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Empathie in der Psychotherapie: Neuronale Grundlagen und Implikationen für die Praxis

©2011 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Nicht nur im zwischenmenschlichen Alltag spielt Empathie eine grosse Rolle, sondern auch in der Psychotherapie. Wie jedoch kann der Begriff Empathie in der psychotherapeutischen Praxis verstanden werden? Weshalb können empathische Psychotherapeuten den Therapieverlauf günstig beeinflussen? Handelt es sich bei Empathie um eine angeborene Fähigkeit oder kann man sich empathisches Verhalten durch gezielte Massnahmen aneignen? Wie lässt sich Empathie mithilfe neurowissenschaftlicher Verfahren besser verstehen? Welche Implikationen lassen sich aus der Untersuchung neuronaler Korrelate der Empathie für die Psychotherapie ableiten?
Diesen Fragen soll im vorliegenden Fachbuch nachgegangen werden. Außerdem werden Modulationen und Grenzen der therapeutischen Empathie und mögliche Schwerpunkte eines Empathie-Trainings anhand ausgewählter wissenschaftlicher Literatur aufgezeigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 Zum Stand der Empathieforschung

1.1 Begriffliche Bestimmung der Empathie

Der Begriff Empathie stammt vom deutschen Wort „Einfühlung“ ab, welches den Prozess meint, in dem Beobachter bestrebt sind, sich selbst in eine beobachtete Person hineinzuversetzen (Titchener, 1909, zit. nach Hassenstab et al., 2007). Stein (1916, zit. nach Staemmler, 2009) definierte Empathie als das Erleben und Erfassen fremder Bewusstseinsinhalte. Diese Definition bezeichnet Empathie als einen Mechanismus der sozialen Kognition, der alle Leistungen umfasst, um die psychische Verfassung anderer zu verstehen.

Wie schon in der Einleitung angedeutet, besteht unter den Psychologen kein Konsens über die Empathie-Definition. So zeigt sich Empathie in den verschiedenen Forschungsfeldern der Psychologie als abstraktes, vielschichtiges Phänomen. Die Entwicklungspsychologie befasst sich damit, wie Empathie im Rahmen von Entwicklungsprozessen entsteht, die Sozialpsychologie untersucht beispielsweise den Zusammenhang zwischen Empathie und Altruismus, in der Psychotherapie wird der Frage nachgegangen, welche Rolle Empathie im therapeutischen Prozess spielt (Staemmler, 2009). Daher existieren verschiedene Empathietheorien und Modelle nebeneinander, die sich teilweise miteinander verbinden lassen, teilweise im Widerspruch zueinander stehen (Neumann et al., 2009).

Eine gewisse Einigkeit über Empathie in den verschiedenen Forschungsrichtungen besteht allein darin, dass Empathie sowohl affektive wie auch kognitive Komponenten beinhaltet. Bischof-Köhler (2001) geht davon aus, dass Empathie jenen Prozess meint, bei dem ein Beobachter an einem Gefühl einer andern Person teilhat und dadurch versteht, was diese andere Person beabsichtigt. Die empathische Reaktion kann dabei durch das Ausdrucksverhalten einer andern Person wie auch durch die Situation, in der sie sich befindet, ausgelöst werden. Auch Pfeifer und Dapretto (2009) unterscheiden affektive und kognitive Komponenten der Empathie. Affektive Komponenten können als eine Art von geteiltem Fühlen oder emotionale Resonanz verstanden werden, welche bewusst oder unbewusst sein kann. Zu den kognitiven Komponenten der Empathie gehören explizites Schlussfolgern über den emotionalen Zustand des andern, wie auch eine Aufrechterhaltung der Distinktion zwischen sich selbst und dem Anderen.

Um Empathie neurowissenschaftlich zu untersuchen, ist es notwendig, sie von ähnlichen Konstrukten der sozialen Kognition abzugrenzen. Sinnvoll ist es zudem, eine Definition zu finden, die sich auch auf die psychotherapeutische Empathie übertragen lässt, damit die Ergebnisse der neuronalen Forschung auf die psychotherapeutische Praxis übertragen werden können. Verschiedene Abgrenzungs- wie auch Integrationsversuche mit ähnlichen Konstrukten wurden in den letzten Jahrzehnten unternommen, wobei die Differenzierungen relativ unterschiedlich vorgenommen wurden.

1.2 Definitorische Abgrenzung der Empathie

Die Phänomene der sozialen Kognition sind vielschichtig und werden in der Literatur praktisch synonym verwendet. So kritisiert beispielsweise Batson (2009), dass Empathie, Sympathie und Mitleid in der Forschung oft nicht unterschieden werden. Viele Autoren setzen das mentale Hineinversetzen in andere Personen, die sogenannte Theory of Mind (ToM), mit Empathie gleich und fassen beide Konstrukte unter „Hineinversetzen in einen andern“ zusammen (Staemmler, 2009).

De Vignemont und Singer (2006) achten auf eine differenzierte Abgrenzung der Konstrukte und legen vier Bedingungen fest, damit von Empathie die Rede sein kann: 1. Man befindet sich in einem affektiven Zustand. 2. Dieser Zustand ist gleicher Art wie der affektive Zustand der andern Person. 3. Der Zustand wurde durch Beobachtung oder Vorstellung des affektiven Zustands der andern Person hervorgerufen. 4. Man weiss, dass die andere Person die Quelle des eigenen affektiven Zustands darstellt. Dieses vierte Kriterium zeigt, dass Empathie neben den affektiven auch kognitive Elemente aufweist. Dennoch betonen Lamm und Singer (2010), dass Gefühlsansteckung, Imitation, Sympathie und Mitleid in einem engen Zusammenhang stehen: In vielen Fällen gehen Imitation und Gefühlsansteckung der Empathie voraus. Empathie kann wieder in Sympathie und Mitleid münden, was prosoziales Verhalten auslösen kann.

1.2.1 Empathie und Gefühlsansteckung

Obwohl Empathie in erster Linie eine emotionale Reaktion ist, darf sie nicht mit der Gefühlsansteckung gleichgesetzt werden. Auch bei der Gefühlsansteckung wird der Beobachter vom Gefühl einer andern Person ergriffen. Er ist sich aber nicht bewusst, dass die mitempfundene Emotion ihren Ursprung in der andern Person hat (Singer, 2006). Somit ist das vierte Kriterium der Empathie nach de Vignemont und Singer (2006) nicht erfüllt. Auch Preston und de Waal (2002) betonen, dass der interne Zustand des Beobachters bei der Gefühlsansteckung automatisch dem der andern Person angepasst wird. Es gibt keine Ich-Andere Unterscheidung mehr. So fangen z.B. Babys an zu weinen, wenn sie andere Babys weinen hören, lange bevor sie einen Sinn für das Selbst entwickelt haben (Singer & Lamm, 2009).

1.2.2 Empathie und Nachahmung

Nachahmung oder Imitation (mimicry) bezeichnet die Tendenz, automatisch affektive Ausdrücke, Stimmgebung, Haltungen und Bewegungen einer andern Person zu synchronisieren (Singer & Lamm, 2009). Gemäss dem Perzeptions-Aktionsmodell der Empathie nach Preston und de Waal (2002) sind Empathie und Nachahmung stark miteinander verlinkt. Das Modell sieht Empathie als Prozess, bei dem die Wahrnehmung eines individuellen Zustandes einer Person zur mentalen Aktivierung dieses Zustandes und der Situation im Beobachter führt, was sich in affektiven, kognitiven und verhaltensmässigen Reaktionen äussern kann. Imitation ist hier im Wesentlichen die Brücke, die zur Empathie führt. Die Entwicklungsforschung zeigte, dass Menschen für die Imitation der Artgenossen programmiert sind (Meltzoff & Decety, 2003). Ausserdem konnten Dapretto et al. (2005) zeigen, dass zwischen Empathie und der Tendenz zur Imitation eine positive Korrelation besteht. Maurer und Tindall (1983) untersuchten den Effekt von Nachahmung auf die wahrgenommene Empathie bei Psychotherapeuten. Wenn die Therapeuten das nonverbale Verhalten der Klienten imitieren, werden sie von den Klienten als empathischer wahrgenommen. Die Autoren betonen allerdings, dass es sich hierbei um unauffällige Nachahmung handelt. Wenn ein Klient jedoch bewusst wahrnimmt, dass sein Verhalten nachgeahmt wird, kann dies zu Unwohlsein führen.

1.2.3 Empathie und Sympathie

Mit Sympathie ist nicht nur Einfühlung, sondern auch positive Zuneigung gemeint. Es handelt sich um eine emotional positiv gefärbte Einstellung, die jedoch nicht unbedingt ein empathisches Engagement erfordert (Staemmler, 2009). Decety und Lamm (2009) sind der Ansicht, dass die Erfahrung von Empathie schliesslich zu Sympathie führen kann, d.h. zu einem Interesse füreinander, das auf der Auffassung oder dem Verständnis der emotionalen Befindlichkeit oder dem Ergehen des andern basiert. Decety und Jackson (2004) betonen, dass man sich bei der Erfahrung von Empathie vom anderen abgrenzen kann, während die Erfahrung der Sympathie zur Schwierigkeit führt, einen Sinn dafür aufrechtzuerhalten, welche Gefühle zu welcher Person gehören.

1.2.4 Empathie, Mitgefühl und Mitleid

Staemmler (2009) unterscheidet zwei Arten von Mitgefühl. Die eine Art bezieht sich auf eine bestimmte Person oder eine Personengruppe, die leidet. Sie wird in der Literatur oft auch als empathische Sorge (empathic concern) bezeichnet und hängt mit Empathie zusammen, da sie auf der Vorstellung dessen aufbaut, was die andern Personen fühlen (Batson, 2009). Die andere Art von Mitgefühl, die meist auch als Mitleid bezeichnet wird, geht neben einem Gefühl des Wohlwollens auch mit der klaren Bereitschaft einher, sich für das Wohl anderer einzusetzen. Es ist jedoch so, dass man beim Mitleid das Leiden der andern nicht unbedingt selbst fühlt. Damit ist die zweite Bedingung der Empathie nach De Vignemont und Singer (2006) nicht erfüllt. Ziel der Empathie ist es, die andere Person zu verstehen. Das Ziel des Mitgefühls liegt jedoch im Wohlbefinden oder zumindest in der Besserung des Zustands des andern (Wispé, 1986).

1.2.5 Empathie und Theory of Mind

Die Fähigkeit, mentale und emotionale Zustände anderer Menschen und seine eigene Befindlichkeit zu verstehen, ist wichtig für jegliche soziale Interaktion. Da diese Fähigkeiten sehr komplex sind, wurden in der Neurowissenschaft, der Entwicklungspsychologie und in der Medizin Versuche unternommen, die verschiedenen Aspekte der Fähigkeit, sich in einen andern Menschen hineinzuversetzen, genauer zu beleuchten. Die beiden Hauptkonzepte sind die Theory of Mind (ToM), auch Mentalisieren oder kognitive Perspektivenübernahme genannt, und die Empathie. Die ToM ist die Fähigkeit, intentionale mentale Zustände bei andern Personen zu erfassen, d.h. andern Wünsche, Absichten, Ideen usw. zuzuschreiben, die sich von den eigenen unterscheiden. Bis heute wird in Forschungskreisen darüber diskutiert, ob die ToM ausschliesslich das Zuschreiben von intentionalen Zuständen umfasst oder ob das Zuschreiben von Gefühlen auch zu den ToM Fähigkeiten gehört (Singer, 2006).

Einige Autoren versuchen, Empathie und ToM zu verbinden: Sie gehen davon aus, dass die mentale Vorstellung der Perspektive des andern der machtvollste Weg ist, sich in die Situation und den emotionalen Zustand der andern Person zu versetzen (Decety & Lamm, 2009). Andere Autoren fassen ToM und Einfühlung zum Konstrukt Empathie zusammen, wobei sie die Einfühlung als „affektive Empathie“ und die ToM als „kognitive Empathie“ bezeichnen (Blair, 2005).

Auch in der Neurowissenschaft wird eine Abgrenzung von Empathie und ToM untersucht. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass die beiden Repräsentationsfähigkeiten ToM und Empathie auf unterschiedlichen, jedoch überlappenden neuronalen Netzwerken beruhen (Völlm et al., 2005).

Die Unterscheidung zwischen der kognitiven Perspektivenübernahme und der Empathie wird ebenfalls unterstützt durch die Untersuchung von Patienten mit sozialen Defiziten wie Autismus, Psychopathie und Alexithymie. Patienten mit einer autistischen Spektrumstörung zeigen ein Defizit in der ToM, während Psychopathen keine solche Beeinträchtigung zeigen. Psychopathen sind jedoch nicht zur Empathie fähig, was ihnen das charakteristische manipulative Verhalten ermöglicht (Hein & Singer, 2008). Menschen mit Alexithymie können ihre eigenen Emotionen nicht identifizieren, differenzieren und artikulieren. Ausserdem zeigen sie keine Empathie, was darauf schliessen lässt, dass die eigene Gefühlswahrnehmung und die anderer Personen in einem engen Zusammenhang stehen (Ogrodniczuk, Piper & Joyce, in press.).

1.2.6 Empathiebegriff in der Psychotherapie

Auch in der Psychotherapie besteht kein Konsens über die Definition von Empathie. Oftmals werden Empathie, Sympathie und Mitgefühl nicht klar abgetrennt (Bohart, Elliott, Greenberg & Watson, 2002). Neben den affektiven Komponenten, d.h. dem Fühlen der Gefühle der andern Person, werden vor allem auch die kognitiven Komponenten betont, wie das Verstehen des Bezugsrahmens des Klienten und der Art und Weise, wie er die Welt erlebt. Somit wird Empathie meist in Verbindung mit der Perspektivenübernahme berücksichtigt (Bohart et al., 2002).

Die Wichtigkeit der Empathie in der Psychotherapie wird vor allem in der personenzentrierten Psychotherapie, insbesondere bei Carl Rogers, thematisiert. Für Rogers war die empathische Bezogenheit des Therapeuten auf den Klienten neben der Kongruenz und Akzeptanz eine der drei notwendigen und hinreichenden Bedingungen für jeden Therapieerfolg, die der Therapeut beizutragen hat. Selbst Rogers revidierte sein Empathieverständnis mehrfach (Staemmler, 2009). Hauptsächlich ist für Rogers wichtig, dass man als empathischer Therapeut das Bezugssystem des Klienten übernimmt, d.h. dass man die Welt so betrachtet, wie der Klient sie sieht. Jedoch wird dabei immer eine „als ob“-Position beibehalten (Rogers, 1989). Man empfindet somit Gefühle wie Schmerz und Freude mit dem Patienten, so wie er sie selbst empfindet. Der Therapeut muss sich aber bewusst bleiben, dass die Gedanken und Gefühle des Klienten nicht die eigenen sind, er nimmt sie nur so wahr, „als ob“ sie ihn selbst beträfen. Ein wesentlicher Aspekt in der Psychotherapie ist für Rogers die Kommunikation der Empathie: Das einfühlende Verstehen wird dem Klienten mitgeteilt (Rogers, 1989).

Davis (2009) betont ebenfalls die Wichtigkeit der Kommunikation im therapeutischen Prozess. Er geht von einem deskriptiven Modell der klinischen Empathie aus und betont, dass die therapeutische Empathie eine affektive, moralische, kognitive wie auch verhaltensmässige Dimension aufweisen muss. Einerseits ist es für den Therapeuten wichtig, dass er die Gefühle der Patienten affektiv teilen kann. Gleichzeitig muss der Therapeut moralisch motiviert sein, das Gute für den Klienten zu erstreben. Auch die kognitive Dimension der klaren Identifikation und des Verständnisses der Gefühle des Klienten sind massgeblich. Eine besondere Stellung im klinischen Setting hat schliesslich die Fähigkeit des Therapeuten, das Verständnis der Emotionen effektiv kommunizieren zu können.

1.3 Neuronale Korrelate der Empathie

Durch die Entwicklung bildgebender Verfahren wurde die Erforschung der Empathie auf neuronaler Ebene möglich. Da jedoch über das Konstrukt „Empathie“ keineswegs Einigkeit besteht, gibt es auch verschiedene Ansätze, Empathie zu messen. So geraten verschiedene neuronale Korrelate in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das Ziel der neurowissenschaftlichen Empathie-Forschung liegt in erster Linie in der Erkenntnis, wie Empathie im Gehirn verarbeitet wird. Daraus sollen Ansätze gewonnen werden, wie Empathie gezielt gefördert werden kann, was auch für die Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeuten von Nutzen sein könnte.

1.3.1 Der Kortex und das limbische System

In der Untersuchung der neuronalen Korrelate der Empathie spielen Teile des limbischen Systems wie auch des Neokortex eine wesentliche Rolle. Der Kortex bildet die äussere Schicht der Grosshirnhemisphären und besteht aus grauer Substanz, d.h. überwiegend aus Nervenzellkörpern. Er enthält über zehn Milliarden Neuronen und ist aufgrund seiner Entwicklung während es Wachstums teilweise eingerollt und eingefaltet worden, so dass nicht alle Teile beim Blick von aussen auf das Gehirn sichtbar sind. Der Kortex kann unterteilt werden in den phylogenetisch jüngeren Neokortex, der aus sechs Schichten besteht und weitgehend von aussen sichtbar ist, und den phylogenetisch älteren Allokortex, der sich uneinheitlich aus drei bis fünf Schichten zusammensetzt (Schandry, 2006). Das limbische System gehört zum grössten Teil zum Allokortex (dazu gehören beispielsweise Hippocampus, Amyg­dala und Teile des Thalamus), wobei auch Areale des Neokortex heute dazu gezählt werden, wie die Insula, der cinguläre Gyrus und der Orbitofrontalkortex (Bähr & Frotscher, 2009).

Das limbische System spielt eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Regulation von Emotionen. Im Zusammenhang mit der Auslösung von Angstreaktionen steht vor allem die Amygdala. Weitere Gehirnstrukturen, die für das emotionale Geschehen wichtig sind, sind der präfrontale Kortex zur Umsetzung von Emotionen in Handlungspläne und für die Antizipation von Konsequenzen emotionalen Verhaltens, der Hippocampus bei emotionalem Stress, der cinguläre Gyrus für die Reizanalyse im emotionalen Kontext und die Insula bei der Kopplung von emotionalen und vegetativen Prozessen (Schandry, 2006). Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass die Funktionen des Trieb- und Affektverhaltens, der Motivation und des Antriebs sowie Lernen und Gedächtnis nicht die einzigen Leistungen des limbischen Systems darstellen. So wird der Begriff „limbisches System“ heute zunehmend hinterfragt, da Untersuchungen zeigen, dass weitgehende Verbindungen zu zahlreichen andern Hirnregionen bestehen; das limbische System bildet weder anatomisch noch funktionell ein geschlossenes System (Bähr & Frotscher, 2009).

Verschiedene Nervenzellnetze tragen das Bild, das wir uns von einer andern Person machen, zusammen. Dazu gehören vereinfacht ausgedrückt der prämotorische Kortex für die Prozessierung von Handlungsabsichten, der untere parietale Kortex für die Verarbeitung von Körperempfindungen, die Insula für die Kartierung von Körperzuständen, die Amygdala für die Verarbeitung von Angstgefühlen und der cinguläre Gyrus für die Erzeugung des emotionalen Ich-Gefühls (Bauer, 2006). In der neurowissenschaftlichen Empathieforschung geraten heute zunehmend die anterioren Teile der Insula, der anteriore cinguläre Gyrus und einige damit verbundenen Hirnregionen ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

1.3.2 Empathie und die Entdeckung der Spiegelneuronen

Das aufkommende Interesse für die neurowissenschaftliche Untersuchung der Empathie resultierte jedoch nicht aus der Untersuchung des limbischen Systems, sondern vielmehr aus der Entdeckung der Spiegelneuronen. Heute noch wird über die Rolle der Spiegelneuronen in Bezug auf Empathie heftig debattiert. Gallese, Fadiga, Fogassi und Rizzolatti (1996) konnten zeigen, dass bei Affen dieselben Neuronen im prämotorischen Kortex und im inferioren Parietallappen feuern, wenn sie zielbezogene Handlungen selbst ausführen oder sie bei andern beobachten. Durch fMRT Studien (Iacobini et al., 2005) konnte gezeigt werden, dass auch im menschlichen Gehirn Spiegelneuronen-bezogene Antworten bei der Beobachtung von Gesichtsausdrücken und Handlungen vorkommen. Gemäss Pfeifer und Dapretto (2009) betonen diese Resultate die wichtige Rolle des Spiegelneuronensystems für die Empathie. Das System könnte einen neuronalen Mechanismus bereitstellen, der mithilft, die Emotionen anderer zu verstehen. Carr, Iacobini, Dubeau, Mazziotta und Lenzi (2003) betonen die wichtige Rolle der anterioren Insula für die Empathierepräsentation, indem sie eine wichtige Verbindung zwischen dem Spiegelneuronensystem und dem limbischen System darstellt. Das neurobiologisches Modell der Empathie von Iacobini et al. (2003) geht davon aus, dass die Simulation eines Gesichtsausdrucks erst einmal die Spiegelneuronen aktiviert. Durch die Verbindung mit dem limbischen System kommt es zur Repräsentation des affektiven Zustands in der Insula und zur Wahrnehmung der Emotion.

Das Beobachten und Imitieren von emotionalen Gesichtsausdrücken ist assoziiert mit zunehmender Aktivität der Spiegelneuronen im prämotorischen Kortex, sowie der neuronalen Strukturen der anterioren Insula und der Amygdala (Carr et al., 2003). Pfeifer und Dapretto (2009) liessen in einer fMRT Studie sechzehn Kinder im Alter von zehn Jahren verschiedene emotionale Gesichtsausdrücke imitieren oder nur beobachten. Anschliessend füllten die Kinder einen Empathie-Fragebogen aus. Die Empathiewerte korrelierten mit der Aktivität der Spiegelneuronen und der Aktivität der Amygdala während der Beobachtung und der Imitation der Gesichtsausdrücke. Diese signifikante Korrelation zwischen Empathie und der Spiegelneuronen Aktivierung könnte ein Hinweis für einen Mechanismus sein, der es Individuen ermöglicht zu fühlen, was andere fühlen. Gazzola, Aziz-Zadeh und Keysers (2006) konnten ebenfalls zeigen, dass bei Personen, die höhere Werte auf einer Empathie-Skala erreichten, die Spiegelneuronen stärker aktiviert sind, wenn sie Geräusche bekannter Handlungen hören, als bei Personen, die tiefere Empathiewerte erreichten.

1.3.3 Schaltkreisläufe von Empathie und Theory of Mind

Während sich die Neurowissenschaftler noch nicht einig sind, ob die Spiegelneuronen nur für die Imitation von Bedeutung sind oder auch in der Empathie eine grössere Rolle spielen könnten, streitet man sich auch über das Zusammenspiel der Perspektivenübernahme (ToM) und der Empathie. So wurden multidimensionale und integrative Modelle entwickelt, die ToM und Empathie gleichzeitig berücksichtigen (Decety & Jackson, 2004; Preston & de Waal, 2002).

Das Hauptinteresse anderer Forscher liegt in der Unterscheidung der neuronalen Schaltkreise von Empathie und ToM (Singer, 2006). Eine Reihe von fMRT Studien beschäftigte sich allein mit der Fähigkeit der kognitiven Perspektivenübernahme. Gallangher und Frith (2003) konnten eine Aktivierung in einem spezifischen neuronalen Netzwerk feststellen, das hauptsächlich aus den kortikalen Arealen der temporal-parietalen Junction (TPJ), dem medialen Präfrontalkortex (mPFC), dem superioren temporalen Sulcus (STS) und den Temporalpolen besteht.

Mehrheitlich wird jedoch davon ausgegangen, dass Einfühlung und kognitive Perspektivenübernahme gemeinsame Subfähigkeiten haben müssen, wie die Ich-Andere Unterscheidung. Eine wichtige Schlüsselrolle könnte darin die rechte temporal-parietale Junction (TPJ) spielen (Decety & Lamm, 2009). Diese Hirnregion ist in den meisten Neuroimaging-Studien über Empathie wie auch in den ToM Untersuchungen involviert. Sie scheint wesentlich zu sein für die Selbstbewusstheit und die Erkenntnis, dass die übernommenen Gefühle ihren eigentlichen Ursprung in der beobachteten Person haben (Lamm & Singer, 2010). Völlm et al. (2003) zeigten in ihrer fMRT Studie den Probanden Comics, die entweder eine empathische Einfühlung oder kognitive Perspektivenübernahme erforderten. So konnten sie zeigen, dass bei der ToM der STS eine wichtige Rolle spielt, während dies bei der Empathie weniger der Fall ist. Die Autoren gehen davon aus, dass diese Region für das Schlussfolgern über mentale Zustände anderer bedeutsam ist. Bei empathischen Aufgaben waren limbische Regionen wie die Amygdala und der anteriore cinguläre Cortex (ACC) stärker aktiviert als in den ToM Konditionen. Völlm et al. (2003) nehmen an, dass ToM und Empathie jedoch stark verlinkt sind in Bezug auf die soziale Wahrnehmung. Die neuronalen Netzwerke von ToM und Empathie überlappen sich stark, was sich beispielsweise in der Aktivierung der TPJ wie auch dem mPFC deutlich zeigt.

Der mediale präfrontale Cortex (mPFC) hat gemäss Decety und Jackson (2004) mehrere Aufgaben in Bezug auf ToM und Empathie. Er ermöglicht die Integration der eigenen kognitiven Konzepte, der impliziten affektiven Schemata und der empathiebasierten Antizipation möglicher Reaktionen des andern Individuums. So verhilft der mPFC zu einer effektiven Selektion und zur angepassten Planung des Verhaltens.

Manche Forscher betrachteten gezielt die Prozessierung der Empathie im neuronalen Netzwerk, ohne diese mit der ToM in Verbindung zu bringen. Speziell hervorgehoben wurde in diesen neurowissenschaftlichen Empathie-Studien oft die Rolle der anterioren Insula (AI) in der Prozessierung sozialer Emotionen (Lamm & Singer, 2010). Soziale Emotionen werden definiert als affektive Zustände, die nicht nur auf das Selbst bezogen sind, sondern abhängig sind vom sozialen Kontext und bei der Interaktion mit andern Menschen auftauchen. Dazu gehören Empathie, Mitleid und interpersonelle Phänomene wie Fairness und Kooperation (Lamm & Singer, 2010). Die Bedeutung der AI für die Empathie zeigt sich beispielsweise in den Forschungsergebnissen von Sterzer, Stadler, Poustka und Kleinschmidt (2007), die Jugendliche mit Verhaltensstörungen untersuchten. Es zeigte sich bei den Probanden im Vergleich mit einer Kontrollgruppe eine signifikante Reduktion der grauen Hirnmasse im bilateralen anterioren insulären Kortex. Ausserdem korrelierte das Volumen der AI signifikant mit den durch einen Fragebogen erhobenen Empathiewerten.

Ebenso interessant für die Empathieforschung in der Neurowissenschaft scheint die Rolle des anteroiren cingulären Cortex (ACC) zu sein. Der ACC ist auch bei Aufmerksamkeitsprozessen involviert (Nomi et al., 2008) und könnte bei der Beobachtung oder Vorstellung des affektiven Zustands der andern Person eine wichtige Rolle spielen. Die Rolle des ACC wird auch mit der subjektiven affektiven Dimension bestimmter Empfindungen wie Schmerz in Beziehung gebracht (Singer et al., 2004). ACC und AI scheinen gemäss diesen Autoren die emotionale Erfahrung zu reflektieren und könnten somit das Verständnis der Gefühle von uns selbst wie auch der Gefühle anderer darstellen.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783956847639
ISBN (Paperback)
9783956842634
Dateigröße
701 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bern
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Perspektivenübernahme Spiegelneuron Limbisches System empathische Kommunikation

Autor

Katja Margelisch, Psychologin FSP, wurde 1972 in Brig geboren. Nach einer 15 jährigen Tätigkeit als Grundschullehrerin studierte sie von 2008-2013 Psychologie an der Universität Bern. Aktuell arbeitet sie als Assistentin und Doktorandin an der Universität Bern und ist als Neuropsychologin in der Universitären Kinderklinik in Bern tätig. Ihre Faszination für die Neurowissenschaften und ihre vielfältigen Erfahrungen in der pädagogischen und psychologischen Praxis motivierten sie, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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