Werthers Selbstmord – ein Werk des Teufels?! Die Ansichten über Suizid seit der Aufklärung
Zusammenfassung
Zu den bekanntesten literarischen Selbstmördern zählt Goethes Werther, dessen psychische Erkrankung am dunkelsten Tag des Jahres in der tödlichen Konsequenz endet. Mit der Veröffentlichung seines Werks ‘Die Leiden des jungen Werthers’ entfachte Goethe 1774 eine Diskussion in der Gesellschaft. In der kirchlichen Orthodoxie, der Aufklärungsphilosophie und den bürgerlichen Moralvorstellungen waren die Quellen des Protestes und der Kritik zu finden. Die junge Generation des Sturm und Drang hingegen konnte sich mit dem Werther identifizieren und fand ihre eigenen Gedanken und Gefühle wieder.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2. Der Selbstmord im Wandel der Zeit
Die Ächtung des Suizids ist bis in die vorchristliche Zeit zurückzuverfolgen und mit dem Beginn des Christentums wurde die Verurteilung noch rigoroser. Das Denken der Menschen beruhte darauf, dass der Selbstmord Teufelswerk sei und daher mit harten Sanktionen bestraft werden müsse. Zudem befürchtete die Obrigkeit im 16. und 17. Jahrhundert, dass die Gesellschaft die Selbsttötung als Ablehnung des Herrschers und Kritik am Staat ansehen könne. Das von William Blackstone 1765 verfasste Commentaries on the Laws of England beinhaltete genau diese Thematik. Der Selbstmord sei zu sanktionieren, da er eine Auflehnung gegen Gott und den Herrscher darstelle.[1]
Das Selbstmordverbot der Kirche sowie das Denken der Bürger führte zu einer schweren Ahndung der Suizidenten. Ihre Leichname wurden geschändet und hingerichtet. So erhielten sie auch kein ehrliches Begräbnis auf einem Friedhof, sondern wurden im Wald verscharrt oder unter einem Galgen begraben. Diese Form der Bestattung wurde als „Eselsbegräbnis“[2] bezeichnet.
Mit dem Beginn der Neuzeit begann sich die Auffassung der Gelehrten in Bezug auf die Frage des Selbstmordes zu wandeln. Man erkannte, dass die Suizidenten nicht vom Teufel besessen waren, sondern einer psychischen Krankheit unterlagen. Daher wurde der Selbstmordkomplex auch immer mehr zum Thema der Medizin und Psychologie als der Theologie. Robert Burton gab schon 1621 in seinem Werk The Anatomy of Melancholy bekannt, dass die Melancholie der Auslöser des Suizids sei, da diese den Menschen innerlich zermürbe und ihm das Leben ausweglos erscheinen ließe.[3]
Mit der Erkenntnis, dass Selbstmord und Wahnsinn im Zusammenhang stehen, wurde zunächst eine Minimierung der strafrechtlichen Maßnahmen bewirkt, bis sie 1794 im Preußischen Allgemeinen Landrecht vollkommen aufgehoben wurden. Die Selbstmörder erhielten nun das „stille Begräbnis“[4], bei dem sie auf einem Friedhof bestattet wurden und keinerlei Schmähung und Schimpfung ausgesetzt waren.[5]
2.1 Die Philosophie und der Selbstmord in der Epoche der Aufklärung
Für die Philosophen der Aufklärung stand fest, dass der Mensch aufgrund des Nutzen seines Verstandes die Freiheit über sein Leben besäße, somit sei es ihm auch gestattet, den Zeitpunkt seines Todes zu bestimmen. Allerdings gab es bei den einzelnen Philosophen Variationen in ihrer Grundhaltung bzgl. der Thematik des Selbstmordes. Daher möchte ich an dieser Stelle zwei divergierende Meinungen vorstellen, die des schottischen Philosophen David Hume (1711-1776) und die des Königsberger Geisteswissenschaftlers Immanuel Kant (1724-1804).
In Humes Essay Of Suicide wird deutlich, dass der Autor die Ansicht besitzt, der Mensch habe das Recht, über das eigene Leben und seinen Tod zu entscheiden. Der Selbstmord stelle keine Pflichtverletzung gegenüber sich selbst, der Gesellschaft und Gott dar, wie es Thomas von Aquin kanonisiert hatte. Die Gesellschaft erfahre durch den Freitod keinen Schaden und auch Gottes Planung sei durch den Suizid nicht beeinträchtigt.[6]
Für Kant hingegen ist im Einklang mit dem christlichen Glauben die Selbsttötung moralisch nicht vertretbar. Der Mensch habe nämlich die Aufgabe, sich selbst am Leben zu erhalten um in der Welt die Sittlichkeit zu realisieren. Auch Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft und Gott ließen den Selbstmord nicht zu.[7]
In Deutschland ist zur Zeit der Aufklärung vor allem der Philosoph Christian Wolff (1679-1754) bedeutsam, der den Freitod nur dann für entschuldbar hält, wenn entweder der eigene natürliche Tod sehr qualvoll oder das Leben nicht mehr erträglich sei. Insgesamt verläuft daher die Wandlung im Denken der deutschen Gesellschaft zur Thematik des Selbstmordes langsamer und gemäßigter und auch die Kritik an der Kirche ist leiser zu vernehmen als in England oder Frankreich.[8]
3. Werthers Krankheit zum Tode
[9] Es gibt zahlreiche Interpretationen zu Goethes Werk Die Leiden des jungen Werthers, die die Ursachen für das Scheitern des Protagonisten in seiner Kindheit, der Einstellung gegenüber der Gesellschaft und seiner unglücklichen Liebe zu Lotte suchen. Ich möchte an dieser Stelle nicht nach den Auslösern für seinen Freitod forschen, sondern chronologisch auf die Suizid-Vorausdeutungen im Text selbst eingehen und somit Werthers psychische Erkrankung im wiederholten Verlauf der Jahreszeiten vom Frühjahr bis zum Winter verfolgen, die am dunkelsten Tag des Jahres in der tödlichen Konsequenz endet.
Bereits im Vorwort werden die Leiden des „armen Werthers“[10] betont, die den Leser ergreifen und ihn mitfühlen lassen sollen. Dies deutet auf ein trauriges Schicksal der Hauptfigur hin, jedoch nicht explizit auf seinen Tod. Dennoch steigert es die Erwartungshaltung des Publikums und veranlasst es, auch zwischen den Zeilen zu lesen.
„Wie froh bin ich, daß ich weg bin!“ (S. 8, Z. 2). Mit dieser Aussage Werthers beginnt sein erster Brief am 4. Mai an seinen Freund Wilhelm. Vordergründig ist damit die Abreise von der Heimat gemeint, allerdings kann man mit dem Vorwissen auf das Ende des Buches diesem Satz auch eine bedeutendere Konnotation zuweisen, da im Mittelpunkt der Handlung die Entwicklung zum Selbstmord steht. Bereits vor der Begegnung mit Lotte ist Werthers melancholische Veranlagung zu erkennen, die sich in seinen Stimmungsschwankungen und Fantasievorstellungen, seinem sensiblen Wesen, seiner Entscheidungsunfähigkeit und seinem Narzissmus widerspiegelt. Für den empfindsamen Werther ist das Gefühl und nicht der Verstand das Leitmotiv, das ihn zu seinen Handlungen veranlasst. So steht meist das Herz als Synonym für seine Persönlichkeit, wenn er Wilhelm über seinen Gemütszustand berichtet („Auch halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all sein Wille wird ihm gestattet“ [S. 14, Z. 28f.]).
In den ersten Tagen seiner Reise genießt Werther die Natur und die damit verbundene Einsamkeit. Er kann die Herrlichkeiten der Natur kaum verarbeiten, so dass es ihm auch nicht gelingt, diese mit seiner Kunst festzuhalten. Die Eindrücke sind so stark, dass er fürchtet, an ihnen zu scheitern (S. 12, Z. 25ff.). Trotz der Ruhe, die dieser Ort ausstrahlt, ist Werther innerlich aufgewühlt und auch vor seinen Stimmungsschwankungen, die „vom Kummer zur Ausschweifung, und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehn“ (S. 14, Z. 26ff.) ist er hier nicht gefeit. Die Briefe an Wilhelm zeugen von einer tiefsinnigen und emotionsgeladenen Veranlagung Werthers, die auch zu einer suizidalen Neigung tendiert. Dies wird schon sehr früh deutlich, als er im Brief vom 22. Mai sein Streben nach der Freiheit offenbart: „[H]ält er doch immer im Herzen das süsse Gefühl von Freyheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will“ (S. 22, Z. 34ff.). Wenn man den Kerker nun als Metapher für das Leben sieht, so spricht Werther von der Möglichkeit des Freitods, um sein Dasein zu beenden. Somit erfolgt schon vor der Begegnung mit Lotte eine Vorausdeutung auf seinen Selbstmord. Werther verspürt den Wunsch sich von dem eingeschränkten Leben zu befreien und somit die Grenzen des Kerkers zu sprengen. Wenn man den Übergang zwischen dem Diesseits und Jenseits als Hindernis ansieht, so ist der Wunsch, die Grenzen seines Gefängnisses zu verlassen, die Sehnsucht nach dem Tod.[11]
Kurz nach seiner Bekanntschaft mit Lotte nimmt Werthers psychische Erkrankung zu, so dass er selbst erkennen muss, dass sein Herz „übler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet“ (S. 60, Z. 15f.). Die Gefühle gegenüber Lotte verstärken seine Emotionswelt in dem Sinne, dass er einerseits vor Liebe jubilieren möchte, andererseits vor Kummer zergeht, da er sie niemals besitzen kann. Dieser Gefühlstaumel stürzt Werther in eine wachsende Melancholie, der er nicht gewachsen ist. Auch Lotte ist die starke Empfindsamkeit ihres Verehrers nicht entgangen und sie fürchtet, dass dieser daran zu Grunde gehen wird (S. 68, Z. 33f.). Mit der zunehmenden Sehnsucht nach Lotte wächst Werthers suizidale Neigung, die z. B. im Brief vom 16. Juli erkennbar war, in dem er Wilhelm von der erotischen Ausstrahlungskraft, die Lotte umgibt, berichtet, aber auch von ihrer heiligen Aura, so dass er innerlich zerrissen ist, da er sie einerseits begehrt, andererseits aber auch als unnahbar betrachtet. In diesen Momenten bewahrt nur ihr Klavierspiel ihn davor, sich „eine Kugel vor’n Kopf [zu] schießen“ (S. 78, Z. 19f.), da die Musik „die Irrung und Finsterniß [seiner] Seele zerstreut“ (S. 78, Z. 20f.), damit er wieder freier atmen kann. Mit der Geschichte vom Magnetenberg zeigt Werther seine Erkenntnis, dass Lotte sein Untergang sein wird. Die Märe von dem Berg, der alle Eisenstücke an sich zieht und so Schiffe samt ihrer Besatzung ins Verderben treibt (S. 84, Z. 3ff.), lässt sich als Metapher so deuten, dass Lotte mit ihrer lieblichen Ausstrahlung Werther an sich bindet um ihn dann wie die „armen Elenden“ (S. 84, Z. 6) der Schiffsmannschaft scheitern zu lassen.
Mit der Ankunft von Lottes Verlobten Albert Ende Juli steigert sich Werthers Melancholie in eine Depression. Er spricht am 8. August gegenüber Wilhelm seine Krankheit an, indem er sich mit einem Unglücklichen vergleicht, „dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit [...] abstirbt“ (S. 88, Z. 12ff.) und äußert den Wunsch, seinen Aufenthaltsort und somit Lotte zu verlassen („[I]ch habe manchmal so einen Augenblick aufspringenden, abschüttelnden Muths, und da, wenn ich nur wüsste wohin, ich gienge wohl.“ [S. 88, Z. 22ff.]). Zwar erläutert er nicht, wohin er gehen möchte, jedoch ahnt der Leser, dass es sich nicht unbedingt um einen irdischen Platz handeln muss, da die Male, an denen Werther in seinen Briefen den Suizid erwähnt, sich häufen.
Am 12. August schildert Werther die Episode von dem Selbstmord-Disput mit Albert. Vorausgegangen ist sein darstellerisches Spiel, bei dem er sich Alberts Pistole bedient und sie sich an die Schläfe hält (S. 93f., Z. 36ff.). Dieses Szenario könnte man durchaus als Hilferuf interpretieren; Werther versucht Albert auf sein präsuizidales Syndrom aufmerksam zu machen, erlangt jedoch nur Unverständnis auf Seiten Alberts. Allerdings dient diese Pose als Anlass zu dem nun folgenden Gespräch über den Selbstmord. Albert, als vernunftsorientierter Bürger, bringt keinerlei Mitleid für Suizidenten auf und sieht auch keine Gründe, die einen Freitod rechtfertigen. Werther, als empfindsamer Jüngling, hingegen vertritt die Ansicht, dass der Mensch nur ein gewisses Maß an Leid ertragen kann und zu Grunde geht, wenn dieses überschritten ist (S. 98, Z. 14ff.). In diesem Zusammenhang spricht er von einer „Krankheit zum Todte“ (S. 98, Z. 26), die sich so entwickelt, dass der Leidtragende an seinen wachsenden psychischen Unzulänglichkeiten scheitert. Um sein Anliegen zu verdeutlichen, nennt Werther das Beispiel von dem Mädchen, das sich aufgrund ihrer unglücklichen Liebe ertränkt (S. 102f.). „Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinth der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muss sterben.“ (S. 102, Z. 12ff.). Die Leidenschaft ist laut Werther der Grund, warum Menschenschicksale im Tod enden, da durch diese der Verstand nicht mehr rational arbeiten kann. Seine Ereiferung lässt sich als vorzeitige Entschuldigung und Rechtfertigung für seinen Selbstmord deuten, da er Wesenszüge von Menschen vorführt, die den seinen ähneln. Werthers Denken und Handeln ist durch die Liebe zu Lotte in dem Sinne beeinträchtigt, dass er sich vollkommen von seinen Emotionen leiten und seiner Leidenschaft freien Lauf lässt. Jedoch wandelt sich seine Liebe zu der „Quelle seines Elends“ (S. 104, Z. 28) und zu „einem quälenden Geiste, der [ihn] auf allen Wegen verfolgt“ (S. 104, Z. 32f.) und auch in der Natur empfindet er nun nicht mehr die ursprüngliche Herrlichkeit, sondern erkennt sie als ein „ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer“ (S. 108, Z. 30f.). Das Schauspiel der Mückchen und Würmchen kann er nicht mehr genießen, da er das Leben nur noch als ein „Abgrund des ewig offnen Grabs“ (S. 108, Z. 13) sieht. Aus der ruhenden Natur wird eine zerstörende Gewalt, die ihn bedroht und den Tod verheißt.
Mit dem Ende des Sommers verfällt Werther zunehmend in eine Depression, die sich durch Träume von Lotte auszeichnet, die ihn tränenbedeckt eine „finstere[] Zukunft“ (S. 110, Z. 7) erahnen lassen. Er kann weder tätig sein noch dem Müßiggang frönen, die Fantasie ist ihm abhanden gekommen und selbst sein Homer kann ihn nicht mehr begeistern (S. 110, Z. 10ff.). Alles in ihm drängt nach einer Veränderung in seinem Leben. Die gemeinsam verbrachten Stunden quälen Werther so sehr, dass seine Sinne schwinden und er dem Wahnsinn nahe ist. Die Unmöglichkeit, Lotte nahe zu kommen und sie zu besitzen, lässt in ihm masochistische Gedanken aufkommen. So begibt er sich in die Natur, um sich dort durch seine Spaziergänge auf unbegehbaren Wegen zu verausgaben und sich an Hecken und Dornen zu verletzen (S. 113, Z. 17ff.). „Die einsame Wohnung einer Zelle, [...] und der Stachelgürtel, wären Labsale, nach denen [seine] Seele schmachtet.“ (S. 113, Z. 28ff.). Werther erkennt, dass das Grab die einzige Möglichkeit ist, sein Leiden zu beenden (S. 113, Z. 31).
Bevor Werther jedoch den endgültigen Schritt des Selbstmords wagt, entscheidet er sich zunächst zu der Abreise von Wahlheim, in der Hoffnung, seine Gefühlswallungen wieder zu besänftigen. Die Verabschiedung von Lotte und Albert erfolgt in einer Parkanlage, die aufgrund ihrer hohen Bäume etwas Düsteres und Schauriges vermittelt und an einen Friedhof erinnert (S. 118, Z. 3ff.). Lotte sinniert über den frühen Tod ihrer Mutter und äußert den Wunsch nach einem Wiedersehen im Jenseits. Werther ist dieser Gedanke nicht befremdlich, denn auch er glaubt an ein Leben nach dem Tod und hofft nun, dass ihm sein Liebesglück in der Ewigkeit gewährt wird. So würde er im Jenseits auf Lotte warten mit dem Wissen nicht mehr auf der Erde zu leiden und in der Unterwelt seine Erfüllung zu finden. Dieses Denken zeigt sich auch kurz vor seinem Selbstmord wieder; Werther ist sich sicher, dass er Lotte wiedersehen und mit ihr glücklich werden wird („[I]ch fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bey dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen.“ [S. 259f., Z. 36ff.]).
Neun Monate bleibt Werther Wahlheim fern, doch anstelle einer Genesung seiner Leiden verstärkt sich nur die Sehnsucht nach Lotte und somit der Wunsch nach einer Rückkehr. Während seiner Abwesenheit findet die Hochzeit von Albert und Lotte statt. Werther nimmt diese Nachricht zunächst ruhig auf, doch in den nächsten Briefen erfährt der Leser von seinen Gefühlsausbrüchen, die sich nicht gegen das Paar selbst sondern gegen seine Umgebung, die Mutter und auch Wilhelm richten. Sehr tief verletzt wird Werther bei dem Empfang des Grafen v. C. im März, bei dem er brüskiert und vertrieben wird, da er nicht standesgemäß ist (S. 142ff.). Diese Kränkung führt zu dem Gedanken „sich ein Messer in’s Herz [zu] bohren“ (S. 146, Z. 27) und somit zu erneuten suizidalen Syndromen. Werther wünscht sich, es den Pferden gleich zu tun und sich durch einen Aderbiss die „ewige Freyheit“ (S. 150, Z. 7) zu verschaffen. Erneut wird hier der Begriff der Freiheit aufgegriffen, die sich durch den Selbstmord offenbart[12].
Nach seiner Kündigung aus dem höfischen Dienst und der Wallfahrt in seine Heimatstadt kann Werther den Drang zu Lotte zurückzukehren nicht mehr unterdrücken und er reist in die Nähe von Wahlheim, doch seine Heimkehr ist von Düsternis begleitet. Die Schulmeisterstochter, die Werther zu Beginn seiner Zeit in Wahlheim kennen lernte, hat einen ihrer Söhne verloren und ihr Mann ist an Fieber erkrankt (S. 160, Z. 27ff.) und auch die „herrlichen Nussbäume“ (S. 172, Z. 1) auf dem Hof des Pfarrers wurden abgeholzt (S. 172, Z. 11). Werthers Leiden spiegeln sich somit in den Begebenheiten seiner Umgebung wieder und auch er selber verfällt erneut in eine Depression. „Manchmal will so ein freudiger Blick des Lebens wieder aufdämmern, ach nur für einen Augenblick.“ (S. 162, Z. 3f.). Dieser Moment kommt in Werther auf, als er die Möglichkeit des Todes von Albert erwägt, allerdings merkt er, dass ihn dieser Gedanke nur noch näher an den Abgrund führt (S. 162, Z. 6ff.). Er fühlt sich in die Zeit zurückversetzt, als er Lotte kennen lernte, doch nun kann er seine Erinnerungen nicht mehr genießen, da er in einer Stimmung ist, „wie’s einem Geiste seyn müßte“ (S. 162, Z. 13).
Anstelle des Homers als „Wiegengesang“ (S. 14. Z. 21), der als Lektüre zum einen die Fantasie Werthers anregt, zum anderen beruhigend auf ihn einwirkt, treten die Gesänge Ossians (S. 174, Z. 1). Diese Epen könnten unterschiedlicher nicht sein und wirken sich nachhaltig auf Werthers Psyche aus. So wie Homer für das Lebensfrohe und Freundliche steht, vermittelt Ossian etwas Schauriges und Todgeweihtes. Die Grabesstimmung, die in den Gesängen thematisiert wird, verstärkt Werthers melancholische Grundhaltung und auch seine suizidale Neigung, so dass die Lyrik nicht mehr die Aufgabe der Linderung inne hat, sondern stattdessen ein Ausdruck der Depression ist. Zudem versetzt sich Werther dermaßen in die Lage der Leidenden, dass er selbst zum Akteur wird und „auf der weiten Heide die Fußstapfen seiner Väter sucht und ach! ihre Grabsteine findet“ (S. 174, Z. 31ff.). Zunehmend in Wahn verfallend kann er Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten kann. Diese Perspektiven-verschiebung ist auch kurz vor seinem Selbstmord zu beobachten, als er Lotte aus den Übersetzungen der Ossian Gesänge vorliest (S. 238-252). Das Sterben der jungen Helden und das Wehklagen ihrer Frauen versetzen das Paar in eine tiefe melancholische Stimmung, in der Werther seinen Leidenschaften nicht länger Herr sein kann und Lotte mit stürmischen Küssen bedeckt (S. 252f.). Lotte überkommt eine böse Vorahnung, dass Werther seinem Ende nahe ist, da ihr eine „Ahndung seines schröklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen [schien]“ (S. 252f., Z. 30f.), doch ist sie außerstande in den Handlungsstrang einzugreifen. Die Heldendichtung Ossians ist Werthers Begleiter auf dem Weg zu seinem Selbstmord.
Mit dem Beginn der Lektüre des Ossians im Oktober steigern sich auch Werthers Suizidgedanken in solchem Maß, dass er fast in jedem Brief an Wilhelm seinen Wunsch nach dem Jenseits offenbart. Er spürt das Verlangen sich „die Brust [zu] zerreißen und das Gehirn ein[zu]stoßen“ (S. 178, Z. 27f.) und phantasiert über die Reaktionen der Hinterbliebenen auf seinen Selbstmord (S. 178, Z. 17ff.). Oftmals wünscht sich Werther am nächsten Morgen nicht mehr aus dem Schlaf zu erwachen, doch jeden Tag öffnet er erneut die Augen und ist elend (S. 180, Z. 13ff.). „Das Herz ist jezo todt“ (S. 180, Z. 26), denn die freudigen Empfindungen sind einem schweren Leiden gewichen und auch die Natur ist kein Schauplatz der Heiterkeit mehr, sondern nur noch ein „lakirt Bildgen“ (S. 182, Z. 7), das trübe und gekünstelt wirkt und die Leere in seiner Seele wiederspiegelt. Werther erkennt, dass es keinen Ausweg mehr für ihn gibt und dass er Lotte von nun an willenlos ausgeliefert ist ([I]ch bin dahin! Sie kann mit mir machen was sie will.“ [S. 182, Z. 30f.]). Doch verspürt er auch gar keinen Drang sich dem Einfluss Lottes zu entziehen, stattdessen begibt er sich immer mehr in ihre Abhängigkeit und sinniert über seinen Untergang, den Lotte ihm bereitet.
„Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß sie einen Gift bereitet,
der mich und sie zu Grunde richten wird. Und ich mit voller
Wollust schlurfe den Becher aus, den sie mir zu meinem
Verderben reicht.“ (S. 186, Z. 2ff.)
Kurz vor seinem Selbstmord hat Werther die Begegnung mit einem psychotischen Schreiber, der bei Lottes Vater gearbeitet hat, sich in Lotte unglücklich verliebte und in den Wahnsinn verfiel. Werther ist tief beeindruckt von diesem Menschen, „Elender und auch wie beneid ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du verschmachtest!“ (S. 192, Z. 24ff.), und identifiziert sich mit ihm, so übernimmt er in einem der folgenden Briefe den Ausspruch des Wahnsinnigen „Jetzt ist’s aus mit mir“ (S. 190, Z. 29) als er Wilhelm schreibt „[S]iehst du; mit mir ist’s aus – Ich trag das all nicht länger.“ (S. 196, Z. 11f.). Der Schreiber ist die Personifikation dessen, was Werther in seinem Inneren spürt. Direkt nach seiner Begegnung mit dem Wahnsinnigen wendet sich Werther mit der Bitte an Gott, ihn zu sich holen, um seinen Leiden ein Ende zu setzen, und auch ein Missachten des Wunsches würde ihn nicht mehr davon abhalten, seinen Lebensweg zu beenden („Zürne nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, [...]“ [S. 194, Z. 28]).
Das Zusammentreffen mit dem Schreiber führt bei Werther zur Entwicklung einer Psychose, die besonders im Brief vom 8. Dezember zu Tage tritt. Ein „inneres unbekanntes Toben“ (S. 198, Z. 21) wütet in Werthers Innerem und veranlasst ihn zu einem Spaziergang in der Natur, die jedoch ebenfalls durch ein Unwetter verwüstet wurde und somit als Spiegel von Werthers Seele dient. Die ganze Herrlichkeit, die er so geliebt und verehrt hat, ist durch das Gewitter vernichtet und es zeigt sich ein Bild von Zerstörung und Dunkelheit. Vor dem Abgrund stehend zieht es Werther in die Tiefe (S. 200, Z. 2ff.) und er wünscht sich mit „all [seinen] Qualen all [sein] Leid da hinab zu stürmen, dahin zu brausen wie die Wellen“ (S. 200, Z. 4ff.), doch merkt er, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist und er weiterhin im Diesseits wandeln muss, um sein „hinsterbendes freudloses Daseyn noch einen Augenblick zu verlängern und zu erleichtern“ (S 200, Z. 24f.). Dennoch spürt er stärker denn je den Wunsch, das Leben zu beenden, da er selbst merkt, dass ihm sein Verstand schwindet und er die Realitätsbezogenheit verliert, ohne die er keine Besserung zu erhoffen braucht. („Und mit mir ist’s aus! [...] Mir wärs besser ich gienge.“ [S. 202, Z. 5ff.)])
Der Brief Werthers am 17. Dezember endet zwar mit den Worten „Mir wärs besser ich gienge“ (S. 202, Z. 9), dennoch kann er sich noch nicht endgültig zu dieser Tat entschließen, sondern zögert und versucht sich selbst zu seinem Freitod zu bestärken.
„Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten,
das ist’s all! Und warum das Zaudern und Zagen? –
Weil man nicht weis, wie’s dahinten aussieht? –
und man nicht zurückkehrt?“ (S. 206, Z. 26ff.)
Werther wünscht sich zwar die ewige Freiheit, doch fehlt es ihm noch an der richtigen Überzeugung, diesen Schritt zu tun, da sein Selbstmord nicht als überstürzte Flucht geahndet werden soll (S. 206, Z. 15ff.). Am 20. Dezember verfasst Werther seinen letzten Brief an Wilhelm, der zwischen den Zeilen erkennen lässt, dass die Entscheidung zum Selbstmord gefallen ist, da die Verabschiedung von seinem Freund endgültig ausfällt: „Leb wohl, mein Theuerster. Allen Segen des Himmels über Dich! Leb wohl!“ (S. 222, Z. 28ff.). Mit diesen Zeilen beginnt nun der Anfang von Werthers Ende.
Seinen unbändigen Todeswunsch gibt Werther erstmals in seinem Abschiedsbrief vom 21. Dezember, dem dunkelsten Tag des Jahres, an Lotte offen zu. „Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben.“ (S. 228, Z. 33). Dieses Geständnis bewirkt bei ihm, dass sich seine Unruhe und Verwirrung legt und er gestärkt in seine Zukunft blicken kann, „O wie wohl ist mir’s, daß ich entschlossen bin.“ (S. 234, Z. 6) In seinem Brief erwähnt er auch die Mordgedanken an Albert, die ihn bereits im Sommer desselben Jahres heimsuchten, doch dass er sich nun entschieden hat, selbst das Opfer zu sein (S. 230, Z. 20) und somit Lotte beschuldigt, die Verantwortung für seinen Tod zu tragen. Gleichzeitig betont er aber seinen Glauben an ein Dasein im Jenseits und dass es dort den beiden gestattet sein wird, ihre Liebe auszuleben (S. 258f.), somit liegt der primäre Grund für seinen Tod nicht in der Opferung für Lotte sondern in dem Wahn, sie im Jenseits zu besitzen. Diese Thematik erinnert stark an den Abschied im ersten Buch, bei dem Werther und Lotte ebenfalls über ein Leben nach dem Tod sinnieren (S. 116-124).
Auch Albert wird mit einem Abschiedsgruß bedacht, der eine Entschuldigung Werthers beinhaltet, dass dieser die Liebesbeziehung beeinträchtigt und selbst starke Gefühle für Lotte entwickelt hat. Nach seinem Tode sollen sie nun ein glückliches Dasein fristen (S. 268, Z. 15ff.), was ebenfalls auf die Opferrolle Werthers hinausläuft, da erst der Selbstmord die Möglichkeit für eine intakte Beziehung zwischen Lotte und Albert gewährleistet.
An seinem Todestag, dem 22. Dezember, schickt Werther einen Boten zu Albert und Lotte, um sich Alberts Pistolen für seinen Freitod auszuleihen. Das Wissen, dass diese todbringenden Instrumente durch Lottes Hand überreicht wurden, bestätigt Werther in seinem Entschluss, sein Leben im Diesseits zu beenden. Er sieht es als Wink des Schicksals an, dass gerade die Person, die in ihm soviel Liebe und zugleich auch Leid entfacht hat, sein Streben nach dem Tod unterstützt (S. 266, Z. 29ff.). Lotte hingegen ahnt bei der Übergabe der Pistolen durchaus, welche Konsequenzen dies haben wird, denn „[i]hr Herz weissagte ihr alle Schröknisse“ (S. 266, Z. 11f.), allerdings ist sie nicht imstande in den Geschehnisverlauf noch einzugreifen. Mit einem letzten Gedenken an Lotte, bei dem er ihr nochmals die Verantwortung an seinem Ende überträgt („Ich schaudere nicht den kalten schröklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn, und ich zage nicht.“ [S. 272, Z. 1ff.]) schießt sich Werther um Mitternacht in den Kopf, doch stirbt er erst am folgenden Morgen einen qualvollen Tod.
[...]
[1] Vgl. Gerd Mischler. Von der Freiheit das Leben zu lassen. Kulturgeschichte des Suizids. Wien. Europa Verlag Hamburg 2000. S. 67.
[2] Ursula Baum. Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Weimar. Verlag Herman Böhlaus 2001. S. 18.
[3] Vgl. Gerd Mischler: a.a.O., S. 69.
[4] Ursula Baum: a.a.O., S. 24.
[5] Vgl. ebd., S. 23f.
[6] Vgl. Gerd Mischler: a.a.O., S. 74.
[7] Vgl. Ursula Baumann: a.a.O., S. 133.
[8] Vgl. Gerd Mischler: a.a.O., S. 76f.
[9] Goethe hat die Formulierung „Krankheit zum Tode“ dem Johannes Evangelium, Kapitel 11, Vers 4 entnommen.
[10] Johann Wolfgang Goethe. Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hrsg. v. Matthias Luserke. Stuttgart. Philipp Reclam Junior 1999. S. 6, Z. 2. Im Folgenden direkter Seitenverweis nach dem Zitat.
[11] Vgl. Elisabeth Auer. Selbstmord begehen zu wollen ist wie ein Gedicht zu schreiben. Eine psycho- analytische Studie zu Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“. Stockholm. Almqvist & Wiksell International 1999. S. 174.
[12] Vgl. Zitat „[H]ält er doch immer im Herzen das süsse Gefühl von Freyheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.“ (S. 22, Z. 34ff.).
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2004
- ISBN (PDF)
- 9783956847257
- ISBN (Paperback)
- 9783956842252
- Dateigröße
- 8.2 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Christian-Albrechts-Universität Kiel
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,7
- Schlagworte
- Rezeptionsgeschichte Wertherkult bürgerliche Moralvorstellungen Aufklärungsphilosophie Goethe Die Leiden des jungen Werthers
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing