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Der zweifelhafte Ruf des Don Juan: Variationen einer Dramenfigur bei Ödön von Horváth und Max Frisch

©2013 Bachelorarbeit 38 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit vergleicht die Dramen ‘Don Juan kommt aus dem Krieg’ von Ödön von Horváth und ‘Don Juan oder die Liebe zur Geometrie’ von Max Frisch als Variationen der literarischen Figur, wie sie die europäische Literatur seit Tirso de Molina kennt. Sie möchte die These belegen, dass beide Dramen in ihren Variationen des literarischen Stoffes die Erwartungen, die der Name Don Juan hervorruft, nicht erfüllen. Horváth und Frisch spiegeln in Don Juan ihre eigene Zeit, sie gestalten die eigenen Themen und Gegenwartserfahrungen literarisch. Im Vordergrund der Arbeit steht ein inhaltlicher Motivvergleich, der die Entwicklung Don Juans, sein Verhältnis zu den Frauen und zur Liebe sowie sein Verhältnis zur Religion behandelt. Er richtet sich auf die Verfremdungen, die beide Dramen prägen, und schließt mit einer kurzen Einordnung in das Werk der Autoren, durch die sie in den Kontext ihrer wesentlichen Themen gestellt werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Vergleich der Don Juan-Dramen von Horváth und Frisch

3.1 Don Juans Entwicklung

Der Vergleich der Entwicklung Don Juans bei Horváth und Frisch gibt einen ersten Einblick, wie weit die Autoren sich von der Tradition unterscheiden und wie sie deren Motive einsetzen. Im Folgenden werden wesentliche Entwicklungsschritte hervorgehoben und die Figuren in ihrer individuellen Form der Suche nach einem Ideal charakterisiert.

Schon Don Juans erstes Auftreten bei Horváth enttäuscht die Erwartungen, einen vitalen Frauenhelden agieren zu sehen. Aus dem ersten Weltkrieg zurückkommend,[1] trägt er als ausgemusterter Soldat eine verdreckte Uniform und hat als glanzloser Mann nichts Verführerisches an sich. Seine ersten Worte, an eine Soubrette gerichtet, lauten: „Ich suche Sie. Wir kennen uns.“ (S. 17) Damit sind bereits zu Beginn zwei Motive genannt, die das Stück prägen: Don Juan befindet sich auf der Suche nach seiner Braut, die er vor dem Krieg verlassen hat, und glaubt sie zunächst in der Soubrette, später in anderen Frauen wiederzuerkennen. Er ist in der Absicht zurückgekehrt, treu zu werden und auf Affären zu verzichten. In einem Brief, den er seiner Braut schickt, betont er, dass er nur ihr gehören wird. Doch eilt ihm sein Ruf voraus: Die ehemalige Vermieterin seiner Braut, bei der er die Suche beginnt, charakterisiert ihn als „stadtbekannte Persönlichkeit mit lauter erotischen Skandalaffären“ (S. 19). Sie beschreibt Don Juan konform der Zuschauererwartung, doch stimmt sein Ruf zunächst nicht mit seinem Verhalten überein. Nicht einmal mit einer Prostituierten lässt er sich ein, sondern möchte nur einen Schlafplatz von ihr (vgl. S. 23). Am Schluss des ersten Aktes liegt Don Juan im Krankenhaus und phantasiert todkrank von einem Gespräch mit seiner Braut, in dem er sein früheres Leben scheinbar bereut. Die Krankenschwester muss sich seine Sünden anhören und gewinnt den Eindruck, er brüste sich mit ihnen. Die Wendung zur Reue wirkt auf den Zuschauer[2] daher zweifelhaft.

So kurz der erste Akt ist, so kurz hält der beabsichtigte Gesinnungswandel an. Don Juan hat in den ersten sieben Szenen tatsächlich keine Affären mit Frauen, kaum ist er aber von der Grippe genesen, äußert er die Absicht, dass dies nicht so bleiben werde, wenn seine Braut ihm nicht schreibe (vgl. S. 29 und 33). Don Juan meint zwar, durch den Krieg ein anderer geworden zu sein, doch glaubt man ihm nicht. Die Großmutter kichert beim Lesen seines Briefes grimmig, in dem er versichert, eine schwere Kriegsverletzung habe ihn gelehrt, dass man nur einer gehöre (vgl. S. 27). Die Witwe, eine ehemalige Geliebte, belächelt seinen angeblichen Gesinnungswandel höhnisch (vgl. S. 31) und eine Kellnerin hält ihn für einen Verführer (vgl. S. 34), obwohl es eine Kunstgewerblerin ist, die ihn zum Tanzen auffordert. Daraus wird eher zufällig eine Affäre (II.1), es bestätigt sich aber die Prophezeiung der Witwe, dass Don Juan den Frauen „nicht entrinnen“ (S. 31) kann. Davon, fast verheiratet zu sein (vgl. S. 24), ist keine Rede mehr, und die Suche nach seiner Braut tritt in den Hintergrund. Stattdessen mietet er ein Zimmer bei einer Professorenwitwe, deren Tochter er sofort anstarrt. Don Juan behauptet, er sei im Krieg ein besserer Mensch geworden und finde sich erst im Frieden wieder (vgl. S. 37-39).[3] Er fällt in seine alten Gewohnheiten zurück: In der folgenden Szene warten vier Geliebte auf ihn, während er mit einer fünften Dame in der Oper sitzt. Vor seiner Vermieterin gibt er am Ende des zweiten Aktes zu „Ich find es halt nicht, mein Ideal“ (S. 50). Es ist das erste und einzige Mal, dass er selbst von „Ideal“ spricht. Jetzt, da das Wort ausgesprochen ist, verliert es seine Wertigkeit. Parallel zum moralischen ‚Abstieg‘ vollzieht sich sein gesellschaftlicher Aufstieg zum Kunsthändler und Geschäftsmann, den er der Kunstgewerblerin verdankt. Mit dem materiellen Erfolg verblassen die Vorsätze, die von Anfang an fragwürdig waren.

Der dritte Akt relativiert Don Juans Rolle als Verführer wieder. Erst misslingt es ihm, eine Dame nach einem Maskenball auf sein Zimmer zu locken,[4] wobei er beteuert, keiner anderen zu gehören (vgl. S. 57).[5] Später wird er der Vergewaltigung der minderjährigen Tochter seiner Vermieterin bezichtigt. Er hat ein reines Gewissen und geht selbst zur Polizei, wird aber zum Opfer seines Rufs: Man glaubt ihm seine Unschuld nicht und er muss fliehen. Diese Flucht wird zur Fortsetzung der Suche nach seiner Braut. Die anfängliche Reue aber ist verflogen. Als er die Großmutter trifft, will er seiner Braut sagen, „daß man ein Verantwortungsgefühl haben muß für einen, der sich bessern möcht--“. Er will sich nicht mehr ändern: „Alles wär anders geworden, hätte sie geantwortet!“ (S. 69). Von der Großmutter erfährt er, dass seine Braut schon lange tot ist. Sie wurde wahnsinnig, weil Don Juan sie verließ, und starb am Trennungsschmerz. Die Großmutter lässt ihn von ihrer Magd zum Friedhof führen. An Annas Grab spricht Don Juan mit seiner toten Braut und glaubt, sie wolle ihn nicht wieder gehen lassen, weil sich sein Mantel am Grabgitter verfängt (vgl. S. 71). Don Juan ergibt sich seiner Todessehnsucht[6] und stirbt im immer stärker werdenden Schneefall.[7]

Don Juans Entwicklung hat etwas Paradoxes: Seine Liebe zu seiner toten Braut wird zur Liebe zum Tod. Trotz der Erfahrungen im Krieg, die nicht näher beschrieben werden, ändert er sich nicht: Don Juan „bildet sich ein, ein anderer Mensch geworden zu sein. Jedoch er bleibt, wer er ist.“ (S. 11)[8] Die Rückkehr zu Treue gelingt nicht, er entwickelt sich zurück: Aus dem Geschäftsmann des zweiten Aktes wird im dritten wieder der gehetzte Mann des ersten Aktes, der sich verfolgt glaubt (vgl. S. 18 und 64 ff.).[9]

Auch Don Juans erstes Auftreten bei Frisch enttäuscht die Erwartungen: Don Juan hat sich hinter einer Säule des Schlosses, das im ersten Akt Schauplatz der Komödie ist, versteckt und muss sich anhören, dass sein Vater Tenorio darüber klagt, sein zwanzigjähriger Sohn habe noch nie ein Verhältnis mit einer Frau gehabt, interessiere sich nicht für Frauen, liebe nur die Geometrie und spiele im Bordell Schach (vgl. S. 8). Tenorio und Don Gonzalo, der Komtur von Sevilla, warten auf Don Juan, der dessen Tochter Donna Anna heiraten soll. Vor dieser Hochzeit flieht er jedoch. Zuvor hat der Zuschauer aus einem Gespräch zwischen ihm und seinem Freund Don Roderigo erfahren, dass Don Juan liebt, aber unsicher ist, wen, und dass er nicht versteht, warum die Liebe einer einzelnen Person gelten soll (vgl. S. 16/17).[10] Die Liebe zur Geometrie ist nicht mehr seine einzige Leidenschaft. Dennoch kehrt er am nächsten Tag zurück, verweigert aber am Traualtar das Jawort. Er begründet seinen Entschluss mit einem nächtlichen Erlebnis: Im Park des Schlosses traf er ein Mädchen, in das er sich verliebt hat und mit dem er fliehen wollte. Obwohl das nächtliche Mädchen und Donna Anna dieselbe Person sind, das Unvorhergesehene und das Geplante also übereinstimmen, sieht Don Juan dies nicht als positives Vorzeichen an. Es erscheint ihm willkürlich, wen die Liebe trifft; an sich selbst hat er erfahren, wie unberechenbar sie ist, und dass sie nicht davon abhängt, dass man sich kennt. Als Don Juan die Heirat verweigert, beschuldigt ihn Don Gonzalo, ein Verführer zu sein, und will die Ehre seiner Tochter rächen. Seine eigene Frau, Donna Elvira, rettet Don Juan und versteckt ihn in ihrer Kammer, wo sie ihn verführt. Damit beginnt Don Juans Entwicklung als Frauenheld, er ist zunächst der „verführte Verführer“.[11]

Die beiden ersten Akte stellen einen Don Juan auf die Bühne, der „zu problembewußt, zu gründlich über die Liebe nachgedacht hat“[12], vor allem darüber, wie zufällig und unzuverlässig dieses Gefühl ist:

„Nachdem ich weiß, was alles möglich ist – auch für sie, meine Braut, die mich erwartet hat, mich und keinen andern, selig mit dem ersten besten, der zufällig ich selber war …“ (S. 36)

Im dritten Akt hat Don Juan diese skeptische intellektuelle Haltung verloren.[13] Seine geistigen Interessen unterliegen der Sinnlichkeit. In seiner ‚Hochzeitsnacht‘ war er außer mit Donna Elvira, noch mit einer Unbekannten sowie mit Donna Inez, der Braut von Roderigo, zusammen. Dieser kommt und bittet ihn, sich um Donna Anna zu kümmern, die Selbstmordabsichten hegt. Don Juan verweigert die Anteilnahme und behauptet, sie werde sich mit einem anderen trösten (vgl. S. 50). Als die Hure Miranda auftritt, die sich als Donna Anna verkleidet hat, um sich seine Liebe zu erschleichen, glaubt er, seine Braut vor sich zu haben. Ihr, als der vermeintlichen Donna Anna, erzählt er von den drei Affären in einer Nacht, wobei er die mit Donna Inez als besonders köstlich darstellt, es war der Reiz des Verbotenen. Kurz zuvor hat er Don Roderigo gegenüber von seiner Liebe zur Geometrie geschwärmt. Ihre reine Welt der Genauigkeit bringe „Unvorstellbares, das eine Irritation verursachen könnte, in umgrenzte Klarheit“.[14] Die Beständigkeit, die er in der Geometrie sucht, fehlt ihm selbst: Er ist nicht nur den Frauen untreu, sondern auch seinen eigenen Empfindungen und Aussagen: Er behauptet, die Gefühle, die er für Anna hegte, nicht wiederfinden zu können und, sollte sie vor ihm stehen, nichts zu empfinden (vgl. S. 48). Doch das Gegenteil tritt ein: Als Miranda erscheint – gerade, als er meint, „ausgeliebt“ (S. 51) zu haben –, will er sie auf einmal heiraten. Das widerspricht auch seiner Behauptung: „Es gibt keine Wiederkehr“ (S. 48)“.[15] Er hat Angst, auf eine Rolle festgelegt zu werden, ein wesentliches Motiv im Drama.[16] Als Don Juan mit Miranda fliehen will, um sie zu heiraten, da er sie für Anna hält, erfährt er von Pater Diego, dass die ‚richtige‘ Anna sich aus Liebeskummer ertränkt hat. Am Ende des dritten Aktes ist er also in große Schuld verstrickt. Nicht nur Donna Anna ist sein Opfer, er ersticht eher unabsichtlich Don Gonzalo und verantwortet den Selbstmord Don Roderigos. Frisch folgt seinem Konzept: „Ein Don Juan, der nicht tötet, ist nicht denkbar, nicht einmal innerhalb einer Komödie […]“ (S. 99).

Zwischen dem dritten und vierten Akt liegen zwölf Jahre. Don Juan lebte als Frauenheld und ist dabei, ein „Mythos“ (S. 66) zu werden. Es hat ihm Spaß gemacht, die Frauen zu verführen (vgl. S. 68), dieser Spaß ist aber der Langeweile gewichen. Dennoch ist er jetzt auf die Rolle des Verführers festgelegt, nur ein von ihm selbst inszenierter Tod kann ihn aus dieser Rolle retten. Don Juan will vortäuschen, dass die Hölle ihn verschlucken wird, und sich im Kloster der Geometrie widmen. Die Täuschung der Öffentlichkeit gelingt, jedoch nicht mit der Hilfe der Kirche, sondern mit der Mirandas: Don Juan rettet sich auf ihr Schloss, ein „Gefängnis in paradiesischen Gärten“ (S. 88), und heiratet sie. Aus dem Verführer, der er nicht sein wollte, wird ein Ehemann, der er noch weniger sein wollte: „[…]eher fahre ich in die Hölle als in die Ehe“ (S. 64). Der Alltag einer langweiligen Ehe holt ihn ein, er ärgert sich darüber, dass Miranda nie pünktlich zum Essen kommt. Dass er Vater wird, macht ihn endgültig zur Komödienfigur. Seine Verbürgerlichung gipfelt in dem Schlusswort „Mahlzeit“ (S. 92).

Zusammenfassend sei festgehalten: Die Entwicklung Don Juans vollzieht sich in folgenden Schritten: Aus dem Liebhaber der Geometrie wird der die Liebe problematisierende Intellektuelle, der durch eine Liebesnacht mit drei Frauen zum Mann reift (vgl. S. 48) und zwölf Jahre lang das typische ‚Don Juan-Leben‘ führt. Dieser Lebensabschnitt wird auf der Bühne nicht dargestellt, da es Frisch um das Thema geht, wie stark soziale Erwartungen einen Menschen festlegen. Der erzwungene Rückzug in eine bürgerliche Ehe beendet die erotischen Eskapaden und gleichzeitig das Leiden an einer in Klischees erstarrten Identität, allerdings um den Preis, in einer neuen Rolle gefangen zu sein.[17]

Die Variationen der beiden Autoren unterscheiden sich deutlich. Horváths Drama zeigt eine ‚missglückte‘ Verhaltensänderung, Don Juan findet sein Ideal nicht und keine treue Liebesbeziehung. Seine Affären sind wahllos und zufällig, sie ordnen sich nicht in dem Sinne, dass bestimmte Frauen bevorzugt werden; mit steigendem finanziellen Erfolg wird eine Neigung zu reicheren und jüngeren Frauen sichtbar (vgl. S. 41). Es gilt, wie bereits zitiert, dass er bleibt, wer er ist. (S. 11) Frischs Protagonist hingegen wandelt sich mehrfach: vom erotisch desinteressierten ‚Geometrieliebhaber‘ zum Herzen brechenden ‚Frauenhelden‘, der auf die Don Juan-Rolle festgelegt wird, bis er als Ehemann und Vater endet. Auch der Schluss der beiden Dramen kontrastiert: Horváths Don Juan stirbt, Frischs kapituliert. Man könnte vom physischen und sozialen Ende reden. Frisch erwähnt in „Nachträgliches“ zwei mögliche Schlüsse: Don Juan hat nur die Wahl zwischen „Tod oder Kapitulation, Tragödie oder Komödie.“ (S. 97) Horváth, der diese Formel natürlich nicht kannte, hat die Tragödie gewählt. Die wesentliche Ähnlichkeit liegt darin, dass beide Protagonisten ein Ideal suchen: Horváths Don Juan sucht die Vollkommenheit der idealen Liebe, Frischs Don Juan die Vollkommenheit des Geistes in der Geometrie.[18] Ihre Entwicklungen unterscheiden sie vom statischen Don Juan-Bild bei Molina und Mozart.[19]

3.2 Don Juans Verhältnis zu den Frauen und zur Liebe

„Im populären Verständnis gilt Don Juan als der männliche Mann mit ausgeprägtem Sexualtrieb, als Frauenheld, Schürzenjäger und Verführer, […] dem Treue ein Fremdwort ist.“[20] Ein solches Verhalten setzt ein bestimmtes Frauenbild und Meinungen über die Beziehung zwischen Mann und Frau voraus. Zu erwarten ist etwa, dass der Mann die Frau erobern möchte und es sein Selbstbewusstsein stärkt, wenn er die widerstrebende Frau verführt. Inwieweit dieses ‚Modell‘ bei Horváth und Frisch übernommen bzw. variiert wird, wird im Folgenden untersucht.

Horváths Don Juan ist die einzige männliche Figur im Stück, eine weibliche Hauptperson fehlt. Die Frauen haben im Personenverzeichnis keine Namen und sind ‚Durchgangsstationen‘ auf der Suche nach der ehemaligen Braut. Obwohl sie das Ziel seines Weges ist, erfährt man nichts Konkretes über sie. Don Juan spricht nur von seiner Hoffnung, sie sei ihm während des Krieges treu geblieben und warte auf ihn (vgl. S. 25). Er braucht diesen Glauben für seine Absicht, ein besserer Mensch zu werden. Zu einer so beständigen Liebe, die eine Trennung verzeiht, passt es, dass die Braut, die ebenfalls keinen Namen hat, „reine Seele“ oder „direkter Engel“ (S. 19) genannt wird, allerdings nicht von Don Juan selbst.[21] Auf der Suche nach ihr trifft er Frauen, die ihn an sie erinnern, meistens durch ihr Lächeln, dennoch verblasst ihr Bild: Anfangs behauptete er, die Soubrette zu „kennen“ (S. 17), die Kunstgewerblerin erinnert ihn an „jemand(en), der nicht geantwortet hat“ (S. 34) und die jüngere Tochter seiner Vermieterin schließlich an „Eine, die niemand kennt“ (S. 40). Er ist sich bewusst, die Ähnlichkeit in die Kunstgewerblerin „hineingedichtet“ (S. 50) zu haben, er sucht sich seine Liebe, wie eine Gouvernante kommentiert, „stückerlweise“ (S. 43) zusammen. Erst als Don Juan am Grab seiner toten Braut steht, sagt er, „Jetzt weiß ichs ja wieder, wie du aussiehst (…).“ (S. 71) Der Zuschauer erfährt aber nicht wie. Von der Frau, auf die Don Juan sein Leben ausrichten will, lässt sich auf sein Frauenbild nur schließen, dass ihm die Treue ein entscheidendes Merkmal ist, realistische Attribute fehlen.

So wenig Don Juan über seine Braut sagt, so wenig sagt er über Frauen allgemein. Aussagekräftig ist sein Verhalten: Er weiß um seine Anziehungskraft auf sie und nutzt sie für Eroberungen. Von einem positiven Frauenbild kann dabei keine Rede sein. Die Emanzipation, die sich in der Nachkriegszeit vollzieht,[22] kommentiert er nicht. Mit Hilfe der Kunstgewerblerin ist er sozial aufgestiegen, weshalb die Filmschauspielerin im zweiten Akt bemerkt: „Alles, was er erreicht, erreicht er durch uns arme Weiber.“ (S. 45) Don Juan will aber keine Abhängigkeit von Frauen, er will sie benutzen, nicht benutzt werden. Als die vornehme Dame aus Bern ihm Geld, das sie ihm für ein gefälschtes Gemälde bezahlt hat, schenken und ihn sozusagen fast ‚kaufen‘ will, empört er sich: „Mich wirst du nicht erniedrigen--“ (S. 47). Eine Gleichwertigkeit der Rolle von Mann und Frau gibt es für ihn nicht, er verharrt in Geschlechterklischees. Seine Zimmerwirtin fährt er an, sie sei eine brave Beamtenwitwe, die meine, wenn sie sich einem Mann hingebe, stürze ein Stern vom Himmel (vgl. S. 50). Frauen, die ihm nicht gefallen, sieht er nicht als Menschen an (vgl. S. 51 und 59).[23] Von einer Dicken will er nicht angesehen werden (vgl. S. 47), die ältere Tochter seiner Vermieterin bezeichnet er als „häßliches Mädchen“ (S. 60). Horváths Don Juan schwärmt nie von der Liebe, noch macht er Frauen Komplimente. Er reduziert sie auf ihr Äußeres und verachtet die, die ihn erotisch nicht reizen, erst recht die, die ihm zu Willen sind (vgl. S. 50).

Die negative Einstellung Don Juans erklärt sich u.a. aus dem negativen Männerbild der Frauen. Durch den Krieg gewohnt, allein auszukommen, wollen sie nicht mehr unterdrückt werden.[24] „Schluß mit der Vorherrschaft des Mannes--“ (S. 21) fordert ein Plakat. Mit dem Krieg, der einmal sogar auf die veralteten Rollenmuster zurückgeführt wird (vgl. S. 39), sollen sie ausgedient haben. Es ist kein Zufall, dass in Don Juans Gegenwart oft abfällige Bemerkung über Männer gemacht werden. Hass und Verachtung gelten entweder den Männern im Allgemeinen („Man sollte euch wegwerfen“, S. 26) oder ihm persönlich: Eine Witwe, die er betrogen hat, wünscht sich, er wäre an Stelle ihres Mannes der Grippe zum Opfer gefallen (vgl. S. 30), die erste Kunstgewerblerin sticht seiner Photographie die Augen aus (vgl. S. 53).

Dennoch zieht Don Juan die Frauen an. Horváth legt Wert darauf, dass der Grund dafür „nicht allein die männliche Sexualität“ ist, sondern die „besonders innige und ausschließlich ausgeprägte metaphysische Bindung dieser Sexualität, deren Wirkung sich die Frauen nicht entziehen können.“ (S. 12) Dieses Zitat, welches die Rezeption des Stücks geprägt hat, erläutert Horváth, indem er sie als eine Suche nach Vollkommenheit konkretisiert. Diese Vollkommenheit ist auf der Erde nicht zu erreichen, die Suche daher zum Scheitern verurteilt und für die Frauen, denen Don Juan begegnet, unbegreiflich, da „sie einen irdischen Horizont haben“ (S. 12). Im Stück selbst zielen die Äußerungen der Frauen aber v.a. auf männliche Attraktivität: Eine Frau in der Warteschlange vor dem Lebensmittelgeschäft kann sich ihn als Liebhaber vorstellen (vgl. S.19), die zwei losen Mädchen sagen beide, dass er ihnen gefällt (vgl. S. 21 und 23) und die Kunstgewerblerin, die ihn das erste Mal im Großstadtcafé sieht und nichts von seiner Suche nach seiner Braut weiß, sagt als erstes: „Dort steht ein Mann, der könnt mir gefallen.“ (S. 31) Sogar eine lesbische Beziehung scheitert an seiner Anziehungskraft (vgl. S. 52).

Als zusätzliche Erklärung seiner Attraktivität können die Projektionen herangezogen werden: Die Prostituierte der Anfangsszene sieht ihren toten Vater in ihm, die jüngere Tochter einen Filmstar und seine Vermieterin ihren toten Ehemann (vgl. S. 24, 51 und 40). Alle drei verknüpfen seine Person mit für sie wichtigen Erinnerungen. Don Juans Verhältnis zu den Frauen ist „ein Verhältnis wechselseitiger Projektionen“.[25] In der Rückkehr zu seiner Braut spielt der Wunsch mit, die Geborgenheit des Kindes wiederzufinden. Als Don Juan nach dem Ziel seiner Reise gefragt wird, bejaht er die vorgeschlagene Antwort, dass es schön wäre, zur Mutter zu fahren (vgl. S. 22).[26]

Bei Horváth widerlegen Don Juans Affären seine Absicht, sich zur Treue zu bekehren, bei Frisch widerlegen sie die Leidenschaft zur Geometrie. „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie“ wird von einer grundlegenden Antithetik[27] geprägt: Das Weibliche (und die Gefühle) stehen bei Frischs Don Juan für Sinnlichkeit, Unberechenbarkeit und Unlogik, das Männliche für das Geistige, Rationale und Logische, symbolisiert durch Schachspiel und Geometrie.[28] Sein „Bedürfnis nach männlicher Geometrie“ (S. 48) erklärend, fragt Don Juan seinen Freund Don Roderigo schwärmerisch:

„Hast du es nie erlebt, das nüchterne Staunen vor einem Wissen, das stimmt? Zum Beispiel: was ein Kreis ist, das Lautere eines geometrischen Orts. Ich sehne mich […] nach dem Nüchternen, nach dem Genauen; mir graust vor dem Sumpf unserer Stimmungen. Vor einem Kreis oder einem Dreieck habe ich mich noch nie geschämt, nie geekelt. […] So und nicht anders! sagt die Geometrie. So und nicht irgendwie! Da hilft kein Schwindel und keine Stimmung, es gibt nur eine einzige Figur, die sich mit ihrem Namen deckt. Ist das nicht schön?“ (S. 48/49)

Zu Don Juan als Liebhaber der Frauen gehört also das Assoziationsfeld Stimmung, Gefühl, Leidenschaft, Liebe; zu ihm als Liebhaber der Geometrie das Assoziationsfeld Klarheit, Genauigkeit, Eindeutigkeit, Rationalität.

Don Juans erste allgemeine Bemerkung über Frauen fällt vor dem Traualtar, als er behauptet: „ […] jeder Mann hat etwas Höheres als das Weib, wenn er wieder nüchtern ist.“ (S. 35) Das Rauschhafte, das er im nächtlichen Zusammentreffen mit Anna empfand, wird andeutungsweise der Nüchternheit des Tages entgegengesetzt. Don Juan redet nie mit einer Frau über Geometrie oder Wissenschaft, sie sind ihm intellektuell nicht ebenbürtig. Sein Weltbild ist männerzentriert, die Frauen repräsentieren für ihn in erster Linie ihr Geschlecht,[29] daher spricht er fast nur von „Weib“ und nie von „Frau“.[30] Ausdrücklich wirft Miranda ihm vor: „Du hast uns stets als Weib genommen, nie als Frau. Als Episode.“ (S. 65)

Max Frisch lässt keinen Zweifel daran, dass sein Protagonist zwölf Jahre lang seine Rolle genießt. Als Grund seines Erfolgs nennt Don Juan: „Meine Hände, so höre ich, sind wie Wünschelruten;[31] sie finden, was der Gatte zehn Jahr lang nie gefunden hat an Quellen der Lust“ und er bekennt „Im Anfang […] machte es Spaß.“ (S. 68) Es ist nicht in erster Linie das Gefühl, ein Opfer zu sein, das Don Juan im dreiunddreißigsten Lebensjahr dazu bringt, seinen Rückzug in ein Kloster zu planen. Als Hauptmotiv nennt Don Juan gegenüber dem falschen Bischof im 4. Akt vielmehr die Langeweile: „Ihre verzückten Münder, ihre Augen dazu, ihre wässerigen Augen, von Wollust schmal, ich kann sie nicht mehr sehen!“ (S. 68) Die Langeweile erklärt Max Frisch in „Nachträgliches“ als die „eines Geistes, der nach dem Unbedingten dürstet und glaubt erfahren zu haben, daß er es nie zu finden vermag […]“ (S. 100). Damit erhebt er Don Juans zahlreiche Affären zum Ausdruck eines Strebens nach Höherem. Er legt großen Wert darauf, das Handeln seines Protagonisten nicht als bloße männliche Eroberungsgier zu begründen:

„Es reißt ihn nicht von Wollust zu Wollust […]. Seine Untreue ist nicht übergroße Triebhaftigkeit, sondern Angst, sich selbst zu täuschen, sich selbst zu verlieren – […]“ (S. 94).[32]

Diese Angst hängt in der Komödie mit seinem Anfangserlebnis zusammen: Don Juan erlebt, dass er bei seinem nächtlichen Abenteuer seine große Liebe Anna nicht erkennt und dass er fähig ist, sich in eine Unbekannte zu verlieben. Darum verweigert er die Eheschließung mit Anna, denn er weiß nicht mehr, wen er liebt (vgl. S. 33). Ihm ist sein eigenes Gefühlsleben zu stimmungsabhängig, er kann u.a. wegen der eigenen Untreue niemandem Treue versprechen. Der Rückzug ins Kloster ist, um ein weiteres Motiv zu nennen, durch das Frisch den Wandel Don Juans begründet, die Flucht vor der Ehe. Sie kommt zur Flucht vor der sexuellen Langeweile und zur Flucht vor der Angst, sich in Festlegungen zu verlieren, hinzu. Alle drei Fluchtversuche scheitern. Das Zusammenleben mit Miranda bleibt konventionell und ist geprägt vom Ärger über Nichtigkeiten.

Ein wichtiger Grund für die Verwicklungen der Komödie liegt in Don Juans Menschenbild. Im 5. Akt wird klar, dass Don Juan den Frauen nicht in erster Linie vorwirft, dass sie anders sind als die Männer, untreuer oder heiratsversessener. Auch die Identitätsschwierigkeiten und der Gegensatz Sinnlichkeit-Rationalität treten zurück. Don Juan leidet vielmehr daran, dass der Mensch in zwei Geschlechter gespalten ist, die aufeinander angewiesen sind:

„Welche Ungeheuerlichkeit, daß der Mensch allein nicht das Ganze ist! Und je größer seine Sehnsucht ist, ein Ganzes zu sein, um so verfluchter steht er da, bis zum Verbluten ausgesetzt dem andern Geschlecht.“

(S. 88)

Das verächtliche Verhalten den Frauen gegenüber, die Lust an ihrer Verführung, die Flucht vor ihnen, beruht darauf, dass Don Juan, der gerne seine Männlichkeit hervorhebt, Mann und Frau als unvereinbare Pole ansieht. Als er über „die unheilbare Wunde des Geschlechts“ (S. 66) klagt, nimmt er einen Mythos von Platon auf, in dem die Sehnsucht der Geschlechter nach einander damit erklärt wird, dass die Menschen ursprünglich eine Kugelgestalt hatten. In ihrem Übermut empörten sie sich gegen die Götter und wurden von Zeus zur Strafe in zwei Hälften geteilt, die sich seitdem als Ergänzung suchen.[33] Hinter dem Leiden an der Liebe steht für Frischs Don Juan das Leiden an der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen: „Ich verstehe die Schöpfung nicht. War es nötig, daß es zwei Geschlechter gibt?“ (S. 66). Don Juan will keine Ergänzung, keine Ganzheit aus zwei Teilen, sondern selbst ein Ganzes sein.[34] Für Frisch ist es, „die Hybris, daß einer allein, Mann ohne Weib, der Mensch sein will; […]“ (S. 98).

Eine solche philosophische Betrachtung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau fehlt bei Horváth, darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Dramen. In wichtigen Motiven aber kommen sie sich deutlich nahe: Beide Autoren betonen Don Juans Selbstverständnis, ein „Verführer wider Willen“[35] zu sein, was zunächst zutrifft: Bei Horváth ist es die Kunstgewerblerin, die ihn zum Tanz auffordert und dazu bringt, seine Vorsätze zu brechen; bei Frisch weiht Donna Elvira ihren potentiellen Schwiegersohn in die Liebe ein. Die Opferrolle wird zur Ausrede, wenn es um das Verhalten in den Folgejahren geht. Hier hat Max Frisch die klassischen Attribute des Frauenverführers und Duellanten vollständig übernommen. Auch Horváths Don Juan sucht eine Ausrede, wenn er behauptet, seine Braut sei schuld, dass er sich nicht mehr bessern wolle, da sie ihm nie geantwortet habe (vgl. S. 69).

Bei beiden Autoren spielt zudem das Thema der Untreue eine wesentliche Rolle, die kein Vorrecht der Männer ist. Zwei Ausnahmen gibt es: Die Braut und Anna betrügen nicht, Don Juan erkennt jeweils zu spät, was er an ihnen hatte. Dass bei beiden Autoren keine glückliche Paarbeziehung dargestellt wird, hat allerdings einen unterschiedlichen Hintergrund: Horváth schildert eine gesellschaftliche Umbruchsituation, in welcher eine beständige Liebe es schwer haben muss und legt Wert auf die Unfähigkeit Don Juans, sich zu ändern (vgl. S. 11).[36] Frisch setzt – wie gesagt – grundsätzlicher an: Die Trennung des Menschen in zwei Geschlechter verursacht eine Sehnsucht, die in erster Linie Sache des Mannes ist. Bei Frauen gibt es zwar auch Untreue (Donna Elvira, die Damen von Sevilla), aber keine vergleichbaren Ausschweifungen. Vor allem ist keine Rede davon, dass sie vor den Launen der Gefühle in die Geometrie oder zu etwas anderem ‚Höheren‘ fliehen, und sie leiden nicht daran, dass sie jemanden lieben, ohne zu wissen, wer sie sind. Hier wirkt das alte Geschlechterschema mit, wonach die Frau die Liebe sucht, der Mann die Sexualität. Frisch umspielt solche Klischees (er spricht dem Mann den Geist zu, der Frau das Gefühl) und setzt sie komödienhaft ein, z.B. wenn er Don Juan sagen lässt, die Ehe sei der Sieg des Weibes über den Mann (vgl. S. 64).

Vergleichbar sind Horváths und Frischs Stücke auch in einer dritten Hinsicht: Hinter den ‚Irrungen und Wirrungen‘ der Affären bleibt das Ideal der echten Liebe erhalten, was den Erwartungen widerspricht, die Gnüg formuliert hat.[37] Don Juan wird bei Frisch von zwei Frauen geliebt: von Anna, („kein anderer Mann hat ein Recht auf mich“, S. 25) die Selbstmord begeht, weil er sie zurückweist, und von der Hure Miranda. Sie hat ihn im Bordell kennengelernt und bewundert, weil er dort Schach spielte. Sie erkennt seinen Narzissmus („Du hast immer bloß dich selbst geliebt und nie dich selbst gefunden“, S. 65)[38] und weiß, was ihn an sie binden wird: Nicht ihre Liebe, sondern ein ungestörter Platz für seine Beschäftigung mit der Geometrie. Ihr sozialer Aufstieg ermöglicht es ihr, Don Juan ein Rückzugsparadies zu schaffen, in dem er sich eine „Klause“ für die geistige Arbeit einrichtet.

Don Juan seinerseits liebt Miranda nicht. Er spricht von einem „Gefängnis“ und davon, dass sie ihn „zum Zittern bringt“ (S. 88). Der Gegensatz zwischen Mann und Frau kann nicht aufgehoben werden, ein gemeinsames Kind wäre „die letzte Schlinge“ (S. 89).[39] So eindeutig aus der Komödie hervorgeht, dass Miranda nicht auf echte Gegenliebe stößt, so eindeutig war Donna Anna Don Juans große Liebe. Zwar verlässt er sie und bleibt von ihrem Schicksal zunächst unbeeindruckt. Dann gibt er zu, sie geliebt zu haben, und schildert in poetischen Worten ihr Kennenlernen im Frühjahr: „Das war die Liebe, ich glaube, das war sie. Zum ersten und zum letzten Mal.“ (S. 47) Nach Jahren als Frauenheld wiederholt er sein Bekenntnis, Anna als einzige geliebt zu haben (vgl. S. 60). Frisch will ihn nicht nur auf die Rolle des bindungsunfähigen Narziss festlegen:

„Wie die meisten von uns, erzogen von der Poesie, geht er als Jüngling davon aus, daß die Liebe, die ihn eines schönen Morgens erfaßt, sich durchaus auf eine Person beziehe, eindeutig, auf Donna Anna, die diese Liebe in ihm ausgelöst hat.“ (S. 95)

Horváths Don Juan muss sich der Frauen nicht in gleicher Weise erwehren wie Frischs Protagonist. Er muss keine Eheangebote ablehnen und heiratet auch nicht, dennoch will sich eine Frau seinetwegen umbringen (vgl. S. 50). Diese Verzweiflungstat darf aber nicht als Ausdruck einer echten Liebe gesehen werden. Horváth legt Wert darauf: „Alle erliegen ihm, aber -- und dies dürfte das Entscheidende sein: wirklich geliebt wird er von keiner.“ Deshalb hat sein Stück „keine einzige Liebesszene“ (S. 12). Ob Don Juan seinerseits wirklich liebt, dazu nimmt Horváth nicht Stellung. Er nennt ihn jedoch nicht ausdrücklich einen Narziss oder liebesunfähigen Menschen, sondern hält das „Rätsel des Don Juan“ für „unlösbar“ (S. 11). Ob Don Juans Suche nach seiner Braut als Ausdruck einer wiedergekehrten Liebe gelten kann, hängt von der Deutung des Schlusses ab. Sieht man in seinem Tod am Grab der Braut eine symbolische Vereinigung,[40] so scheint es, dass er ihr in den Tod folgt, und er wäre zu einer beständigen Liebe fähig. Gegen eine solche ‚romantische‘ Interpretation sprechen wichtige Motive der Schlusses: Don Juan ist schwer krank und müde und vergleicht sich mit dem Schneemann, dem zwei Schulmädchen (drei Szenen vorher) auf den Kopf geschlagen haben (S. 65/66). Auch Horváths Aussage, Don Juan ändere sich nicht, d.h. seine unverbesserliche Neigung zu sexuellen Affären, legt eher einen resignativen als einen romantischen Schluss nahe.

Trotzdem: Horváth und Frisch verabschieden die beständige, echte Liebe nicht völlig, wie die Bedeutung der Treue bestätigt. Als Horváths Don Juan endlich die Großmutter gefunden hat, fragt er sie als erstes, ob seine Braut einen anderen Mann habe (vgl. S. 69/70).[41]

[...]


[1] Das Stück spielt im „Spätherbst 1918“ (S. 15).

[2] Aus Gründen der Lesbarkeit wird die ‚männliche‘ Form benutzt. Aus demselben Grund wird auf die Begriffe ‚Leser‘ oder ‚Rezipient‘ verzichtet.

[3] Eine Verfremdung Horváths (vgl. Kapitel 4): Man erwartet, dass der Krieg die Moral untergräbt und nicht der Frieden. Ob Don Juan seine Aussage ernst meint, darf bezweifelt werden. Er lächelt „zynisch“ dabei (S. 39).

[4] In der Aufforderung „Ich wohne nicht hoch, komm- -“ (S. 57) spielt Horváth darauf an, dass Don Juan die ‚hohe Ebene‘ des Ideals verlässt.

[5] Ein klarer Widerspruch zu seinem Brief im ersten Akt (vgl. S. 4 der Arbeit).

[6] Vgl. Horváths Vorwort, S. 12. Zum Thema s. Kapitel 5

[7] Horváth bereitet das tragische Ende vielfältig durch Vorausdeutungen vor: Don Juans körperliche Schwächen (Herzleiden aus dem Krieg, verschlimmert durch die Grippe, S. 30) und seine psychischen Probleme (Verfolgungsängste, S. 24) weisen auf den Tod hin.

[8] Im Stück charakterisiert die Witwe ihn so (vgl. S. 31).

[9] Nach Bossinade ist für Horváths Dramen eine „Kreisstruktur“ typisch (vgl. Bossinade 1988, S. 26).

[10] Gnüg schreibt, dass er „aus seinem Zweifel an der Absolutheit seiner Liebe, aus der Skepsis seinem eigenen erotischen Gefühl gegenüber (…)“ vor Anna flieht (vgl. Gnüg 1974, S. 225).

[11] Marshall in Arnold 1987, S. 131

[12] Gnüg 1993, S. 180

[13] In seinem Text „Nachträgliches“ bezeichnet Frisch seinen Don Juan als Intellektuellen. Den Begriff gebraucht er im Sinne des spanischen Philosophen Ortega y Gasset (vgl. S. 93).

[14] Schuhmacher 1979, S. 48

[15] Für Gnüg besteht seine „psychologische Kompliziertheit“ darin, dass er „einerseits eine absolute ausschließlich seelisch bestimmte Liebe“ will und andererseits ihre Existenz anzweifelt (Gnüg 1974, S. 224).

[16] S. Kapitel 5

[17] S. Kapitel 5

[18] Weitere Ähnlichkeiten s. die Vergleichsabschnitte Kapitel 3.2, 3.3 und 4.

[19] Die Komödie ist „das Zuendedenken eines Mythos, der aus seiner statischen Fixierung in eine dynamische Entwicklung überführt wird.“ (Karasek 1971, S. 60)

[20] Gnüg 1993, S. 7

[21] Johanna Bossinade bezeichnet sie als „figurale Leerstelle“, da sie nicht als Person auf der Bühne dargestellt wird, sondern ihr Bild sich aus den Äußerungen der anderen ergibt. (Bossinade 1988, S. 69)

[22] Die Frauen haben studiert, es gibt eine Dentistin (vgl. S. 19), sie gehen aktiv auf Männer zu (vgl. S. 32).

[23] Auch hier findet eine Motivumkehr statt: In I.1 erklärt die zweite Soubrette, Männer seien keine Menschen (vgl. S. 16).

[24] Für eine detaillierte Analyse des Verhältnisses aller Frauen in Horváths Stück zur Männerwelt siehe Stefan Lessmann (s. Internetquelle).

[25] Bossinade 1988, S. 62

[26] Eine psychoanalytische Deutung schlägt Ingrid Haag vor: Für sie ist Don Juans Todessehnsucht Ausdruck des Wunsches, in den Mutterleib zurückzukehren (vgl. Haag 1995, S. 211).

[27] Sie wird in Kapitel 4.1 aufgegriffen.

[28] Vgl. Bohler 1998, S. 77-78. – Frisch kommentiert in „Nachträgliches“, Don Juan meine, „wenn er von Geometrie redet“, das „Klare, Lautere, Durchsichtige“ als Attribute der Schönheit. Damit rückt er geistige Schönheit (Geometrie) und körperliche Schönheit (Frauen) eng zusammen.

[29] Vgl. Bohler 1998, S. 76

[30] Das ist typisch für ihn und nicht nur historischer Sprachgebrauch.

[31] Die Hure Miranda schwärmt auch von Don Juans Händen (vgl. S. 13).

[32] Das Zitat geht noch weiter und nennt die Angst die „vor dem Weiblichen in sich selbst“. Es spricht vieles dafür, dass Frisch das Weibliche mit der Untreue der Sinnlichkeit verbindet.

[33] Platons Mythos vom ursprünglichen Kugelmenschen findet sich in seinem Dialog „Symposion“ (vgl. Bohler 1998, S. 78).

[34] Vgl. ebd.

[35] Karasek 1971, S. 63 - (Karesek gebraucht diesen Begriff für Frischs Don Juan, er passt allerdings auch auf den von Horváth.)

[36] S. Kapitel 5

[37] Vgl. Anmerkung 37 vom Anfang des Kapitels.

[38] In seinem Nachtrag hebt Frisch hervor: „Don Juan ist ein Narziß, kein Zweifel: im Grunde liebt er nur sich selbst.“ (S. 94)

[39] Bohler formuliert „ […] da er [Don Juan] nicht dazu imstande ist, wahren menschlichen Kontakt anzunehmen, so kann er auch mit einem Kind nichts anfangen. Seine emotionale Grundhaltung ist defizitär.“ (Bohler 1998, S. 81)

[40] Bossinade spricht davon, Don Juan verschmelze mit ihr zu einer „körperlosen Einheit“ (Bossinade 1988, S. 71).

[41] Zu Horváths Treueideal vgl. Oellers 1987, S. 266. Für Oellers steht die Krise der Liebe im Zusammenhang mit der Wertekrise der Nachkriegszeit.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956847486
ISBN (Paperback)
9783956842481
Dateigröße
710 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Dramenvergleich Motivgeschichte Verfremdung Rollenerwartung Verführer

Autor

Verena L. Rumpf wurde 1988 in Grünstadt geboren. Nach ihrem Rechtspflege-Diplom begann sie 2010 das Studium der Germanistik und der Romanistik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, an der sie 2013 den akademischen Grad ‘Bachelor of Arts’ erwarb. Während des Studiums verbrachte sie ein Jahr an der Universität in Dijon und absolvierte Praktika in Straßburg bei ARTE und in Mannheim beim ‘Institut für Deutsche Sprache’. Seit dem Wintersemester 2013/2014 setzt sie ihr deutsch-französisches Studium an der Sorbonne in Paris fort und wird es 2015 in Bonn mit dem Titel ‘Master of Arts’ beenden.
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Titel: Der zweifelhafte Ruf des Don Juan: Variationen einer Dramenfigur bei Ödön von Horváth und Max Frisch
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