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Kuba in der Fremde: Exil und Trauma in Zoé Valdés' 'Café Nostalgia'

©2012 Masterarbeit 69 Seiten

Zusammenfassung

Kuba in der Fremde: Exil und Trauma in Zoé Valdés' Café Nostalgia – das ist der Titel der vorliegenden Arbeit. Dem Exil sind viele Menschen ausgesetzt, insbesondere wenn sie innerhalb repressiver oder diktatorischer Systeme beheimatet sind. Ebenso erleiden viele Menschen Traumata, deren Aufarbeitung manchmal ein ganzes Leben lang andauert.
Im Besonderen geht es hier um Kuba und Zoé Valdés' 1997 in Barcelona erschienenen Roman Café Nostalgia. Es ist die Geschichte der Protagonistin Marcela Roch, die aus ihrem Heimatland Kuba nach Paris ins Exil geht und dort als Fotografin und später als Maskenbildnerin arbeitet. Noch lange nach dem Verlassen der Insel leidet sie an der Sehnsucht nach den vergangenen Tagen.
Die vorliegende Arbeit hat die Verflechtung von Exil und Trauma in Café Nostalgia im Blick. Dabei werden die beiden Phänomene zunächst einzeln betrachtet, um dann in einer Synthese die Zusammenhänge heraus zu arbeiten. Es stehen folgende Fragen im Zentrum des Interesses: Wie wirken sich das Exil und die Traumata auf die Figurenzeichnung der Protagonistin aus? Inwiefern ist eine Reziprozität beider Phänomene im Roman zu konstatieren? Bedingt das eine Phänomen das andere? Gibt es Traumata im Roman, die die Protagonistin erst im Exil zu bewältigen vermag? Inwiefern spielt das Exil dabei eine Rolle? Welche literarische Struktur verbirgt sich dahinter?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


nach der Verflechtung von arte und exilio. Im Roman werden erzähltechnische Verfahren
angewandt, die sich auf interessante Weise auf die Inhaltsebene auswirken. Dabei kommen
sowohl intertextuelle wie auch ekphrastische Verfahren zum Tragen.
Das Kapitel 3 soll die Klärung der Frage nach dem Trauma der Protagonistin des Romans
im Blick haben. Um eine angemessene Analyse vorzunehmen, wird in Kapitel 3.1 zunächst
eine Begriffsbestimmung des doch sehr vielschichtigen Begriffs des Traumas vorgenom-
men. Zur Gewährleistung einer wenigstens annähernd vollständigen Beschreibung des
Phänomens des Traumas, beschäftigt sich Punkt 3.2 mit den psychotraumatologischen
Theorien, von ihren Anfängen bei der Hysterie unter Jean Martin Charcot bis zur triebtheo-
retischen Begründung psychopathologischer Zustände Sigmund Freuds. Kapitel 3.2.2 be-
leuchtet die Objektbeziehungstheorie, eine ursprünglich auf den Arbeiten Melanie Kleins
basierende Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie, näher, da sie in der Analyse
des Romans zum Tragen kommen wird. In Kapitel 3.2.3 werden schließlich aktuelle Trau-
matheorien vorgestellt, da eine Nachzeichnung der aktuellen Forschungsrichtungen im
Kontext psychotraumatologischer Theorien unverzichtbar ist.
Die Applikation der in 3.2 vorgestellten Theorien erfolgt nun vor allem in den folgenden
Kapiteln. 3.3 beschäftigt sich mit der Körperlichkeit und der Sexualität in Café Nostalgia,
weil dadurch wichtige Traumata der Protagonistin offen gelegt werden. Dabei kommt vor
allem die Objektbeziehungstheorie zum Tragen. Es wird gezeigt, wie der Zusammenhang
von weiblichem Körper und Sexualität im Roman hergestellt wird. Anhand der sexuellen
Initiation Marcelas wird deutlich, dass sie nicht die gewünschte Unabhängigkeit erreichen
kann, sondern, dass ihr Körper zum Objekt wird. Die Instrumentalisierung ihres Körpers
aus objektbeziehungstheoretischer Sicht ist Ausdruck ihrer schädigenden Objektrepräsen-
tanzen, was in Kapitel 3.3.1 deutlich wird. In einem nächsten Schritt (Kapitel 3.3.2) wird
eine weitere Ursache ihres Traumas aufgezeigt: Der Verbrennungstod ihres ersten Liebes-
obkjekts bringt die Protagonistin zu alptraumartigen Angstzuständen und lässt Schuldge-
fühle über ihr Gefühlsleben Oberhand nehmen. Libidinöse Gefühle werden stets mit
Schmerz assoziiert.
Das Kapitel Traum, Trauma und Erinnerung behandelt ­ wie der Titel bereits suggeriert ­
Marcelas traumatische Erlebnisse auf Kuba und ihre Auswirkungen: Wie stehen Sehnsucht,
Vergessen und Verdrängung zueinander? Wie erfolgt die Trauma-Verarbeitung? Was ge-
schieht innerhalb von Marcelas Träumen und wie ist dies zu interpretieren? In diesem Ka-
pitel wird gezeigt, wie sehr die unterschiedlichen Traumata in der Protagonistin verwurzelt
sind und inwieweit diese den Bezug zu ihrer Heimat herstellen. Dabei wird auch die Freu-
9

d'sche Theorie des Wiedererlebens traumatischer Situationen im Traum zum Tragen kom-
men, um zu zeigen, aus welchem Grund sich etliche Szenen aus Kuba in Marcelas Träu-
men wiederholen.
Wie Kapitel 3.3.2 handelt auch das Kapitel 3.4.1 von der Szene um den Verbrennungstod
Jorges. Es wurde eine Separation dieser beiden Kapitel vorgenommen, um die unterschied-
lichen Foki, auf die hier jeweils abgehoben werden soll, hervorzuheben. Was bei dem ers-
ten der beiden unter den Aspekt der Körperlichkeit und damit die Heranführung an Marce-
las Frigidität und ihrer Bindungsunfähigkeit fällt, konstituiert in Kapitel 3.4.1 das Moment
der Trauma-Verarbeitung innerhalb des Traums. Auch hier dominieren erneut die Paradig-
men des Vergessen, der Verdrängung und auf der anderen Seite der Bewusstwerdung von
Ereignissen.
Im darauffolgenden Kapitel wird erneut unter objektbeziehungstheoretischer Sicht der Ver-
lust der Eltern interpretiert. Wichtigstes Moment konstituiert dabei die Schädigung der Ob-
jektbeziehung zu den Eltern, wie auch die daraus folgenden instabilen Selbst- und Objek-
trepräsentanzen der Protagonistin, was erheblichen
Einfluss auf ihr weiteres Leben nimmt.
Punkt 4 nimmt abschließend die Verflechtung von Exil und Trauma in den Blick. Dabei
geht es um die Durchdringung von Exil und Trauma, um den Zusammenhang beider Kon-
stituenten aufzuzeigen. Als Kulminationspunkt kann die letzte Szene im Roman gelten: Die
kannibalistische Verschmelzungsszene, die die Auflösung der Ich-Grenzen und damit eine
Rückkehr in den Urzustand zum Ziel hat, bringt die Vollendung der beiden Figuren dahin-
gehend, als dass nun dem Leben in der Erinnerung, wie auch dem sexuellen Trauma, abge-
schworen wird. Literarisch wird dies mit der von Ottmar Ettes propagierten Pendel-Bewe-
gung umgesetzt. Darüber hinaus kann diese Pendel-Bewegung zu einer zirkulären
Bewegung erweitert werden. Der Roman hat eine zirkuläre Struktur ­ im wörtlichen Sinne
'schließt sich der Kreis'. Die Traumata, die in Kuba ausgelöst wurden, scheinen sich nun im
im Exil, also in der Gegenwart, aufzulösen.
10

2. Exil, Diaspora und Migration
,,La migración es tan antigua como la historia misma de la humanidad."
6
Mit diesem Satz
beginnt Sonia Almazán ihren Artikel Reflexiones sobre una transgresión: literatura cuba-
na y emigración.
Migration ist ein wichtiger Bestandteil in der Menschheitsgeschichte. Menschen bewegen
sich seit jeher von einem Ort zum anderen, wobei viele verschiedene Gründe dafür verant-
wortlich sind: In erster Linie liegt die Motivation, die eigene Heimat zu verlassen, in öko-
nomischen Engpässen und in politischen oder religiösen Umständen.
Was das Exil per Definition zum Exil macht, ist die Tatsache, dass keine Rückkehr möglich
ist: Man befindet sich in 'Verbannung'. Im Unterschied dazu spricht der kubanische Litera-
turkritiker Iván de la Nuez bezüglich der seit 1990 in Europa lebenden kubanischen Auto-
ren von einer ,,Diaspora der kubanischen Kultur"
7
, ,,trage der Terminus 'Diaspora' doch der
Tatsache Rechnung, dass viele ausreisten, ohne für sich den Status eines 'Exilanten', der
eine Rückkehr unmöglich machen würde, zu reklamieren."
8
Es wird also zwischen der fak-
tischen Positionierung ­ der Diaspora ­ und der subjektiven Befindlichkeit ­ dem Exil ­
differenziert. Der Begriff der Diaspora findet dementsprechend oft Verwendung, was auch
auf seine fehlende Präzision zurückzuführen sein könnte: Er umfasst alle gebürtigen Kuba-
ner, die im Ausland leben, ob sie nun ihr Land freiwillig oder unfreiwillig, zeitweilig oder
endgültig verlassen haben und die in den unterschiedlichsten Regionen der Welt leben.
9
Generell ist der kubanische Diskurs über Exil und Migration in zwei Dekaden zu periodi-
sieren: In den 1980iger Jahren wurde die Idee des Exils von den kubano-amerikanischen
Autoren weitgehend abgelehnt, da sie diese für ,,krankhafte[...] Nostalgie und Mystifizie-
rung" hielten.
10
Zu der sogenannten 'Generation der Anderthalb' zählten unter anderem
Autoren wie Gustavo Pérez, Emilio Mozo, Carlota Canfield und Iván Acosta. Nach Iz-
quierdo Pedroso handelt es sich dabei um die Generation, die sich zwar schon als nordame-
rikanisch fühlt, sich aber weiterhin als Kubaner versteht.
11
Mit der periodo especial emigrierten wieder viele Künstler und Schriftsteller und ließen
sich in den unterschiedlichsten Weltregionen nieder. Da diese Migrationswelle, wie im
weiteren Verlauf der Arbeit noch zu klären sein wird, teilweise auch vom kubanischen
6 Sonia Almazán: ,,Reflexiones sobre una transgresión: literatura cubana y emigración.", in: Gabriele Knau-
er, Elina Miranda, Janett Reinstädler (Hrsg.): Transgresiones cubanas. Cultura, literatura y lengua dentro
y fuera de la isla. Madrid, Frankfurt a. M. 2006, S. 89-101, hier: S. 89.
7 Zitiert aus: Gewecke, S. 551.
8 Ebd.
9 Vgl. Lázara Izquierdo Pedroso: Zwei Seiten Kubas. Ein literaturkritischer Beitrag. Stuttgart 2002, S. 133.
10 Izquierdo Pedroso, S. 131.
11 Vgl. ebd.
11

Staat begünstigt wurde, basiert sie auf vielfältigen Ausreisemotiven. Die Gruppen von
Exilanten wurden dadurch heterogener und pluralistischer:
Die kubanischen Emigranten sind in ihrer Gesamtheit heute über die konventionellen
theoretischen Kategorien von politischen Exilanten und ökonomischen Emigranten
nicht mehr vollständig zu erfassen.
12
Aufgrund dieser neuen Umstände wurde zur Beschreibung des kubanischen Exils und der
kubanischen Identität
13
der Begriff der Diaspora, der an ein biblisches Motiv angelehnt ist,
eingeführt. Dieser Begriff hat sich weitgehend durchgesetzt und er findet sowohl Verwen-
dung unter anerkannten Künstlern der Insel als auch unter denen des Exils.
14
Die ,,'transter-
ritorialidad' des kubanischen Exils"
15
, die nach 1959 unverhältnismäßig anwuchs, war ver-
antwortlich für die Frage nach einer neuen Definition der kubanischen Kultur und ihrer
Identität. Nach Izquierdo Pedroso ist es der Verlust der auf traditionelle territoriale Grenzen
beschränkten kubanischen Identität, der die Kubaner dazu bringt, diese kubanische Identi-
tät in der Diaspora zu fassen.
16
Sie assoziieren damit die Neubildung des Diskurses über kubanische Identität und
eine Wiederherstellung von Räumen, die diese Identität ermöglicht.
17
Somit spielt die kubanische Diaspora bei der Identitätsfrage im Ausland lebender Kubaner
eine zentrale Rolle.
18
Dennoch darf diese 'neue' Identitätssuche kubanischer Autoren im
Exil bzw. innerhalb von Diasporas nicht darüber hinwegtäuschen, dass ,,die kubanische
Nation und ihre Kultur [...] seit der spanischen Eroberung das Resultat qualitativ und
quantitativ unterschiedlicher spanischer, afrikanischer, chinesischer, jüdischer, arabischer,
nordamerikanischer sowie antillischer Migration" ist.
19
Das Konzept der Nation erlebte in
Kuba über die Jahrhunderte hinweg ständig neue Definitionen. Erst seit José Martí besteht
das Konzept der Nation als Syntheseprozess, an dem alle Kubaner beteiligt sind: ,,'con to-
12 Ebd., S. 132.
13 Da der Identitäts-Diskurs den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird hier lediglich auf weiter- füh-
rende Literatur zum Thema verwiesen: Heinz, Abels: Identität: Über die Entstehung des Gedankens, dass
der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die
Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden
2006; Benjamin Jörissen: Identität und Selbst. Systematische, begriffsgeschichtliche und kritische Aspek-
te. Berlin 2000; Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmo-
derne (3. Aufl.), Hamburg 2006; Marijana Kresi: Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprach-
lich-medialen Konstruktion des Selbst. München 2006.
14 Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 132f.
15 Ebd., S. 134.
16 Vgl. ebd.
17 Ebd.
18 Vgl. ebd.
19 Ebd., S. 137.
12

dos y para el bien de todos'"
20
, weil für ihn die Schaffung der Republik erst durch die Erhe-
bung aller Beteiligten, also der Kreolen, Spanier, Sklavensöhne und der Exilkubaner, mög-
lich war.
21
Das Thema der kubanischen Identität ist also nicht losgelöst von Migration zu denken ­
weder auf der Insel noch außerhalb:
[E]benso wie für die kubanische Identität die Migration eine feste Determinante
war und vermutlich auch weiter sein wird, ebenso scheint mit der heutigen Migration
die kubanische Identität nicht verloren zu gehen.
22
Bereits 1940 beschrieb der kubanische Soziologe Fernando Ortiz die Kubaner als ,,aves de
paso".
23
Diese Metapher soll den ,,carácter transitorio y migratorio de la cultura cubana"
verdeutlichen.
24
2.1 Exil nach dem Triumph der Revolution
Auch nach dem Triumph der Revolution von 1959 ist die Metapher 'aves de paso' noch im-
mer bedeutungsvoll. Dies ist auf die zahlreichen Migrationswellen, auf die in den folgen-
den Unterpunkten explizit eingegangen wird, zurückzuführen.
La diáspora cubana, que se ha puesto en marcha desde entonces, crece continuamente
y origina la formación de nuevos centros de cultura en todo el mundo.
25
Emigration und Exil sind in der kubanischen Kunst und Literatur ein zentrales Thema.
Dies ist jedoch nicht erst seit dem Triumph der Revolution der Fall, denkt man nur an den
oben bereits erwähnten Nationalhelden José Martí, der ebenso im Exil lebte. Wie bereits
Lázara Izquierdo Pedroso konstatiert, hat ein wesentlicher Bestandteil des intellektuellen
Wirkens in Kuba im 19. Jahrhundert außerhalb der Insel stattgefunden. Die Emigration in
die USA und nach Europa hat seinen Ursprung bereits seit dem Beginn der kubanischen
20 Zitiert aus: ebd.
21 Vgl. ebd.
22 Ebd., S. 53.
23 Zitiert aus: Andrea Gremels: ,,Personificaciones de La Habana y París: posicionamientos (trans)culturales
como formas de convivencia en la poesía de William Navarrete", in: Ottmar Ette, Anne Kraume, Werner
Mackenbach, Gesine Müller (Hrsg.): El caribe como paradigma. Convivencias y coincidencias históri-
cas, culturales y estéticas. Un simposio transareal, Berlin 2012, S. 369-379, hier: S. 369.
24 Zitiert aus: ebd.
25 Ebd.
13

Unabhängigkeitskriege 1868.
26
Kubanische Literatur ist stets eng mit politischen und histo-
rischen Begebenheiten verbunden.
Nichtsdestotrotz ist die Revolution von 1959 das Ereignis, ,,das in der jüngeren Zeit die
größte Resonanz und weitestgehende Folgen auf die kubanische Nation gehabt hat."
27
Aus
ihr resultierten Debatten, die nachhaltig die kubanische Literatur beeinflusst hat.
Aufgrund der kulturellen Maßnahmen durch die Revolutionsregierung wie aufgrund
des weltweiten Echos ist die Entwicklung der kubanischen Literatur nach 1959
beispiellos
.
28
Viele kubanische Schriftsteller beschäftigen sich heute noch mit der Revolution, die mitt-
lerweile nicht mehr der Bedeutung einer Revolution per definitionem, also einer
,,schnelle[n], radikale[n] (i. d. R. gewaltsame[n]) Veränderung der gegebenen (politischen,
sozialen, ökonomischen) Bedingungen"
29
nachkommt, sondern vielmehr eine ,,institutiona-
lisierte Revolution"
30
mit ihren Auswirkungen darstellt. Eine davon ist freilich die Frage
um die zwei Welten ­ das Exil und die Insel, um die sich der intellektuelle Diskurs dreht.
31
Im Folgenden wird eine grobe Konturierung der Migrationsgeschichte Kubas nach 1959
vorgenommen, um so die hier im Zentrum stehende Autorin Zoé Valdés im Kontext der
jüngsten kubanischen Geschichte und Literaturgeschichte beleuchten und situieren zu kön-
nen.
26 Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 71. Die Emigration in die USA und nach Europa hat seinen Ursprung bereits
seit dem Beginn der kubanischen Unabhängigkeitskriege 1868. Die Reichen wanderten nach Spanien aus,
während die Akademiker der Mittelklasse und Händler nach New York, Philadelphia und Boston übersie-
delten. Viele Arbeiter zog es nach Florida. Nach der Zerstörung der Tabakplantagen hat die Emigration
von 1868 bis 1878 in die USA stark zugenommen. Weiterhin ist ein Anwachsen dieser Tendenzen zwi-
schen 1906 und 1910 zu konstatieren. Wegen der Unruhen um den Diktator Gerardo Machado wanderten
weiter viele Kubaner in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts nach New York und
Miami ab. Kuba wird ab den dreißiger Jahren zum Einwandererland, was sich ab den fünfziger Jahren
wieder umkehrt: Die Emigration in die USA nimmt erneut zu und steigt mit der politischen und ökonomi-
schen Krise unter Batista ab 1955 weiter an. (Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 71, Anm. 27.).
27 Ebd., S. 72.
28 Ottmar Ette: ,,'Partidos en dos': Zum Verhältnis zwischen Insel und exilkubanische Literatur." In: Roma-
nistische Zeitschrift für Literaturgeschichte. Nr. 13 (1989), S. 440-450, hier: S. 447.
29 Klaus Schubert, Martina Klein: Das Politiklexikon. 5., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2011. In: http://www.b-
pb.de/wissen/2BO1DD. Letzte Einsicht am 12.12.2012.
30 Ottmar Ette im Interview mit Deutschlandradio Kultur am 26.3.2012: ,,Die kubanische Kultur weiß, was
sie am Vatikan hat." In: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1714281/. Letzte Einsicht am
12.12.2012.
31 Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 72.
14

2.1.1 Die drei Abwanderungswellen
Anders als vor dem 1.1.1959 sind drei verschiedene Abwanderungswellen aus Kuba nach
1959 auszumachen: ,,[L]a [oleada] de los primeros meses de 1959 y hasta 1962, la de 1980
­ Mariel ­ y la de 1994 ­ los balseros."
32
2.1.1.1 La primera oleada: Los gusanos
Die ersten exiliados sind unter der Bezeichnung ,,gusanos"
33
bekannt. Als sich der Sieg der
Rebellen bereits abzeichnete, siedelten vor allem Anhänger des Batista-Regimes nach Mia-
mi über. Aus Angst vor politischen Repressalien oder starken Umwälzungen der Revoluti-
on suchten auch wohlhabende Mitglieder der Ober- und Mittelschicht den Weg ins Exil.
Die ersten Reformen kamen ganz im Sinne einer sozialistischen Ausrichtung dem ärmeren
Teil der kubanischen Bevölkerung zu Gute. Zu diesem Zeitpunkt war es den Kubanern
noch möglich, ohne Probleme ihr Land zu verlassen. Deshalb stieg die Emigrantenzahl von
1959 bis 1961 auf 215.328 an. Sie wurden von den USA wegen der in dieser Zeit entstan-
denen politischen Haltung gegen das Regime Castro mit offenen Armen empfangen.
34
Den-
noch träumten die meisten in den USA lebenden Kubaner davon, irgendwann wieder in
ihre Heimat zurückzukehren.
35
Auf der anderen Seite florierte in Kuba in den ersten Jahren nach der Revolution aufgrund
der Einführung eines umfassenden Alphabetisierungsprogramms und einer Gratis-Bildung
für alle Kubaner, die sowohl für Schulen als auch für Universitäten galt, das kulturelle Le-
ben in Havanna. Vor allem das Verlagshaus und Kulturinstitut Casa de la Américas
36
be-
mühte sich um die Öffnung der Grenzen Lateinamerikas, um renommierten kubanischen
Autoren internationale Treffen zu ermöglichen. Kongresse, Symposien und Debatten, die
vom Casa aus geführt und organisiert wurden, weckten das internationale Interesse der
Verlage für die kubanische Literatur. Als jedoch im Jahre 1968 der Schriftsteller Heberto
32 Almazán, S. 90.
33 Michi Strausfeld: ,,Isla ­ Diáspora ­ Exilio: anotaciones acerca de la publicación y distribución de la nar-
rativa cubana en los años noventa." In: Janett Reinstädler, Ottmar Ette (Hrsg.): Todas las islas la isla.
Nuevas y novísimas tendencias en la literatura y cultura de Cuba, Madrid, Frankfurt a. M. 2000, S. 11-
23, hier: S. 11.
34 Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 73. Izquierdo Pedroso spricht noch von einer weiteren Migrationswelle zwi-
schen 1962 und 1965, in der Familienangehörige von in Miami lebenden Kubanern nachgeholt werden
durften, deren Zahl sich auf 2.800 belief. Des Weiteren verschlechterte sich zusehends die politische Si-
tuation zwischen den USA und Kuba, sodass nach der Kubakrise von 1962 die Flüge in die USA unter-
brochen wurden. Noch im selben Jahr verhängte die USA Kuba das Wirtschaftsembargo, das bis heute in
Kraft ist. (Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 74.).
35 Vgl. ebd., S. 74.
36 Näheres zum Casa de las Ámericas in: Monika Walter: ,,'Was fehlt, ist eine kräftige Brise Verrücktheit.'
'Casa de las Ámericas' und die kubanische Kulturpolitik", in: Ottmar Ette, Martin Franzbach: Kuba heu-
te. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt a. M. 2001, S. 523-549.
15

Padilla, der wenig vorher mit dem Premio Casa de las Américas ausgezeichnet wurde, we-
gen angeblicher Kontakte zu Konterrevolutionären verhaftet wurde, wendete sich das
Blatt: ,,Fue el inicio de la pérdida de ilusiones por parte de mucha gente."
37
Nachdem Pa-
dilla seine ,,autocrítica"
38
gelesen hatte, schworen viele der Revolution ab. Renommierte
Schriftsteller, wie Guillermo Cabrera Infante, verließen Havanna. Cabrera Infante ging
1965 ins Exil nach London. José Lezama Lima zog sich ins innere Exil zurück.
39
Er war
ebenso wenig ein Freund der Revolution, wurde allerdings von der Regierung toleriert.
40
Severo Sarduy lebte ab 1960 in Paris, wo auch Alejo Carpentier ab 1966 residierte. Dieser
arbeitete für das kubanische Kulturattaché in Paris. Sein letztes Werk ließe jedoch, nach
Strausfeld, ebenso auf einige Zweifel an der kubanischen Regierung schließen.
41
Nach dem ,,caso Padilla" vermehrten sich die Dissidenten, und unter den europäischen und
lateinamerikanischen Intellektuellen bildeten sich zwei Lager: Freunde oder Feinde.
42
Zu-
dem entstand durch die darauf folgende ,,ofensiva cultural", der sogenannte ,,Verde Olivo",
der eigentlich die Geister besänftigen sollte, mehr Enttäuschung und Bitterkeit innerhalb
der kubanischen Bevölkerung.
43
1974 wurde der Homosexuelle Reinaldo Arenas wegen
seiner sexuellen Orientierung und offiziell ­ weil er ,,perturbador del orden público"
44
war
­ zu zwei Jahren Rehabilitierungsanstalt verhaftet. Seine Werke verfielen der kubanischen
Zensur und wurden verboten. Miguel Barnet wurde eine Reise ins Ausland, um die Über-
setzung zweier seiner Werke (Biografía de un cimarrón (1966) und La canción de Rachel
(1969)) zu bewerkstelligen, untersagt. Ebenso musste er eine Einladung des Deutschen
Akademischen Austauschdienstes nach Berlin ausschlagen.
45
Das kulturelle Leben war ge-
kennzeichnet von Rigidität, Zensur und Verboten durch die Partei. Der Einfluss der ehema-
ligen Sowjetunion auf den Inselstaat vergrößerte sich zusehends. Dies zeigte sich auch dar-
in, dass die Akquise von Büchern sowjetischer Autoren den Kubanern sehr einfach
gemacht wurde, während Bücher aus Nordamerika oder Ostdeutschland praktisch nicht er-
hältlich waren.
46
37 Strausfeld, S. 13.
38 Ebd., S. 12.
39 Vgl. Martin Franzbach: ,,Kleiner Gattungsabriss der kubanischen Literatur seit 1959", in: Ottmar Ette,
Martin Franzbach: Kuba heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt a. M. 2001, S. 445-464, hier: S. 447.
40 Vgl. Strausfeld, S. 13.
41 Vgl. ebd.
42 Vgl. ebd.
43 Ebd.
44 Zitiert aus: ebd.
45 Vgl. ebd., S. 14.
46 Vgl. ebd.
16

2.1.1.2 La seguna oleada: Los Marielitos
Die zweite Welle der Abwanderung fand ab den achtziger Jahren statt. Die Exilrealität der
in den USA lebenden Kubanern wurde durch Geschenke und Berichte tendenziell positiv
gefärbt. Auch die Versorgungslage auf der Insel in den Achtzigern begünstigte die zweite
Abwanderungswelle:
47
Nachdem eine Gruppe von Kubanern die peruanische Botschaft
einnahm und nicht die Absicht hatte, diese vor ihrer Ausreisegenehmigung wieder zu ver-
lassen, beschloss die Regierung, 125.000 Personen, die sogenannten ,,Marielitos"
48
, emi-
grieren zu lassen.
Von dem gewaltigen Andrang überrascht, öffnete die kubanische Regierung kurzerhand
den Hafen von Mariel (puente marítimo), um so den Unzufriedenen die direkte Ausreise
zu ermöglichen
.
49
Darunter befand sich unter anderem Reinaldo Arenas. Auch Heberto Padilla und andere
Kubaner, die sich bereits im inneren Exil befanden, wurde die Ausreise 1980 genehmigt.
Miguel Barnet, Pablo Armando Fernández, Eliseo Diego, Cintio Vitier und andere beka-
men ebenso eine Ausreisegenehmigung. Jesús Diaz kam zuerst mit einem Stipendium des
Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Berlin und ließ sich dann in Madrid nie-
der. Viele Studenten, denen ein Auslandsstudium ermöglicht wurde, kehrten nicht nach
Kuba zurück.
50
Auf diese Weise entstand nach und nach eine Diaspora, ,,es decir, este grupo de cubanos
que no dejaron la isla por motivos políticos y que pueden por lo tanto volver o visitar su
país cuando quieran [...]."
51
Die Literatur der Diaspora ist kaum bekannt in Kuba, denn die
Literatur der Exilanten gibt es schlichtweg nicht, d.h. sie ist entweder verboten oder ver-
achtet.
52
2.1.1.3 La tercera oleada: Los balseros
Der dritten großen Abwanderungswelle ging der Zusammenbruch des gesamten Ostblocks
und des sozialistischen Weltmarkts von 1989 voraus. Die Subventionen blieben aus und die
,,acuerdos preferenciales" mit Kuba wurden beendet.
53
Was folgte, ist heute als período
especial bekannt:
47 Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 76.
48 Strausfeld, S. 14.
49 Izquierdo Pedroso, S. 76.
50 Unter ihnen beispielsweise René Vázquez Díaz und José Manuel Prieto. (Vgl. Strausfeld, S. 14.).
51 Ebd., S. 15.
52 Vgl. ebd.
53 Vgl. ebd.
17

Desde entonces Cuba vive en lo que se conoce como período especial. Comida,
medicamentos, productos de higiene, papel, casi todo ha desaparecido de las tiendas
normales, y sin embargo se encuentra cuando uno puede pagar con dólares. [...]
Muchos cubanos pasan hambre.
54
Der offizielle Sprachduktus der Regierung, die auf die gesamtgesellschaftliche Krise seit
Beginn der neunziger Jahre mit einem ,,modifizierten 'Kriegskommunismus'" reagierte,
war die Bezeichnung periodo especial en tiempos de paz.
55
Die Verzweiflung innerhalb der kubanischen Bevölkerung stieg immer weiter an, weil kein
Ende dieser katastrophalen Lage in Sicht war. Aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung
resultierten am 5. August 1994 offene Tumulte, die die größte Migrationskrise der Neunzi-
ger mit sich brachten: Fidel Castro Ruz ließ über Fernsehen verbreiten, dass er sich nicht
mehr in der Lage sehe, die ,,'Küste der USA zu schützen'".
56
1994 öffnete die kubanische
Regierung die Grenzen und ca. 35.000 ,,balseros" verließen die Insel, d.h. Kubaner, die mit
Schlauchboten und Flössen versuchten, nach Miami zu fliehen.
57
Nicht selten waren Todes-
fälle die Folge derartig spektakulärer Fluchtversuche.
58
2.2 Emigration im heutigen Kuba
Cubans made up approximately 4 percent of the total Hispanic population in both the
2000 and 2010 Censuses and were the largest Hispanic origin group in Florida in 2010
with a population of 1.2 million.
59
Bereits dieses Zitat des amerikanischen Census von 2010 lässt erkennen, wie hoch die
Emigrationsrate aus Kuba ist. Auch wenn dieser lediglich Florida betrifft, so sind die zahl-
reichen Immigranten kubanischer Herkunft im Rest der Welt und vor allem auch in Europa
nicht wegzudenken. Ottmar Ette erläutert in Kuba heute, dass es sich ­ die Migration auf
der Insel und außerhalb betreffend ­ um unterschiedliche Globalisierungsphänomene han-
delt:
Der 'von oben' erfolgenden Globalisierung des Kapitals und des Massentourismus
steht die Globalisierung 'von unten', jene der nicht-saisonalen Migration, gegenüber, die
im Falle Kubas längst ebenso spektakuläre wie dramatische Ausmaße angenommen hat.
60
54 Ebd.
55 Izquierdo Pedroso, S. 77.
56 Ebd., S. 78. Hervorhebung im Original.
57 Strausfeld, S. 15.
58 Vgl. Izquierdo Pedroso, S. 78.
59 http://2010.census.gov/news/releases/operations/cb11-cn146.html. Letzte Einsicht am 12.12.2012.
60 Ottmar Ette: ,,Kuba ­ Insel der Inseln", in: Ottmar Ette, Martin Franzbach (Hrsg.): Kuba heute. Politik,
Wirtschaft, Kultur, Frankfurt a. M. 2001, S. 9-25, hier: S. 13.
18

Dennoch seien die noch immer verhärteten Grenzen zwischen Exil und Insel, so Ette, seit
dem realsozialistischen Zusammenbruch durchlässiger geworden. Dies läge allerdings
nicht an einer wie auch immer gearteten politischen Öffnung, sondern vielmehr an neuen
Freiräumen, die sich im Verlauf der Sonderperiode entwickeln konnten.
Vor allem aber etablierte sich nun jenseits von isla und exilio, von insilio und disidencia
eine Diaspora, die sich um die alten Grenzziehungen und Zeitzonen immer weniger
kümmerte, ohne doch unbekümmert zu sein.
61
Es bildeten und bilden sich weiter immer neue Konstellationen von Heterotopie aus, sodass
Ettes Frage ,,[i]st die Insel heute nicht überall?" sehr passend anmutet.
62
Ein mit dieser Situation verbundenes Phänomen ist die Prostitution. Der Wunsch vieler
Kubaner, ihre Heimatinsel zu verlassen, ist teilweise so stark, dass sich sowohl Männer als
auch Frauen, als ,,jineteros/as" auf die Suche nach ausländischen Touristen machen.
63
Die Beweggründe für Emigration aus Kuba sind nach wie vor politischer oder ökonomi-
scher Natur. Durch die starken Repressionen, Kontrollen und Überwachungen, die von der
Revolutionsregierung der Brüder Castro ausgehen, und aufgrund der schlechten wirtschaft-
lichen Bedingungen, gibt es heute noch eine Vielzahl von Flüchtlingen. Die kubanische
Bevölkerung verfügt, um sich zu versorgen, über sogenannte libretas, rationierte Lebens-
mittelmarken, die jedoch nicht ausreichend Nahrungsmittel aufweisen. Der mercado negro
und Hetze gegen den Feind, die USA, dominieren
das Land. Viele Bewohner der Insel füh-
len sich vom umliegenden Meer sowie dem vom Staat oktroyierten Ausreiseverbot einge-
schlossen. Die meisten Kubaner flohen und fliehen immer noch nach Miami, Florida, wo
sie eine herausragende Zahl an Migranten stellen, wie oben bereits erwähnt wurde. Andere
Exilanten reisen nach New York oder Europa, in die Hauptstädte Paris, Madrid und Stock-
holm
64
, wobei als wichtigste kulturelle Zentren neben Miami und Madrid auch Barcelona
zu nennen ist.
65
Im Gegensatz zu den Städten Madrid, New York und Miami, wo Verlags-
häuser und Literaturzeitschriften zur kubanischen Literatur und Kultur geschaffen wurden,
hält Paris für das kulturelle Leben der Kubaner noch nichts Ähnliches bereit, was das kul-
turelle Schaffen kubanisch-stämmiger in Paris Lebender verbreiten würde: ,,[E]n contrapo-
sición a los Estados Unidos y España, la cultura cubana en París se encuentra actualmente
en una situación de marginación."
66
61 Ebd., S. 21.
62 Ebd.
63 Strausfeld, S. 16.
64 Vgl. Miller Boelts, S. 1.
65 Gewecke, S. 605, Anm. 60.
66 Gremels, S. 369.
19

2.3 Die kubanische Exilschriftstellerin Zoé Valdés
En mis libros la enferma no era yo, sino el sistema. Oponerse a una dictadura es sano,
pero no salva a nadie. Sin embargo, escribir, eso sí, da una estabilidad, no sólo es un sus-
tento sino una forma de darle sentido a una vida.
67
Mit diesem Zitat von Herta Müller beginnt die kubanische Schriftstellerin Zoé Valdés ihren
Blog und aus diesem Zitat wird ihre Motivation zum Schreiben evident: 'Schreiben gibt ihr
Stabilität und einen Sinn im Leben'. Gleichzeitig prangert sie das 'System' an, das sie für
'krank' hält.
Zoé Valdés wurde 1959 in Havanna geboren. Endes des Jahres 1983 ging sie zum ersten
Mal nach Paris, wo sie die darauf folgenden fünf Jahre für die UNESCO arbeitete.
68
Den-
noch kehrte Valdés jährlich nach Kuba zurück. 1995, das Jahr, in dem ihr Roman La nada
cotidiana erschien, verließ sie jedoch endgültig die Insel. Eine Rückkehr war ihr allein auf-
grund der regimekritischen Haltung des Romans nicht möglich. In der Zwischenzeit arbei-
tete sie für die Zeitschrift Cine Cubano. Valdés und Reinaldo Arenas waren die einzigen
kubanischen Schriftsteller, die einen ausländischen (in beiden Fällen französischen) Ver-
trag mit einem Verlag unterschrieben. Reinaldo Arenas wurde dazu genötigt nach seiner
Rückkehr nach Kuba zwei Jahre im Gefängnis zu verbringen und Zoé Valdés bekam Pro-
bleme mit dem Beauftragten der Agencia latinoamericana del libro, Jorge Timossi: ,,Me
amenazaron de un tribunal y me amenazaron que podía tener problemas de la policía, el
propio Jorge Timossi."
69
In einem Interview geführt von Sarah Miller Boelts mit der kubanischen Schriftstellerin
wird deutlich, was für sie Exil bedeutet und warum das Thema des Exils in nahezu allen ih-
ren Werken eine Konstituente bildet:
Yo creo que los cubanos han vivido, durante todos estos años, tratando de mantener
viva su cultura en el exilio. [...] Yo creo que la memoria ha permitido recuperar lo
mejor de esa cultura, conservar lo mejor de nuestra cultura, musical, literaria, pictórica
mente. Y al mismo tiempo poner, como diría Martí, a un lado el dolor, pero no olvidar
el dolor. No olvidarlo porque nuestro sufrimiento no ha sido reconocido.
70
Valdés vergleicht den Schmerz des Exils der Kubaner mit dem der Argentinier und Chile-
nen, die während des Militärdiktaturen ihr Land verließen, ,,[p]ero al exilio cubano, no se
67 Herta Müller, zitiert aus: http://zoevaldes.net/. Am 22.9.2012. Die Slogans ändern sich von Tag zu Tag.
Letzte Einsicht am 12.12.2012.
68 Nachfolgende biographische Daten sind einem Interview mit Zoé Valdés entnommen: Miller Boelts, S.
145-161.
69 Ebd., S. 147.
70 Ebd., S. 158.
20

les ha reconocido el dolor."
71
Dennoch: ,,Nuestro dolor es cierto. Y nuestro exilio es verda-
dero."
72
Für die Schriftstellerin bedeutet Exil Bestrafung. Dennoch lernte sie im Exil die
Freiheit kennen und schätzen: die Freiheit, in ein Buchgeschäft zu gehen und die Bücher
zu kaufen, die sie wollte.
73
Zoé Valdés' Werk dreht sich hauptsächlich um das kubanische Exil und die Beziehung der
Kubaner zur Insel. Die Auseinandersetzung mit der ,,cubanía contemporánea"
74
zieht sich
wie ein roter Faden durch ihr gesamtes Werk. Einige Literaturwissenschaftler betrachten
ihr Werk sogar als eines: Technische Mittel und Topoi wiederholen sich, ebenso kehren Fi-
guren und Motive wieder.
75
González-Abellás bezeichnet das Werk Zoé Valdés' als ,,mapa
textual"
76
, der zwischen zwei Welten changiert: Vergangenheit und Gegenwart, Heimat und
Fremde, Kuba und Exil. Diese Dichotomie wird durch die Wiederkehr bestimmter Topoi
generiert: el mar, el cine y el sexo. Ein weiterer Topos, dem sich die Autorin stets bedient,
ist der des ,,weiblichen Schreibens".
77
Auch wenn Zoé Valdés sich selbst nicht als Feminis-
tin
78
begreift, so glaubt sie dennoch an eine weibliche Sensibilität:
No creo que haya una literatura feminista y una literatura masculina. Yo creo que hay una
sensibilidad femenina y una sensibilidad masculina. Lo que no impidió que Marguerite
Yourcenar escribiera Memorias de Adriano y que Gustave Flaubert escribiera Madame
Bovary. En ese sentido yo pienso que lo principal es la libertad de la creación.
79
In dem Namen Marcela, die Protagonistin von Café Nostalgia, wird der Topos des Meeres
mit dem 'Himmel' amalgamiert: ,,[S]e llama Marcela porque está entre el mar y el cielo.
No está anclada, no está fijada en la isla. Está volando siempre."
80
Darüber hinaus ist Mar-
cela ein ,,puro producto del castrismo"
81
.
71 Ebd.
72 Ebd.
73 Vgl. ebd., S. 148.
74 Vgl. hierzu: Miguel Angel González-Abellás: ,,'Aquella isla': Introducción al universo narrativo de Zoé
Valdés." In: Hispania, Vol. 83, No. 1, March 2000, S. 42-50, S. 42.
75 Ebd. Hierbei sind vor allem die Werke La hija del embajador, La nada cotidiana, Te di la vida entera und
Café Nostalgia zu nennen.
76 Ebd.
77 Vgl. Gewecke, S. 596. Gewecke spricht hier zwar von La nada cotidiana, dennoch kann dies ebenso auf
Café Nostalgia angewendet werden.
78 ,,Yo no puedo mentir y decir que yo pertenezco al movimiento feminista. Yo no pertenezco a ningún mo-
vimiento feminista. Pero yo soy feminista porque yo soy mujer." (Miller Boelts, S. 152.). Sie bezeichnet
sich selbst also nicht als Feministin, sondern als Frau, Feministin also en cuanto mujer.
79 Ebd.
80 Ebd., S. 159. Die Protagonistin beschäftigt ihr Name, weil er sie ans Meer erinnert: ,,La etimología de mi
nombre me lastima." Zoé Valdés: Café Nostalgia, Barcelona 1997, S. 13.
81 Miller Boelts, S. 159.
21

2.4 Migrationsliteratur oder 'Literatur in Bewegung'
82
?
Ines Theilen beschäftigt sich in ihrem Aufsatz Von der nationalen zur globalen Literatur
unter anderem mit dem Begriff der Migrationsliteratur. Texte, die nicht eindeutig der Na-
tionalliteratur zugeordnet werden können, attestiere man gewöhnlich den Begriff der Mi-
grationsliteratur. Theilen kritisiert, dass Entstehungsbedingungen, also textexterne Fakto-
ren, wie Herkunft und sozialer Hintergrund ausschlaggebend für die Zuschreibung zu
einem Genre seien.
83
Auf diese Weise würden die Perspektive der Sozialforschung und eth-
nologische sowie soziologische Erkenntnisse keinen Raum mehr für den Blick auf die
Textstruktur und die ästhetische Gestaltung des Textes zulassen. Literatur als diskursives
Phänomen beinhalte bereits die Grenzüberschreitung, so dass diese nicht mehr als Ord-
nungskategorie geschaffen werden müsse. Damit negiert Theilen nicht per se Ordnungska-
tegorien, sondern plädiert für die Selbstreflexivität von Kategorien in dem Sinne, als dass
sie ihre Veränderbarkeit eingeschrieben tragen. Eine 'allen' Migranten postulierte gemein-
same Erfahrung wäre der Heimatverlust und folglich die daraus resultierende Krise des In-
dividuums, das Motiv der Identitätssuche.
84
Mit der ironischen Frage, ob denn nun nicht
der moderne Roman an sich bereits das Genre der Krise des Individuums und der Identi-
tätssuche ist, setzt sich Theilen von dieser Position ab.
85
Ihr geht es darum zu zeigen, dass
Texte, die bisher mit dem Label 'MigrantInnenliteratur' versehen worden sind, ,,nicht etwa
durch ihre Hybridität von der Gesamtheit der Literaturproduktion abheben, sondern dass
ihre spezielle Eigenschaft darin besteht, diese Hybridität der Literatur als deren generelle
und konstitutive Eigenschaft lediglich deutlicher zu machen."
86
Statt der Zuweisung des Labels Migrationsliteratur auf jegliche Exilliteratur plädiert die
Literaturwissenschaftlerin für ein neues Konzept: Die Bewegung wird zum Strukturprinzip
der Texte.
82 Vgl. hierzu Ette, Literatur in Bewegung.
83 Ines Theilen: ,,Von der nationalen zur globalen Literatur. Eine Lese-Bewegung durch die Romane 'Die
Brücke vom goldenen Horn' von Emine Sevgi Özdamar und 'Café Nostalgia' von Zoé Valdés." In: Arca-
dia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Band 40, Berlin, New York 2005, S. 318-337.
Aufgrund der unterschiedlichsten Migrationsgründe, stellt Theilen die Frage nach gemeinsamen Erfah-
rungen von MigrantInnen, die der Begriff der Migrationsliteratur unterstellt: ,,Migration aber ist ein Über-
begriff, der so viele verschiedene Formen der Bewegung im Raum, des Verlassens der Heimat, zusam-
menfasst, dass es mir berechtigt erscheint, nachzufragen, wo sich bei postkolonialer Migration,
Arbeitsmigration, Migration von Eliten und Privilegierten oder der Migration von ethnisch und/ oder poli-
tisch Verfolgten eine Gemeinsamkeit der Erfahrung feststellen lässt." (Theilen, S. 319).
84 Vgl. ebd., S. 320.
85 Vgl. ebd., S. 319.
86 Ebd., S. 320.
22

Der Modus der Narration wird durch die Bewegungsstruktur bestimmt und die Protago-
nistInnen dieser Texte landen auf der Suche nach Identität stets zwischen den Fixpunk-
ten, im Transit
.
87
In Anlehnung an Ottmar Ette propagiert sie eine 'Literatur in Bewegung', das heißt eine Li-
teratur, die nicht in nationalphilologische Kategorien einzuordnen ist, sowie territoriale als
auch sprachliche Grenzen transgrediert. Das Café Nostalgia ist ein Ort des Transits, der be-
reits im Titel steht, als Ort der Erinnerung, in dem Gegenwart und Vergangenheit koinzi-
dieren.
88
Ottmar Ette spricht in diesem Zusammenhang von einer 'heterotopischen Literatur', die ,,an
vielen Orten und für viele Orte, geschrieben" wurde, also als ,,Literatur ohne festen Wohn-
sitz" zu begreifen ist.
89
Und dafür steht vor allem die Protagonistin des Romans:
Diese Marcela, die in weiblicher Form wie der Protagonist von Marcel Proust auf der
Suche nach der verlorenen Zeit ist, weiß sich [...] als Kind der Revolution und als Parzelle
der Insel, zugleich aber als (Er-)Zeugnis einer Literatur in ständiger Bewegung.
90
Dies sei vor allem darauf zurückzuführen, dass im Zeichen der Postmoderne
91
(oder viel-
leicht bereits Post-postmoderne?) ,,[n]eben ein multikulturelles Nebeneinander und ein in-
terkulturelles Zwischen- und Untereinander [...] ein transkulturelles Durcheinander getre-
ten [ist], in dem sich verschiedene Kulturen wechselseitig durchdringen und verändern."
92
Die Prämisse fester Wohnsitze und Kulturen sei so nicht mehr der Gegenwart zuzuordnen.
Die Rede von hybriden Kulturen und die Auswirkung auf die Literaturen im Zuge der Glo-
balisierung habe man noch nicht ausreichend bedacht, so Ette.
93
Im Fall von Café Nostalgia handelt es sich, laut Ette, um ,,[e]ine weitere räumliche Grund-
figur der Reisebewegung"
94
, ,,das Pendeln zwischen zwei oder mehreren Orten."
95
Dabei
liege der Fokus nicht auf der Reise, sondern vielmehr auf der ,,quasi-simultanen Existenz
an räumlich und zeitlich voneinander getrennten Orten."
96
Da diese Art von Reiseschema
87 Ebd.
88 Vgl. ebd., S. 321.
89 Ette, Kuba ­ Insel der Inseln, S. 23.
90 Ebd.
91 Zum Phänomen der Postmoderne siehe v.a.: Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Be-
richt, hg. von Peter Engelmann, Graz und Wien 1986; Jean-François Lyotard: Immatrialität und Postmo-
derne, Berlin 1985; Ulrich Schulz-Buschhaus: ,,Postmodernismo o post-avanguardia?", in: Giuseppe Pe-
tronio und Massimiliano Spanu (Hrsg.): Postmoderno?, Roma: Gamberetti, 1999, S. 33-45; Wolfgang
Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1988 und: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der
Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988.
92 Ette, Literatur in Bewegung, S. 13. Hervorhebung im Original.
93 Vgl. ebd.
94 Ebd., S. 70.
95 Ebd. Ottmar Ette unterscheidet in seinem Kapitel Reiseliterarischer Ort und hermeneutische Bewegung
folgende Punkte: Krise, Pendeln, Linie, Stern, Springen. (Vgl. Ette, Literatur in Bewegung, S. 62-80.)
96 Ebd., S. 70.
23

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783956848742
ISBN (Paperback)
9783956843747
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,1
Schlagworte
Diaspora Migration Emigration Migrationsliteratur Psychotraumatologische Theorie
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Patricia Riegg, MA., MA., wurde 1982 in Lauingen geboren. Ihr Studium der Italianistik, Soziologie und Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München schloss die Autorin im Jahre 2009 mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Nach einem einjährigen Italienaufenthalt sowie einem achtmonatigen Kubaaufenthalt begann die Autorin ihr Zweitstudium, um einer Lehrtätigkeit in Spanisch und Italienisch nachgehen zu können. Im Juli 2011 schloss sie ihr Bachelorstudium, im Dezember 2012 ihr Studium des Master of Education in den beiden Sprachen Spanisch und Italienisch erfolgreich ab.
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Titel: Kuba in der Fremde: Exil und Trauma in Zoé Valdés' 'Café Nostalgia'
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