in dieser Arbeit der
Frage nach den Ursachen der Entwicklungsstörung nachgegangen. Insbesondere das
Spiegelneuronensystem soll dabei als Ursachenerklärungsmodell diskutiert werden.
Mittels bildgebender Verfahren haben Forscherteams herausgefunden, dass ein
defektes Spiegelneuronensystem bei Menschen mit Autismus eine Antwort auf die
Frage der Ursachenerklärung liefern könnte. Mit diesem Ansatz machen die Forscher
Hoffnung auf zukünftig neue Möglichkeiten insbesondere in der Diagnostik
autistischer Störungen. Für die Diagnostik könnte die Spiegelneuronenforschung
insofern eine Rolle spielen, dass Autismus-Spektrum-Störungen in naher oder ferner
Zukunft möglicherweise mittels bildgebender Verfahren frühzeitig erkannt werden und
dadurch schnelle Intervention möglich ist. Hauptaufgabe der vorliegenden Arbeit
besteht darin, Kontroversen innerhalb des noch relativ jungen Spiegelneuronen-
Forschungszweiges aufzugreifen, auf sie einzugehen sowie Pro- und Kontraargumente
einander gegenüberzustellen und herauszuarbeiten, ob es überhaupt möglich ist, die
heterogene und durchaus komplexe Symptomatik des Autismus allein durch die
Minderaktivierung bestimmter Hirnareale zu erklären.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Bereiche, wobei das erste Kapitel eine allgemeine
Übersicht über das Störungsbild Autismus zusammenfassen soll, ausgehend von der
Erstbeschreibung über die Symptomatik bis hin zum Kernbereich Ursachenforschung.
In Kapitel zwei wird der Bereich der Spiegelneuronenforschung beleuchtet. Nach
einem geschichtlichen Abriss, folgt die Ausführung zur Lokalisation der Spiegelzellen
beim neurotypischen Menschen und beim Menschen mit Autismus. Mittels der
funktionellen Bildgebungsverfahren PET, MEG, TMS, EEG und fMRT, wird ein
potenzieller Beweis für die Existenz der Spiegelzellen angeführt und erstmals auf
Unterschiede in der Aktivierung bestimmter Hirnareale der autistischen Probanden und
zugehöriger Kontrollgruppe herausgestellt. Im Kapitel drei gilt es ausführlich zu
überprüfen, welche Ansätze das Spiegelneuronensystem für die Ursachenerklärung
autistischer Störungen bietet. Beginnend mit der Darstellung des aktuellen
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Forschungsstandes (Problemaufriss) und einer kurzen Beschreibung des methodischen
Zugangs zum Thema, soll es um die im Titel aufgeworfene Fragestellung diskutiert
gehen. Es wird diskutiert, welche Symptome sich auf den Ebenen der Kernbereiche
Verhalten, Emotion und Kommunikation auf ein defizitäres Spiegelneuronensystem
bei Menschen mit Autismus zurückführen lassen und welche nicht. Insbesondere
Studien der Forscherteams um Rizzolatti, Oberman & Ramachandran, Dinstein,
Dapretto und Williams werden vorgestellt und miteinander in Verbindung gesetzt.
Dabei sollen Stand- und Kritikpunkte auf ihre Stichhaltigkeit überprüft und Beweise,
Fehlinterpretationen, Spekulationen und Missverständnisse aufgedeckt werden. Im
Kapitel vier werden die Ergebnisse zusammengefasst und Möglichkeiten und Grenzen
des Forschungszweiges zusammen getragen. In einem Fazit wird auf die pädagogische
Relevanz der Spiegelneuronenforschung im Kontext von Autismus-Spektrum-
Störungen eingegangen.
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1. Autismus-Spektrum-Störungen
Für Autismus-Spektrum-Störungen ­ nachfolgend auch ASS genannt ­ gibt es derzeit
keine einheitlich anerkannte Definition. Autistische Störungen sind facettenreich und
nicht auf die Kindheit beschränkt (vgl. Hartl 2010). Eine Prognose zum individuellen
Verlauf kann aufgrund der Komplexität des Störungsbildes nicht zuverlässig aufgestellt
werden. Durch gezieltes Training und das Erlernen von Strategien können jeweilige
individuelle Auffälligkeiten mit zunehmendem Alter schwächer werden. Trotz Training
kann eine Stagnation oder Verhaltensverschlechterung allerdings zu keinem Zeitpunkt
ausgeschlossen werden (vgl. Poustka et al. 2008). Bisher sind Autismus-Spektrum-
Störungen nicht ursächlich heilbar. Im Folgenden werden Autismus-Spektrum-
Störungen historisch betrachtet, Angaben zur Prävlenz, Klassifikation sowie
Symptomatik und Ursachen herausgearbeitet.
1.1 Begriff und Geschichte
1911 veröffentlichte der schweizer Psychiater Eugen Bleuler sein Werk Dementia
Praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Eingeordnet unter den sekundären
Symptomen der Schizophrenie definierte er den Autismus als ,,direkte Folge der
schizophrenen Spaltung (...). In den schweren Fällen wird die ganze Wirklichkeit mit
ihren nie aufhörenden Sinnesreizungen abgesperrt; sie existiert höchstens in banalen
Zusammenhängen, beim Essen, beim Ankleiden" (Bleuler 1911: 304). Bleuler macht
Anmerkungen zum Realitätsverlust und der auffälligen Ich-Bezogenheit ­ ,,der
Hypertrophie des Ichs" (Bleuler 1911: 304). Als ein von der Schizophrenie
unabhängiges Störungsbild wurde der Autismus erst durch die Arbeiten von Leo
Kanner und Hans Asperger betrachtet. Unabhängig voneinander verwiesen sie in den
Jahren 1943/44 in Fallbeschreibungen auf Kinder mit markanten psychischen
Entwicklungsbesonderheiten sowie einem sonderbaren Kommunikations- und
Sozialverhalten (vgl. u.a. Bölte 2009; Frith 1992; Poustka et al. 2008). Wiederum drei
Jahrzehnte später, im Jahr 1979, wurde der Autismus-Begriff nochmals modifiziert.
Die britische Psychiaterin Lorna Wing und ihre Kollegin Judith Gould erweiterten den
Autismus-Begriff um ein weiteres Mal, indem sie neben den schweren auch leichtere
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Formen des bis dahin bekannten klinischen Störungsbildes berücksichtigten. Dies
führte dazu, dass präzise herausgearbeitet wurde, dass autistische Erscheinungsbilder
in ihren Symptomausprägungen und -kombinationen unterschiedlich sind. Es wurde
folglich nicht mehr von Autismus per se sondern von Autismus-Spektrum-Störungen
gesprochen (vgl. Wing & Gould 1979).
1.2 ASS ­ ein seltenes Störungsbild?
Betrachtet man Studien zur Autismus-Prävalenz so fällt auf, dass in neueren
Erhebungen deutlich höhere Zahlen verzeichnet werden. Studien, unabhängig aus
welchem Land, verzeichnen einen Anstieg der Häufigkeiten von Betroffenen mit der
Diagnose Autismus. Diesen Aufwärtstrend macht unter anderem Müller (2010) anhand
verschiedener internationaler Studien der Jahre 1960 bis 2006 deutlich. Aus
Studienergebnissen der USA, England, Schweden, Frankreich oder Japan
schlussfolgert er, dass während in den 1960er bis 1980er Jahren lediglich zwei bis fünf
von 10.000 Personen als von ASS betroffen galten, die Zahlen heute bereits bei bis zu
60 von 10.000 liegen. Studien von Wing (1993), Wing & Potter (2002) sowie
Fombonne (2005) kommen zu vergleichbaren Ergebnissen. Ein tatsächlicher Anstieg
kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dennoch ist denkbar, dass sich die Zahlen
unter anderem auf Grund der breiter gefassten Begriffsdefinition und einem
veränderten Bewusstsein in Bezug auf das Störungsbild ergeben. Auch
unterschiedliche Stichprobenarten und -größen sowie unterschiedliche
Messinstrumente können die Zahlen verfälschen (vgl. Bölte 2009, Kusch & Petermann
2001). Noterdaeme & Enders (2010) gehen ebenso auf Häufigkeit,
Häufigkeitszunahme sowie die Problematik der Prävalenzangaben ein.
Des Weiteren erschien Mitte dieses Jahres die Neuauflage des Diagnostischen und
Statistischen Handbuches Psychischer Störungen, kurz DSM. Im nun aktuellen DSM-
V wird die Begriffsdefinition des autistischen Spektrums nochmals weitergefasst (vgl.
Kapitel 1.3.1), was die Zahlen zukünftiger Studien wahrscheinlich erneut beeinflussen
wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich unter anderem aufgrund der
Erweiterung diagnostischer Grenzen mittlerweile keinesfalls mehr um eine seltene
Störung handelt.
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1.3 diagnostische Kriterien und Kernsymptome
Bei Autismus-Spektrum-Störungen handelt es sich um eine Gruppe von Störungen,
deren Symptome durchaus komplex sind und die sich von leichten Verhaltens-
problemen bis hin zu einer schweren geistigen Behinderung erstrecken können. Es sind
verschiedene Symptomausprägungen und -kombinationen möglich (vgl. Klicpera &
Innerhofer 2002, Kusch & Petermann 2001). Im Folgenden sollen die diagnostischen
Kriterien und anschließend die drei Kernbereiche aufgeführt werden.
1.3.1 Diagnostik nach ICD-10 und DSM-V
Es ist anzumerken, dass sich die Diagnosestellung beim Autismus als recht schwierig
gestaltet, da ausschließlich das Verhalten ­ und somit lediglich Symptome anstelle
klinischer Parameter ­ als Kriterium herangezogen werden (vgl. Klicpera & Innerhofer
2002). Eine Abgrenzung zu anderen Entwicklungsstörungen ist daher wichtig. Im
Klassifikationssystem ICD-10 (1992) der WHO werden Autismus-Spektrum-
Störungen im fünften Kapitel unter den Entwicklungsstörungen (F80-F89), genauer
unter F84 ,,tiefgreifende Entwicklungsstörungen" verschlüsselt. Eine Unterteilung
erfolgt in:
Frühkindlicher Autismus
F84.0
Atypischer Autismus
F84.1
Rett-Syndrom
F84.2
Andere desintegrative Störungen des Kindesalters
F84.3
Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Stereotypien
F84.4
Asperger-Syndrom
F84.5
Sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen
F84.8
Tiefgreifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet
F84.9
Kennzeichnend für ASS sind Störungen auf der Ebene der sozialen Interaktion, der
Kommunikation und im Verhalten (Stereotypien, Sonderinteressen). Das Diagnostische
und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) codiert Autismus-Spektrum-
Störungen unter der 299.00 und listet von A bis E diagnostische Kriterien auf. Zudem
erfolgt im DSM-V eine Schweregradunterteilung in drei Level, welche den
Unterstützungsbedarf der Personen auflisten soll:
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D Level 3: Requiring very substantial support
D Level 2: Requiring substantial support
D Level 1: Requiring support (American Psychiatric Association 2013: 52).
Die Schweregradunterteilung im Manual ist neu. Sie wird der Vielfalt individueller
Symptomausprägungen und -kombination, die im autistischen Spektrum vorhanden
sind, gerecht.
1.3.2 Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion
Zu diesem Bereich können insbesondere markante Abnormitäten in ,,Gestik,
Blickkontakt, Grußverhalten, soziale Reziprozität, emotionale und kognitive Empathie,
Teilen von Freude und Aktivitäten sowie das Verständnis der Gedanken, Affekte und
Überzeugungen anderer und entsprechendes Handeln" (Bölte 2009: 34) gezählt
werden. Auch die unangemessene Einschätzung sozial-emotionaler Signale und
Reaktionen sind kennzeichnend. Menschen mit ASS reagieren beispielsweise selten
auf Trauer oder Freude anderer und es bereitet ihnen enorme Schwierigkeiten, die
sozialen Signale anderer Personen zu erahnen oder zu verstehen sowie Gefühle verbal
auszudrücken oder auszutauschen (vgl. Hartl 2010). Auch soziale Signale, wie z.B. das
Lächeln, das Aufnehmen von Blickkontakt oder insbesondere auch das Reagieren auf
namentliche Ansprache bleiben oftmals völlig aus. Eine ,,Kontaktstörung" ist
kennzeichnend für ASS (vgl. Frith 1992). Schon im Säuglingsalter fällt auf, dass zur
Kontaktaufnahme seltener die Arme ausgestreckt werden und das weder großes
Interesse an dem gezeigt wird was andere tun, noch ein wesentlicher Unterschied im
Kontakt zwischen vertrauten und unbekannten Personen besteht (vgl. auch Klicpera &
Innerhofer 2002). Das Interesse des autistischen Kindes, so Kusch & Petermann
(2001), gilt eher Dingen als Personen. Ihre Reaktionen auf die Umwelt werden oft als
,,bizarr" und unangemessen erlebt. Es treten auch Schwierigkeiten im Bereich sozialer
Kognition auf, insbesondere bei der Erschließung mentaler Zustände anderer Personen
­ auch Theory of mind genannt. Es ist für Menschen mit Autismus schwierig zu
reflektieren, Situationen einzuschätzen, die Bedeutung von Informationen zu erkennen
und unterschiedliche Ansichten nachzuvollziehen. Hierauf wird im Kapitel 1.4.3.2
(kognitive Theorien) näher eingegangen.
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1.3.3 Auffälligkeiten in der Kommunikation
Markant ist in diesem Bereich vor allem das Auftreten von Störungen des
Sprachverständnisses und des sprachlichen Ausdrucks. Letzterer ist aufgrund einer
fehlenden Betonung oftmals mechanisch. Auch die zumeist leise oder laute
Sprechweise wirkt ungewöhnlich. Im Sprechen werden oftmals Wortrituale gebraucht
und Neologismen entwickelt. Beim Sprechen fällt außerdem eine Pronominalumkehr
auf und es kann zu einem stereotypen Wiederholen von Worten oder Phrasen
(Echolalie) kommen (vgl. Bölte 2009). Ferner wird beschrieben, dass eine
Kontaktaufnahme kaum zum Zweck der Kommunikation erfolgt und Sprache eher
instrumentell ­ etwa, um Forderungen Ausdruck zu verleihen ­ eingesetzt wird. Bei
Menschen mit ASS ist das Interesse an einem kommunikativen Miteinander deutlich
eingeschränkt (vgl. Klicpera & Innerhofer 2002).
1.3.4 Auffälligkeiten im Verhalten
Zum dritten Kernsymptomatik-Bereich zählen atypische Verhaltensweisen. Als
besonders markant gelten Stereotypien wie z.B. das Drehen, Aufreihen, Sortieren oder
ausgiebiges Betasten von Gegenständen. Darüber hinaus entwickeln Menschen mit
ASS oftmals schon im Kindesalter selbststimulierende Verhaltensweisen. Diese
können vom Jaktieren (Oberkörperschaukeln), ,,Flattern" und Verdrehen von
Extremitäten, bis hin zur Selbstverletzung ­ meist schlagen, beißen oder Haare
ausreißen ­ reichen. Für Menschen mit Autismus haben die soeben genannten
Sterotypien und Selbststimulationen den Zweck der Belohnung oder Beruhigung.
Auffällig ist des Weiteren ein zwanghaftes Beharren auf Routinen (vgl. Bölte 2009,
Kusch Petermann 2001). Wird in der unmittelbaren Umgebung etwas verändert, so
kann das dazu führen, dass die autistische Person in eine regelrechte Paniksituation
gerät (vgl. auch Hartl 2010). Neben den bereits erwähnten stereotypen
Verhaltensweisen und einem Bestehen auf Gewohnheiten und festen Handlungs-
abläufen, fallen die zumeist ungewöhnlichen Interessen und ein auffälliger Zugang zu
,,Gerüchen, Geschmack, Lichteffekten, Geräuschen oder der Beschaffenheit von
Oberflächen" (Bölte 2009: 34) auf.
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1.4 Ursachenmodelle
Die ursächliche Entstehung von ASS wurde und wird auch bis zum heutigen Zeitpunkt
viel und vor allem kontrovers diskutiert. Das Auftreten autistischer Störungen ist in
Bezug auf die Ursachenklärung trotz jahrzehntelanger Forschung ein noch relativ
unerschlossenes Gebiet. Es herrscht lediglich in Bezug auf die Multikausalität der
Entwicklungsstörung Einigkeit. Es wird davon ausgegangen, dass eine starke
genetische Disposition für die Entstehung von ASS bedeutsam ist, jedoch letztendlich
viele verschiedene Faktoren für die Entstehung autistischer Störungen zusammen-
wirken (vgl. u.a. Frith 1992, Poustka et al. 2008, Bölte 2009). Des Weiteren entstehen
ASS weder durch bestimmte kulturelle, ethnische oder soziale Hintergründe, noch
durch eine falsche Erziehung oder andere familiär bedingte Faktoren, wie
beispielsweise emotionale Kälte oder zerrüttete Familienverhältnisse (vgl. Hartl 2010,
Klicpera & Innerhofer 2002). Im Folgenden sollen die wichtigsten Einflussfaktoren
autistischer Störungen im Überblick aufgeführt werden.
1.4.1 Genetik
Genetische Studien (Familienuntersuchungen, Zwillingsstudien, zytogenetische
Untersuchungen, molekulargenetische Untersuchungen) geben Hinweise auf eine
familiäre Häufung autistischer Störungen (vgl. u.a. Frith 1992, Poustka et al. 2008).
Kumbier et al. (2009) sprechen sich dafür aus, dass Zusammenhänge zwischen
Erbeinflüssen und Entwicklungsstörungen des Gehirns bestehen. ,,Dabei scheinen
insbesondere Gene relevant zu sein, die die Entwicklung von Neuronen und Synapsen
beeinflussen" (Kumbier 2009: 62). Obwohl verschiedene Gene ­ beziehungsweise
Genorte, die sich auf verschiedenen Chromosomenabschniten befinden ­ ausfindig
gemacht werden konnten, ist aufgrund der ernormen Heterogenität von ASS noch
keine Aussage zu einem spezifischen ,,Autismus-Gen" möglich.
Mit dem Autismus assoziierte Erkrankungen, wie Epilepsie, Fragiles X-Syndrom oder
tuberöse Sklerose werden ebenfalls vermehrt diskutiert (vgl. Noterdaeme & Enders
2010).
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1.4.2 Umwelteinflüsse
Bei der Diskussion um die Ursachenfindung werden auch Umweltfaktoren als relevant
angesehen. So gelten unter anderem Virusinfektionen ­ insbesondere Rötelinfektionen
­ während der Schwangerschaft oder ein Vitamin- und Mineralstoffmangel als
potenziell mitentscheidend. Die ASS-auslösenden Faktoren, die nach der Geburt zur
Diskussion stehen, sind schwach empirisch belegt. So besteht ein möglicher
Zusammenhang zwischen der individuellen Ernährung und ASS. Außerdem gelten
Masern-Mums-Röteln Impfstoffe ­ da diese eine bestimmte Quecksilberart enthalten
sollen ­ als Risikofaktoren für die Entstehung autistischer Störungen (vgl. Noterdaeme
& Enders 2010).
1.4.3 Neurowissenschaft
Bei Diskussionen um die Entstehung autistischer Störungen verlagerten sich die
Forschungsansätze in den letzten Jahren zunehmend auch in den
neurowissenschaftlichen Bereich. Neben strukturellen Besonderheiten verschiedener
Hirnregionen sollen im Folgenden auch neuropsychologische und -biologische
Aspekte beleuchtet werden.
1.4.3.1 Neuroanatomie
Das Forscherteam um Stanfield et al. (2008) macht deutlich, dass bisherige Studien,
welche eine Über- bzw. Unterentwicklung bestimmter Hirnstrukturen beschreiben,
recht widersprüchliche Befunde liefern. In einer Meta-Analyse wurde mittels
Magnetresonanztomographie (MRT) herausgestellt, welche Bereiche des Gehirns ­ im
Vergleich zur gesunden Kontrollgruppe ­ Unterschiede aufweisen. Das Ergebnis zeigt,
dass das Hirnvolumen bei Menschen mit Autismus im Allgemeinen sowie Teile des
Kleinhirn vergrößert sind (vgl. Stanfield et al. 2008, vgl. auch Brambilla et al. 2003).
Auch Courchesne und Pierce (2005) belegen ein vergrößertes Hirnvolumen
autistischer Personen. Es besteht zudem die Vermutung, dass das Gehirn autistischer
Menschen im Allgemeinen nicht nur größer ist, sondern bereits im Kindesalter
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schneller wächst als das gesunder Altersgenossen (vgl. Stanfield et al. 2008). Auch
wird diskutiert, ob bestimmte Hirnareale möglicherweise unzureichend miteinander
vernetzt sind (vgl. Kumbier et al. 2009).
1.4.3.2 Neuropsychologie
In diesem Unterkapitel sollen drei bedeutende kognitive Ansätze kurz vorgestellt
werden: die Theorie der exekutiven Dysfunktion, die Theorie der schwachen zentralen
Kohärenz und die Theorie der gestörten Theory of Mind. Bei der Theorie der
exekutiven Dysfunktionen wird davon ausgegangen, dass komplexe mentale Prozesse
bei autistischen Personen insofern beeinträchtigt sind, dass diese Schwierigkeiten
dabei haben, zielgerichtete Handlungen zu planen und umzusetzen, ihre Impulse zu
kontrollieren sowie die Aufmerksamkeit zu steuern (vgl. Hill 2004). Eine Reihe an
Studien liefert den Beweis für das Unvermögen, unvorhersehbaren Situationen flexibel
zu begegnen (vgl. Bölte 2009). Bei der Theorie der schwachen zentralen Kohärenz
besteht die Annahme, dass das Denken und die Wahrnehmung in so fern beeinträchtigt
sind, als dass aus der Umwelt aufgenommene Reize nicht kontextgebunden und als
Ganzes weiterverarbeitet werden können, woraus resultiert, dass der Fokus der
Aufmerksamkeit vorwiegend auf Details liegt (vgl. Bölte 2009).
Die Theory of mind, von Simon Baron-Cohen, ist die dritte neuropsychologische
Theorie für die mögliche Erklärung des Autismus. Unter dem Begriff Theory of Mind
wird verstanden, dass Menschen in der Lage sind Bedürfnisse, Ideen, Absichten,
Wünsche, Emotionen, Erwartungen und Meinungen ihrer Mitmenschen zu verstehen.
Bei Menschen mit Autismus ist diese Fähigkeit nur sehr schwach vorhanden. Es fällt
ihren folglich schwer Mimik, Gestik, Tonlage ihres Gegenüber zu interpretieren sowie
soziale oder emotionale Situationen zu verstehen oder sich in andere Personen
hineinzuversetzen und ihre Perspektive zu übernehmen. Ihre Theory of Mind ist
gestört (vgl. Baron-Cohen 1985 und 1989, Frith & Happé 1996). Als Ausgangs-
experiment wird in der Literatur der sogenannte Sally & Anne Test angeführt. Wimmer
& Perner (1983) beschreiben eine fiktive Situation, in der Sally einen Gegenstand in
einen Korb legt. Während Sally kurz aus dem Raum geht, wird der Gegenstand von
Anne in eine Kiste umplatziert. Die Frage an die Versuchspersonen lautet schließlich,
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wo Sally den Gegenstand vermuten wird. Autistische Personen berücksichtigen nicht,
dass Sally nicht gesehen hat, dass Anne den Gegenstand in die Kiste umplatziert hat
und antworten schließlich mit ,,in der Kiste". Die kognitive Perspektivübernahme
misslingt. Als Fazit kann man zu den neuropsychologischen Theorien
zusammentragen, dass die kognitiven Defizite mittlerweile recht gut belegt sind,
allerdings nicht für die ursächliche Erklärung des Spektrums ausreichen (vgl.
Bormann-Kischkel 1990).
1.4.3.3 Neurobiologie
Seit den 1990er Jahren liegt der Fokus der ASS-Forschung vermehrt auf
neurobiologischen Erklärungsansätzen. Es wird vermutet, dass das Spiegelneuronen-
system, welches unter anderem für die Erschließung mentaler und emotionaler
Zustände anderer Personen und für die Emotionserkennung zuständig sein soll, bei
Autisten möglicherweise Anomalien aufweist und somit autismusspezifische
Symptome hervorruft. Auf konkrete Erklärungsansätze und neurobiologische
Annahmen soll in den nächsten beiden Kapiteln ausführlich eingegangen werden.
2. Spiegelneuronenforschung
Das Interesse an den Spiegelneuronen erstreckt sich derzeit über ein weites Feld und
die aktuelle Forschungslage birgt viele Spekulationen. Forschungen im Bereich der
Spiegelneuronen erfolgen weltweit. Nach einem kurzen geschichtlichen Abriss, folgen
Ausführungen zur Darstellung der Lokalisation und Funktion von Spiegelneuronen
durch funktionelle Bildgebung. Markante Spiegelneuronenareale werden heraus-
gearbeitet. Des Weiteren wird erstmals auf mögliche Anomalien im Spiegelneuronen-
system bei Menschen mit Autismus eingegangen.
2.1 Nachweis der Spiegelneuronen bei neurotypischen Menschen
Nur wenige Jahre nach Entdeckung des Spiegelneuronensystems (im Folgenden SNS)
beim Makaken durch Giacomo Rizzolatti und sein Team im Jahr 1992 begann
11

diesbezügliche Forschung auch auf humanwissenschaftlicher Ebene. Erste
Anhaltspunkte erhielt man aus zwei PET-Studien. Es folgten MEG- und TMS- und
auch fMRT-Studien, um die Spiegelneuronen zu lokalisieren und Hypothesen über ihre
Funktion aufzustellen. Details folgen in den nun anschließenden Unterkapiteln.
2.1.1 Entdeckung
Im Winter des Jahres 1991 habe ich [Giacomo Rizzolatti] der ,,Nature"
einen Artikel über ein verblüffendes neuronales Netzwerk zukommen
lassen, welches wir [Guiseppe di Pallegrino, Luciano Fadiga, Leonardo
Fogassi, Vittorio Gallese] in der ventralen prämotorischen Hirnrinde des
Makaken entdeckten, während dieser eine bestimmte motorische Aufgabe
löste (z.B. ein Objekt greifen) oder ein anderes Individuum (Makake oder
Mensch) mit ähnlicher motorischer Aufgabe beobachtete (di Pellegrino et
al 1992). Die Neuronen wurden als Spiegelneuronen bekannt (sinngemäß
übersetzt aus: Rizzolatti & Fabbri-Destro 2009: 1).
Wie bereits in diesem Zitat erwähnt, wurden die spezifischen Nervenzellen vom
Italiener Giacomo Rizzolatti und seinem Forscherteam erstmals beim Makaken
entdeckt. Ursprünglich ging es bei der Untersuchung darum zu erschließen, wie das
Gehirn die Planung und auch Ausübung zielgerichteter Handlungen steuert. In der
Hirnrinde des Affen wurden Neuronen immer dann aktiv, wenn das Tier nach einer
Nuss griff. Unerwarteterweise feuerten dieselben Neuronen jedoch auch, wenn ein
Versuchsleiter nach einer Nuss griff und der Affe die Handlung zu dem Zeitpunkt
lediglich beobachtete (Anhang 1, vgl. auch di Pellegrino et al. 1992, Fogassi et al.
2001, Umilta et al. 2001). Man wies die aktiven Neurone beim Makaken im Areal F5,
einer Region in der prämotorischen Großhirnrinde, sowie dem Areal PF nach (vgl.
Anhang 2). Infolge dessen versuchten Forscher mittels bildgebender Verfahren jenes
Phänomen auch beim Menschen zu ergründen. Verfahren, die die Lokalisation von
Spiegelneuronen bestimmen, werden im Folgenden dargestellt. Es wird zudem auf die
mögliche Rolle der Spiegelzellen eingegangen. Spiegelneuronen werden aufgrund der
Arele in denen sie gefunden wurden, vorerst insbesondere mit zwei Funktionen in
Verbindung gesetzt. Zum Einen mit dem Handlungsverständnis und zum Anderen mit
der Imitation.
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2013
ISBN (PDF)
9783956846854
ISBN (Paperback)
9783956841859
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,1
Schlagworte
funktionelle Bildgebung broken mirror Studie unbroken mirror Studie Imitation Handlungsverständnis
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing
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