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Auf der Suche nach einer Identifikationsfigur für die europäische Gemeinschaft: Karl der Große – Vater Europas?

©2005 Magisterarbeit 53 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit gibt einen gerafften Überblick über die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Entwicklungen Europas zur Zeit der karolingischen Herrschaft. Ein besonderes Augenmerk gilt der Vorstellung, die sich die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten von Karl dem Großen gemacht haben. Dabei wird der fränkische Herrscher vor einem literarischen, mythologischen, politischen und religiösen Hintergrund betrachtet. Die Autorin geht der Frage nach, ob wir ein realistisches und historisch belegbares Bild von Karl dem Großen zeichnen oder ob die ihm verliehene Bezeichnung „Vater Europas“ sowohl im 9. als auch im 21. Jahrhundert lediglich von übertriebenem Herrscherlob und einem Wunschdenken zeugt, mit dem man versucht, in dem fränkischen Kaiser eine Identifikationsfigur für Europa zu schaffen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.5 Fazit

Nur auf den ersten Blick scheint „Europa” leicht zu definieren zu sein. Doch der Begriff ist alles andere als eindeutig. Er konnte schon in der Vergangenheit viel bedeuten und kann es jetzt immer noch. Die Spannbreite reichte unter anderem von der geraubten Königstochter über eine politisch, theologisch oder ideologisch motivierte Abgrenzung vom Rest der Welt bis zur zeitweiligen christlichen Abwehrgemeinschaft des Spätmittelalters.

Der Begriff „Europa” hat keine klare und allgemein gültige Definition und stellt sich je nach Perspektive höchst unterschiedlich dar. Deshalb wurde er sowohl von den griechischen Geographen als auch von den Intellektuellen am karolingischen Hof nur selten verwendet. Der Bevölkerung entzog sich Europa ganz.

Andererseits bietet der biegsame Begriff die Möglichkeit, sich das passende Europa selbst zu schaffen und es dem eigenen Konzept so anzupassen, dass die jeweiligen Ziele optimal unterstützt werden. Nicht selten wird Europa von zwei verfeindeten Parteien gleichzeitig propagiert.

Europa entpuppt sich dabei eher als Mythos, nicht als Realität. „Die Wirklichkeit Europas wurzelt im Bewußtsein der Menschen, ein kollektiver imaginärer Entwurf, der sich wandelt, wie sich die Menschen wandeln.”

3. Das Frankenreich vor Karl dem Großen

Im folgenden Abschnitt geht es um Entstehung und Etablierung des Franken-reiches. Zusammenfassend wird die Regierungszeit der Merowinger und der ersten Karolinger dargestellt, um die politische und gesellschaftliche Situation zu präsentieren, die beim Regierungsantritt Karls des Großen bestand. Besondere Berücksichtigung finden dabei die enge Verbindung zwischen Staat und Kurie sowie die kulturellen Gegebenheiten im Frankenreich.

3.1 Die historische Entwicklung vom 4. bis zum 8. Jahrhundert

Im 4. Jahrhundert ließen sich salische Franken nördlich der Schelde-, Maas- und Rheinmündung als römische Föderaten nieder. Wie alle anderen germanischen Stämme, die von den Römern Siedlungsgebiet erhielten und mit der Verteidigung des Reiches betraut wurden, durften sie ihr eigenes Recht behalten und sich im Rahmen ihrer traditionellen Rechtsordnung selbst verwalten.

Während Italien in dieser Zeit in einem politischen Konflikt zerrieben wurde, da das Byzantinische Reich seinen Einfluss auf dieses Gebiet geltend zu machen versuchte , war Nordgallien von Byzanz weit genug entfernt und bereits im 5. Jahrhundert für das Imperium verzichtbar. So konnten in Nordgallien mehrere fränkische Königreiche aufgebaut werden, in denen sich trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der romanischen Bevölkerung die Herrschaftsverhältnisse allmählich änderten. Unter den rivalisierenden Adelsfamilien waren es schließlich die Merowinger, die ab dem 5. Jahrhundert vor allem unter der Führung von Chlodwig ihren Machtbereich stark ausdehnten und die anderen herrschenden Adelsgeschlechter eliminierten.

Mit seiner eindrucksvoll inszenierten Taufe durch den Bischof Remigius von Reims begründete Chlodwig ein historisches Bündnis zwischen der Kirche und der Monarchie. Der Merowinger wurde allerdings nie ein Christ im moralischen Sinne, zeigte weder Nächstenliebe noch Friedfertigkeit. Sein Übertritt zum Christentum war lediglich Teil seiner Politik, um mit der christlichen Kirche einen starken Partner und keinen starken Feind zu haben.

Die Merowingerherrschaft dauerte fast dreihundert Jahre, doch die letzten Herrscher waren schwache Könige, die meist im Kindesalter den Thron bestiegen. An ihrer Stelle übernahmen die Hausmeier, die ursprünglich den König gegenüber dem Adel vertreten sollten, die Regierungsgeschäfte. Pippin der Mittlere, Urgroßvater Karls des Großen, war der Erste von ihnen, dessen Macht über das gesamte Reich nicht angezweifelt wurde, obwohl es noch immer merowingische Könige gab.

Pippins unehelicher Sohn Karl Martell musste sich die einflussreiche Stellung seines Vaters zwar erst hart erkämpfen, genoss dann als Hausmeier jedoch das Prestige eines unbestrittenen Herrschers. Nach dem Tod des Merowingerkönigs Theuderich IV. konnte er sogar auf eine Neuwahl verzichten und den Thron unbesetzt lassen.

Karl Martells Söhne Karlmann und Pippin traten gemeinsam die Nachfolge ihres Vaters als Hausmeier an. Auch sie brauchten keinen König mehr, sondern hatten unbestritten die absolute Herrschaft. Wenige Jahre später verzichtete Karlmann überraschend auf die Herrschaft und zog sich in ein Kloster zurück. Pippin wurde zum alleinigen Hausmeier, bevor ihm mit päpstlicher Unterstützung der Erwerb der Königskrone gelang.

Damit stellte Pippin die von Gott gewollte Weltordnung wieder her, denn nun hatte wieder derjenige, der sich König nannte, die Macht im Frankenreich. Doch ihm fehlte die mit der mythischen Herkunft verknüpfte Geblütsheiligkeit , mit der die merowingische Königssippe ihre Herrschaft begründet hatte. Stattdessen verliehen ihm Weihe und Salbung das nötige Charisma und sorgten für die sakrale Erhöhung seiner Herrschaft.

Anders als einige Jahre zuvor sein Vater Karl Martell war Pippin dazu bereit, auf das Hilfegesuch des Papstes, der sich von den Langobarden bedroht fühlte, zu reagieren. Zweimal zog der neue Frankenkönig erfolgreich nach Italien, um dem Papst in der so genannten Pippinischen Schenkung die von den Langobarden besetzten Gebiete zu übergeben. Doch obwohl Pippin die Möglichkeit dazu hatte, warf er die Langobarden nicht nieder. Stattdessen begnügte er sich mit einer losen Oberhoheit, um das Gleichgewicht zwischen den Langobarden und der Kurie zu erhalten. Ein zu mächtiger Kirchenstaat lag nicht in Pippins Interesse.

3.2 Die Rolle des Christentums und des Papstes

Den Grundstein für die starke Verbindung zwischen fränkischem Königtum und römischem Papsttum legte der Merowinger Chlodwig. Mit seiner Taufe passte er sich der zahlenmäßig weit überlegenen romanisierten und christianisierten Bevölkerung an und stellte in seinem Reich eine Glaubenseinheit her. Durch die Religion konnte eine gemeinsame Identität geschaffen werden, so dass sich eine Gesellschaft entwickelte, in der sich fränkische und römische Sitten und Traditionen miteinander verbanden.

Mit dem Übertritt zum Christentum gewann Chlodwig aber nicht nur den Rückhalt der einfachen Bevölkerung. Vor allem die Unterstützung der römisch-katholischen Kirche war sehr wertvoll für ihn und seine politischen Aufgaben. Der Kirche kam eine große gesellschaftliche Bedeutung zu, denn sie verfügte über Macht, Einfluss und ein gut organisiertes Verwaltungssystem. Seit dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches hatten die Bischöfe die Aufgaben des Staates erfüllt. Sie waren die Einzigen, die lesen und schreiben konnten und im römischen Recht und in römischer Verwaltungstechnik geschult waren. Die Franken waren von der Mitarbeit dieser Geistlichen abhängig, denn für die königliche Zentralgewalt war das Reich zu groß.

Das enge Verhältnis zwischen Staat und Kurie wurde beim Dynastiewechsel im Frankenreich erneut gestärkt. Pippin reformierte die im Verfall begriffene Kirche, so dass sich eine einheitliche fränkische Kirche mit einer starken und hierarchisch gestuften Organisation herausbildete, die der Führung des Königs unterstand. Sie diente gleichermaßen der Grundlage des religiösen Lebens im Frankenreich als auch als Machtinstrument.

3.3 Das kulturelle Leben

Mit dem Eindringen der germanischen Stämme setzte auf dem Gebiet des Weströmischen Reiches ein rascher Niedergang des kulturellen Lebens ein. Zwar übernahmen die Eroberer aus der antiken Kultur, was für sie von praktischem Nutzen war, wie das Wissen aus Recht, Medizin, Architektur und Vermessungs-kunst, doch alles andere geriet in Vergessenheit. Literarische Traditionen blieben nur in einigen Klöstern erhalten.

Es kam zu einem Verfall des Bildungswesens, der Wissenschaften und der Kunst, so dass es am Ende des 7. Jahrhunderts keine gebildete Gesellschaftsschicht mehr gab. Am Königshof existierte noch einige Zeit lang ein Elementarunterricht, doch die meisten Adligen konnten nicht einmal ihren Namen schreiben. Und auch unter den Angehörigen des Klerus gab es viele Analphabeten.

Zwischen 650 und 750 erreichte das kulturelle Leben im Merowingerreich seinen Tiefpunkt. Die Werke der wenigen Chronisten waren von schlechter Qualität. Dennoch kam es zu keiner völligen Kulturlosigkeit.

Karl Martell war noch zu sehr mit den äußeren Gefahren beschäftigt, um sich um die Förderung der Kultur zu kümmern. Bei seinen Nachfolgern stellte sich die Lage des Frankenreiches bereits stabiler dar. Nach einer Zeit der literarischen Armut nahmen Wissenschaft und Kreativität unter Pippin wieder einen größeren Raum ein.

Klöster bildeten die letzten kulturellen Zentren, in denen heilige und profane Literatur gesammelt und gelesen wurde. Die Geistlichen waren als Einzige in der Lage, das sprachliche und kulturelle Erbe zu bewahren, doch auch sie agierten auf einem sehr niedrigen Niveau.

Pippin verband Kultur und Klerus durch Gesetze noch stärker miteinander. Bischöfe, Priester und Mönche mussten sich die Grundlagen der geistlichen Wissenschaft sowie Grammatikkenntnisse aneignen, um die biblischen Texte richtig verstehen, Gebete korrekt sprechen und ihr erworbenes Wissen weitergeben zu können. Für das Seelenheil der Gläubigen war ein gut ausgebildeter Kleriker von großer Bedeutung.

Auch die königliche Kanzlei, die von Geistlichen geführt wurde, profitierte von diesen Maßnahmen. Nach der Reformierung der Orthographie enthielten die Urkunden weniger Fehler.

3.4 Recht und Gesetz

Die Germanen erscheinen nur auf den ersten Blick als ein homogenes Ganzes. Tatsächlich bestanden sie aus mehreren Volksgruppen, die sich lediglich bei Bedarf zu einer zerbrechlichen Einheit zusammenschlossen. Jeder Stamm verfügte über eigene Sitten und eigene Rechtsvorstellungen, die auch dann noch beibe-halten wurden, als das fränkische Reich sich auszudehnen begann und mehrere dieser Völker miteinander vereinte. Auch unter den Karolingern herrschte noch Rechtspluralismus. Jeder wurde nach dem Recht des eigenen Stammes gerichtet, unabhängig davon, wo er sich gerade aufhielt. Für die romanisierte Bevölkerung galt das römische Recht.

Auf dem Gewohnheitsrecht basierten die alten Gesetze. Sie waren von den Vorfahren mündlich überliefert worden und durften weder geändert noch abgeschafft werden. Der germanischen Tradition folgend wurden Entscheidungen mündlich getroffen, doch allmählich setzte sich unter dem Einfluss des römischen Staatswesens das Prinzip der Schriftlichkeit durch.

3.5 Zusammenfassung

Bereits seit Chlodwig stand die Kirche als solche und als Verwaltungsinstrument im Dienst des Gedankens der Reichseinheit. Durch die mit Salbung und Weihe verbundene Königserhebung stärkte Pippin die Verbindung zwischen geistlicher und weltlicher Macht und gab der karolingischen Monarchie eine wichtige Prägung. Unter dem starken Einfluss der Kirche musste der König eine Mission erfüllen, die ihm von Gott anvertraut wurde. Als weltlicher Führer war er ebenfalls für das geistliche Wohl seiner Untertanen sowie für den Schutz von Papst und Kirche verantwortlich.

Die Glaubenseinheit schuf die Grundlage zur Entwicklung einer Gesellschaft mit gemeinsamer Identität. Doch auch unter den Karolingern bestanden noch die traditionellen Unterschiede zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme, zwischen germanischen und römischen Überlieferungen.

Nach einem tiefgreifenden Verfall des kulturellen Lebens setzte unter Pippin eine allmähliche Wiederbelebung ein. Wissenschaft und Kunst standen noch an ihren Anfängen, als seine Söhne die Herrschaft übernahmen. Pippins Reformversuche bildeten die Ansätze, die später fortgeführt wurden.

4. Das Frankenreich unter Karl dem Großen

Mit Karl dem Großen besteigt erst die zweite Generation der Karolinger den fränkischen Königsthron. Dennoch ist die Macht dieses Adelsgeschlechts bereits gefestigt, ihr Herrschaftsanspruch unbestritten.

Karl baut auf der Politik seines Vaters Pippin auf und führt fort, was er begonnen hatte, so dass unter ihm die Karolinger den Höhepunkt ihrer Macht erreichen. Doch es sind nicht allein seine militärischen Erfolge, sondern auch das Errichten des fränkischen Kaiserreiches und die von Karl angeregten Reformen, die ihm einen so bedeutenden Platz in der Geschichtsbetrachtung einbringen. Das Charakteristische seiner Herrschaft sowie die wichtigsten Errungenschaften politischer und kultureller Art sollen nun im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen.

4.1 Militärische Eroberungen

4.1.1 Das Reich der Langobarden

Nach dem Tod Pippins wird das Reich zwischen seinen Söhnen Karl und Karlmann geteilt. Beide werden zu gleichberechtigten Königen erhoben, die gemeinsam regieren sollen. Doch schnell zeigt sich, dass sich die Geschwister nicht einig sind. Einen Aufstand in Aquitanien muss Karl allein niederschlagen, nachdem sein jüngerer Bruder vorzeitig umgekehrt war.

Der Langobardenkönig Desiderius nutzt diese unsichere Lage im Frankenreich, um seine Macht auszudehnen. Er hält die Gebiete um Rom, auf die der Papst Anspruch erhebt, besetzt und erlangt außerdem durch Hochzeiten seiner Töchter Zugriff auf Benevent und Bayern.

Um den Einfluss des Langobarden zu beschränken, strebt Karls Mutter Bertrada ein franko-langobardisches Bündnis an, das durch eine Hochzeit zwischen Karl und einer Desideriustochter abgesichert werden soll. Trotz der heftigen Proteste des Papstes findet die Hochzeit statt.

Doch das neue Bündnis zwischen Franken und Langobarden bringt nicht den erhofften Erfolg. Karl entschließt sich, zur Politik seines Vaters zurückzukehren und das Bündnis mit den Langobarden aufzulösen. Als er seine langobardische Gemahlin verstößt, wenden sich Bertrada und Karlmann endgültig von ihm ab.

Es besteht sogar die Gefahr eines Bruderkrieges, doch bevor die Situation eskaliert, stirbt Karlmann überraschend. Karl reagiert sofort und lässt sich schnell zum König des gesamten Frankenreiches wählen.

Karlmanns Witwe flieht mit ihren Söhnen zu Desiderius. Sie hofft auf Unterstützung durch Papst Hadrian, der Karlmanns Söhne salben und zu Königen des Frankenreiches erheben könnte. Doch Hadrian, der von den Langobarden bedrängt wird und keine Chance sieht, die besetzten Gebiete von ihnen zurückzuerhalten, wendet sich an den Frankenkönig, der gleichzeitig der Schutzherr der römischen Kirche ist.

Karl der Große versucht zunächst, das Problem auf diplomatischem Wege zu lösen. Da er damit jedoch keinen Erfolg hat, muss er schließlich nach Italien ziehen. Aber die Stimmung bei den Franken ist nicht einheitlich: Karl ist ein schwacher König.

Doch Karl erringt klare und schnelle Siege. Er setzt sich selbst an die Spitze des Langobardenreiches, das er dem Namen nach bestehen lässt. Sein neuer Titel Rex Francorum et Langobardorum baut die Illusion einer gewissen Eigenständigkeit auf. Auch Jahrzehnte später verfügt dieses Gebiet noch über ein starkes ethnisches Eigenbewusstsein und bewahrt sich noch lange die Erinnerung an seine Unabhängigkeit.

Tatsächlich setzt der Karolinger zwar zahlreiche Franken zur Verwaltung ein, doch die langobardischen Adeligen dürfen ihre alte Stellung behalten. Karl baut gleichermaßen auf Loyalität und Kontinuität.

Durch diese Personalunion werden fränkische und langobardische Interessen in Einklang gebracht. Ein politisches Gegengewicht zu den Langobarden, wie es in einem möglichst starken und selbstständigen Kirchenstaat bestanden hatte, ist nun nicht mehr erwünscht. Die territorialen Ansprüche des Papstes werden daher verweigert. Pippins Zusagen werden zwar bestätigt, aber auch neu ausgelegt. Sie beschränken sich nun lediglich auf das Recht, den Schutz des fränkischen Königs bei Gefahr in Anspruch nehmen zu dürfen.

4.1.2 Sachsen

Bereits zu Beginn der Regierungszeit Karls des Großen fallen die Sachsen immer wieder in das fränkische Reichsgebiet ein. Nach der Übernahme der Gesamtherrschaft bricht Karl zu einer Strafexpedition auf, bei der unter anderem das sächsische Heiligtum Irminsul zerstört wird.

Auf diesen Frevel reagieren die Sachsen mit Racheakten. Bei Abwesenheit Karls des Großen dringen sie immer wieder weit in das Frankenreich ein, ziehen sich aber rechtzeitig in die dichten Wälder zurück, wenn sich das fränkische Heer nähert.

Mit kriegerischen Mitteln sind die Sachsen nicht zu bezwingen. Karl der Große versucht daher, zunächst die sächsischen Adeligen auf seine Seite zu bringen. Unter der Bedingung, die fränkische Oberhoheit anzuerkennen und sich taufen zu lassen, wird den Adeligen Recht und Besitz garantiert. So kommt es zu Massentaufen, die bei den Franken den Eindruck erwecken, die Sachsen seien bereits unterworfen.

Doch für die neuen Untertanen ist die Taufe eine reine Formsache. Ein theologischer Wandel findet nicht statt. Ohne Glaube und Überzeugung wird das Christentum Staatsreligion. Ein Reichsgesetz stellt jeden Rückfall ins Heidentum unter Todesstrafe. Alle Vorschriften, auch unbekannte oder unverstandene, müssen eingehalten werden. Aber die Kirche gewährt Asyl und wird damit zur lebensrettenden Zufluchtsstätte. Der Bau von Kirchen liegt somit im Interesse der Bevölkerung.

Hauptsächlich angeführt durch den Westfalenherzog Widukind geht der sächsische Widerstand währenddessen weiter. Immer wieder kommt es zu Aufständen, auf die die Franken meist mit Massendeportationen reagieren. Mit dem so genannten Blutbad in Verden erreichen die Auseinandersetzungen zwischen Franken und Sachsen ihren Höhepunkt: Nach einem offenen Widerstand werden angeblich 4.500 Sachsen wegen Treubruch enthauptet.

Unter dem Einfluss seines Beraters Alkuin zeigt Karl der Große in der letzten Phase der Sachsenkriege ein nachsichtigeres Verhalten. Sachsen und Franken werden gleichberechtigt, so dass sich laut Karlsbiograph Einhard beide Völker zu einem vereinen.

4.1.3 Die iberische Halbinsel

Auf dem Reichstag in Paderborn im Jahre 777, als die Franken glauben, bereits über die widerspenstigen Sachsen triumphiert zu haben, erscheinen Gesandte aus Spanien. Mit ihren verzerrenden Darstellungen über die Situation auf der iberischen Halbinsel versuchen sie, die Franken für den Kampf gegen die Sarazenen zu gewinnen.

In der Hoffnung, das unruhige Südgallien zu beruhigen, wertvolles Siedlungsgebiet zu gewinnen und unterdrückte Christen zu befreien, lässt sich Karl auf den Feldzug nach Spanien ein. Doch da die versprochene Unterstützung fehlt und sich auch die christlichen Basken gegen Karl stellen, endet das Unternehmen im Chaos. Das Prestige der fränkischen Krone erleidet einen herben Rückschlag.

Auf ihrem Rückzug wird die fränkische Nachhut von Basken vernichtet. Dieser Überfall bei Roncesvalles bildet den Stoff für viele, international bekannte Sagen und Legenden, insbesondere über den Grafen Roland von der bretonischen Mark.

In den folgenden Jahren baut Karl der Große Aquitanien als Pufferstaat aus und setzt seinen Sohn Ludwig an die Spitze. Von dort aus können sich die Franken langsam nach Spanien schieben und 801/03 die Spanische Mark errichten.

4.2 Der Erwerb der Kaiserkrone

Im April 799 wird Papst Leo III. – möglicherweise wegen seines Lebenswandels – überfallen und eingesperrt. Er kann fliehen und reist ins Frankenreich, um Karls Hilfe zu erbitten. Die juristische Oberhoheit liegt zwar noch immer beim oströmischen Kaiser, doch der Frankenkönig genießt die größere Autorität und die höhere Würde.

Aber Karl trägt nur den Titel eines Patrizius Romanorum. Als solcher ist er nicht befugt, die Feinde des Papstes wegen eines Majestätsverbrechens zu verurteilen. Dies wäre jedoch nötig, damit Leo III. in Zukunft vor seinen Widersachern sicher ist und sich behaupten kann.

Karl lässt den Papst zunächst ehrenvoll nach Rom zurückführen und reist im November 800 selbst nach Italien, um die Affäre zu beenden. Unter seinem Vorsitz findet in der Peterskirche eine Versammlung von Laien sowie Angehörigen des römischen und fränkischen Klerus statt. Da niemand außer Gott über den Papst richten kann, wird jedoch kein Prozess eröffnet. Zur Bekräftigung seiner Unschuld legt Leo III. einen Reinigungseid ab. Diese besondere Form eines Gottesurteils war nur wenigen, besonders hoch gestellten Persönlichkeiten vorbehalten.

Der Papst ist damit als unschuldig anzusehen, was ihn in die Lage versetzt, Karl den Großen zwei Tage später zum Kaiser zu krönen. Damit wird die von Gott gewollte Ordnung der Welt wiederhergestellt, denn Karl der Große hatte schon längst eine kaisergleiche Stellung inne.

Karl der Große befindet sich nun in der Position, den Prozess gegen die Ankläger des Papstes zu führen. Sie werden zum Tode verurteilt, dann aber nach Fürbitte des Papstes begnadigt und in ein Kloster gebracht.

Zur vollen Legitimität bedarf das neue Kaisertum der Anerkennung durch das ältere. Der byzantinische Kaiser Nikephoros ist jedoch nicht dazu bereit, so dass die Verhandlungen zunächst erfolglos abgebrochen werden. Erst sein Nachfolger Michael I. erkennt Karl den Großen im Jahre 812 offiziell als Kaiser an. Der Byzantiner gewinnt dadurch ein Freundschaftsbündnis, das hilft, seinen inneren Schwierigkeiten Herr zu werden.

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2005
ISBN (PDF)
9783956847394
ISBN (Paperback)
9783956842399
Dateigröße
6.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Chemnitz
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Frankenreich Karolingische Renaissance Herrscher Mythos Europa

Autor

Jana Lippmann wurde 1980 in Sachsen geboren. In Chemnitz studierte sie Romanistik und BWL und schloss mit dem akademischen Grad der Magistra Artium ab. Im Rahmen ihres ersten Hauptfachs interessierte sie sich bereits während des Grundstudiums vor allem für die kulturellen und historischen Hintergründe Frankreichs und Europas. Die Beschäftigung mit Karl dem Großen motivierte sie, der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Titels „Vater Europas“ nachzugehen.
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