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Die verlorene Generation: Erinnerung und autobiografisches Schreiben bei Jana Hensel und Sabine Rennefanz

©2014 Masterarbeit 68 Seiten

Zusammenfassung

Das Augenmerk dieser Arbeit richtet sich auf das unmittelbar mit autobiografischem Schreiben zusammenhängende Moment des Erinnerns, genauer auf dessen Bedeutung und formale wie inhaltliche Darstellung. Dieses Feld wurde im Hinblick auf die Nachwendeliteratur vor allem durch die Thesen Bluhms und Prof. Dr. Carsten Gansels bereichert. Hensel und Rennefanz gehören ein und derselben Generation an, daher wäre davon auszugehen, dass ihre Erinnerungen an die Kindheit und demzufolge die Entwicklungen nach der Wende ähnliche sind. Doch dies ist scheinbar nicht der Fall, denn, so behauptete nicht nur Thomas Bernhard schon vor 30 Jahren in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sondern auch Hensel und Rennefanz weisen innerhalb der hier behandelten Werke darauf hin, die eigene Geschichte rückblickend objektiv und historisch korrekt zu erzählen sei nicht möglich. Von subjektiven Erfahrungen unabhängige, äußere Einflüsse, wie zum Beispiel Medienberichte, aber auch spätere Lebensumstände prägen und verändern die persönliche Erinnerung und Haltung gegenüber der eigenen Vergangenheit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


- 2 -
Pubertät und Volljährigkeit erlebten wir in jenem geographischen Raum, der danach kam. Wir
sind weder in der DDR noch in der Bundesrepublik erwachsen geworden. Wir sind die Kinder der
Zone, in der alles neu aufgebaut werden musste, kein Stein auf dem anderen blieb und kaum ein
Ziel bereits erreicht worden ist. [...] Eine ganze Generation entstand im Verschwinden.
5
Die Erfahrung des politischen Umbruchs und das Aufwachsen zwischen zwei Ländern, die
Arbeitslosigkeit und damit einhergehende Irritation der Eltern, aber auch die Lebensart eines
heute nicht mehr existierenden Staates beeinflussten diese Generation immens. Aufgrund des
Alters waren sie dabei noch kaum in der Lage, kritisch über das politische System zu
reflektieren. Der Fall der Mauer bedeutete für sie weniger eine neu erlangte Freiheit als
vielmehr einen Zustand ,metaphysischer Obdachlosigkeit` (vgl. EK 242). In ihren Erstlings-
werken arbeiten Rennefanz und Hensel die Kindheit in der DDR, die in ebendiesem Rahmen
stattfand, und die Zeit nach der Wende rückblickend noch einmal auf. Obwohl beide
Autorinnen eines Alters sind, in ähnlichen Umständen aufwuchsen und dieselbe Thematik
gewählt haben, weisen ihre Werke dabei große Unterschiede auf.
Rennefanz` Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration erschien im März 2013. Die
Autorin zieht darin biografische Parallelen zwischen sich, Uwe Mundlos sowie dessen
Mittätern und versucht gewissermaßen, sich und ihre ganze Generation zu erklären
beziehungsweise zu verteidigen. Die heutige Redakteurin wurde 1974 in der Nähe von
Eisenhüttenstadt geboren, wuchs in der sozialistischen Planstadt auf und verzeichnet in ihrer
Biografie einen (ihrer Meinung nach) ähnlichen Drang zu Radikalität nach der Wende wie der
Nationalsozialistische Untergrund (NSU). Den Auslöser dafür sucht sie in der Sozialisation
nach der Wende. Ihr Buch ist von Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit sowie der bereits im
Titel benannten Wut gezeichnet, welche sie auf die gesamte Generation, die sie Eisenkinder
nennt, zu übertragen scheint. Rennefanz begibt sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit, um
auf diese Weise nicht nur die Ursachen für die Verbrechen des NSU, sondern insbesondere
auch für ihre eigene radikale Veränderung im wiedervereinigten Deutschland zu finden.
Zudem versucht sie, bestimmte, die neuen Bundesländer betreffenden, Stereotype
aufzubrechen. Sie erzählt von ihrer Kindheit und Jugend in einem Internat in Eisenhütten-
stadt, ihrer Wahrnehmung der Wendezeit, der Entwicklung hin zu einer radikalen christlichen
Missionarin in Hamburg bis in die Schreibgegenwart zum Zeitpunkt ihrer Reise in die Heimat
Eisenhüttenstadt, mit der sie die Erzählung beginnt.
5
Hensel, Jana: Zonenkinder. Hamburg 2004, S. 159f. Dieses Werk wird im Folgenden mit der Sigle ZK und
unter Angabe der Seitenzahl im Fließtext angeführt.

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Jana Hensels Zonenkinder wurde bereits elf Jahre zuvor, 2002, veröffentlicht und zählt zu den
bekanntesten Werken der Wendeliteratur. Zwar werden auch hierin Heimat- und
Orientierungslosigkeit thematisiert, doch gestaltet sich nicht nur der Inhalt der Erzählung,
sondern auch der Grundton des Textes vollkommen anders. In acht Kapiteln beschreibt
Hensel ihre Erinnerungen an die DDR zu Themen wie Kindheit, Heimat oder Schule.
Während in Zonenkinder die Wende als ,,Märchenzeit" (ZK 14) und der Westen - zumindest
anfangs - als ein zu erkundendes neues Land beschrieben wird, sieht sich Rennefanz als Teil
jener von Bürgel so bezeichneten ,,verlorenen Generation" (vgl. EK 8), geprägt von
Verunsicherung, Unbehagen und stiller Wut (vgl. EK 11).
Doch warum stellt sich ein sowohl geografisch als auch zeitlich klar definierter Raum bei
zwei Frauen einer Generation so unterschiedlich dar? Das Ziel dieser Arbeit ist es, diese Frage
zu klären. Dabei geht es nicht um eine sozialwissenschaftliche Analyse, die sicherlich
ebenfalls interessante Ergebnisse bringen würde, sondern um eine Untersuchung der
literarischen Gestaltung von Erinnerung in den beiden genannten Werken. Die Germanistin
Dr. Magdalena Kardach, die seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen
Institut der Universität Pozna ist, hat in einer Analyse des Identitäts- und Mentalitätswandels
innerhalb der deutschen Literatur seit der Wende die These aufgestellt, dass die einzelnen
Generationen innerhalb der DDR- und Wendeliteratur verschiedene Perspektiven einnehmen
würden.
6
Demzufolge müssten bei Hensel und Rennefanz zahlreiche Parallelen zu finden
sein. Dies ist auf den ersten Blick allerdings nicht der Fall.
Um herauszufinden, worin diese Unterschiede liegen, werden im Rahmen dieser Arbeit drei
Aspekte in den Fokus gerückt. Ein gewisser autobiografischer Anteil ist weder Zonenkinder
noch Eisenkinder abzusprechen, doch mit einer eindeutigen Gattungszuordnung tun sich
Forschung und Feuilletons schwer. Da sowohl die Diskussion um Grenzen und Kriterien, als
auch die Forschungsliteratur sehr vielseitig und umfassend sind, geht es zunächst darum, den
dieser Arbeit zugrundeliegenden Autobiografie-Begriff zu erfassen. Die Grundlage werden
hier vor allem die Texte Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaafs, derzeit tätig am Germanis-
tischen Institut der Universität Münster, aber auch Kardachs Thesen bilden. Eine kurze
Einführung in die Geschichte der Gattungstheorie der Autobiografie sowie das Bestimmen
einiger Gattungskriterien soll es ermöglichen, beide Werke in den autobiografischen Diskurs
einzuordnen und die anschließenden Kapitel auf diese Erkenntnisse aufzubauen. Ein
6
Kardach, Magdalena: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung. Identitäts- und Mentalitätswandel in
der autobiographisch inspirierten Literatur nach der ,Wende'. Frankfurt am Main [u.a.] 2011, S. 66.

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unbedingt zu definierender Begriff ist an dieser Stelle der des ,autobiografischen Pakts`,
welcher 1975 von dem französischen Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune geprägt
wurde und die Identität von Autorin, Erzählerin und Protagonistin im Rahmen
autobiografischen Schreibens thematisiert.
Eine Analyse der Erzählerinstanz erfolgt im zweiten Abschnitt, da angenommen wird, dass
Eisenkinder und Zonenkinder, wenn auch nicht unbedingt im engeren Sinne, autobiografisch
sind. Zunächst ist zu überprüfen, ob der autobiografische Pakt nach Lejeune angeboten und
damit jene geforderte Identität hergestellt und umgesetzt wird: Inwiefern treten Hensel und
Rennefanz aus ihrer schriftstellerischen Anonymität heraus und geben sich selbst innerhalb
ihrer Werke preis? Welche Perspektive und sonstigen Erzählstrategien verwenden sie und auf
welche Weise interagieren sie mit dem Rezipienten? Auch die Intention beider Autorinnen
wird an dieser Stelle untersucht, da sie sich - wie zu zeigen sein wird - maßgeblich auf das
Erzählen auswirkt.
Das Augenmerk dieser Arbeit richtet sich in einem dritten Teil schließlich auf das unmittelbar
mit autobiografischem Schreiben zusammenhängende Moment des Erinnerns, genauer auf
dessen Bedeutung und formale wie inhaltliche Darstellung. Dieses Feld wurde im Hinblick
auf die Nachwendeliteratur vor allem durch die Thesen Bluhms und Prof. Dr. Carsten Gansels
bereichert. Wie bereits erwähnt, gehören Hensel und Rennefanz ein und derselben Generation
an, daher wäre davon auszugehen, dass ihre Erinnerungen an die Kindheit und demzufolge
die Entwicklungen nach der Wende ähnliche sind. Doch dies ist scheinbar nicht der Fall,
denn, so behauptete nicht nur Thomas Bernhard schon vor 30 Jahren in einem Interview in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sondern auch Hensel und Rennefanz weisen innerhalb
der hier behandelten Werke darauf hin, die eigene Geschichte rückblickend objektiv und
historisch korrekt zu erzählen sei nicht möglich. Von subjektiven Erfahrungen unabhängige,
äußere Einflüsse, wie zum Beispiel Medienberichte, aber auch spätere Lebensumstände
prägen und verändern die persönliche Erinnerung und Haltung gegenüber der eigenen
Vergangenheit. So gesteht Hensel in Zonenkinder: ,,Und oft schon vermischen sich in unseren
Anekdoten über das Land, aus dem wir angeblich stammen, eigene Erlebnisse mit Gelesenem
und Gehörtem." (ZK 132).
Auch Rennefanz erinnert sich ,,weniger an Ereignisse als an ein Gefühl" (EK 110) und
verweist weiterhin auf den Faktor der Zeit: ,,Je länger die DDR zurückliegt, desto holzschnitt-
artiger wird die Wahrnehmung." (EK 9). Doch es ist gerade das Erinnern, das dem autobio-

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grafischen Schreiben zugrunde liegt und in Eisenkinder und Zonenkinder genutzt und
verarbeitet wird. Wie sich der Rückbezug auf die Vergangenheit in den beiden Werken
vollzieht und wie sie sich in der Darstellung trotz des ähnlichen Hintergrundes unterscheiden,
soll hier geklärt werden. Dabei werden nicht nur formale Aspekte analysiert, sondern vor
allem auch das Inhaltliche der Erinnerungen einander vergleichend gegenübergestellt.
Während für Zonenkinder ein breit gefächertes Angebot an Sekundärliteratur vorliegt, ist dies
für Eisenkinder noch nicht der Fall. Deshalb stützt sich diese Arbeit vor allem auf im
Allgemeinen die Wende und den Erinnerungsdiskurs thematisierende Literatur und versucht
diese Thesen auf Eisenkinder zu übertragen. Hierzu zählen zum Beispiel die beiden von
Gansel herausgegebenen Konferenzschriften Das ,,Prinzip Erinnerung" in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 und Rhetorik der Erinnerung, Fabian
Thomas` Neue Leben, neues Schreiben?, worin neben Zonenkinder auch die Werke Ingo
Schulzes und Christoph Heins behandelt werden, sowie die bereits erwähnten Arbeiten
Kardachs und Wagner-Egelhaafs. In Bezug auf die Erinnerungsthematik liefern auch diverse
Forschungstexte zu vergleichbaren Erzählungen oder kanonisch gewordenen Werken wie
Kindheitsmuster neue Denkansätze. Hier ist insbesondere Christian Kluwes Aufsatz
,,Phantomschmerzen" zu nennen. Der ungleiche Forschungsstand bezüglich Hensel und
Rennefanz stellt deshalb kein Problem dar, sondern erleichtert stattdessen vielmehr den
Vergleich zweier Werke, zwischen deren Erscheinen mehr als ein Jahrzehnt deutsche
Geschichte liegt.

- 6 -
2
R
ENNEFANZ UND
H
ENSEL IM
D
ISKURS DER
A
UTOBIOGRAFIE
Die an eine Autobiografie beziehungsweise an einen Text mit offenkundig autobiografischem
Gehalt geknüpften Rezeptionserwartungen können ebenso unterschiedlich sein wie die zwei
in dieser Arbeit behandelten Werke:
Zum einen werden biographische und autobiographische Texte gelesen, weil ihre einem
historischen oder einem menschlich-lebensweltlichen Interesse verpflichteten Leserinnen und
Leser Einblick in und Aufschluss über ein realiter gelebtes Leben gewinnen möchten, zum anderen
sind es ästhetische Beweggründe, die hinter der Lektüre von Lebensdarstellungen stehen [...]
7
Wagner-Egelhaaf verweist weiterhin auf die ,,zweifache Lesbarkeit"
8
von Autobiografien:
einerseits als historisches Zeitzeugnis, andererseits als Kunstwerk. Vor allem im Alltag
werden persönliche Lebensbeschreibungen oftmals eher als Sachbuch verstanden und weniger
als literarisches Genre. Um zu ermitteln, welche Erwartungen an die beiden Texte gestellt
werden können und unter welchen Gesichtspunkten die Erzählerinstanz sowie die Bedeutung
von Erinnerung zu untersuchen sind, ist es hilfreich, Eisenkinder und Zonenkinder zunächst in
den Gattungsdiskurs einzuordnen.
Diesem Kapitel liegt die Annahme zugrunde, dass es sich bei jeder Autobiografie immer
(auch) um einen literarischen Text handelt. Wie bereits angesprochen, ist diese These jedoch
nicht die reguläre Rezeptionshaltung, wobei die Ursache dafür in der Geschichte der Gattung
zu suchen ist. Ein kurzer theoretischer Überblick wird deshalb den Weg der Autobiografie bis
hin zum literarischen Werk erläutern, wobei die Ausführungen Wagner-Egelhaafs und der
Sammelband Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung von
Günther Niggl als Grundlage dienen. Im Hinblick auf das dritte Kapitel wird außerdem
insbesondere auf den von Philippe Lejeune geprägten Begriff des autobiografischen Pakts und
einige weitere Kriterien eingegangen, die helfen werden, Eisenkinder und Zonenkinder in den
Gattungsdiskurs einzubetten.
2.1
V
ON DER HISTORISCHEN
Q
UELLE ZUR LITERARISCHEN
G
ATTUNG
Für wenige literarische Gattungen lassen sich derart verschiedene Definitionen finden wie für
die Autobiografie. Auch heute noch muss zwischen einem allgemeinen, alltäglichen und
einem literaturwissenschaftlichen Verständnis differenziert werden. Die hauptsächliche
Ursache dafür ist die historische Entwicklung der Gattung, die Kardach in drei zeitlich
7
Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 1.
8
Ebd.

- 7 -
aufeinanderfolgende Ansätze gliedert: Hermeneutik, Sozialgeschichte und Autofiktion. Die
Ursprünge autobiografischen Schreibens sind bereits in der Antike zu finden, erst im
Humanismus aber erlangten derartige Werke auch aus wissenschaftlicher Perspektive eine
Bedeutung. Als ,biografische Dokumentation`
9
wurden sie verstanden, waren folglich
weniger für die Literatur- als vielmehr für die Sozial- und Gesellschaftswissenschaften von
Interesse. Autobiografien hatten den Status einer ,,unmittelbare[n] Wirklichkeitsaussage"
10
inne, sollten der Erweiterung von Welt- und Menschenkenntnis dienen, nicht unterhalten,
sondern belehren, warnen und weiterbilden.
11
Ein Wandel des Gattungsverständnisses kann erstmals bei Wilhelm Dilthey festgestellt
werden, der mit seiner Schrift Das Erleben und die Selbstbiografie die Autobiografie-
Forschung begründete. In Anlehnung an sein hermeneutisches Konzept versteht er die
Autobiografie als den ,,direkteste[n] Ausdruck der Besinnung über das Leben"
12
und ,,die
höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens
entgegentritt."
13
Dem Begriff des Verstehens kommt in diesem Sinne eine zweifache
Bedeutung zu: Zum einen ermöglicht die Autobiografie dem Autor das Selbstverständnis
seines Lebens, zum anderen dem Leser das Verstehen des Lebensablaufs. Autobiografie gilt
nicht länger als authentische Dokumentation einer bestimmten Zeit, sondern wird als
,,Deutung des Lebens in seiner geheimnisvollen Verbindung von Zufall, Schicksal und
Charakter"
14
, Zeugnis der Sinnsuche und -gebung des eigenen Lebens, als ,,Überformung"
15
der Zeit verstanden.
Nach Dilthey wird jede Erinnerung im Rückblick zugunsten des aktuellen Lebenssinns, zum
Beispiel Bekehrung oder Verteidigung, ausgerichtet beziehungsweise erfolgt rückblickend im
Schreiben das Verstehen des Lebensweges. Die Autobiografie ist ein instruktiver Ausdruck
dieser These.
16
Dilthey weist zudem darauf hin, dass autobiografisches Schreiben - wie bereits
in der Einleitung erläutert wurde - nie objektiv erfolgen kann:
9
Vgl. Kardach: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung, S. 69.
10
Ebd., S. 68.
11
Misch, Georg: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte
einer literarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl. Darmstadt 1998, S. 33.
12
Dilthey, Wilhelm: Das Erleben und die Selbstbiographie. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte
einer literarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl Darmstadt 1998, S. 26.
13
Ebd., S. 28.
14
Ebd., S. 25.
15
Holdenried, Michaela: Autobiographie. Stuttgart 2002, S. 16.
16
Dilthey: Das Erleben und die Selbstbiografie, S. 28.

- 8 -
Und zwischen diesen Gliedern ist ein Zusammenhang gesehen, der freilich nicht ein einfaches
Abbild des realen Lebensverlaufs so vieler Jahre sein kann, der es auch nicht sein will, weil es
sich eben um ein Verstehen handelt, der aber doch das ausspricht, was ein individuelles Leben
selber von dem Zusammenhang in ihm weiß.
17
Mit seiner Geschichte der Autobiografie baut Diltheys Schüler Georg Misch auf diese Thesen
auf, erweitert Diltheys Ansatz aber um den Begriff der Identität, die für ihn zu einem
strukturierenden Moment zwischen Autor und Protagonist wird. Nach Misch ist das Innerste
des Autors Bestandteil eines jeden Textes. Er legt dieser Annahme deshalb einen
emphatischen Persönlichkeitsbegriff zugrunde.
18
Dieser Ansatz, das jede Autobiografie
Zeugnis einer Identitätsentwicklung und damit als ,,allgemeine Aussprache der
Lebenserfahrung zu verstehen"
19
sei, hat im Autobiografie-Diskurs bis heute Gültigkeit. Auch
Misch gesteht dem Autobiografen freien Umgang mit der Wahrheit zu und geht in diesem
Zusammenhang auf die Bedeutung von Erinnerung ein:
Schließlich hat, wer es unternimmt, die Geschichte seines eigenen Lebens zu schreiben, dieses als
ein Ganzes vor sich, das seine Bedeutung in sich trägt. In diesem einheitlichen Ganzen haben alle
Tatsachen und Gefühle, Handlungen und Reaktionen, die er aus dem Gedächtnis hervorzieht, die
Vorfälle, die ihn erregten, die Menschen, denen er begegnete, ihren bestimmten Platz, dank ihrer
Bedeutung für das Ganze. Er selbst weiß um diese Bedeutung seiner Erlebnisse, gleichviel, ob er
es hervorhebt oder nicht. Er versteht sein Leben allein durch die Bedeutung, die er ihnen beimißt.
Dieses Wissen, das ihn instand setzt, sein Leben als ein einheitliches Ganzes zu verstehen, hat sich
in ihm im Laufe seines Lebens aus den Erlebnissen herausgebildet.
20
Ziel einer Autobiografie sei es folglich nicht, einen exakten, realistischen Überblick über
historische Ereignisse zu geben, sondern diese aus Sicht einer bestimmten Person, nämlich
des Verfassers, unter Berücksichtigung der eigenen Identitätsbildung vom Zeitpunkt des
Erlebens bis hin zum Zeitpunkt des Erinnerns, zu schildern. Soziale oder gesellschafts-
politische Problemstellungen sind für das Erzählte nur solange von Bedeutung, wie sie für das
Verstehen der Lebensgeschichte als Ganzes nötig sind.
Dilthey und sein Schüler widersprechen dem humanistischen Denkansatz, die Autobiografie
als historische Quelle zu verstehen und verweisen darauf, dass ,,Erinnerung nicht als
mechanische Reproduktion vonstatten geht."
21
Deshalb entwickeln insbesondere die
Psychologie und sozialgeschichtliche Wissenschaften ab dem 19. Jahrhundert ein
zunehmendes Interesse an Autobiografien und rücken die Gattung damit in ein
,,Überschneidungsfeld der literarischen Selbstzeugnisse und der historiographischen
17
Ebd., S. 29.
18
Ebd.
19
Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie, S. 36.
20
Ebd., S. 41.
21
Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie, S. 46.

- 9 -
Gattungen."
22
1981 greift Adolf Muschg auf diese Theorie zurück und spricht dem Schreiben
von literarischen Texten, dabei insbesondere dem autobiografischen Schreiben als eine Form
der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, eine therapeutische Wirkung zu. Bestätigung
findet dieser Ansatz beispielsweise deutlich in den zahlreichen Publikationen autobio-
grafischer Schriften nach der Wende über das Leben im geteilten Deutschland. Rennefanz`
Eisenkinder ist - um vorzugreifen - ebenfalls ein Beispiel für diese These.
Ein Wandel beziehungsweise vielmehr eine Erweiterung des hermeneutischen Autobiografie-
Begriffes erfolgt ab 1970, wobei die Instanz des Individuums um gesellschaftliche und
kulturelle Ereignisse erweitert wird. So interpretieren unter anderem Werner Mahrholz, Bernd
Neumann und Peter Sloterdijk die Autobiografie als ,,Indikator gesellschaftspolitischer
Prozesse" und ,,Form sozialen Handelns"
23
, unter Berücksichtigung sozial- und psycho-
analytischer Thesen. Es findet eine Rückbesinnung auf das Verständnis der Autobiografie als
historisches Zeugnis statt, mit dem Wissen jedoch, dass es sich nicht um Fakten, sondern um
das Leben im ,,unmittelbaren Niederschlag" handelt,
24
somit folglich den Vorgängen des
Erinnerns und Vergessens unterliegt.
Als Zuspitzung dieser Thesen ist der erst in der jüngeren Geschichte eingeführte Begriff der
Autofiktion zu verstehen: Er führt das literarische Element der Fiktion in die Gattungs-
diskussion ein, wie es Goethe gewissermaßen bereits in seiner großen Autobiografie Dichtung
und Wahrheit tat:
[...] es war mein ernstestes Bestreben das eigentlich Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in
meinem Leben ob gewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches
in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft
wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische
Vermögen auszuüben, so ist es klar, dass man mehr die Resultate und, wie wir uns an das
Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und
hervorheben werde.
25
Unter autobiografischem Schreiben versteht sich nun nicht mehr das möglichst objektive
Abbilden eines Lebens, sondern um dessen Konstruktion. Die Subjektivität des Verfassers
gewinnt an Bedeutung, das Vergessen, das unweigerlich Teil des Erinnerns ist, wird fortan
berücksichtigt. Somit setzt eine Verschriftlichung des eigenen Lebens immer ein
Hinzudichten oder gänzliches Neugestalten voraus, um eine lückenlose Erzählung zu
22
Niggl, Günter: Studien zur Autobiographie. Berlin 2012, S. 39f.
23
Kardach: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung, S. 75f.
24
Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 28.
25
Zitiert nach Kardach: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung, S. 77.

- 10 -
garantieren. Dabei ist die gegenwärtige Erzählsituation von besonderer Bedeutung, aus der
heraus sich die Intention des Autors bildet. Dieser erweitert seine Lebensgeschichte um
fiktive Elemente und erschafft so eine von ihm intendierte neue Wahrheit mit dem Ziel,
bestimmte Fakten seines Lebens in den Fokus zu rücken und so ein individuelles Verständnis
ebendieser zu ermöglichen. Dabei ist auch die Tatsache, dass einer Beschreibung des eigenen
Lebens stets das Moment der Selbstinszenierung innewohnt und sich ,,jeder Ich- und
Weltbezug als ein fiktionaler vollziehe, die Fiktion mithin erst die autobiographische Realität
produziere"
26
, zu berücksichtigen. Demzufolge enthält ein Text, der sich auf die Vergangen-
heit bezieht, stets mehr Wissen als der Erzähler zum Zeitpunkt des Erzählten haben konnte.
27
Es findet demzufolge in der jüngeren und jüngsten Forschung eine Absage an Begriffe wie
Wahrheit und Belegbarkeit sowie den Anspruch an autobiografische Texte, eine
Wirklichkeitsaussage über tatsächlich Geschehenes zu treffen, statt.
28
Wagner-Egelhaaf fasst
die historische Entwicklung der Gattungstheorie folgendermaßen zusammen:
Während die frühe Autobiographietheorie vom historischen Wahrheitsgehalt aus argumentierte
und der Autobiographie im Hinblick auf diesen Wahrheitsgehalt Nichterfüllung attestierte,
veränderte sich die Einschätzung im Laufe der Zeit dahingehend, dass gerade im Zurückbleiben
der Autobiographie hinter der historischen Zuverlässigkeit ihr konstitutives Moment gesehen wird.
In der Einschätzung der Interpret/innen wandelte sich die Autobiographie vom historischen
Dokument zum literarischen Kunstwerk.
29
Obwohl eine zunehmende Akzeptanz fiktionaler Elemente in autobiografischen Schriften
festzustellen ist, kann jedoch längst nicht von einer Einigung in der Gattungsdiskussion
gesprochen werden. Aus diesem Grund werden im folgenden Kapitel einige Kriterien
erläutert, die das dieser Arbeit zugrundeliegende Autobiografie-Verständnis verdeutlichen
sollen.
2.2
D
ER AUTOBIOGRAFISCHE
P
AKT UND ANDERE
K
RITERIEN
Vielfach wurde in der Geschichte der Autobiografie versucht, die Gattung einzugrenzen und
eindeutig zu definieren. Es liegt jedoch im Wesen der Autobiografie, Überschneidungen zu
Nachbargattungen wie Memoiren, Tagebüchern oder auch Romanen zuzulassen. Es handelt
sich um eine sehr offene Gattung, deren Grenzen in jedem Schreiben neu definiert werden,
26
Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 5.
27
Vgl. Hoffmann, Christian: Die Konstitution der Ich-Welt. Untersuchung zum Strukturzusammenhang von
persönlicher Identität und autobiographischem Schreiben, phil. Diss. Würzburg 2000, S. 133.
28
Vgl. hierzu auch Wagner-Egelhaaf, Martina: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion,
Bielefeld 2013, S. 7 - 21.
29
Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 40.

- 11 -
dennoch konnte Kardach einige Kriterien festlegen, die auch dieser Arbeit zugrundegelegt
werden:
Es können aber für alle Definitionen der Autobiographie drei universelle und allgemeine
Merkmale hervorgehoben werden, und zwar das Moment des Rückblicks, die Genese der
persönlichen Geschichte und als das wesentlichste Strukturmerkmal der Autobiographie, ihr die
behauptete Identität von Erzähler und Hauptfigur, erzählendem und erzähltem Ich.
30
Jeder autobiografische Text zeichnet sich demzufolge durch den Vorgang des Erinnerns und
die Darstellung der eigenen Identitätsbildung aus. Mit diesen Vorgaben erweitert Kardach die
von Lejeune festgelegten Gattungsgrenzen
31
, die zwar nach wie vor Beachtung finden, jedoch
in der Forschung heute eher heuristischen Charakters sind.
32
Für das Verständnis des Autor-
Leser-Verhältnisses sind diese dennoch nützlich, da insbesondere Lejeunes Forderung nach
Namensgleichheit noch immer in die allgemeine Rezeptionshaltung einfließt:
Die Autobiographie (Erzählung, die das Leben des Autors schildert) setzt voraus, daß zwischen
dem Autor (wie er namentlich auf dem Umschlag steht), dem Erzähler und dem Protagonisten der
Erzählung Namensidentität besteht.
33
Diese Namensidentität nennt Lejeune den ,autobiografischen Pakt`, der dem Rezipienten auf
verschiedene Weise angeboten werden kann: etwa durch den Werktitel, Namensgleichheit
zwischen den verschiedenen Textinstanzen oder indem der Erzähler sich einleitend als
Protagonist ausweist. Davon unterscheidet er den autobiografischen Roman, der zwar
annehmen lässt, dass Autor und Hauptfigur identisch sind, dies jedoch leugnet beziehungs-
weise nicht bestätigt.
34
Der autobiografische Pakt ist in dieser Form in der modernen Autobiografik immer seltener
zu finden, nicht zuletzt aufgrund der Annäherung von Autobiografie und autobiografischem
Roman.
Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die Medien: Webseiten, Blogs
und Einträge in Online-Enzyklopädien wie Wikipedia sowie veröffentlichte Interviews, die
mit dem Autor geführt wurden, offenbaren nicht nur den autobiografischen Gehalt eines
Werkes, sondern geben dem Verfasser auch eine neue Bühne der Selbstinszenierung. Wie im
dritten Kapitel noch deutlicher werden wird, ist es passender, sich nicht ausschließlich an
Lejeune zu orientieren. Eine Abgrenzung von seiner Theorie der Namensgleichheit hin zu der
30
Kardach: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung, S. 69.
31
Vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994, S. 14.
32
Vgl. Kardach: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung, S. 83.
33
Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 25.
34
Ebd., S. 26.

- 12 -
Forderung nach einer Identität von erzählendem und erzähltem Ich nach Kardach öffnet die
Grenzen der Autobiografie und gibt auch autofiktionalen Texten einen Platz innerhalb dieser
Gattung.
Das führt zu einer Reihe von Pakt-Neuschöpfungen wie etwa dem Doppelvertrag.
35
Zu
verstehen ist darunter der Ansatz Dr. Frank Zipfels, welcher der Autofiktion die Kopplung
von autobiografischem und romaneskem beziehungsweise fiktionalem Pakt zugrunde legt.
36
Dem Rezipienten wird somit angeboten, den Text als wahr anzunehmen, ohne dass die von
Lejeune geforderte Namensgleichheit gegeben ist. Damit vollzieht die Gattung einen Wandel
in Richtung Rezeptionsästhetik: Der Leser kann zwischen autobiografischem und fiktionalem
Pakt wählen und gelangt dadurch in einen Zustand ,,oszillierende[r] Ungewissheit":
37
Da Leserinnern und Leser aber immer nur begrenzte Einsicht haben, ob etwas ist oder nicht,
bleibt die Unterscheidung von ,fiktional` und ,faktual` von ad hoc gefällten Urteilen abhängig,
die, etwa aus Gründen der Häufigkeit oder ihrer Zentralität, auf den ganzen Text appliziert
werden.
38
2.3
Z
WEI
W
ERKE
,
EINE
G
ATTUNG
?
Nach der deutschen Wiedervereinigung nahm die Produktion von Autobiografien immens zu.
Derartige Texte wurden zu ,,einem Medium, das es ermöglichte, Erinnerungen und
Emotionen auszudrücken, die im Zusammenhang mit jenem Ereignis entstanden."
39
Auch
prominente Laien wie Franziska van Almsick oder Jörg Berger versuchten sich an derartigen
Werken. Auffällig ist dabei, dass die Autobiografien nach 1990 überwiegend aus dem Osten
stammen beziehungsweise von Autoren, die in der DDR gelebt hatten, verfasst wurden. In
Anlehnung an die These Muschgs, dass autobiografisches Schreiben als Therapie zu
verstehen sei, erklärt sich diese Entwicklung mit dem Verlangen danach, Rechenschaft
35
Vgl. Urban-Halle, Peter: Der autobiografische Roman von heute. Die Fiktionalisierung des Lebens.
(http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/der-autobiografische-roman-von-heute-1.17698756,
29.10.2013).
36
Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Grenzen
der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, hrsg. von Simone Winko (u.a.). Berlin (u.a.) 2009, S.
286.
37
Wagner-Egelhaaf, Martina: Auto(r)fiktion, S. 12.
38
Ebd. S. 14.
39
Kardach: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung, S. 79.

- 13 -
ablegen zu wollen, ,,[m]öglichen Angriffen standhalten zu können und zur Erlösung zu
gelangen".
40
Diese Tendenz findet sich auch bei Rennefanz wieder. Zielgerichtet werden in Eisenkinder
die Erinnerungen angeordnet und ergänzt, um stringent die im Prolog erläuterte Motivation zu
verfolgen. Die Erzählerin nimmt ihre Leser mit auf eine Reise in ihre Heimat, die der Suche
nach der eigenen Identität dienen soll. Vor Ort erzählt sie rückblickend die Genese ihres
Lebens, ihrer Identität und ergänzt diese um Kommentare aus der Schreibgegenwart. Erst im
Rückblick der Erinnerung wird es Rennefanz möglich, einzelnen Ereignissen einen
Sinnzusammenhang zu geben und sie in den Kontext ihres Lebens einzuordnen.
Anhand des Prologs weist sich die Erzählerin als identisch mit der Protagonistin aus. Die
Übereinstimmung dieser beiden Figuren mit der Autorin wird hingegen nicht im Werk,
sondern vielmehr durch die Medien hergestellt, beispielsweise indem Rennefanz in Interviews
von ihrer Vergangenheit berichtet oder zu Lesungen tatsächlich existierende Figuren ihres
Werkes, wie beispielsweise Herr Weise, einlädt.
41
Daran wird deutlich, dass es sich bei der
Erzählung um persönliche Erinnerungen handelt.
In Zonenkinder ist zumindest teilweise eine Namensgleichheit im Sinne Lejeunes zu finden:
Sie wird zwischen Autorin und Erzählerin über den Klappentext hergestellt: Der Satz ,,Jana
Hensel war dreizehn, als die Mauer fiel." (ZK, Klappentext) nimmt in direkter Weise Bezug
auf den Anfang des Werkes: ,,Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und
drei Monate alt, [...]" (ZK 11). Angesichts der Erzählweise, die im nächsten Kapitel noch
näher untersucht werden wird, dürfen aber auch Protagonistin und Erzählerin als eine Figur
aufgefasst werden.
Anders als Rennefanz geht es Hensel nicht um das Verstehen und Erklären des eigenen
Lebens, sondern um das Sammeln von Erinnerungen unter der Prämisse des Archivierens
einer Kultur. Das Verstehen bezieht sich hier nicht auf die eigene Entwicklung, sondern auf
die einer gesamten Generation. Es handelt sich nicht um eine Kettung von Ereignissen,
sondern um eine Aneinanderreihung von Essays beziehungsweise Themenblöcken, deren
Auswahl aus gegenwärtiger Perspektive erfolgt. Ziel all dessen ist nicht Identitätsfindung,
40
Corbin-Schuffels, Anne-Marie: Auf den verwickelten Pfaden der Erinnerung: autobiographische Schriften
nach der Wende. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit, 1990-2000, hrsg. von Volker
Wehdeking. Berlin 2000, S. 79.
41
Vgl. Reinsch, Melanie: Die Quelle der Wut. ,,Eisenkinder" von Sabine Rennefanz (http://www.berliner-
zeitung.de/brandenburg/-eisenkinder--von-sabine-rennefanz-die-quelle-der-wut,10809312,22748744.html,
29.10.2013).

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Rechtfertigung oder ähnliches, sondern das Kreieren eines Zeitgefühls, um dem Rezipienten
die Identifikation mit der beschriebenen Generation zu ermöglichen. Folglich werden nicht
alle drei Bedingungen, die Wagner-Egelhaaf an eine Autobiografie knüpft, erfüllt.
Rennefanz schreibt in der Tradition Mischs und schildert ausschließlich die Genese der
eigenen Identität. Die persönliche Entwicklung wird zwar in einen historischen und auch
aktuellen Zusammenhang gebracht, das Verstehen beschränkt sich jedoch auf sich selbst.
Hensel hingegen versucht das Lebensgefühl einer Generation zum Ausdruck zu bringen und
reiht sich mit ihrer Erzählung, die sich oftmals den Vorwurf der ,Ostalgie` gefallen lassen
musste,
42
in den gegenwärtigen Zeitgeist ein.
Daraus lässt sich schließen, dass Rennefanz viel stärker autobiografisch geschrieben hat als
Hensel. Doch können beziehungsweise sollten die beiden Werken als Autobiografien
verstanden und gelesen werden? Eisenkinder wird in den Feuilletons schlichtweg als ,,Buch"
bezeichnet, eine Gattungszuordnung wird vermieden.
43
Auch bezüglich Zonenkinder herrscht
in der Forschung Uneinigkeit: als Erinnerungsliteratur
44
, Bericht, Essay und ,,autofiktionales
Zeugnis und damit eine Form autobiographischen Schreibens in der Gegenwartsliteratur"
45
,
,,ein von der literarischen Form des (Pop-)Romans inspirierter Text zwischen Roman und
Essay"
46
oder als eine Mischung aus Märchen, Fabel und Abenteuerliteratur wird Hensels
Werk bezeichnet.
47
Diese Unklarheit wird noch deutlicher, wenn bedacht wird, dass Zonen-
kinder kurz nach der Veröffentlichung in den Bestsellerlisten sowohl in der Kategorie
42
Vgl. Kraushaar, Tom (Hrsg.): Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens. Reinbek bei
Hamburg 2004, S. 25 - 41.
43
Vgl. Lengsfeld, Philipp: Ellenbogen aus Stahl. Buchkritik: ,,Eisenkinder" von Sabine Rennefanz.
(http://www.tagesspiegel.de/kultur/buchkritik-eisenkinder-von-sabine-rennefanz-ostdeutschland-braucht-
dringend-eine-zweite-welle-der-demokratisierung/8199032-2.html, 29.10.2013), Hatzius, Martin: Ein Loch im
Leben. ,,Eisenkinder" - Sabine Rennefanz, Uwe Mundlos und ,,Die stille Wut der Wendegeneration".
(http://www.neues-deutschland.de/artikel/817954.ein-loch-im-leben.html, 29.10.2013) und Reinsch: Die Quelle
der Wut.
44
Vgl. u.a.: Opitz, Michael (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren, Institutionen, Debatten. Stuttgart
(u.a.) 2009, S. 378, Herrmann, Elisabeth: Individuelle Erinnerung als kollektive Identitätsstiftung nach dem
Ende des Real-Sozialismus in Daniela Dahns Westwärts und nicht vergessen und Jana Hensels Zonenkindern. In:
Rhetorik der Erinnerung - Literatur und Gedächtnis in den ,geschlossenen Gesellschaften` des Real-Sozialismus,
hrsg. von Carsten Gansel, Göttingen 2009, S. 370 sowie Bluhm, Lothar: Popliteratur und Erinnerung, S. 56.
45
Bluhm: Popliteratur und Erinnerung, S. 56.
46
Thomas: Neue Leben, neues Schreiben, S. 54.
47
Vgl. Caspari, Martina: Die schwierige Konstitution von Identität zwischen den Welten: Jana Hensels
Zonenkinder. In: The German Quarterly 81 (2008), S. 211.

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Sachbuch (Der Spiegel) als auch unter Belletristik (Neues Deutschland) aufgeführt wurde.
48
Hensel selbst ordnet ihren Text folgendermaßen ein:
Ich wollte ja kein Geschichtsbuch schreiben. Ich wollte die Erinnerungen und
Rechercheergebnisse als lebendiges, organisches Material nutzen. [...] Aber die Form des Buches
will nicht eindeutig sein. Sie oszilliert zwischen Autobiographie und soziologischer Studie,
Subjektivität und Pauschalität, Literatur und Non-Fiction. Sie lässt viel Raum für Kritik, aber eben
auch für die eigenen Erinnerungen, und vielleicht ist die Form, ohne dass ich mich überschätzen
möchte, komplexer, als es der Ton des Textes zugibt.
49
Rennefanz hat eine literarische Autobiografie nach moderner Definition, aber mit Rückbezug
zur klassischen Gattungstheorie, verfasst. Hensels Werk ist eher als autofiktionale Erzählung
zu lesen.
Wie bereits erwähnt, ist es für diese Arbeit sinnvoll, Lejeunes Thesen durch Kardachs zu
ersetzen. Sie öffnet die Grenzen der Autobiografie und gibt somit auch Zonenkinder einen
Platz innerhalb dieser Gattung. Da die Identität zwischen Autorin und Erzählerin deutlich
gemacht wird, ist Hensel dem erzählenden Ich stets inne. Zugleich aber werden fiktionale
Elemente durch diese weniger strenge Gleichheitsforderung nicht länger ausgeschlossen oder
sogar als Lüge deklariert. Dass es sich bei der Erzählerin zugleich um die Autorin handelt,
wird trotz eines nicht eindeutigen Pakt-Angebotes deutlich, indem im Klappentext
ausdrücklich darauf hingewiesen wird.
50
Während Rennefanz nach bestem (Ge-)Wissen und stets aus ihrer persönlichen Perspektive
erzählt, erweitert Hensel ihre Erinnerungen, um Lücken oder Ungereimtheiten zugunsten ihrer
Schreibmotivation zu vermeiden. Die Erinnerungsarbeit verläuft - vergleichbar mit dem
Vorgehen Wolfs in Kindheitsmuster - nicht linear, sondern stattdessen überlagern
Autobiografisches, Fiktion und Dokumentarisches einander während des Schreibens.
51
Da
dem Rezipienten auf diese Weise verborgen bleibt, was letztendlich Erinnerung und was
Fiktion ist, tritt der autofiktionale Pakt beziehungsweise der Doppelvertrag im Sinne Zipfels
in Kraft: Der Leser entscheidet selbst, was er glaubt und was nicht.
48
Vgl. Thomas: Neue Leben, neues Schreiben, S. 38f.
49
Kraushaar: Die Zonenkinder und Wir, S. 97f.
50
Vgl. auch Heinämäki-Sepponen, Riina: Autobiographisches Schreiben zwischen individueller Erinnerung und
kollektiver Identitätsarbeit bei Jana Hensel und Claudia Rusch. In: Autobiographisches Schreiben in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung, hrsg. von Ulrich Breuer.
München 2007, S. 168.
51
Kluwe, Christian: ,,Phantomschmerzen". Christa Wolfs Kindheitsmuster. In: Das erinnerte Ich: Kindheit und
Jugend in der deutschsprachigen Autobiographie der Gegenwart, hrsg. von Martin Bollacher, Bettina Gruber.
Paderborn 2000, S. 85.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783958206120
ISBN (Paperback)
9783958201125
Dateigröße
1.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,3
Schlagworte
Glaubwürdigkeit Gegenwart Kindheit Religion Erinnerungsort
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Titel: Die verlorene Generation: Erinnerung und autobiografisches Schreiben bei Jana Hensel und Sabine Rennefanz
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