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Armut abschaffen: Entwicklungshilfe aus der Perspektive einer universalistischen Ethik

©2011 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Das Problem der globalen Ungleichheit in den Lebenschancen der Individuen entfacht die Dringlichkeit der Anerkennung von globalen Hilfspflichten und ihrer politischen sowie völkerrechtlichen Umsetzung. Doch wie lassen sich globale Hilfspflichten verstehen? Wie weit lassen sie sich begründen? Wer ist durch solche Pflichten gebunden? Individuen, Gruppen oder Staaten?
Die Studie widmet sich in erster Linie der Begründungsfragen und untersucht die Stärken und Schwächen der verschiedenen ethischen Begründungsansätze. Darüber hinaus werden die kulturellen und anthropologischen Gesichtspunkte hervorgehoben, welche der Effektivierung der globalen Hilfspflichten im Wege stehen können, und die bei einer nachhaltigen Entwicklungshilfe zu überwinden sind.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2 Entwicklungshilfe als Lösungsansatz des Problems der Weltarmut Was bedeutet Entwicklung?

Der Begriff Entwicklung ist vieldeutig. Sie kann neutral, als ein zeitlicher Vorgang des Werdens oder normativ, als eine gesetzmäßige Veränderung, verwendet werden. Der normative Begriff der Entwicklung beinhaltet eine Vorstellung über ein Soll des Werdens. Jedes Kleinkind entwickelt sich in seinem individuellen Tempo, jedoch bei einer medizinischen Vorsorgeuntersuchung wird geprüft, ob seine Entwicklung normal sei. Das Kleinkind gilt als normal entwickelt, wenn seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie seine äußerlichen Merkmale einer Liste von Mindestanforderungen, gemäß seinem Alter, entsprechen. Die Mindestanforderungen sind Erfahrungswerte, demnach die große Mehrheit der Kleinkinder als normal entwickelt gilt.

Der Naturprozess der Entwicklung wurde auf die Gesellschaft übertragen. Entwicklung wurde wie ein Gesetz formuliert, das zum Lebensstandard der Industriegesellschaften führt. Die Antrittsrede des US-Präsidenten Truman von 1949 hat den Begriff „unterentwickelt“ geprägt.[1] Eine kleine Minderheit[2] der Weltbevölkerung wurde zur Norm erklärt und seitdem gilt die große Mehrheit als „unterentwickelt“. Wenn man diese Norm auf die Entwicklung der Kleinkinder überträgt, so müssten alle Kinder, die nicht hochbegabt sind, als „unterentwickelt“ gelten.

Der Begriff der Entwicklung wurde immer wieder verändert, weil die Entwicklungsstrategien keine Erfolge zeigten.

Erst wurde Entwicklung als nachholende Entwicklung verstanden. Sie bedeutete nachholende Modernisierung der industriell „unterentwickelten“ Länder durch Wirtschaftswachstum. Die Formel der Entwicklung war eindimensional und lautete Entwicklung = Wirtschaftswachstum = Nachahmung der Industrienationen.[3]

Es stellte sich heraus, dass in vielen Entwicklungsländern trotz hoher Wachstumsraten die Armut der Bevölkerung stieg. So bekam der Begriff der Entwicklung eine soziale Dimension und hieß bedürfnisorientierte Entwicklung [4]. Es wurde erkannt, dass ohne die Befriedigung der Grundbedürfnisse eine Entwicklung nicht möglich ist.

Seit den neunziger Jahren hat sich ein neuer Begriff der Entwicklung durchgesetzt: die nachhaltige Entwicklung.[5] Sie bedeutet mehrdimensionale und menschenrechtsbasierte Entwicklung. Amartya Sen[6] hat diesen Begriff geprägt. Er definiert Entwicklung als Prozess der Ausweitung der realen Freiheiten der Menschen[7].

Nach Sen ist Freiheit[8] (freedom) positiv und bedeutet Ausbildung von Fähigkeiten sowie Gestaltung von Lebensmöglichkeiten. Negative Freiheiten (liberties) können als Mittel zur Erreichung der Ziele dienen. Sen sieht Entwicklung und Freiheit in enger Verbindung zueinander und er wendet sich gegen alle Theorien, die das Wachstum des Sozialprodukts oder die Anhäufung materieller Güter mit Entwicklung gleichsetzen. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse an materiellen Gütern wie Nahrungsmittel, Einkommen und Eigentum hat Priorität, aber die Qualität des Lebens (Sen spricht von „Lebensstandard“) hängt von der Erfüllung von zusätzlichen Bedingungen ab. Eine wesentliche Voraussetzung für die aktive Gestaltung des eigenen Lebens ist die Entscheidungsfreiheit („freedom of decision“). Äußerlich gesehen gibt es keinen Unterschied zwischen einem Menschen, der fastet und Einem der hungert, weil er arm ist. Der fastende Mensch hatte jedoch die Freiheit, sich für das Fasten zu entscheiden, und damit hat er auch einen wesentlich höheren Lebensstandard. Die Förderung der Fähigkeiten steigert die Handlungsfreiheit der Menschen, um bestimmte Ziele zu erreichen („achievements“). Das Ziel menschlicher Entwicklung ist die Erlangung der positiven Freiheit. Sie hat zwei Aspekte – die Freiheit des Sich-wohl-Fühlens („well being freedom“) und die Freiheit, Ziele zu erreichen („freedom to achieve“). Güter allein nützen nichts, wenn sie nicht in angemessener Weise eingesetzt werden. Wie ein Mensch sie einsetzt, hängt davon ab, wie er sein Leben gestalten kann und will. Ziel der Entwicklungspolitik soll daher die Förderung der positiven Freiheiten sein.[9]

Nach diesen Überlegungen wurde der Human Development Index erarbeitet. Er berücksichtigt drei Dimensionen der Entwicklung – Gesundheit, Bildung und Lebensstandard[10].

Auch dieser Begriff der Entwicklung hat manche Kritiker. Er steht unter dem Verdacht des Paternalismus.[11] Wenn Entwicklungsprozesse von außen angestoßen werden, kann es passieren, dass die Betroffenen sie nicht akzeptieren. Die Bereitschaft für die Änderung der Lebensgestaltung ist oft nicht vorhanden, weil die Betroffenen über keine Erfahrung verfügen, die sie dazu motivieren könnten, neuere Fähigkeiten wertzuschätzen. Ausbildungsprogramme oder Einführung von neuen Technologien können wegen Desinteresse der Zielgruppen oder wegen fehlender Motivation, ihr Leben zu ändern, scheitern.[12]

Es ist auch fraglich, ob die Menschen in den Industrieländern mehr Entscheidungsfreiheit haben als die Bürger der Entwicklungsländer. Wie groß ist die Freiheit des Familienvaters oder des Unternehmers mit hunderten von Angestellten, um aus dem Wohlstandsleben auszusteigen und ein einfaches Leben im Müßiggang zu führen? Jede gesellschaftliche Rolle, die der Mensch eingeht, verpflichtet ihn zu bestimmten Handlungen, die nicht immer den eigenen Wünschen entsprechen.

Die Förderung der Fähigkeiten steht nicht immer im direkten Zusammenhang mit Wohlbefinden und Erfolg. Je mehr Fähigkeiten man besitzt, desto höher sind die Erwartungen und deren Erfüllung immer schwieriger. Diese Überlegungen belegen die statistischen Zahlen des Human Development Reports bezüglich des Indikators „Wahrnehmung von individuellem Wohlbefinden und Glück“[13]. In manchen Ländern aus der Kategorie „sehr hohe menschlicher Entwicklung“ wie Portugal, Estland, Ungarn oder Slowakei ist der Lebenszufriedenheit insgesamt -Index niedriger oder ähnlich wie in manchen Ländern aus der Kategorie „niedrige menschliche Entwicklung“ wie zum Beispiel Malawi, Tschad oder Sudan.[14] Die Aspekte von Glück wie erfülltes Leben und respektvoll behandelt zeigen überraschende Ergebnisse: der Vergleich Japan (HDI-Rang 11) und Niger (HDI-Rang 167 aus 169) ergab, dass nur 76% der Japaner, aber 99% der Nigerianer der Meinung sind, sie hätten ein erfülltes Leben und nur 60% der Japaner, aber 93% der Nigerianer fühlen sich respektvoll behandelt.

Der Begriff der Entwicklung bedarf womöglich einer Überarbeitung, wenn die Entwicklungsstrategien nach wie vor keinen Erfolg zeigen. Im Diskurs über die Entwicklung müsste die Position der Entwicklungsländer zu diesem Thema besser vertreten sein. Die Debatten müssten eher mit den Betroffenen als über die Betroffenen stattfinden.

2.1. Lassen sich globale Hilfspflichten begründen?

Unabhängig davon, was man genau unter Entwicklung versteht, bleibt die Tatsache, dass Menschen an Hunger leiden und sterben, ein Übel. Die Hungernden befinden sich in einer permanenten Notlage. Ohne fremde Hilfe würden sie weiter leiden und sogar sterben. Wenn jemand uns fragt, ob es richtig ist, sie leiden und sterben zu lassen, antworten wir prompt Nein, es ist unmenschlich. Das, was wir intuitiv für richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht halten, begründet noch keine Hilfspflichten. Wir können der Meinung sein, dass Menschen an Hunger sterbenlassen falsch sei und uns dennoch dagegen wehren, wir hätten die Pflicht, den Hungernden zu helfen. Denn die moralische Pflicht zur Hilfe würde von uns viel verlangen. Wir müssten aktiv Hilfe leisten, täten wir es nicht, wäre es auf irgendeine Art sanktionierbar.

In der ethischen Debatte um die Entwicklungshilfe gibt es unterschiedliche Ansichten, ob und wie globale Hilfspflichten sich begründen lassen.

Es gibt unterschiedliche Argumentationsstrategien dafür. Man kann in der Argumentationskette vom Mensch als Individuum starten. Von hieraus kann man den Weg nach der Idee der Rechte gehen. Welche grundlegenden Rechte kommen allen Menschen absolut und universal zu? Wenn es solche Rechte gibt, dann gibt es auch die Pflicht, diese Rechte zu sichern.

Vom Individuum aus kann man auch den Weg nach der Idee der Pflichten gehen. Welche Pflichten haben wir gegenüber allen anderen? Welche Werte sind wir alle verpflichtet zu schützen?

Die zweite Argumentationskette startet vom Mensch als sozialen Akteur. An seiner sozialen Rolle sind bestimmte Verpflichtungen angeknüpft. Gehören die globalen Hilfspflichten auch dazu?

Im folgenden Abschnitt werde ich diese Argumentationsketten darstellen und sie analysieren.

2.1.1. Rechte und Pflichte des Individuums

2.1.1.1. Das Recht auf ein menschliches Minimum nach Oruka

Oruka[15] argumentiert für ein absolutes und universales Recht auf ein menschliches Minimum. Er baut sein Argument auf drei Konzepte: auf dem Konzept der „inhärenten Notwendigkeit“[16] der Grundrechte nach Henry Shue[17], auf dem Prinzip der Selbsterhaltung und auf dem Begriff der Person.

Die inhärente Notwendigkeit der Grundrechte nach Henry Shue

Die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse wird von Grundrechten (basic rights) gesichert. „Grundrechte sind also die vernünftigen minimalen Anforderungen eines jeden an den Rest der Menschheit.“[18] Die Sicherung der Grundrechte ist eine Notwendigkeit, um in den Genuss jedes anderen Rechts zu gelangen. Die inhärente Notwendigkeit ist ein Teil der Definition eines Grundrechts und nicht nur ein Mittel, um ein Recht zu erfüllen. Ein Teil der Definition vom Recht auf Versammlungsfreiheit ist, dass man sich in physischer Sicherheit sammeln kann. Sicherung und Schutz der physischen Sicherheit ist eine inhärente Notwendigkeit der Versammlungsfreiheit. Wenn Personen keine Garantie dafür bekommen, dass sie sich in Sicherheit versammeln können, dann wird ihnen Versammlung nicht als Recht zugesprochen.[19]

Das Prinzip der Selbsterhaltung

Jedes Lebewesen braucht für seine Existenz einen für ihn geeigneten Lebensraum und die Befriedigung seiner elementaren Grundbedürfnisse, um sich am Leben zu erhalten. So der Mensch auch. Im Besitz des Lebens zu sein, bedeutet für den Menschen, sich die grundlegendsten Bedürfnisse seiner Existenzerhaltung sichern zu können. Dieses Prinzip bezeichnet Oruka als Selbsterhaltung.[20]

Der Begriff der Person

Aufgrund seiner biologischen Artenzugehörigkeit kann der Mensch als „Mitglied der Spezies Homo sapiens“ definiert werden. Der Begriff Person schreibt dem Menschen bestimmte Eigenschaften zu, die über die biologischen Merkmale hinausgehen. Wenn Oruka von Person spricht, bezieht er sich auf die Fähigkeit des Menschen, rational und selbstbewusst zu handeln.[21] Diese Fähigkeiten erlauben der Person „die Funktion eines moralischen Agenten auszuüben“[22].

Das Recht auf ein menschliches Minimum

Für seine Selbsterhaltung benötigt der Mensch physische Sicherheit, Gesundheit und Subsistenz. Diese Grundbedürfnisse definiert Oruka als menschliches Minimum. Die Befriedigung des menschlichen Minimums ist die notwendige Grundbedingung des menschlichen Überlebens und der menschlichen Entwicklung. Die Erfüllung dieses Minimums wird vom Recht auf ein menschliches Minimum gesichert.

Damit eine Person mit ausreichender Rationalität und Selbstwahrnehmung funktioniert, müssen ihre Grundbedürfnisse befriedigt sein. Unterhalb dieses Minimums kann die Person immer noch biologisch ein Mensch und am Leben sein, aber sie kann nicht mehr die Funktion eines moralischen Agenten ausüben. Das menschliche Minimum ist für die Person das notwendige Mindestmaß, um rational und selbstbewusst handeln zu können. Wer hungert oder unter einer schmerzvollen Krankheit leidet, verliert seine Fähigkeit zu einem rationalen und bewussten Leben. Er ist damit beschäftigt, um jeden Preis zu überleben. Er wird sich, wie ein Ertrinkender, an jede Person oder jeden nächstliegenden Gegenstand klammern, wie irrational oder sinnlos dies für sein Überleben auch sein mag. Er wird extrem unfaire Verträge annehmen, die darauf gerichtet sind, aus seinem Unglück Profit zu ziehen. Das Recht auf ein menschliches Minimum ist daher ein inhärentes Recht von Personen[23]. Wird jemandem das Recht auf ein menschliches Minimum verweigert, werden ihm zugleich die notwendigen Bedingungen verweigert, um als eine Person zu handeln. Das heißt, die Ablehnung dieses Rechts bedeutet zugleich die Ablehnung des Personenstatus.[24]

Das Recht auf ein menschliches Minimum ist ein Grundrecht, weil seine Erfüllung die Grundvoraussetzung für die Ausübung jedes anderen Rechts ist. Es ist ein absolutes moralisches Recht, weil es nicht für ein anderes Recht aufgegeben oder eingeschränkt werden kann.[25]

Das Recht auf ein menschliches Minimum ist ein universales moralisches Recht. Die Erfüllung dieses Rechts kann nicht von irgendwelchen Merkmalen abhängig gemacht werden. Orukas Argument lautet: „Entfernte Völker, Fremde, Ausländer und die zukünftigen Generationen leben in demselben moralischen Universum (oder werden darin leben] wie unsere eigenen Verwandten und Freunde. Im Gegensatz zum Recht kennt die Moral keine nationalen oder rassischen Grenzen.“[26] Es ist moralisch notwendig, dass jedem, der sich nicht selbst erhalten kann, geholfen wird.[27]

Orukas Argumentation ist überzeugend. Die Anerkennung des moralischen Rechts auf ein Existenzminimum, wofür Oruka plädiert, führt zu der Dringlichkeit der Anerkennung von globalen Hilfspflichten. Wenn die Regierungen der reichen Länder dieses Recht anerkennen würden, hätte es für sie weit reichende Konsequenzen. Sie müssten auch die globalen Hilfspflichten anerkennen. Es ist aber schwer vorstellbar, dass die Regierungsbeauftragten über die nationalen Interessen hinaus moralische Hilfspflichten übernehmen werden.

Die Orientierung nach der Idee des Rechts führt zu der Schwierigkeit der Zuweisung von Hilfspflichten.[28]

2.1.1.2. Die Pflicht zur Hilfeleistung nach Kant

Analog zu Kant kann mit folgenden Überlegungen geprüft werden, ob Hilfeleistung an die Notleidenden eine Pflicht ist.

Ein Wohlhabender könnte denken, dass ihn die Not der Armen nichts angeht. Er könnte ihnen helfen, aber sein persönliches Prinzip ist, dass jeder Mensch für sein eigenes Leben selber die Verantwortung tragen sollte. Er würde weder das Glück anderer beneiden noch zum Unglück anderer beisteuern.

Könnte er aber wollen, dass sein Lebensprinzip ein allgemeines Gesetz wird? Dass es eine Welt gäbe, in der Notleidenden nicht geholfen wird zu überleben? Was würde passieren, wenn er in so einer Welt durch ein unvorhersehbares Ereignis alles verlieren würde, und um zu überleben auf fremde Hilfe angewiesen wäre?

In so einer Welt würden nur die Starken, die Gesunden, die Rücksichtlosen oder diejenigen überleben, die das Glück hatten, nie in eine Notlage zu geraten.

Ein Wille kann ohne Widerspruch nicht wollen, dass so ein Prinzip ein natürliches Gesetz wird. In der Not würde sich der Wille Hilfe wünschen, jedoch hätte sich der Wille mit dem Gesetz selbst alle Hoffnungen auf Hilfe genommen.

Aus diesem Widerspruch lässt sich die Pflicht ableiten. Wenn der Wille das Prinzip ohne Widerspruch nicht wollen kann, dann sollte das Gegenteil des Prinzips ein allgemeines Gesetz werden. Dies ergibt das Gebot zur Hilfeleistung. Diese Pflicht ist jedoch keine strenge oder enge Pflicht, sondern eine „weite“[29] Pflicht, weil die Menschheit ohne diese Pflicht weiter bestehen könnte. Sie ist eine unvollkommene Pflicht, weil die Verpflichtung Ausnahmen gestattet. Nur derjenige ist verpflichtet Hilfe zu leisten, der in der Lage ist zu helfen. Niemand könnte von einem Menschen, der selbst an Hunger leidet, erwarten, dass er auf sein Essen verzichtet, um es einem anderen Hungernden zu überlassen. Aufgrund von Pflichterfüllung sich selber in Lebensgefahr zu bringen, kann von niemandem erwartet werden. Tut er dies jedoch, ohne sich in Todesgefahr zu bringen, wird es ihm als ein besonderer Verdienst angesehen. Das Gebot zur Hilfeleistung ist eine verdienstliche Pflicht gegenüber anderen.

Das Argument ist plausibel. Auch das jüngste, leider sehr erschütternde Beispiel Japans bestätigt, dass auch eine hochentwickelte und reiche Nation in eine fatale Notlage geraten kann. Die Natur- und Atomkatastrophe von Fukushima[30] hat allen Opfern, reich oder arm, auf gleiche Weise ihre Lebensbedingungen zerstört. Ohne fremde Hilfe für die Notleidenden hätte die Katastrophe noch mehr Todesopfer gefordert.[31]

2.1.1.3. Die Verpflichtung zu helfen nach Singer

Das höchste moralische Gut ist aus utilitaristischer Perspektive die größte Summe des Glücks in der Welt. Eine Handlung ist moralisch dann richtig, wenn sie das Gesamtglück vermehrt. Leid und Schmerz vermindern das Glück in der Welt. Ein Dasein unter dem Existenzminimum bedeutet Leiden infolge von extremer Armut, d. h. Mangel an Nahrung, an Medikamenten und an Unterkunft. Nach Singer[32] sind wir verpflichtet, den Menschen, die armutsbedingt leiden, zu helfen. Die Notwendigkeit und das Ausmaß der Hilfe müssen sich an dem Interesse der Bedürftigen orientieren, Leid zu vermeiden. Nähe, Ferne oder sonstige Merkmale dürfen bei der Abwägung der Hilfeleistung keine Rolle spielen. Wer am meisten leidet, dem muss am dringendsten geholfen werden. Der Nutzen der Hilfe ist dort am höchsten, wo der Mangel an Grundbedürfnissen am höchsten ist. Das Prinzip der Hilfe soll durch die Umverteilung der materiellen Ressourcen geschehen. Die Gesamtsumme der Lust in der Welt wird durch Verminderung von Leid gesteigert. Wenn die Wohlhabenden Geld spenden, vermindern sie das Leid in der Welt ohne dabei die Lust in der Welt spürbar zu mindern. Nach dem Prinzip des sinkenden Grenznutzens[33] aus der Ökonomie ist der Nutzen von Etwas dort am größten, wo am wenigsten von diesem Etwas vorhanden ist. Für jemanden, der hungert, kann eine Schale Reis lebensrettend sein, dagegen für jemanden der im Überfluss lebt, spielt die Schale Reis für sein Wohlergehen keine Rolle. Wird dieses Prinzip auf die Geldspende übertragen, bedeutet dies, dass ein Euro für jemanden, der diesen Betrag für seinen täglichen Lebensunterhalt nicht hat, lebensrettend sein kann, dagegen für jemanden, der im Überfluss lebt, hat der Verzicht auf einen Euro keine spürbare Auswirkung auf seine Lebensqualität.

Singer baut sein Argument für Hilfsplichten auf den folgenden, hier sinngemäß dargestellten, Prämissen auf[34]:

Erste Prämisse: Es ist schlimm, wenn Menschen armutsbedingt leiden oder gar sterben.

Zweite Prämisse: Wenn man etwas Schlimmes verhindern kann, ohne ein vergleichbar bedeutendes Opfer bringen zu müssen, dann ist es verwerflich, dies nicht zu tun.

Dritte Prämisse: Wenn man (Geld an Hilfsorganisationen) spendet, kann man armutsbedingtes Leiden verhindern, ohne dass man sich selbst in dieselbe Lage bringt.

Die Schlussfolgerung aus den Prämissen ist, dass wer nicht spendet, handelt falsch.[35]

In der früheren Version seines Arguments verwendete Singer „ein bestimmte Maß von absoluter Armut verhüten“[36] anstelle von „Geld für Hilfsorganisationen spenden“.

Man kann sich natürlich darüber Gedanken machen, welche die Vor- und Nachteile von diesem konkreten Vorschlag sind, wie man Armut vermindern kann. Ein Nachteil ist, dass er ein großes Vertrauen in die Hilfsorganisationen voraussetzt. Viele potentielle Helfer sind skeptisch, ob das gespendete Geld tatsächlich die Bedürftigsten erreicht. Ein Vorteil ist, dass die Geldspende eine bequeme Art der Hilfeleistung ist. Man delegiert damit die Verantwortung. Sobald man das Geld gespendet hat, ist das Gewissen entlastet und man braucht sich mit dem Thema nicht mehr zu beschäftigen. Armut ist aber ein Symptom der Missstände auf der Welt und sie bedarf dauerhaft einer nachhaltigen und kritischen Auseinandersetzung mit dem Problem.

Abgesehen von dieser Überlegung bleibt Singers Anforderung an uns radikal. Wer nicht hilft, handelt falsch. Wir haben die moralische Verpflichtung, das armutsbedingte Leiden und Sterben zu verhindern. Wer nicht hilft, nimmt den Tod einer Person in Kauf. Sterbenlassen sei das moralische Äquivalent zu Töten.[37] Singer stellt die Unterlassung der Hilfe auf die gleiche Stufe wie die Tötung einer Person durch rücksichtsloses Fahren.

Die größte Kritik an Singers radikaler Forderung zur Hilfeleistung ist die Überforderung des Individuums. Wenn die Unterlassung der Hilfe Sterbenlassen bedeutet, egal wie viele Leben man mit seiner Geldspende gerettet hat, bleiben immer noch viele, die man sterben lassen muss. Wie viel Hilfeleistung ist für die individuelle Pflichterfüllung genug? Konsequent müsste man alles über dem Existenzminimum spenden. Es gibt Philosophen, wie Peter Unger, die genau dieses Verhalten für moralisch richtig halten. Nach Unger wäre es falsch, nicht nahezu das gesamte Vermögen, welches man besitzt, zu spenden.[38] Singer geht nicht soweit. Er entlastet am Ende das Individuum und empfiehlt, dass sich wenigstens jeder vornehmen soll, etwas mehr zu tun als bisher. Denn das Geben steigert das eigene Glücksempfinden.[39]

Ein weiterer Kritikpunkt an Singers Konzept ist die Orientierung am Leid als einziges Kriterium für die Hilfeleistung. Leid ist eine subjektive Empfindung des Menschen.[40] Die Intensität der sozialen Bindung und die regionalen Umweltbedingungen, in dem die Notleidenden leben, werden nach dem utilitaristischen Prinzip außer Acht gelassen. Eine politische und sozialkritische Positionierung wird dabei nicht formuliert.

Ein dritter Kritikpunkt könnte lauten, dass das Prinzip von Nutzenmaximierung der Hilfe auch zu einem anderen Ergebnis führen kann, als zur Hilfe nach Bedürftigkeit. Nach dem „Triage“[41] Verfahren haben die lebensrettenden Maßnahmen Priorität. Die Hilfsbedürftigen werden nach dieser Methode in drei Gruppen eingeteilt: In die Erste diejenigen, die auch mit Hilfe nicht überleben würden, in die Zweite diejenigen, die nur mit sofortiger Hilfe überleben und in die Dritte diejenigen, die auch ohne Hilfe überleben können. Der Nutzen der Hilfe ist in der zweiten Gruppe der höchste, weil die Hilfeleistung die Überlebenschancen der Bedürftigen erhöht. Überträgt man dieses Verfahren auf die Entwicklungshilfe, so sollten denjenigen Entwicklungsländern geholfen werden, bei denen sich die Hilfe noch „lohnt“.[42] Die Bedürftigsten hätten trotz Hilfe eine geringere Chance zu überleben.

[...]


[1] Esteva, S. 56

[2] Heute sind es ein Siebtel der Weltbevölkerung: ca. 1 Milliarde von 6,9 Milliarden, HDR 2010

[3] Institut für Menschenrechte

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Amartya Sen, indischer Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph

[7] Zitiert nach Kesselring, S. 271: Amartya Sen: „Development can be seen, […], as a process of expanding the real freedoms that people enjoy“.

[8] Der gesamte Absatz bezieht sich auf: Kesselring, Amartya Sens positive Freiheit, S. 88-92

[9] Kesselring, S. 88-92

[10] HDR 2010uman, S. 31

[11] Kesselring, S. 104-105

[12] Kesselring, S. 104-105

[13] HDR 2010, S. 220-223

[14] Lebenszufriedenheit insgesamt -Index O-niedrigste bis 10-höchste: Estland 5,6; Ungarn 5,7; Slowakei 5,8; Portugal 5,9; Malawi 6,2 Tschad 5,4, Sudan 5,0

[15] Henry Odera Oruka, kenianischer Philosoph

[16] Zitiert nach Oruka, S 10

[17] Henry Shue, amerikanischer Philosoph

[18] Ebd., S. 10

[19] Ebda.

[20] Oruka, S. 10

[21] Ebd., S. 11

[22] Ebd., S. 12

[23] Oruka S. 12

[24] Ebd., S. 13

[25] Ebd., S. 12

[26] Ebd., S. 15

[27] Oruka, S. 12

[28] Kant, GMS (421-423)

[29] Zitiert nach Kant, 424

[30] Am 11. März 2011 zerstörten Erdbeben und Tsunami die Reaktoren des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi in Japan.

[31] Singer (1994) S. 39-43 und Singer (2010)

[32] Peter Singer, australischer Philosoph

[33] Singer (1994), S. 43

[34] Singer (2010), S. 30

[35] Ebd., S. 30

[36] Singer (1994), S. 294

[37] Singer (1994), 291

[38] Unger 1996, S. 143: “It would be seriously wrong not to send to the likes of UNICEF and OXFAM, about as promptly as possible, nearly all your worldly wealth”

[39] Singer (2010), S. 227

[40] Kesselring, S. 99

[41] Auswahl der Hilfsempfänger nach Katastrophen, Kesselring, S.321

[42] Kesselring, S. 37, nach Hardin: „Liefeboat Ethics“

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783956847950
ISBN (Paperback)
9783956842955
Dateigröße
722 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Weltarmut Globalisierung Hilfspflichten Menschenrechte Existenzminimum Welthungerhilfe Entwicklungsland Dritte Welt

Autor

Renáta Ellermann wurde 1958 in Cluj/Rumänien geboren. Sie studierte dort Wirtschaftswissenschaften und arbeitete als Mathematiklehrerin. Seit 1986 lebt sie in Deutschland. Nach 20 Jahren Berufstätigkeit als IT-Systementwicklerin, beschloss sie wieder zu studieren. Sie absolvierte in Düsseldorf ein Studium der Philosophie und Geschichte mit dem Masterabschluss in Philosophie und wurde zur Promotion angenommen.
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