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Gegen die Timeline: Dramaturgie der non-linearen Narrationstechnik in González-Iñarritús Film “Amores Perros”

©2013 Diplomarbeit 33 Seiten

Zusammenfassung

Pyotr Magnus Nedov hat die Erfahrung gemacht, dass man als Filmemacher die Form der zu erzählenden Geschichte unterwerfen sollte. Manche Geschichten lassen sich besser linear erzählen, manche Geschichten funktionieren besser als Roman oder Theaterstück; manche Geschichten funktionieren besser non-linear, wie eben Iñarritús vielgelobtes Spielfilmdebüt ‚Amores perros.‘
Anhand dieser Arbeit möchte der Autor ein kleines, aber feines Werkzeug erschaffen, mithilfe dessen man einige der (möglichen) Techniken der non-linearen Filmnarration besser verstehen und nutzen kann, um sie praktisch auch in den eigenen (filmischen) Arbeiten einfließen lassen zu können.
Aus diesem Grund bemüht sich der Autor um eine klare und einfache Sprache und beschränkt das Fachvokabular auf ein Minimum, um die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit auch dem filminteressierten Laien zugänglich zu machen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


,," (,,sjuzhet")
12
analog zu Gérard Genettes ,,histoire" und ,,discours" verwen-
den
1314
.
Non-lineare (b) Narration (a) erscheint somit, schenkt man Gérard Genette und den
russischen Formalisten Glauben, ein zum ,,discours" (wie?) zählendes Element der
,,histoire" (was?) zu sein. Es ist also eine Art, eine Geschichte zu erzählen.
Was ist nun Dramaturgie (c)?
Dramaturgie leitet sich vom griechischen Terminus ,,dramaturgein" (wörtl. ,,ein
Drama verfassen") respektive ,,dramatourgía"
15
ab und bedeutet im Bereich des Films
(aber auch in der Literatur oder im Theater), ,,einen Spannungsbogen gestalten".
16
Hierzu gibt es mehrere Theorien und Techniken. Erwähnt soll hier die geläufige und
besonders in Hollywood oft verwendete 3-Akt-Struktur von Syd Field sein.
17
Ich
möchte jetzt allerdings nicht näher auf die Filmdramaturgie an sich eingehen und werde
mich für den Moment damit begnügen, sie als ,,Kunst, eine (Film)Geschichte spannend
zu erzählen" zu umschreiben.
Nachdem ich die Begriffe, mit denen ich operiere, kurz umrissen habe, formuliere
ich jetzt die These, dass Alejandro González-Iñárritu (in weiterer Folge der Einfachheit
halber A.G.I.) in seinem Film ,,Amores Perros" die Form der non-lineren (Genette:,,dis-
cours") Narration (Genette:,,histoire") bewusst gewählt hat, um seine Filmgeschichte
,,Amores Perros" (Genette:,,histoire") spannend zu erzählen. Nun werde ich im weite-
rem Verlauf der Arbeit, mich auf die hier vorgestellten Begriffe stützend, damit befas-
sen, meine These zu untermauern und zu erörtern, welche filmischen Mittel A.G.I.
gewählt hat, um mittels der non-linearen Narration eine spannende Geschichte zu erzäh-
len. Ich werde hierbei mit der geläufigen deutschen Terminologie der Filmanalyse ope-
rieren.
18
12 ibid.
13 , . B.: ,, . ", , - 1925
[TOMASCHEWSKIJ, Boris Wiktorowitsch: ,,Literaturtheorie. Poetik", Gosisdat (= der sowjetische
Staatsverlag, Anm. des Verf.), Moskau-Leningrad 1925 (Transliteration und Übersetzung des Verfas-
sers)].
14 vgl. dazu auch: , ..: ,,. . .", , 1977
[TYNJANOW, Yurij Nikolaewitsch: ,,Poetik. Geschichte der Literatur. Das Kino", Wissenschaftsver-
lag, Moskau 1977 (Transliteration und Übersetzung des Verfassers)].
15 vgl.: ,,Duden. Deutsches Universalwörterbuch", Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2003, S. 395
16 vgl.: McKEE, Robert: ,,Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens", Alexander Verlag, Berlin 2011
17 FIELD, SYD.: ,,Screenplay. The foundations of screenwriting.", Random House, USA 2011
18 so wie sie etwa Knut HICKETHIER in ,,Film- und Fernsehanalyse", Metzler Verlag, Suttgart 1993
formuliert.
9

2. Exkurs ,,Amores perros". Der Plot
,,Mexico City, a fatal car accident. Three lives collide, revealing the hounding side of
human nature."
19
Was ist nun der Plot des Films?
A.G.I.s ,,Amores perros", ins Englische mit ,,Love`s a bitch" übersetzt, bedeutet so
viel wie ,,Hundelieben"; wobei das Spanische ,,amores" die Pluralform von ,,amor" (dt:
,,Liebe") und ,,perros" die Pluralform von ,,perro" (dt: ,,Hund") ist. Wenn man ,,perros"
allerdings adjektivisch auslegt, findet man im Langenscheidt-Wörterbuch der spani-
schen Sprache die familiäre (umgangssprachliche) Verwendung des Wortes als ,,mies",
,,übel" oder ,,sehr böse".
20
Dies würde ergeben: ,,Böse Lieben"; ,,Üble Liebschaften"
oder eben ,,Love`s a bitch", kurzum: ,,Hundelieben".
A.G.I.s ,,Amores perros" erzählt drei Geschichten, die nacheinander, aber nicht zeit-
gleich, erzählt werden. Sie werden thematisch von einem Autounfall zusammen gehal-
ten und spielen sich allesamt im zeitgenössischen Mexiko, in Mexiko-Stadt, ab. A.G.I.
benennt diese Segmente wie folgt:
1. ,,Octavio y Susana" (dt: ,,Octavio und Susana")
2. ,,Daniel y Valeria" (dt: ,,Daniel und Valeria")
3. ,,El Chivo y Maru" (dt: ,,El Chivo
21
und Maru")
ad 1.: Das erste Segment erzählt die Geschichte von Octavio, einem jungen Bur-
schen aus der mittellosen mexikanischen Arbeiterschicht, der sich in Susana, die junge
Frau seines gewalttätigen Bruders Ramiro, verliebt. Um Susanas Gunst zu gewinnen
und sie dazu zu bewegen, Ramiro für ihn zu verlassen, nimmt Octavio mit Cofi, dem
Hund seines Bruders Ramiro, an Hundekämpfen teil und schenkt ihr und ihrem Kind
das auf diese Weise gewonnene Geld. Gleichzeitig spinnt Octavio Intrigen gegen seinen
kleinkriminellen Bruder Ramiro, der Susana mit einer Arbeitskollegin betrügt.
19 Aus der Synopsis der Produktionsmappe von ,,Amores Perros", S.3:
20 vgl.: ,,Langenscheidt Handwörterbuch Spanisch", Berlin, Wien, Zürich, New York 2001, S. 476
21 Im Spanischen bedeutet der Name (wohl ein Spitzname) übersetzt so viel wie ,,Ziegenbock"; man
kann darin ein Symbol für den Teufel sehen, der oft als Ziegenbock dargestellt wird (Anm. d. Verfas-
sers).
10

Zur Atmosphäre dieses Segments schreibt Bettina Bremme passend: ,,González
Iñárritu wirft uns mitten in eine vor Schweiß und Aggressionen dampfende Kampf-
hundearena hinein: Männer in Muskel-Shirts hetzen hechelnde Köter aufeinander.
Bündelweise wechseln schmuddelige Geldscheine den Besitzer, und manchmal gehen
die Herrchen der Kampfhunde auch direkt aufeinander los. Octavio ist einer von ihnen.
Der junge Mann setzt alles daran, mit Ramiros Rottweiler Cofi (um den sich aber nur
Octavio wirklich kümmert) so viel Geld einzusacken, dass er mit seiner Schwägerin
Susana das Weite suchen kann."
22
Als während eines Hundekampfes Octavios Hund Cofi einen anderen Kampfhund
tötet, schießt dessen Besitzer El Jarocho Cofi an und Octavio sticht El Jarocho ab. Mit
dem blutenden Hund auf der Rückbank suchen er und sein Kumpel Jorge das Weite.
Darauf kollidieren sie mit einem Kleinwagen, der auf sie zusteuert. Später muss Octavio
feststellen, dass Susana mit Ramiro und seinem Hundekampfgeld abgehauen ist und ihn
zurückgelassen hat.
ad 2.: Im zweiten Segment ,,Daniel und Valeria" begegnen wir dem 42jährigen Ver-
leger Daniel, der seine Ehefrau und seine zwei Töchter verlassen hat, um mit seiner jun-
gen Geliebten Valeria, die Schauspielerin und Model ist, zusammenzuleben. Er hat eine
teure Wohnung für sie gekauft; von einem der Fenster aus kann Valeria ihr eigenes über-
dimensionales Bild sehen, das sie von einer Reklametafel anlächelt. Das Liebesglück
des Paares wird überschattet, als Valeries Schoßhund Richie in ein Loch unter dem Fuß-
boden hineinfällt und nicht mehr zurückkommt.
Wir erfahren, dass Valeria in den Autounfall aus dem ersten Segment verwickelt war
(sie saß in dem Kleinwagen; sie war unterwegs, um Wein zu besorgen, weil sie mit
Daniel ihr neues gemeinsames Leben feiern wollte). Wir sehen den Autounfall (den wir
schon im ersten Segment aus Octavios Perspektive gesehen haben) aus Valerias Per-
spektive. Valerias Bein ist infolge des Unfalls schwer verletzt. Während man manchmal
den kleinen Hund Richie unter dem Fußboden winseln hört, leidet Valeria sowohl inner-
lich (weil sie Angst hat, ihr Hund könnte von Ratten gefressen werden), als auch äußer-
lich (wegen ihres schwer verletzten Beines, dass sie am Ende verliert und ihrer Immobi-
lität).
22 BREMME, Bettina: ,,Auf den Hund gekommene Mexikaner", Lateinamerika Nachrichten Ausgabe
330, Dezember 2001: http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/1432.html
(06.01.2013)
11

Ad 3.: Im dritten Segment (,,El Chivo und Maru") begegnen wir dem alten mysteri-
ösen Stadtstreicher El Chivo (,,Der Ziegenbock") im Karl-Marx-Look, der von einem
Hunderudel begleitet wird. Über El Chivo erfahren wir, dass er einst ein Revolutionär
gewesen ist und deswegen seine Frau und Tochter Maru verlassen hatte. Nach einem
langen Gefängnisaufenthalt hält er sich als Gelegenheitkiller über Wasser und sucht den
Kontakt zu seiner Tochter. El Chivo ist Zeuge des Unfalls (in dem Octavios und Valerias
Pkws miteinander kollidieren); er zerrt Octavio aus dem Wrack seines Autos, nimmt
ihm den Geldbeutel weg und den verwundeten Hund Cofi mit.
El Chivo pflegt Cofi gesund und Cofi tötet all seine anderen Hunde. Anstatt Cofi zu
töten, wagt El Chivo an seiner Seite einen Neuanfang.
Komprimiert könnte man den Plot im Zweizeiler zusammenfassen: ,,Ein verhängnis-
voller Autounfall in der pulsierenden Metropole Mexiko-Stadt. Drei Leben prallen auf-
einander, um die bestialische Seite der menschlichen Natur aufzudecken."
23
23 vgl.: DVD-Cover ,,Amores Perros", Warner Home Video, 2002
12

3. Das filmische Triptychon
24
,,Amores perros" und seine non-lineare
Dramaturgie
Zunächst möchte ich die naheliegende Frage in den Raum stellen, warum der Regis-
seur diese 3 Geschichten
25
nicht linear erzählt oder, wenn es schon 3 Geschichten sind,
warum er nicht gleich 3 Kurzfilme daraus gemacht hat?
Dazu sagt A.G.I. selbst, dass die Geschichten einzeln nicht so wirksam gewesen
wären und dass er absichtlich diese Form gewählt hat, um diese 3 Fragmente möglichst
organisch und subtil zu einem kompletten Ganzen zu verknüpfen.
26
Ich bin der Meinung, dass A.G.I. die einzelnen Fragmente des Triptychons einerseits
inhaltlich einander vervollständigen lässt, sie andererseits formal voneinander trennt,
wobei der Autounfall als dramatischer Katalysator aller drei Geschichten fungiert.
Wie dies genau funktioniert, möchte ich im ersten Teil dieses Kapitels erörtern.
Danach werde ich mich mit der Frage befassen, wie die einzelnen Fragmente des Tripty-
chons auf der zeitlichen Ebene miteinander verbunden sind sowie auf welche Techniken
A.G.I. zurückgreift, um seine Filmgeschichte spannend zu erzählen, sprich wie die Dra-
maturgie der non-linearen Narration die einzelnen Fragmente des Triptychons zu dem
kompletten Ganzen ,,Amores perros" verknüpft.
Also, um wieder mit Genette zu sprechen, wie A.G.I.s ,,discours" der non-linearen
Dramaturgie funktioniert und wie A.G.I. es schafft, darauf zurückgreifend seine
,,histoire", dieses filmische Triptychon ,,Amores perros", spannender zu erzählen.
3.1. Das Triptychon. Die inhaltliche Ebene
27
Worin unterscheiden sich die 3 Geschichten voneinander und worin besteht das
,,komplette Ganze", von dem A.G.I. spricht?
Es hat zunächst den Anschein, als hätte der Regisseur die 3 Geschichten formal von-
einander getrennt (dazu später), sie gleichzeitig aber inhaltlich mit dem Thema Liebe
24 Der Begriff leitet sich vom gr. Tríptychos= dreifach, aus drei Schichten bestehend und bezeichnet in
der Kunstwissenschaft ein aus einem mittleren Bild und zwei Flügeln bestehende bildliche Darstel-
lung (vgl.: ,,Duden. Deutsches Universalwörterbuch", Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2003, S.
1607), weswegen ich ihn hier als treffende Umschreibung für ein Dreiergebilde, das ein Ganzes dar-
stellt, verwende (Anm. des Verfassers).
25 siehe dazu Kapitel 2
26 Vgl.: DVD ,,Amores Perros", Warner Home Video, 2002, Kommentar des Regisseurs
27 vgl. hierzu A.G.I.s Kommentare: DVD ,,Amores Perros", Warner Home Video, 2002, Kommentar des
Regisseurs
13

und mit dem Ort Mexico City, dem einzigen Schauplatz der Handlung sowie durch den
gleichen Autounfall, der in allen Geschichten vorkommt und alle drei Geschichten dras-
tisch verändert, verbunden. Dass Liebe das zentrale Thema des Films ist, wird bereits
im Trailer suggeriert. So wird hier ,,Liebe" sieben Mal erwähnt. A.G.I. blendet die wie
ein Mantra wirkenden programmatischen Parolen: ,,Liebe ist Verrat."; ,,Liebe ist Qual.";
,,Liebe ist Sünde."; ,,Liebe ist Egoismus."; ,,Liebe ist Hoffnung."; ,,Liebe ist Schmerz.";
,,Liebe ist Tod" ein und aus, so als würde er eine These aufstellen, die er in seinem fil-
mischen Triptychon zum Thema ,,Was ist Liebe?" (eine weitere Einblendung im Trailer
des Films), zu untermauern versucht.
Geschichte 1: ,,Octavio und Susana" (I)
Die erste Geschichte spielt sich in der unteren mexikanischen Mittelschicht
[SOZIALE KLASSE] in Mexico City [ORT] ab und wird aus Octavios Perspektive
erzählt. Wir sehen den Unfall in I, das verbindende Element des Triptychons [AUTO-
UNFALL], ebenfalls aus Octavios Perspektive [FOKALISIERUNG; wer spricht?].
Octavio ist ein junger Mann (Anfang Zwanzig) [ALTER] aus der mittellosen Arbeiter-
klasse und sucht die Liebe seiner Teenager-Schwägerin Susana, mit der er in einem
Haus zusammenlebt (zusammen mit Susanas Kleinkind, seinem Bruder und Susanas
kriminellem Ehemann Ramiro sowie mit seiner Mutter), wobei in diesem ersten Frag-
ment des Triptychons auffallend ist, dass die Vaterfigur fehlt [VATERFIGUR]. Er ver-
sucht, seinen Bruder metaphorisch zu töten, ihn auszustechen, ihn zu besiegen, seine
Position einzunehmen und eine gesicherte Existenz für sich selbst und für Susana zu
erreichen. Andererseits sucht er auch die Anerkennung seiner Mutter. Liebe oder besser
gesagt das Verlangen, eine animalische Kraft, treibt ihn an [ANTRIEB; MOTIVA-
TION]; sie ist dafür verantwortlich, dass Octavio einerseits Wunderbares (er gibt etwa
Susana Geld, damit sie ihr Kind versorgen kann); andererseits aber auch Schreckliches
tut (er missbraucht Ramiros Hund Cofi [HUND] dafür, in illegalen Hundekämpfen Geld
zu verdienen; er verführt die Ehefrau seines Bruders; er lässt seinen Bruder zusam-
menschlagen etc.). Er ist rational und selbstbewusst; er ist direkt und er weiß, was er tut.
Die Fotos sind in ,,Amores perros" gezielt eingesetzt
28
und spielen eine wichtige Rolle,
sie sind eine Verbildlichung des dramatischen Ziels des Protagonisten. Octavio hat ein
Foto von seiner Mutter, von Cofi und von Susana [FOTOS]. Am Ende verliert er alles
(Ramiro und Susana verlassen zusammen mit Cofis Hundekampfgeld die Familie)
28 vgl.: ibid.
14

[NONFUNKTIONALITÄT DER FAMILIE]; Octavio scheitert also [AUSGANG],
obwohl es bis zu dem ominösen Unfall so aussieht, als würde er sein Ziel erreichen.
Octavios Selbstsicherheit hört mit dem Unfall auf und wird vom Wahnsinn [DAN-
TE-ALLEGORIE:HÖLLE] abgelöst. Wie es mit ihm weitergeht, ob er sich von den
Folgen des Unfalls und von Susanas Abweisung erholen wird, erfahren wir nicht
[OFFENES ENDE].
Geschichte 2: ,,Daniel und Valeria" (II)
Die zweite Geschichte des Triptychons spielt sich in der oberen mexikanischen Mit-
telschicht [SOZIALE KLASSE] in Mexico City [ORT] ab und wird eher aus Valerias
Perspektive erzählt. Wir sehen den Unfall in II, das verbindende Element des Tripty-
chons [AUTOUNFALL], aus Valerias Perspektive [FOKALISIERUNG; wer
spricht?]. Dennoch gibt es Szenen (auch herausgeschnittene Szenen), in denen Daniel
im Vordergrund steht und ich habe den Eindruck, dass es in diesem Fragment eigentlich
um Daniel geht (darauf weist neben der Reihenfolge in der Titulierung des Segments,
also Daniel vor Valeria, auch A.G.I. selbst hin, als er in seinen Kommentaren zum Film
auf den 2. Teil des Triptychons eingehend inhaltlich Daniel eindeutig in den Vorder-
grund stellt)
29
. Daniel ist ein 42-jähriger [ALTER] Verleger, der versucht, vor sich
selbst zu fliehen, vor seinem Alltag, den er als Krise empfindet. Er will sich verjüngen
durch die Liebe [ANTRIEB; MOTIVATION] zu einer jungen Schauspielerin, Valeria.
Für sie und die Liebe zu ihr nimmt er hohe materielle Kosten auf sich (er bezahlt ihr die
teuere Wohnung; er bezahlt ihr die ärztliche Behandlung, die sehr kostspielig ist, da
Valeria zum Zeitpunkt des Unfalls nicht versichert ist; die Scheidung von seiner Ehefrau
kommt Daniel auch teuer zu stehen; er bezahlt die Pfleger und die Haushälterin für
Valeria); zudem verlässt Daniel für Valeria seine Ehefrau und seine zwei Töchter
[VATERFIGUR], er zerstört also ihr zuliebe seine intakte Familie [NONFUNKTIO-
NALITÄT DER FAMILIE]. Er glaubt, dass er mit Valeria glücklich sein kann, er
erliegt dieser Illusion. In Wirklichkeit leidet er an der Trennung von seinen Töchtern
und an der hohen materiellen Belastung der neuen Beziehung. Was hat er denn nun
wirklich? Eigentlich nur seine Familie, sein eigen Fleisch und Blut. Die Fotos, die er in
seinem Büro hat, sind deswegen die Fotos seiner Familie, seiner zwei Töchter
[FOTOS]. Valeria hingegen hat vor allem ein riesiges Reklamebild von sich selbst vor
Augen (aus dem Fenster ihrer Wohnung gut sichtbar), sie ist, scheint es, auf sich selbst
29 Ibid.
15

und auf Nichtigkeiten zentriert, egoistisch. Sie leidet vor allem physisch an den Folgen
des Unfalls, an der Entstellung ihres Model-Körpers (ihr rechtes Bein ist schwer ver-
letzt, sie ist bewegungsunfähig; sie muss masochistischerweise mitansehen, wie die
Reklametafel mit ihrem Abbild demontiert wird) und daran, dass ihr Schoßhündchen
Richie [HUND] in einem Loch unter dem Fußboden verloren gegangen ist; es hat nicht
den Anschein, als würde sie sich um Daniel Sorgen machen. In diesem Segment erleben
wir die schmerzvolle Zerstörung der Beziehung zwischen Daniel und Valeria [DANTE-
ALLEGORIE:FEGEFEUER]; beide leiden, finden aber keinen Ausweg. Wie es mit
ihnen weitergeht, erfahren wir nicht [OFFENES ENDE].
Geschichte 3: ,,El Chivo und Maru" (III)
Die dritte Geschichte des Triptychons spielt sich ebenfalls in Mexico City ab [ORT],
handelt von El Chivo, dem mysteriösen 60-jährigen [ALTER] Streicher in schmuddeli-
gem Karl-Marx-Look, der auf der Suche nach seiner Tochter Maru ist und ab und zu
kaltschnäuzig Yuppie-Geschäftsleute erschießt. Dieses Segment wird aus El Chivos Per-
spektive erzählt. Wir sehen den Unfall in III, das verbindende Element des Triptychons
[AUTOUNFALL], aus El Chivos Perspektive [FOKALISIERUNG; wer spricht?].
Es ist hingegen schwierig, El Chivo eindeutig in eine soziale Klasse zu situieren.
Über El Chivo erfahren wir nämlich, dass er einst College-Lehrer war (Mittelschicht),
später beschließt er, seine Ehefrau und Tochter Maru (damals 2 Jahre alt) zu verlassen
[VATERFIGUR], um Revolutionär zu werden [NONFUNKTIONALITÄT DER
FAMILIE]. Dann, nach einer Reihe spektakulärer Attentate, Entführungen und Tötun-
gen im Namen der Revolution wird ,,El Chivo" verhaftet und verbringt lange Zeit im
Gefängnis. In dieser Periode hat er seine Frau gebeten, seiner Tochter Maru zu sagen, er
sei gestorben. Nach seiner Entlassung lebt der Ex-Revolutionär als Obdachloser
[SOZIALE KLASSE] mit einem Rudel Hunde [HUND] und betätigt sich als Auftrags-
mörder für den bierbäuchigen korrupten mexikanischen Polizeibeamten Leonardo, der
ihn liebevoll ,,El Chivito" (,,Ziegenböcklein" oder ,,Teuferl") nennt, wodurch er für
seine Verhältnisse zu viel Geld gelangt. El Chivo leidet aber gleichzeitig unter der Ent-
fremdung von seiner nun erwachsenen Tochter Maru und sucht Marus Nähe, vor allem,
nachdem er aus der Zeitung zufällig vom Tod seiner Ehefrau erfährt; wir erfahren
zudem, dass El Chivo seine Tochter immer noch liebt und ein Verlangen danach hat,
sich mit ihr zu versöhnen [ANTRIEB; MOTIVATION]. Er hängt sich ein Portrait sei-
ner Tochter über den Kopf [FOTO]; er stiehlt ein Bild, auf dem der neue Ehemann sei-
16

ner Ex-Frau zusammen mit seiner Frau und Tochter Maru zu sehen ist, aus Marus Woh-
nung, überklebt das Gesicht des Mannes mit einem eigenen Portrait-Foto und bringt es
wieder zurück. El Chivo wird Zeuge des Autounfalls, hilft dem schwer verletzten Octa-
vio aus dem Autowrack (klaut dabei sein Geld und seine Geldbörse) und versorgt Cofi,
Octavios angeschossenen Hund. Cofi wird wieder gesund und tötet all die anderen
Hunde El Chivos. Dadurch erfährt der obdachlose Auftragskiller im Karl-Marx-Look
laut Eigenaussage (den Geschäftsleuten Luis und Gustavo gegenüber) eine geistige Läu-
terung. Bei seinem nächsten vom jovialen korrupten mexikanischen Polizeibeamten
Leonardo eingefädelten Mordauftrag, wo er den Geschäftsmann Luis für seinen Halb-
bruder und Geschäftspartner Gustavo für 150.000 Pesos (umgerechnet ca. 9000,- )
erschießen soll, ändert er die Spielregeln: El Chivo kidnappt Luis, kassiert Gustavos
Kopfgeld, wonach er Gustavo ebenfalls gefangen nimmt; er fesselt die beiden Halbbrü-
der nebeneinander, wirft einen Revolver in ihre Mitte, knapp außerhalb ihrer jeweiligen
Reichweite und verlässt mit Octavios Hund Cofi die Stadt, während die beiden gut situ-
ierten Geschäftsleute einander anblaffen, gegen die Fesseln ankämpfen und aufeinander
losgehen, wie die Hunde in den Hundekampfszenen von Teil I., um den Revolver zu
fassen und den jeweils anderen zu erschießen.
El Chivos Metamorphose wird auch bildlich dargestellt: er schneidet sich den Voll-
bart und die Haare, wäscht und rasiert sich, kleidet sich in einen sauberen Anzug und
bricht abermals in die Wohnung seiner Tochter ein. Hier hinterlegt er das Mordgeld und
spricht Maru eine lange Nachricht aufs Band, in der er seine Taten erklärt und sie um
Verzeihung bittet. Hernach verkauft er Gustavos Jeep und geht mit dem Jeep-Geld und
Cofi zu Fuß über ein offenes Feld gebrannter Erde in die Ferne. Er hat einen Neuanfang
vor sich, wobei der Regisseur hier auch offen lässt, wie es mit El Chivo weitergeht
[OFFENES ENDE]. Dennoch erfährt El Chivo einen Aufstieg und eine Annäherung an
sein Ziel [DANTE-ALLEGORIE:PARADIES].
3.2. Das Triptychon. Die inhaltliche Ebene. Fazit
Wenn man die hier in eckigen Klammern aufgeschlüsselten Elemente analysiert,
stellt man fest, dass die einzelnen Elemente des Triptychons (die drei Geschichten) auf
der inhaltlichen Ebene einander vervollständigen und eine Reihe von Parallelen aufwei-
sen.
17

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956847127
ISBN (Paperback)
9783956842122
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Kunsthochschule für Medien Köln
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
non-lineare Filmdramaturgie Episodenfilm Filmwissenschaft Erzähltheorie Kino

Autor

Pyotr Magnus Nedov wurde 1982 in Chişinău, Sowjetunion (Moldawien) geboren. Studium der Keltologie, Romanistik, Filmwissenschaften und Filmregie an der Sorbonne Paris, RGGU Moskau, Université de Montréal, am SAE Technology Institute und an der Universität Wien. Forschungsaufenthalte am National Film Board of Canada und an der Cinémathèque québécoise. 2008 Promotion zum Doktor der Philosophie an der Universität Wien mit einer filmwissenschaftlichen Arbeit über Pierre Falardeau. 2009 bis 2013 Postgraduales Filmstudium an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) mit Schwerpunkt auf Drehbuch und Spielfilmregie. Sein Abschlussfilm „Kosherland“ feierte seine Premiere auf dem Max-Ophüls-Festival und wurde mehrfach ausgezeichnet. 2013 erschien sein Roman „Zuckerleben“ bei DuMont. Er lebt und arbeitet als Autor und Filmemacher in Berlin.
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