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Interaktives Erzählen und Minimalismus: Eine erzähltheoretische Auseinandersetzung mit Playdeads "Limbo" (2010)

©2013 Examensarbeit 72 Seiten

Zusammenfassung

Die folgende Arbeit setzt sich kritisch mit der narrativen Ebene des 2010 erschienen Video- und Computerspiels Limbo der Firma Playdead auseinander und konzentriert sich dabei auf die Auseinandersetzung mit den erzähltheoretisch relevanten Elementen und dem Aspekt des spielinternen Minimalismus. Sie zeigt auf, wo die Erzähltheorie bei der Analyse dieses jungen Mediums an ihre Grenzen zu stoßen scheint, und verdeutlicht, dass das 2008 vom Deutschen Kulturrat in Deutschland zum Kulturgut ernannte Medium des Computer- bzw. Videospiels als Gegenstand einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung durchaus ernstgenommen werden kann und sollte. Limbo erscheint als ein exzellentes Beispiel für die Herausforderung, mit der sich Wissenschaften wie die Narratologie im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem neuen Medium konfrontiert sehen. Es ist trotz oder gerade wegen seines minimalistischen, auf Sprache gänzlich verzichtenden Ansatzes ein Titel, der die spezifischen Stärken des Mediums geschickt auskostet und hervorhebt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Limbo

2.1 Das Spiel / Die Entwickler

Das 2006 von Arnt Jensen und Dino Patti gegründete, in Kopenhagen ansässige Studio Playdead veröffentlichte Limbo, sein Debüt, am 21. Juli 2010 ursprünglich exklusiv über den Marktplatz des „ Xbox LIVE “-Onlinedienstes für die Xbox 360 und setzte das Spiel später ebenfalls für die PlayStation 3, die PlayStation Vita, Microsoft Windows und Mac OS X um.

In einem Interview mit dem Online-Magazin Edge-Online beschreibt Jensen die erste Idee, die er zum Konzept des Spiels hatte. Laut eigener Aussage fertigte er bereits 2004 eine erste Skizze einer düsteren Landschaft mit einer Höhle an, die den Betrachter neugierig machen und zum Erkunden einladen sollte. Darüber hinaus nennt er die Brüder Grimm, Astrid Lindgren und Tove Jansson als direkte Inspiration.

„They dared to write about death in a much heavier way than people do today.“ (http://www.edge-online.com/features/the-making-of-limbo/) betont Jensen im Bezug auf seine Vorbilder und weist damit auch bereits auf ein zentrales Element seines Spiels, nämlich den Prozess des Sterbens und das Phänomen des Todes, hin.

Im Jahr 2006 folgte noch vor der Gründung des Studios ein von Jensen entwickeltes, etwa anderthalbminütiges Konzeptvideo. Knappt zusammengefasst passiert darin folgendes:

Aufblende: Die Silhouette eines kleinen Jungen mit leuchtenden Augen läuft durch einen dunklen, ebenfalls silhouettenhaft dargestellten Wald, das Bild ist grobkörnig und schwarz-weiß. Der Junge bleibt stehen, als er einen leuchtenden Schmetterling sieht und beugt sich zu diesem herunter, als hinter einem hohen Baum plötzlich eine riesige Spinne auftaucht, die den Schmetterling mit ihren Beinen aufspießt. Der Junge fällt erschreckt nach hinten und die Spinne versucht auch ihn aufzuspießen, er kann nur knapp ausweichen. Es folgt ein harter Schnitt, der Junge steht verloren in einer offenen und windigen Gebirgslandschaft. Wieder ein harter Schnitt, plötzlich befindet sich der Junge in einer riesigen, sich drehenden Maschine und klettert eine Kiste hinauf. Es wird ab- und wieder aufgeblendet, und wir sehen ihn auf ein riesiges Zahnrad zulaufen. Er springt darauf, um einen höher liegenden Stahlträger zu erreichen. Als er sich an diesem hochzieht, kommt plötzlich ein riesiges Sägeblatt auf ihn zugefahren und das Video endet abrupt.

Dieser bereits sehr stark dem 2010 veröffentlichten Spiel entsprechende Konzept-Trailer stieß bereits auf große Resonanz und verbreitete sich wie ein Lauffeuer über das Internet. Trotz zahlreicher, nahezu durchweg euphorischer Reaktionen seitens interessierter Publisher, entschloss sich Jensen – aus Angst vor Fremdeinfluss und unnötiger Kommerzialisierung – dazu, das Projekt nicht zu verkaufen und gründete wenig später zusammen mit Dino Patti Playdead. So konnte die notwendige kreative Freiheit des Projekts gewährleistet werden, und Jensen konnte an seiner ursprünglichen und unkonventionellen Vision festhalten.

„I was so scared that people would take it away from me and make it more commercialised.“ (http://www.edge-online.com/features/the-making-of-limbo/)

Auch der ausführende Produzent Dino Patti sieht große Produktionen als problematisch an und spricht sich explizit für das Konzept der unabhängigen Entwicklung aus, da dieses häufig ebenfalls große Erfolge verbuchen kann und kreative Freiheit gewährleistet:

Larger budgets give lesser room to create something really interesting, because you need to please a lot of people. Indie titles deliver an edge, and the audience has grown to a size which is not embarrassing to write into a business plan any more.“ (http://www.gamasutra.com/view/news/27043/road_to_the_igf_limbos_dino_patti.php)

Das überschaubare, sich aus über zwanzig Personen zusammensetzende Team entwickelte eine eigene Engine für das Spiel unter der Leitung von Jensen als Autor und Patti als ausführendem Produzenten. Für die Umsetzung der akustischen Gestaltung konnte das Studio den dänischen Komponisten und Klangkünstler Martin Stig Andersen gewinnen. Das Spiel erhielt über neunzig Auszeichnungen, unter anderem im Jahr 2010 den „ Reader’s Choice“-Award der auf Computer- und Videospiele spezialisierten Internet-Community IGN, und wurde von zahlreichen Journalisten für seinen außergewöhnlichen und minimalistischen Stil und seine dichte und unvergleichliche Atmosphäre gelobt.[1]

Die Rezension der Seite eurogamer.net hebt besonders den minimalistischen Ansatz des Spiels hervor und lobt diesen ausdrücklich:

„Creativity thrives in limitations, and Limbo is rigorous in its self-imposed limits. [...] Yet you can't expect limitations alone to make your masterpiece for you. After cutting away the fat, the obligation is to use what remains as convincingly as possible. That's what Limbo accomplishes. The game steps back from audio-visual sensory overload so it has room to make inroads to other senses: a sense of wonder, say, or of compassion and vulnerability.“ (http://www.eurogamer.net/articles/limbo-review)

Doch wie genau funktioniert dieser Minimalismus, und was genau macht diesen sich bewusst an Verzicht orientiertem Ansatz aus narrativer Sicht so besonders? Im Folgenden möchte ich mich anhand der narrativen, visuellen, akustischen und spielerischen Ebene ausführlicher damit auseinandersetzen.

2.2 Handlungsschema / Die Geschichte

„Ungewiss über das Schicksal seiner Schwester, betritt ein Junge LIMBO...“

(http://store.steampowered.com/app/48000/)

Dieser kurze und wenig aussagekräftige Hinweis ist die einzige mehr oder minder konkrete Information zur Geschichte des Spiels, wobei leider nicht klar ist, ob dieser von Playdead selbst stammt oder ob er von den Vertrieben nachträglich hinzugefügt wurde. Man findet ihn nur auf den Internetseiten der Vertriebe und der Packung der physischen Auflage des Titels. Außerdem greift der Lead Designer Jeppe Carlsen diese narrative Rahmung in einem Interview mit der Redaktion der Internetseite Rock, Paper, Shotgun ebenfalls auf:

„Essentially, LIMBO is a puzzle platformer in which you play as a young boy travelling through a hostile world looking for his sister.“

(http://www.rockpapershotgun.com/2011/07/12/playing-dead-limbo-interview/)

Im eigentlichen Spiel ist dieses, an klassische Plattformspiele wie Super Mario Bros (Nintend o, 1985) oder The Great Giana Sisters (Rainbow Arts, 1987) angelehnte und genretypische Handlungsschema jedoch nicht ausdrücklich enthalten, und die Beziehung zu der im letzten Drittel auftauchenden weiblichen Figur wird im Spiel nicht weiter erläutert, es verzichtet (abgesehen von einem Titelbildschirm, einem Menü und dem Abspann) voll­kommen auf die textuelle und sprachliche Ebene. Es gibt keine Dialoge, keine Text­einblendungen, keine sprachlichen Erläuterungen oder Hinweise. Ich möchte mich dementsprechend in erster Linie mit den spielinternen Faktoren auseinandersetzen und versuchen, die Geschichte des Spiels samt ihrer Ereignisse anhand dieser zu rekonstruieren.

Das Spiel selbst beginnt mit dem Erwachen des Jungen in einem dunklen und mit Gefahren gespickten Wald. Der Junge durchquert neben diesem Wald zahlreiche Höhlen, eine Kanalisation, die Ruinen einer Stadt, einen Industriekomplex und einen surrealen Raum, in dem die Elemente der einzelnen Schauplätze miteinander verschmelzen und die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben sind. Mit diesen einzelnen Schauplätzen werde ich mich später noch ausführlicher befassen. Auf seinem – vom Spiel durchweg chronologisch geschilderten Weg begegnet er einer riesigen Spinne, feindseligen Eingeborenen (anderen Kindern?) und ver­schiedenen Insekten und Tieren. Er muss zahlreiche Hindernisse und Abgründe überqueren, Schalter betätigen, sich vor Fallen in Acht nehmen und verschiedene, mit der jeweiligen Welt verbundene Rätsel lösen, um seinen Weg fortsetzen und beenden zu können. Welches Motiv ihn antreibt und wer er ist, bleibt dabei nahezu durchweg offen, und dementsprechend hat auch der Spieler zu Beginn noch keine klare Vorstellung davon, warum er ausgerechnet diesen Avatar steuert, was für eine Geschichte ihn erwartet und was das Ziel des Spiels sein könnte.[2] Vielmehr wird der Spieler vom Spiel dazu eingeladen, es selbst herauszufinden, es appelliert an die intrinsische Motivation und zwingt zu nichts. Des Weiteren reaktiviert es aufgrund seiner minimalistischen und eingängigen Spielmechanik beim Spieler die Vorkenntnisse der Tropen klassischer 2D-Hüpfspiele wie „Laufe von links nach rechts, um das Ziel des Levels bzw. Spiels zu erreichen“ oder „In einen Abgrund zu fallen, bedeutet zu scheitern.“. Erst im letzten Drittel des Spiels taucht zum ersten Mal eine weibliche Figur auf, die bei der ersten Begegnung mit dem Spieler allerdings wieder verschwindet, bevor der Junge sie erreichen kann. Das Spiel endet schließlich mit der Zusammenkunft der beiden Figuren. Der Junge tritt von hinten an das Mädchen heran und bleibt ein paar Meter von ihr entfernt stehen. Sie, mit dem Rücken zu ihm, bemerkt den Jungen hinter sich, erstarrt (Abb. 1), der Bildschirm wird schwarz, und der Abspann beginnt zu laufen, während im Hinter­grund der letzte Schauplatz des Spiels, der Ort der Begegnung, in einem veränderten Zustand wieder auftaucht. In diesem Bild sind die beiden Figuren aus der Landschaft verschwunden, es regnet, und die Umgebung wirkt im Gegensatz zu vorher stärker verrottet. An den Punkten, an denen die beiden Figuren zuvor standen, zeichnen sich leichte Erhöhungen ab, über denen Fliegenschwärme zu sehen sind (Abb. 2). Ob es sich bei diesem Bild um eine Analepse oder um eine Prolepse handelt, ob wir es hier mit einem Wechsel der Welten (Limbus / Wirklichkeit) zu tun haben und was genau mit den Figuren passiert ist, geht aus den im Spiel vorhandenen Informationen nicht eindeutig hervor.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 Abb. 2

Sowohl Anfang als auch Ende können dementsprechend als offen bezeichnet werden, denn es gibt keinerlei expositorische Hinweise darauf, wie der Junge zu Beginn in den Wald gekommen sein könnte und warum er anfangs ohnmächtig ist oder schläft. Ebenso wird auch die Rolle der weiblichen Figur nicht weiter erläutert und auch die einzelnen Schauplätze werden vom Spiel jenseits der jeweiligen Regeln dieser Orte nicht weiter erklärt. Lediglich das Motiv des Todes erscheint omnipräsent, unausweichlich und fungiert als Leitfaden des Spiels.

Die Geschichte ist in neununddreißig Kapitel unterteilt, die aber nicht als solche hervor­gehoben oder weiter vom Spiel thematisiert werden und erst nach dem erstmaligen Spielen im Optionsmenü angewählt werden können. Diese Gliederung des Spiels entspricht somit den im Spiel enthaltenen Rücksetzpunkten im Falle eines vorzeitigen Ablebens des Jungen. Eine konkrete thematische Bedeutung der jeweiligen Kapitel oder eine Unterteilung in Akte lässt sich dabei nicht ausmachen.

Welche Möglichkeiten bleiben also darüber hinaus noch, um so etwas wie eine Handlung zu beschreiben, beziehungsweise diese überhaupt ausfindig zu machen, und welche Rolle spielt die Geschichte für das Spielerlebnis überhaupt?

Die hier bereits deutlich erkennbare Ambiguität der erzählten Geschichte und der dar­gestellten Welt(en?) ist ein von Jensen und seinem Team bewusst gewähltes Konzept. Martin Stig Andersen beschreibt diese Entscheidung in einem Interview mit Edge-Online wie folgt:

„ We wanted to create this ambiguous space and not tell the player how to feel, no t tell them when to be scared. [...] We don’t tell you what to feel. It evokes something in you that is your own response to the game,” he continues. “If you tell the player how to feel – to be scared – it can have the opposite effect. If [they’re] not taken by the hand all the time, it’s much more uncertain… and truly scary.”

(http://www.edge-online.com/features/the-making-of-limbo/)

2.3 Zusammenfassung der Ereignisse

2.3.1 Der Wald

Der Junge liegt mit geschlossenen Augen auf dem Boden und erwacht durch die erste Eingabe des Spielers. Er beginnt den Wald zu durchqueren und kommt schließlich zu einer Art Hochsitz, unter dem ein verfallener Holzwagen steht. Er zieht diesen hervor und klettert darauf, um die besagte Plattform zu erreichen.

Er betritt eine Höhle und erreicht einen See, an dessen Ufer ein einfaches, an einer Kette befestigtes Boot liegt. Er springt hinein, die Kette reißt, und das Boot treibt mit ihm zum anderen Ufer.

Das Boot legt am anderen Ufer an, der Junge zieht es aus dem Wasser erklimmt mit seiner Hilfe einen Vorsprung, klettert ein herabhängendes Seil hinauf und läuft tiefer in den Wald, bis er zwei auf dem Boden liegende Bärenfallen erreicht, die er nicht mit einem Sprung über­winden kann. Er muss sie auseinanderziehen und einzeln überqueren, um nicht zu sterben. Wenig später kommt er zu einem Seil, an dem ein unförmiges totes Tier hängt, um das zahlreiche Fliegen schwirren. Ein Stück dahinter liegt eine weitere Bärenfalle. Aufgrund des Gewichts des an dem Seil hängenden Kadavers kann der Junge das Seil nicht nutzen, um die nächste Plattform zu erreichen. Er muss die Falle unter den Kadaver ziehen und an das Seil springen. Das tote Tier löst die Falle aus und wird von dem Seil gerissen, nun kann sich der Junge mit diesem zum nächsten Vorsprung schwingen.

Er erreicht einen schräg liegenden Baumstamm. Ein paar Kiesel rollen ihm entgegen. Als er auf den Baumstamm springt, rutscht dieser ein Stück nach hinten, und ein großer Felsbrocken kommt ihm entgegen. Er läuft ein Stück zurück, um dem Felsen zu entkommen und setzt seinen Weg schließlich fort.

Ein Stück weiter sieht er an einem Baum ein Seil hängen und erreicht schließlich einen kleinen Tümpel, an dessen Rand eine verrottete Kiste liegt. Er zieht die Kiste ein Stück zurück und erreicht über sie das an dem Baum hängende Seil, erklimmt die Baumkrone und bricht die Spitze eines toten Baumes ab, welche in den Tümpel fällt. Er klettert wieder hinab und überquert den Tümpel über das darin schwimmende Stück des Baumes.

Wiederum ein paar Meter weiter liegt auf einem für den Protagonisten unerreichbaren Ast eine Bärenfalle. Als er weitergeht, tauchen hinter einem Baum plötzlich die Beine einer Spinne aus der Dunkelheit auf. Diese versuchen, den Jungen aufzuspießen und mit jedem Stoß bebt der Boden. Durch diese Erschütterung rutscht die Falle von dem Ast herab, und der Junge kann diese nutzen, um die Beine der Spinne zu verletzen. Als er drei der Beine durch die Falle verletzt hat, verschwindet die Spinne in der Baumkrone, und er ist imstande, seinen Weg fortsetzen.

2.3.2 Höhlen / Dorf der Eingeborenen

Die darauffolgende Höhle ist nicht nur sehr dunkel, sondern auch voller Spinnenweben, Knochen und Tierkadavern. Es wird anhand dieser Details deutlich, dass es sich um das Nest der Spinne zu handeln muss. Hier angelangt, muss der Junge der plötzlich hinter ihm auf­tauchenden Spinne entkommen, und es findet - aufgrund der Notwendigkeit zu flüchten – eine erste Beschleunigung der Handlung statt. Dieser Teil des Waldes ist wesentlich bedrohlicher als der Bereich zuvor, da eine durch die Spinne repräsentierte aktive Bedrohung von ihm ausgeht. Außerdem trifft der Spieler hier auf die erste menschliche, allerdings bereits tote Gestalt, und die ersten komplexeren Fallen tauchen auf. Die bereits im ersten Abschnitt angedeutete Zivilisation wird hier noch weiter ausgebaut; im Hintergrund sind weitere Leichen zu sehen, einige Bäume sind gefällt, und ein aus Holz gefertigtes, mechanisches Spinnenbein taucht hinter einem Baum auf und versucht dem Jungen den Weg zu versperren. Dieses mechanische Spinnenbein kann als die nächste, sowohl topologische als auch als semantische Grenzüberschreitung ausgelegt werden, da unmittelbar hinter ihm die ersten Eingeborenen auftauchen, deren Lager ebenfalls dahinter liegt; auf diese Aspekte möchte ich später noch konkreter eingehen. Die ersten recht grobschlächtig gefertigten Leitern tauchen auf und das Lager besteht aus einfachen kleinen Baumhäusern, vor denen erhängte Menschen an Galgen baumeln, die, so ist anzunehmen, der Abschreckung von Eindringlingen dienen sollen. Die Eingeborenen ergreifen beim Eindringen des Jungen in ihren Raum nicht nur die Flucht, sondern setzen sich außerdem auch aktiv zur Wehr, es ist sofort evident, dass sie nicht friedlich sind. Sie werfen ihm einen brennenden Reifen und kleine Felsbrocken entgegen und platzieren weitere Bärenfallen auf dem Weg. Bevor der Junge einen der Eingeborenen erreichen kann, verschwinden sie in den Hütten oder in der Dunkelheit am Bildrand.

Nach dem Durchqueren des Dorfes folgt eine weitere, durch das erneute Auftauchen der Spinne initiierte Verfolgungssequenz. Diese Verfolgung endet damit, dass der Junge die Spinne mit einem großen Felsen in einen Abgrund stößt und sie vorerst verschwindet. Kurz darauf taucht die Spinne, schwer verletzt und mit nur noch einem Bein, wieder hinter ihm auf. Sie versucht ein letztes Mal ihn aufzuspießen, bevor der Junge ihr das letzte Bein ausreißt und ihren Körper in eine Dornengrube rollt, um diese überqueren zu können.

Der Boden der darauffolgenden Höhle ist übersäht mit toten leuchtenden Larven, die platzen, als der Junge über sie läuft. Beim Überqueren eines Gewässers muss er auf eine schwimmende Leiche springen und diese als Plattform benutzen. Ein Mensch mit einer offensichtlich lebendigen leuchtenden Larve auf dem Kopf, läuft scheinbar willenlos auf das Wasser zu, hinein und ertrinkt. Die von den Larven ausgehende Gefahr, nämlich der Verlust der Selbstkontrolle, ist somit bereits vom Spiel angedeutet. Außerdem tauchen kurz darauf zwei an der Decke hängende Insekten auf, die gerade damit beschäftigt sind, eine der besagten Larven zu fressen, und eine weitere Leiche mit einer Larve auf dem Kopf sitzt in einem Lichtkegel. Diese Details des Raumes sind ebenfalls wichtige Vorausdeutungen für den weiteren Verlauf der Handlung und des Spiels, denn es stellt sich später heraus, dass das Licht Einfluss auf das Verhalten der Larven nimmt und die Insekten den Jungen von den Larven befreien können.

Kurz darauf folgen drei große mechanische Fallen, die durch Druckplatten im Boden aus­gelöst werden und den Jungen zerquetschen, wenn er diese auslöst. Das technische Element rückt dementsprechend weiter in den Vordergrund. Nach dem Überqueren der Fallen und einer weiteren Grube trifft der Protagonist auf drei mit Blasrohren bewaffnete Menschen, die, als sie ihn erblicken, die Verfolgung aufnehmen. Er flüchtet in Richtung der Fallen. Einer der Verfolger fällt in die zuvor vom Jungen überquerte Grube, und die anderen beiden werden von den Fallen zerquetscht. Danach ist der Weg wieder frei und der Junge läuft weiter.

Als der Junge die Höhle verlässt, erreicht er einen Ort mit einem riesigen Zahnrad im Hintergrund. Zwei große Stahltore versperren ihm den Weg. Diese sind jeweils an einem Seil befestigt. Er muss beide Tore gleichzeitig öffnen, um hindurch zu kommen, da diese sich wieder langsam schließen, wenn er das jeweilige Seil loslässt. Erst zieht er das eine Seil und schwingt sich dann an das zweite Seil. Als beide Tore ungefähr auf der gleichen Höhe sind, schwingt er sich vom zweiten Seil in Richtung der Tore und kann hindurch. Hinter den Toren liegt eine Lichtung, in der ein paar leuchtende Pilze wachsen, die ein froschähnliches Reptil gerade frisst; eine für den späteren Spielverlauf ebenfalls wichtige Beobachtung. Als das Reptil den Jungen bemerkt, flüchtet es.

Dahinter hängt eine der leuchtenden Larven an einer Pflanze an der Decke. Als der Junge an dieser vorbeiläuft, lässt diese sich auf seinen Kopf fallen. Willenlos läuft er in eine Richtung, bis er ins Licht tritt. Das Licht beeinflusst die Larve zum Richtungswechsel. Er kann sich nicht wehren. Er schreitet weiter in den Wald hinein und kommt an drei an der Decke hängenden Insekten vorbei, die gierig nach der Larve schnappen, aber sie noch nicht erreichen. Er muss eine Kiste überqueren, das Licht sorgt für einen erneuten Richtungs­wechsel. Er schiebt die Kiste vor sich her und springt schließlich auf sie, so dass die Kreaturen ihm die Larve vom Kopf schnappen und er sich wieder frei bewegen kann.

2.3.3 Regenmaschine / Kanalisation

Die Umgebung wird weiterhin zunehmend industrieller und der Junge verlässt endgültig den Wald. Er kommt an einer riesigen Maschine mit einem mechanischen Hebel und einem stillstehenden Antrieb vorbei. Ein Stück weiter entfernt taucht erneut das Reptil auf, das gierig nach den an der Unterseite einer Plattform hängenden Pilzen schnappt, die es jedoch nicht erreichen kann. Als es den Jungen sieht, flüchtet es in eine winzige Grube, die es erst wieder verlässt, als sich der Junge nicht mehr im Sichtfeld befindet. Der Junge springt auf die wackelige Plattform, an deren Unterseite sich die Pilze befinden. Durch die Erschütterung fallen diese zu Boden. Das Tier kommt aus seinem Unterschlupf, um diese zu fressen, und der Junge springt zwischen das Tier und die kleine Grube, in der es sich zuvor vor ihm versteckt hat. Als es vor ihm flüchtet, läuft es in die Maschine hinein und beginnt so, diese anzutreiben. Als der Junge nun den Hebel der Maschine umlegt, blitzt es und es gibt ein lautes Donnern. Unmittelbar darauf beginnt es in Strömen zu regnen.

Durch die Rohre in der näheren Umgebung beginnt Wasser zu fließen, der Junge positioniert einen in einer Grube liegenden Baumstamm mittig und füllt diese durch ein Rohr mit Wasser. Der Baumstamm beginnt an der Oberfläche zu schwimmen und dient so als Plattform, von der aus er die Kanalisation betreten kann.

In der Kanalisation legt er einen weiteren Hebel um, durch den sich eine kleine Luke schließt und das Wasser zu steigen beginnt. Er klettert eine Leiter empor und stellt sich auf eine schwimmende Kiste, um nicht zu ertrinken und eine weitere Leiter zu erreichen. Eine zweite, allerdings beschädigte Kiste hilft ihm gerade eben noch dabei, die nächste Plattform zu erreichen, bevor sie im Wasser versinkt. Er öffnet eine Schleuse, und eine darunter schwimmende Boje löst sich, die er unter eine weitere Kiste schiebt, um diese zum Schwimmen zu bringen. Er klettert weiter hinauf und kommt zu einem aus zwei Becken bestehenden Wassertank, die mit zwei Hebeln verbunden sind. In einem der Becken schwimmt eine große Holzkiste. Als er den ersten Hebel umlegt, öffnet sich die Trennwand zwischen den beiden Becken und das Wasser verteilt sich gleichmäßig in beiden Becken. Mit dem zweiten Hebel lässt er ein über dem zweiten Tank hängendes Gewicht hinein, damit das Wasser steigt. Die darin schwimmende Holzkiste erreicht nun eine Höhe, die es ihm erlaubt, den Tank zu überwinden und die nächste Plattform zu erreichen.

Tiefer in der Kanalisation hängt eine weitere leuchtende Larve an der Decke, vor dem Jungen liegt eine Kiste auf dem Boden. Er zieht die Kiste ein Stück zu sich und schließlich lässt sich die Larve auf seinen Kopf fallen. Er läuft, von der Larve dazu getrieben, weiter, springt an die vor ihm liegenden Leitern und setzt seinen Weg fort über instabile Rohre, von denen eins unter ihm zerbricht. Wasser tritt aus und überflutet den Bereich, das Wasser beginnt erneut zu steigen. Durch den Lichteinfall am Ende des Korridors wechselt er ein weiteres Mal die Richtung, kehrt zu den soeben überquerten Leitern zurück und steigt diese empor. Eines der zerbrochenen Rohre schwimmt an die Oberfläche und dient ihm als weitere Plattform. Kurz dahinter befinden sich erneut die Insekten, die dem Jungen die Larve vom Kopf schnappen, und er ist wieder imstande, sich frei zu bewegen. Er erklimmt eine letzte Leiter und kommt erneut ins Freie. Es regnet noch immer.

2.3.4 Stadt / Dächer / Hotelreklame / Altes Gebäude

Er befindet sich nun auf verfallenen Hausdächern, kommt an rauchenden Kaminen vorbei und klettert an einem an einer Wand hängenden Abflussrohr hinauf, welches unter seinem Gewicht beinahe aus der Wand reißt.

Er erreicht eine riesige Neonreklame mit dem Schriftzug „Hotel“, deren Lichter flackern. Das „O“ ist bereits gänzlich erloschen. Vereinzelt schaltet sich der Strom ab und wieder an, und er kann die einzelnen Buchstaben nur betreten, wenn der Strom aus ist. Als er das „O“ erreicht, löst sich dieses aus seiner Verankerung, stößt gegen das „T“ und das abgerissene Kabel des „T“ kann nun als Seil benutzt werden, um die unter der Reklame liegende Hauptsicherung zu erreichen, durch die er in der Lage ist, den Strom ganz auszuschalten. Nun besteht die Möglichkeit, die Reklame gefahrlos zu überqueren.

Er erreicht eine große und zum Teil zersprungene Glaskuppel, welche unter seinen Schritten noch weiter nachgibt, aber nicht vollständig zerbricht. Auf einer dahinter liegenden, sich auf zwei Rädern befindenden Plattform ist eine Leiter befestigt, die er nutzt, um aus größerer Höhe durch das Glas zu springen. Er landet auf einer an der Decke hängenden Neonlampe und springt an einen aus der Wand ragenden Feuerwehrschlauch, der sich durch sein Gewicht abrollt und ihn sicher auf den Boden des Raumes transportiert.

Links von sich stürzt der Junge ein Baugerüst um, damit der Weg nach links frei wird, und ein Stück weiter rechts wird er von einer weiteren Larve überrascht, die ihn zuerst nach links gehen lässt. Hätte er das Gerüst nicht im Vorfeld bereits zum Einsturz gebracht, hätte dieses ihn an dieser Stelle erschlagen. Nach einem durch das Licht beeinflussten Richtungswechsel geht er tiefer in die Ruinen der Fabrik und erreicht einen Aufzug und eine Weggabelung.

2.3.5 Industriegebiet / Ruine / Fabrik / Maschine

An der Gabelung, immer noch unter dem Einfluss der Larve, geht er den unteren Weg entlang und springt über zahlreiche Stahlträger, von denen einige lose befestigt von der Decke hängen. Als er über einen Schalter im Boden läuft, öffnet sich vor ihm ein Greifarm, der eine Kiste festhält und ein Sägeblatt rast auf den Jungen zu. Als die Kiste vor dem Jungen zu Boden fällt, steigt er auf diese, um über das sich nähernde Sägeblatt zu springen. Unmittelbar dahinter findet er erneut die Kreaturen, die ihn von der Larve befreien. Er dreht sich um und kehrt zur Weggabelung zurück.

Den Aufzug an der Weggabelung nutzt der Junge, um die nächste Plattform zu erreichen und eine Kiste nach oben zu transportieren. Als er wenig später einen Hebel umlegt, wird ein Seil an einem Kran heruntergefahren. Er legt den Hebel ein weiteres Mal um, springt an das Seil und wird von dem Kran nach oben gefahren. Dann schwingt sich zur nächsten Plattform.

Es gibt hier zwei Greifarme an der Decke und zwei Schalter am Boden. Der Junge muss die beiden Schalter zeitverzögert aktivieren, damit er die Kisten stapeln kann, um einem sich nähernden Sägeblatt zu entkommen und die nächste Plattform zu erreichen. Er verlässt die Fabrik und klettert eine weitere Leiter empor.

Nach dem Erklimmen der Leiter trifft er auf ein übernatürlich großes libellenartiges Insekt. Er schleicht sich leise und langsam heran und, als das Insekt gerade wegfliegen möchte, springt er in seine Richtung und hält sich an einem der Beine des Insekts fest. Das Insekt beginnt sich zu wehren und versucht den Jungen abzuschütteln, während es weiter nach oben fliegt. Letztlich reißt der Junge ihm ein Bein aus, als er auf der nächsten höher­gelegenen Plattform landet.

Er betritt eine weitere Industrieruine. Hinter einer durch einen Druckschalter zu aktivierenden Tür befindet sich eine Kiste, die er durch eben diese ziehen muss, damit er über die Kiste eine weitere Plattform erreichen kann. Über dieser Konstruktion liegt ein Fließband, über dem wiederum zwei bewegliche Plattformen befestigt sind, die sich ziehen und schieben lassen. Am Ende des Fließbandes befindet sich ein Schalter. Als er den Schalter betätigt, rollt ein Reifen auf die Plattformen zu, den er anhand dieser über das Fließband hinweg auf die andere Seite befördern kann. Der Reifen fällt herunter und aktiviert den Druckschalter der Tür, so dass der Junge imstande ist die Kiste hindurch­zuschieben.

Mit der nun verfügbaren Kiste erreicht er einen höher gelegenen Hebel vor einem riesigen Zahnrad. Als er den Hebel umlegt, beginnt das Zahnrad sich zu bewegen. Er schiebt die Kiste auf das Zahnrad, um sie auf dessen andere Seite zu befördern. Ebenso verfährt er mit einer weiteren Kiste, die auf einer über dem Zahnrad positionierten Plattform liegt. Die erste Kiste schiebt er nun auf einen beweglichen Boden, den er über einen sich unmittelbar davor befindenden Druckschalter anheben kann. Die zweite Kiste schiebt er auf den Schalter und springt dann schnell auf die nach oben fahrende Plattform mit der zweiten Kiste. Dahinter befindet sich ein Hebel, der eine an einem Haken befestigte Kette in Bewegung versetzt. Der darunter liegende Boden ist elektrisch geladen und somit gefährlich. Um diese Kette auch nach dem Betätigen des Schalters zu erreichen, schwingt der Junge zuerst an ihr, aktiviert dann den Schalter und kann sie so noch erreichen, während sie bereits in Bewegung versetzt wird, und dem darunter liegenden elektrischen Boden entgehen.

Dahinter findet er einige Zahnräder verschiedener Größen. Er schiebt ein kleineres in die sich bereits bewegenden und aktiviert so die Maschine, durch die der Raum sich zu drehen beginnt. Als der Raum sich um etwas mehr als neunzig Grad gedreht hat, öffnet sich eine Klappe und er kann seinen Weg fortsetzen. Ein wiederum noch größeres Zahnrad befördert den Jungen weiter in die Höhe, und als er eine weitere verschlossene Tür erreicht, hört der Raum auf sich zu drehen.

Eine dort liegende Kiste fixiert der Junge mit einem ebenfalls dort stehenden Elektro­magneten so, dass er den Schalter der Tür und die nächste Leiter erreichen kann. Er durch­quert die inzwischen geöffnete Tür und kommt zu einem weiteren Hebel und einer Kiste, über der eine Kette hängt.

Als er den Hebel bedient, beginnt der Raum sich ein weiteres Mal in seiner Gesamtheit zu drehen. Der Junge hält sich an der Kette fest, um einem kreischenden Sägeblatt auszu­weichen, und als der Raum sich um 90 Grad gedreht hat, lässt er sich auf die inzwischen unter ihn gerutschte Kiste fallen.

Die Kiste rutscht weiter, und kurz bevor diese von einem davor liegenden Sägeblatt zerstört wird, springt er ab und hält sich an der nächsten von der Decke hängenden Kette fest. Er lässt sich fallen.

2.3.6 Auftauchen des Mädchens / Fabrik

Er landet auf einer tiefer liegenden Plattform, und das Betätigen eines weiteren Hebels setzt den Raum nochmals in Bewegung. Er läuft weiter, vor ihm liegt Dunkelheit. Plötzlich erscheint unmittelbar vor ihm ein weißer, leuchtender Schmetterling. Er folgt diesem, überquert ein weiteres Zahnrad und steht plötzlich auf einer Wiese. In einem Lichtkegel ist eine weibliche Silhouette zu sehen, die ihren Blick auf den Boden gerichtet hat und ihre Hand durch das Gras fahren lässt. Kurz vor ihr befindet sich ein Rohr an der Decke. Als der Junge auf die Figur zugeht, springt eine Larve aus dem Rohr auf seinen Kopf und zwingt ihn umzudrehen. Er läuft den Weg zurück, gerät in einen Lichtkegel und dreht erneut um. Die weibliche Figur und die Wiese sind verschwunden, stattdessen liegen nun brutal hämmernde Maschinen und Fließbänder vor ihm.

Er überquert die Maschinen und Fließbänder und wird ein weiteres Mal durch die an der Decke hängenden Insekten von der Larve befreit. Er lässt sich von einem riesigen Zahnrad weiter nach oben fahren und erreicht einen Hebel, der das nächste, etwas höher gelegene Zahnrad steuert. Er bringt es durch das Betätigen des Hebels kurz zum Stillstand, springt hinauf und lässt sich weiter in die Höhe fahren.

Auf der nächsten Ebene findet der Junge eine auf einem Gleis stehende Lore und einen aus der Wand ragenden Schalter, mit dem er den Strom der Schienen aktivieren kann. Er nutzt einen dort ebenfalls stehenden Leiterwagen, um den Hebel zu erreichen und lässt sich in die Lore fallen. Der Wagen rollt in die Dunkelheit, der Junge muss während der Fahrt einem weiteren Sägeblatt ausweichen. Am Ende der Strecke knallt die Lore auf einen Schalter, der den Strom auf der nächsten Plattform aktiviert. Der Junge muss den Wagen an dem Abhang etwas zurückschieben und die Plattform überqueren, bevor diese den Schalter aktiviert und der Strom angeschaltet wird.

An der Decke hängt eine Lampe, die nur einen kleinen Teil des Raumes erleuchtet. Der Junge drückt einen Hebel, der Raum beginnt sich zu drehen und die Lampe zu schaukeln. Er muss sich vorsichtig vorwärts bewegen und durch den Schein der Lampe die vor ihm liegenden Plattformen entdecken. Der Raum kommt langsam zum Stillstand und der Junge verlässt die Ruine.

2.3.7 Verwildertes Industrie- / Militärgebiet

Außerhalb der Ruine liegen zwei rechtwinklig zueinander angeordnete und bewegliche Selbstschussanlagen mit Laserpointern. Der Junge muss die sich an der Decke befindende Anlage aktivieren, indem er in den Laser springt, um die seitlich schießende damit zu zer­stören.

Danach erreicht er eine weitere Weggabelung. Er kann den oberen Weg noch nicht erreichen und geht unten entlang. Im unteren Bereich liegen zwei Kisten, und ein temporär die Schwer­kraft umkehrender Schalter kann aktiviert werden. Er schiebt eine der dort liegenden Kisten an den rechten Bildschirmrand, um den Schalter zeitverzögert zu aktivieren und die zweite dann schwebende Kiste abzufangen und als Plattform zu benutzen. Dann schiebt er sie unter die Gabelung, deaktiviert erneut die Schwerkraft und zieht sie nach oben. Danach stellt er sich bei deaktivierter Schwerkraft auf die Kiste und lässt sich von ihr nach oben tragen.

Dort oben erreicht er einen weiteren Fahrstuhl. Die Umgebung der Höhle, die er nun betritt, ist verwildert, die dort auffindbare Technik ist überwachsen von Gras. Über dem Fahrstuhl ist eine Selbstschussanlage positioniert, vor der eine Kiste an einem Seil hängt. Der Junge stellt sich auf das Dach des Fahrstuhls, fährt nach oben, aktiviert die Selbstschussanlage und holt so die Kiste auf den Boden. Diese schiebt er dann auf den Fahrstuhl und nutzt sie als Deckung, um mit dem Fahrstuhl weiter nach oben zu kommen.

Links auf der nächsten Plattform befindet sich ein Schwerkraftschalter, mit dem der Junge eine weitere Kiste zu sich befördern kann. Hat er diese, kann er damit eine weitere Plattform erreichen. Von dieser Plattform steigt er eine Leiter hinab, und es tauchen vereinzelt auch wieder Bäume auf.

Der Junge kommt in eine große Halle mit zwei riesigen Containern, einem Magnetschalter und einem Schwerkraftschalter. Der Junge hebt den einen Container durch Betätigen des Schwerkraftschalters an und fixiert den zweiten mit dem Magnetschalter, um den Weg frei zu machen.

2.3.8 Anamorphose

Vor einem Abgrund, über den ein Seil gespannt ist, befinden sich zwei Schwerkraftschalter. Deaktiviert der Junge mit dem ersten Schalter die Schwerkraft, fährt ein Wagen, an dem eine Kette hängt, das gespannte Seil hinauf. Er muss, kurz bevor der Wagen ankommt, die Schwerkraft wieder aktivieren, an die Kette springen und sich von dem Wagen über den Abgrund befördern lassen. Als er abspringt, landet er auf einem Dach, rutscht herunter, springt ab und muss im Sprung einen weiteren Schwerkraftschalter aktivieren, um seitlich auf der nächsten Plattform zu landen.

Auf der Plattform wird ein Sägeblatt aktiviert und als der Junge abspringt, muss er einen weiteren Schwerkraftschalter aktivieren, der ihn auf das große „H“ des „Hotel“-Schriftzuges befördert. Nun sind die Lettern des Schriftzuges allerdings wesentlich größer als vorher. Er bewegt sich über das quer liegende „H“ und landet auf dem „O“.

Er erreicht einen Abgrund mit einem weiteren Schwerkraftschalter. Er stürzt sich hinab und aktiviert dabei im Flug den Schalter, der nur zeitlich begrenzt funktioniert. Das Deaktivieren der Schwerkraft befördert eine Kiste an die Decke, die der Junge zum Erreichen der nächsten Plattform nutzen kann. Er läuft bei deaktivierter Schwerkraft die Decke entlang und rutscht, als die Schwerkraft reaktiviert wird, einen Abhang hinunter. Er springt ab, deaktiviert die Schwerkraft ein weiteres Mal und kann über die Decke zur nächstgelegenen Plattform laufen. Kurz darauf wechselt der Zustand der Schwerkraft alle paar Sekunden automatisch, und er muss einige Steine, Container und Hindernisse überwinden, die ihn zu zerquetschen drohen.

Es folgt ein Raum mit einer riesigen Glaswand und einer großen Säge. Über dem Jungen hängt ein Schwerkraftschalter, dessen Pfeil nach rechts zeigt. Der Junge muss sich bei deaktivierter Schwerkraft ein Stück nach oben fliegen lassen, wieder herunterfallen und den Schalter im Fall aktivieren - so wird so durch die Glaswand geschleudert. Er landet ohnmächtig in einem Wald, und als er nach ein paar Sekunden wieder die Augen öffnet und weiter nach rechts geht, sieht er die weibliche Gestalt erneut. Als sie den Jungen hinter sich bemerkt, schreckt sie auf und erstarrt. Das Bild wird dunkel und das Spiel ist zu Ende.

3. Erzähltheoretische Auseinandersetzung

Bereits anhand dieser Zusammenfassung der spielinternen Geschehnisse zeigt sich, dass es nicht nur sehr schwierig ist, die konkrete Geschichte des Spiels ohne spielexterne Zusatz­informationen überhaupt zu erfassen, sondern es stellt sich nochmals die Frage, ob hier überhaupt von einer Erzählung im eigentlichen Sinn gesprochen werden kann. Ein Fünf- oder Drei-Phasen-Schema, also ein pyramidaler Handlungsaufbau, lässt sich bei Limbo nicht direkt feststellen, und lediglich der Wechsel der Schauplätze lässt so etwas wie eine grobe Einteilung in ortsgebundene Sequenzen zu, die jedoch ebenso wenig Klarheit stiftet.

Im Folgenden möchte ich diesen Problemen und Fragen im Detail weiter auf den Grund gehen und mich kritisch mit der erzählten Welt, den einzelnen Schauplätzen und deren Semantik, dem Aspekt der Erzählzeit und der erzählten Zeit, der Erzählperspektive, den zum Einsatz kommenden Stilmitteln, der Technik und der Spielmechanik auseinandersetzen. Wie lenkt das Spiel unsere Aufmerksamkeit, und warum spielt der Minimalismus der Präsentation und der narrativen Rahmung dabei eine zentrale Rolle?

3.1 Erzählte Welt / Schauplätze

Das Konzept des titelgebenden Limbus entstammt der katholischen Theologie und ist ein Synonym für die Vorhölle, einen Ort zwischen Himmel und Hölle, in dem ungetaufte Kinder, also nicht von der Erbsünde erlöste Seelen, nach ihrem Tod landen und den sie nie wieder verlassen können. Die Theologie beschreibt diesen Ort als frei von Qual, was jedoch im Falle des Spiels nicht zutrifft, denn dort lauern überall Gefahren und Fallen, die einen qualvollen Tod zur Folge haben können. Der Spieler ist ständig mit dem von ihm verschuldeten und grausamen Ableben des Jungen konfrontiert, da viele der lebensbedrohlichen Elemente erst durch aktives Ausprobieren als solche erkannt werden können. Dementsprechend geht der Bezug zur theologischen Ebene des Konzepts nicht über den reinen Begriff der Vorhölle hinaus. Vielmehr erscheint die hier erzählte Vorhölle wie eine eigene und neuartige, wesentlich pessimistischere Interpretation des Begriffs. Die hier von den Entwicklern er­schaffene und dargestellte fiktionale Welt ist nicht nur gefährlich und grausam, sie ist auch dunkel, trist und verfallen, verregnet und melancholisch. Lediglich das Auftauchen des Mädchens erzeugt einen expliziten Bruch dieser sich ansonsten durchweg haltenden Stimmung. Die beiden mit ihr verbundenen Sequenzen sind hell, harmonisch und warm.

Die erzählte Welt des Spiels ist eine stabil fiktional heterogene. Aspekte und Elemente der realen Welt wie realistische Physik, verfallene Städte, die Darstellung der Natur werden hier verknüpft mit dem Erscheinen riesiger Insekten, überdimensionaler Maschinen und dem späteren Spiel mit der Schwerkraft. Jeder einzelne Schauplatz verfügt über eine eigene Logik und individuelle Regeln, die aufeinander aufbauen. So muss sich der Spieler im Wald in erster Linie vor der riesigen Spinne, umfallenden Bäumen und rollenden Steinen in Acht nehmen und sich mit den Möglichkeiten des Kletterns und Ausweichens vertraut machen, während in der Industrieanlage Strom, Walzen und kreischende Sägeblätter die Haupt­gefahrenquellen darstellen, die es durch bereits erlernte Handlungsmöglichkeiten zu über­winden gilt. Allen Orten gemein ist eine Stimmung von Isolation und Verfall.

Auf diese einzelnen Aspekte möchte ich aber in der später folgenden Auseinandersetzung mit der visuellen, akustischen und spielmechanischen Ebene noch genauer eingehen.

3.2 Motive, Räume und Figuren

Der Kritiker Edwin Evans-Thirlwell beschreibt im Rahmen seiner Analyse und Auseinander­setzung mit der Dauer des Spiels Think Limbo’s too short? You’re missing the point entirely die Spielwelt und das zentrale Motiv wie folgt:

„[...] the key inherited idea where Limbo the game is concerned is that of stasis, of imprisonment, which necessitates for the human consciousness a cycle of failure, the unending performance of the same futile actions – a ceaseless return on oneself, on oneself as a fallible agent, in the absence of divine intervention. Escape is impossible, but to attempt is human: this is Limbo’s crux. [...] the world of Limbo is a giant lure, it’s lethal secrets begging to be drawn into pin-sharp focus at the centre of your vision.“

(http://videogamesdaily.com/features/201008/think-limbos-too-short-youre-missing-the-point-entirely/)

Evans-Thirlwell greift hier ebenfalls das bereits erwähnte Konzept des christlichen Limbus auf und beschreibt die Unmöglichkeit des Entkommens aus dem Zwischenraum in Verbindung mit der tiefsitzenden menschlichen Urangst vor dem Tod und dem Bedürfnis zu entkommen als zentrales Motiv des Spiels. Außerdem schreibt er:

„Limbo is bookended with death, with corpses underfoot. The intervening chain of events is the player’s failure to realise this fact, or – if he or she is alert to the title’s connotations – to accept it“

(http://videogamesdaily.com/features/201008/think-limbos-too-short-youre-missing-the-point-entirely/)

Diese Interpretation erscheint anhand der vom Spiel thematisierten Inhalte und Darstellungs­formen durchaus gerechtfertigt, und im Folgenden möchte ich konkreter auf diese eingehen. Die konsequente Andeutung von Tod und Verfall ist ein fester und konsequent aufgegriffener Bestandteil der vom Spiel dargestellten Welt, und dieser wird erst durch das Erscheinen der weiblichen Figur im letzten Drittel bewusst gebrochen.

Darüber hinaus erscheint nahezu jedes von Limbo im Rahmen seiner Geschichte verwendete Motiv im Sinne Toma ševskijs kompositorisch motiviert und fungiert in zahlreichen Fällen als explizites Element der Vorausdeutung. Das Spiel erscheint dementsprechend als kausal und homogen. Paradoxerweise können diese Details häufig aber erst reflexiv eingeordnet und ver­standen werden. Die im Spiel dargestellten Ereignisse und selbst das regelmäßige Ableben der eigenen Spielfigur verfolgen durchaus ein Leitmotiv, welches später noch genauer erläu­tert werden soll. Die einzelnen Handlungen und Geschehnisse sind durch ihre Chronologie und Semantik miteinander verknüpft und verfügen dementsprechend über Kausalität.

Limbo arbeitet bezüglich seiner Räume mit zahlreichen fließenden Grenzüberschreitungen zwischen den jeweiligen Schauplätzen. Es gibt im Rahmen des Spiels, abgesehen von den kurzen Abblenden beim Scheitern des Spielers, keinerlei Unterbrechungen, und die Schau­plätze gehen durchweg ineinander über. Vor dem eigentlichen Wechsel des Schauplatzes werden vereinzelt neue Details des jeweils folgenden Raums als Spielelemente oder im Hintergrund zu Zwecken der Vorausdeutung etabliert. Beispielsweise tauchen beim Verlassen des Waldes zunehmend Rohre, von der Decke hängende Kabel und Stahlträger im Hintergrund auf - in Kombination mit den ersten mechanischen Fallen auf Spielebene. Auf eben derartige Details möchte ich im Folgenden weiter eingehen.

Offensichtlich ist beim Betrachten der Schauplätze außerdem auch die semantische Opposition „natürlich“ vs. „künstlich“, in diesem Fall realisiert durch die Gegensatzpaare von Wald und Stadt/Fabrik bzw. Natur und Maschine. Je weiter der Junge seinen Weg fortsetzt, desto technisierter wird die Umgebung, bis die Natur schließlich vollkommen verschwindet und sich kurz vor dem Ende des Spiels eine Mischform beider Elemente herausbildet. Die Glaswand, durch die der Junge nach dem Lösen des letzten Rätsels zurück in den Wald geschleudert wird, ist hingegen eine sehr eindeutig und klar gezogene Grenze, durch die die Schauplätze voneinander getrennt werden. Zur Bedeutung des Raums im Computerspiel schreibt Andreas Wolfsteiner:

„An den Raum, d.h. die architekturale Dichte des Spiels, werden theatrale, narrative und ludische Syntagma rückgebunden.“ (Wolfsteiner, „See I’m real“, S. 169)

3.2.1 Der Junge

Der Junge ist abgesehen von seiner optischen Erscheinung, die uns erlaubt, ihn als Prota­gonisten bzw. Avatar zu erkennen, eine von den Entwicklern mit Absicht gesetzte und vom Spieler zu füllende Leerstelle. Er hebt sich durch seine leuchtenden Augen vom Rest der auftretenden Figuren und Lebewesen ab und dient dem Spieler als Leinwand seiner indivi­duellen Projektion. Er verfügt auch über keinerlei Stimme, was wiederum ein bei vielen anderen Spielen wie dem Egoshooter Half-Life (Valve Software, 1998) oder der Adventure-Reihe The Legend of Zelda (Nintendo , 1986ff) zum Einsatz kommender Mechanismus ist, welcher der bewussten Steigerung der Identifikation mit der Figur und der Immersion dienen soll. Sein Gesicht bleibt ebenfalls durchweg im Schatten verborgen, wir können nichts über seinen emotionalen Zustand erfahren, ob er ängstlich ist oder entschlossen. Somit verfügt dieser Charakter gerade aufgrund seiner Leere über ein ausgeprägtes Identifikationspotential, da wir als Spieler dazu motiviert werden, Teile seiner Biographie zu schreiben, und unser individuelles, auf das Spiel bezogene, Motiv letztlich auch seins wird. In der Literatur wäre ein derartiger Ansatz nahezu undenkbar und müsste wahrscheinlich als Mangel ausgelegt werden, da dieser auf das dem Medium des Video- und Computerspiels genuine Element der Interaktivität angewiesen zu sein scheint.

3.2.2 Der Wald

Da Jensen unter anderem auch Grimms Märchen als direkten Einfluss nennt, liegt es auf der Hand, den Wald, einen innerhalb zahlreicher Märchen immer wieder auftauchenden Ort, als diesbezügliche Referenz auszulegen. Der Wald steht im Kontext des Märchens häufig für eine Prüfung und eine Konfrontation mit den eigenen Urängsten; kaum ein anderer Ort ist so sehr mit dem Begriff menschlicher Angst gekoppelt und derart mystisch aufgeladen. Der Wald repräsentiert die Unkontrollierbarkeit der Natur und das Gefühl von Abgeschiedenheit, er ist in der Regel tief, wild, dunkel und gefährlich, das Gegenteil von Zivilisation und häuslicher Geborgenheit. Er ist bewohnt von „rätselhaften, meist drohenden Wesen (Hexen, Drachen, Riesen, Zwergen, Löwen, Bären usw.)“, „die alle jene Gefahren verkörpern, mit welchen sich der junge Mensch auseinandersetzen muß, wenn er im Zuge seiner Initation (‚Reifeprüfung’) zum vollverantwortlichen Menschen werden will“ (Biedermann , Knaurs Lexikon der Symbole, S.468ff).

Anders als im Märchen wird der Wald hier allerdings nicht aus einer Notlage seitens des oder der Protagonisten heraus betreten, sondern die Handlung beginnt hier mit dem Erwachen des Jungen, der sich bereits mitten in ihm befindet. Ferner ist die Darstellung des Waldes innerhalb des Spiels wesentlich konkreter und detaillierter als die jeweiligen Beschreibungen des Ortes in vielen Märchen. Riesige Bäume, unebener Boden, morsche Äste, Tierkadaver, Dornengruben, Tümpel, ein unterirdischer See und zahlreiche weitere Details erzeugen nicht nur eine sehr dichte und unmittelbare Atmosphäre, sondern sind auch sehr genau aufeinander abgestimmt. Zu hören sind der durch die Baumkronen rauschende Wind, die Schritte des Jungen auf dem Gras, dem Holz oder dem Steinboden der Höhlen, zirpende Grillen und krähende Vögel. Das märchenspezifische Element des Mystischen wird hier vertreten durch die riesige Spinne und kombiniert mit ersten Anzeichen einer einfachen Zivilisation. Ver­einzelt liegen Bärenfallen und Kisten auf dem Boden, Seile hängen von Ästen, im Hinter­grund gibt es grobe Befestigungen und simple Holzkonstruktionen, am Ufer des unter­irdischen Sees liegt ein Boot.

Das erste Auftauchen der riesigen Spinne, die dem Jungen mit ihren Beinen den Weg versperrt, bedeutet nicht nur die Exposition eines ersten Antagonisten; sie ist zugleich auch eine Art Torwächter und versucht den Jungen daran zu hindern, eine Schwelle zu übertreten. Das Besiegen der Spinne ist somit eine ausdrückliche Grenzüberschreitung innerhalb der erzählten Welt und das später auftauchende mechanische Spinnenbein eine weitere. Hier dringt der Junge in den Raum der Eingeborenen ein und wird mit weiteren neuen Gefahren und Regeln konfrontiert. Er muss sich zunehmend vor raffinierten Fallen in Acht nehmen.

Darüber hinaus taucht das Motiv des Waldes bzw. der Natur auch in allen weiteren Schau­plätzen vereinzelt auf. Die Natur demonstriert ihre Macht und Omnipräsenz, sie siegt letztlich über die Ruinen einer vergangenen Zivilisation. Sie bahnt sich ihren Weg und dies unter­streicht das zentrale Motiv des Verfalls und erinnert an die Natürlichkeit des Todes, an die Tatsache, dass der Mensch seine natürliche Herkunft und Sterblichkeit niemals leugnen kann. Wo einst ein Mensch war, bleibt die Natur, es ist ein ewig andauernder natürlicher Kreislauf. Daran erinnern auch die am Ende stattfindende Rückkehr in den Wald und die Gegen­überstellung der letzten beiden Bilder des Spiels sehr deutlich.

3.2.3 Die Bootsfahrt

Die bereits in den ersten Minuten des Spiels stattfindende Bootsfahrt über den unterirdischen See dient als bewusster Moment der Reflexion, ist eine von zahlreichen Stellen des narrativen Leerlaufs, die den Spieler auf sich und seine Gedanken zurückwirft und so die Stimmung des Spiels unterstreicht. Dieser Moment dient nicht nur der reinen Exposition und der aus­geprägten Immersion, er erinnert in metaphorischer Hinsicht an das Überqueren des Styx in der griechischen Mythologie und stellt die erste deutliche Grenzüberschreitung im Spiel dar. Unmittelbar nach dem Verlassen des Bootes tauchen die ersten tödlichen Gefahren und Kadaver auf; außerdem begegnet der Junge zum ersten Mal der riesigen Spinne.

3.2.4 Die Spinne

Laut Knaurs Lexikon der Symbole ist die Spinne „in den Mythen vieler Völker ein Symboltier mit negativer Sinndeutung“ und ein „listiges Wesen“. Speziell im christlichen Kontext „ist sie das böse [...] und steht stellvertretend für die sündhaften Triebe, die dem Menschen das Blut aussaugen“ (Biedermann , Knaurs Lexikon der Symbole, S.415ff). Gerade das hier thematisierte Element der List wird vom Spiel durch seine Inszenierung ausdrücklich hervorgehoben; die Spinne erscheint immer wieder aus dem Verborgenen, schleicht sich von hinten aus der Dunkelheit an den Jungen heran und repräsentiert eine kaum zu bändigende und hartnäckige Gefahr. Ihre Bewegungen dabei sind langsam und wirken berechnend, ihr einziges Ziel ist es offensichtlich, den Jungen zu jagen und zu töten. Als dieser sie mit der Bärenfalle verletzt hat und das erste Mal aus der Höhle flieht, ihren Fängen entkommt, wird sie zunehmend aggressiver und penetranter. Dieses Verhältnis zwischen der durch die Spinne repräsentierten, Übermacht und dem schutzlos ausgelieferten Jungen kippt letztlich, als der Junge sie mit Hilfe eines großen Felsbrockens in einen Abgrund stürzen lässt. Als sie nach dem Sturz ein weiteres Mal auftaucht, ist sie schwer verletzt, kann sich kaum noch bewegen, und der Junge gewinnt die Überhand. Mit ihrem letzten Bein versucht sie diesen zu erwischen, doch er reißt es ihr aus - und plötzlich ist ihr beinloser und noch lebendiger Körper im direkten Gegensatz zu vorher stattdessen ihm ausgeliefert, als er sie in die Dornengrube rollt.

3.2.5 Die Eingeborenen

Die Eingeborenen verkörpern das Element des Fremden, und ihre antagonistische Funktion wird schnell deutlich, als sie vor dem Jungen davonlaufen und sich mit Fallen, brennenden Reifen und Blasrohren zur Wehr setzen. Auch sie fungieren als Torwächter und versuchen das Eindringen des Jungen zu verhindern, doch ihre Motive bleiben ungewiss, und nach dem Verlassen des Waldes tauchen sie nicht erneut auf.

3.2.6 Das Wasser, die Kanalisation und das Industriegebiet

In direkter Opposition zu dem nur bedingt von menschlichem Einfluss geprägten Wald stehen die Kanalisation und das Industriegebiet. Kurz bevor der Spieler die Kanalisation betreten kann, wird nicht nur das Wasser zum mehr oder weniger zentralen Spielelement, sondern auch der Aspekt der untergegangenen Zivilisation weiter ausgebaut. Der durch die vom Spieler aktivierte Regenmaschine entstehende Wolkenbruch dient hier nicht als Zeichen von Fruchtbarkeit, sondern unterstreicht die Melancholie und düstere Atmosphäre der Grund­stimmung des Spiels weiter. Das in der Kanalisation ständig steigende Wasser dient hier außerdem, so wie die Flucht vor der Spinne zuvor, in erster Linie der direkten Be­schleunigung des Spielverlaufs und steht somit ebenfalls in Opposition zu den bereits erwähnten Stellen des Leerlaufs. Das Wasser ist zwar passiver als die Spinne, aber ebenso eine tödliche Gefahr für den Jungen, es ist in der Psychologie ein „Symbol der unbewussten Tiefenschichten der Persönlichkeit“ und im spirituellen Kontext das „Element der Auflösung und des Ertrinkens“, „ein Hinweis auf das Versinken“ und „den Untergang“. (Biedermann , Knaurs Lexikon der Symbole, S.471ff). Die symbolhafte reinigende und fruchtbare Wirkung des Wassers wird im Spiel vollständig ausgeblendet.

3.2.7 Die Dächer der Stadt und das Hotel

Die auf den verfallenen und instabil wirkenden Dächern zu überquerende und auf ein Hotel hinweisende Neonreklame wird von Evans-Thirlwell als Symbol von Vergänglichkeit und Metapher einer Zwischenwelt beschrieben:

„The enormous, sizzling letters of the word ‚HOTEL’, [are] themselves a metaphor for transience, in-betweenness [...].“ (http://videogamesdaily.com/features/201008/think-limbos-too-short-youre-missing-the-point-entirely/)

Damit referiert dieses Symbol nicht nur auf das wahrscheinlich tatsächlich darunter liegende Hotel, sondern auch auf die spielinterne Welt in ihrer Gesamtheit. Das Hotel verweist dabei auf eine Ferne jenseits der vertrauten und für sicher gehaltenen Umgebung, auf den Akt des Reisens, der, wie beispielsweise aus dem vom amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell entwickelten Konzept der Heldenreise hervorgeht, für eine Grenzüberschreitung, Horizonterweiterung und Reifung des Reisenden steht. Der ebenfalls damit verbundene Aspekt der Rückkehr wird zwar in Form der insgesamt zwei Mal im Spiel auftauchenden weiblichen Figur außerdem aufgegriffen, aber nicht weiter ausgebaut. Ein direktes Resultat und Ende der Reise wird spielintern verweigert. In Kapitel 3.3 möchte ich mich mit diesem Aspekt ausführlicher befassen und Näher auf Campbells Werk Der Heros in tausend Gestalten eingehen.

3.2.8 Die Fabrik und die Maschine

Um die Fabrik zu betreten, muss der Junge durch ein riesiges Glasdach springen. Es findet also eine erneute Grenzüberschreitung statt, und die zentrale Bedrohung dieses folgenden industriellen Raumes sind die mit ihm verbundenen Maschinen und somit auch der Raum selbst. Überhaupt erscheint nahezu jeder Schauplatz als aus sich selbst hervorgehende Bedrohung. Auch die Fabrik ist vom Verfall gekennzeichnet; überall hängen Kabel aus der Wand, zerbrochene Rohre an der Decke, und vereinzelt wächst bereits Gras über den Boden. Das Element der Natur rückt hier durch den Wechsel des Schauplatzes noch weiter in den Hintergrund und verschwindet fast gänzlich zugunsten von riesigen Zahnrädern, Fabrikhallen und Maschinen. Lediglich die Begegnung mit dem libellenartigen Insekt dient hier als Kontrast, der durch eine Veränderung der akustischen Ebene, nämlich den Einsatz extra­diegetischer Musik, besonders akzentuiert wird. Außerdem ist auf die Dimensionen der Maschine hinzuweisen, durch die der Junge schreitet. Der Mensch als Individuum scheint in ihr ebenso wie im dichten Wald unterzugehen, sie hat aufgrund ihrer Größe ebenso etwas Bedrohliches und repräsentiert nicht nur Bewegung, sondern auch die fundamentale Opposition zur Natur.

3.2.9 Das erste Erscheinen des Mädchens

Der plötzlich vor dem Jungen erscheinende und hell leuchtende Schmetterling führt diesen, indem er vor ihm her fliegt, nicht nur zu der Erscheinung des Mädchens, er erfüllt womöglich auch eine metaphorische Funktion und ist laut Knaurs Lexikon der Symboldeutung „ein Symboltier in vielen Kulturen, das einerseits Wandlungsfähigkeit und Schönheit, andererseits auch die Vergänglichkeit der Freude andeutet“. Er ist „wie sein griechischer Name Psyché andeutet“ ein „Seelentier“ und „auch die tote Geliebte kann als Schmetterling aus dem Grab kommen“ (Biedermann , Knaurs Lexikon der Symbole, S.389ff) . Das unmittelbar darauf im hellen Schein einer nicht konkret zu bestimmenden Lichtquelle auftauchende Mädchen und der damit verbundene und nicht kausale Wechsel des Raumes von der Maschine zum Wald greifen nicht nur das einfache Motiv der zu rettenden Prinzessin aus früheren Märchen und Plattformspielen wieder auf, sondern erzeugen eine temporäre Dichotomie der Stimmung des Spiels, einen ersten Hoffnungsschimmer, wo zuvor keinerlei Hoffnung war. Diese atmo­sphärische Zäsur stellt einen Höhepunkt des Spiels dar, denn der antagonistische Raum und seine Bedrohungen verschwinden für einen kurzen Moment nahezu vollkommen nur – allerdings nur, um unmittelbar danach, als die Larve auf den Kopf des Jungen fällt und ihn in die entgegengesetzte Richtung steuert, noch gefährlicher als zuvor zurückzukehren. Wo zuvor das Mädchen auftauchte, befinden sich nun nur noch lautere und brutalere Maschinen.

3.2.10 Die Glaswand und die Rückkehr in den Wald

Unmittelbar nach dem Verlassen der Fabrik wird die Natur im Spiel wieder in den Vordergrund gerückt, und es entsteht eine eigenartige Mischform aus Natur und Technik, die räumlich kaum konkret einzuordnen ist. Die dargestellte Welt wird hier zunehmend moderner, surrealer und abstrakter (Schalter, die die Schwerkraft auf unterschiedliche Art und Weise umkehren oder beeinflussen, Selbstschussanlagen und sich bewegende mechanische Plattformen). Eine konkrete Einordnung scheint kaum noch möglich, und zahlreiche Motive wie beispielsweise die Dächer, die Neonreklame, die Sägeblätter und vereinzelte Elemente der Natur werden hier erneut aufgegriffen, mit veränderten Proportionen dargestellt und zunehmend vermischt. Das Element des Traumhaften scheint hier zu dominieren, die Bilder werden zunehmend zu dem, was der französische Philosoph Gilles Deleuze in seiner Filmtheorie als „Anamorphosen“ bezeichnet; dazu allerdings später mehr. Beispielsweise sind die einzelnen Buchstaben der bereits zuvor überquerten Reklame hier plötzlich doppelt bis dreifach so groß wie vorher. Die dicke Glaswand, durch die der Junge nach dem letzten Rätsel am Ende in einer liegenden Position und mit den Füßen voran geschleudert wird und bei der es sich durchaus auch um einen Spiegel handeln könnte, ist die letzte im Spiel stattfindende Grenzüberschreitung. Das Durchbrechen der durchaus breiten Wand wirkt wie ein Wechsel zwischen zwei einander gegenübergestellten und voneinander abgeschnittenen Welten. Womöglich repräsentieren das Durchbrechen dieser Wand und der dahinter liegende Wald einen Ausbruch aus dem Limbus und eine Rückkehr in die Realität, denn hinter ihr liegen keinerlei weitere Gefahren, und das Element des Mystischen scheint verschwunden zu sein. Ist das auf den Abspann folgende Bild eventuell repräsentativ für ein Akzeptieren des Todes und die letzte Grenzüberschreitung ein Akt des Loslassens?

3.3 Heldenreise

Die vorausgegangene Analyse der Geschehnisse, Räume und Motive sollte zeigen, dass das Spiel durchaus, wenn auch nur implizit, etwas zu erzählen scheint und hinter der nur scheinbar einfachen Fassade eine offensichtlich nur schwer oder vielleicht auch gar nicht zu fassende Bedeutung schlummert. Die Ambiguität vieler Motive und Symbole, ja dieses Spiels im Allgemeinen, ist hier mit Sicherheit nicht zufällig, sondern meines Erachtens ein durchgängiges Konzept. Trotz aller Leerstellen deutet das Spiel dabei jedoch genug an, um die Themen „Verlust“, „Loslassen“ und „Tod“ als kausale und die Geschichte bedingende Leitmotive auszumachen. Diese werden außerdem durch die bereits zitierten Aussagen einiger Kritiker und der Entwickler zusätzlich bestätigt. Dennoch schafft das Spiel es immer wieder aufs Neue, eine gewisse Verwirrung beim Spieler zu stiften und sich einer konkreten Klassifikation der Erzählung zu entziehen, da die einzelnen Metaphern durchaus miteinander verbunden zu sein scheinen, aber schließlich doch zu ambig bleiben und immer wieder neue Fragen aufwerfen. Dies macht Limbo trotz seiner stark vorgegebenen und vom Spieler nicht veränderbaren dramaturgischen und narrativen Rahmung zu einem mehr oder minder vollkommen individuellen Erlebnis des jeweiligen Spielers.

Vereinzelt wecken die Nähe zum Märchen, der Spielaufbau, die Spielmechanik und die reflexive Verarbeitung der Ereignisse durch den Spieler durchaus auch Erinnerungen an Stationen aus Joseph Campbells archetypischem Konzept der Reise des Helden. Karla Schmidt paraphrasiert das Konzept Campbells in ihrer Auseinandersetzung mit den Elementen des Archeplots im Bezug auf den Titel Silent Hill 2 (Konami, 2002) wie folgt:

„Ein Protagonist macht sich, getrieben von einer inneren oder äußeren Notwendigkeit, auf den Weg in den mythischen Wald um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dabei stößt er auf beinahe unüberwindliche Hindernisse. Der Protagonist muss an der Überwindung dieser Hindernisse wachsen, er muss neue Regeln und Fähigkeiten erlernen, damit er am Ende eine letzte Prüfung bestehen und sein Ziel erreichen oder daran scheitern kann.“ (Schmidt, „See I’m real“, S. 21-22)

Als weitere relevante Merkmale des Archeplots deklariert Schmidt außerdem als notwendig ein abgeschlossenes Ende und eine Beantwortung der zentralen Fragen, einen konventionellen Zeitverlauf, das Vorhandensein von Konflikten äußerer und innerer Natur und eine stabile Wirklichkeit mit festgesetzten Regeln. Tatsächlich weist Limbo bis auf die eindeutige Beantwortung der Kernfragen der Handlung alle diese Eigenschaften auf. Die Regeln der Welt sind klar und verändern sich nicht, der äußere Konflikt besteht in der Auseinander­setzung mit der Welt als Antagonisten, der innere Konflikt wird auf den Spieler übertragen, und der Zeitverlauf bleibt chronologisch. Das Modell von Campbells Monomythos unter­scheidet siebzehn Reisestationen, die den Sequenzen Aufbruch, Initiation und Rückkehr zugeordnet sind. Versucht man dieses Modell auf das Spiel und sein Dispositiv anzuwenden, ergibt sich das Folgende:[3]

3.3.1 Aufbruch

- 1. Berufung: Der Einstieg in das Spiel könnte für den Spieler das Erscheinen einer Aufgabe, den Ruf des Abenteuers als Ausbruch aus der gewohnten Welt darstellen. Das Spiel lädt den Spieler dazu ein, seine eigene Welt zugunsten einer virtuellen, zumindest in kognitiver Hinsicht, zu verlassen, wobei ein Mangelzustand - wie zum Beispiel Langeweile - den Spieler überhaupt erst dazu bringt, ein Spiel spielen zu wollen und er hinter einem solchen Spiel womöglich eine fremde Welt bereits erahnt, die ihn neugierig macht. Der topographische Gegensatz besteht hier vorerst in der Gegenüberstellung der Welt des Spielers und der Welt des Spiels.

- 2. Weigerung: Die Weigerung bzw. Möglichkeit zur Weigerung liegt in diesem Fall ganz klar beim Spieler. Er kann sich aus individuellen Gründen schlichtweg dagegen entscheiden, den Jungen zu Beginn des Spiels durch die notwendige Eingabe erwachen zu lassen und das Spiel jederzeit abschalten. Vielleicht empfindet er die unkonventionelle Präsentation als wenig ansprechend oder die vor ihm liegende Welt als zu bedrohlich bzw. beängstigend, und es fällt ihm dementsprechend schwer, seinen Weg fortzusetzen. Als Sanktionierung einer Weigerung droht das vollständige Verschwinden der virtuellen Welt durch das Abschalten des Geräts.

- 3. Übernatürliche Hilfe: Womöglich kann der Spieler selbst als der übernatürliche Helfer des Jungen angesehen werden, da dieser ihm auf seiner Reise dabei hilft, sein Ziel zu erreichen. Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist hierbei allerdings der damit verbundene Kurzschluss zwischen Avatar und Spieler, da letzterer zwar durch seine Einflussnahme zu einer Art übernatürlichem Helfer oder Beschützer wird, also für das Schicksal des Jungen verantwortlich ist, aber gleichzeitig auch der Junge selbst ist bzw. sein soll. Als schutzbietendes Artefakt im Sinne Campbells könnte das Eingabegerät des Spielers interpretiert werden.

- 4. Das Überschreiten der ersten Schwelle: Schon das bewusste Starten des Spiels bedeutet das Übertreten einer Schwelle, bei dem die Realität durch Virtualität ersetzt wird. Aber auch spielintern werden gleich zu Beginn mehrfach kleinere Schwellen überschritten, wobei die bereits erläuterte Bootsfahrt als erste große diegetische Schwelle anzusehen ist: Die Welt wird danach zunehmend fremder und mystischer und eine Rückkehr in die gewohnte Welt zunehmend schwerer.

- 5. Der Bauch des Walfisches: Das Überschreiten der Schwellen und das Besiegen der als Schwellenwächter fungierenden Spinne könnten als Entschluss zu einer poten­tiellen metaphorischen Selbstvernichtung und Wiedergeburt ausgelegt werden. Der Spieler überwindet die vor ihm liegenden Grenzen, angetrieben durch die Hoffnung auf Antworten, motiviert durch das Streben nach Aufklärung, Wahrheit und Erkennt­nis.

3.3.2 Initiation

- 6. Der Weg der Prüfungen: Der Spieler wird auf seiner Reise in und durch die Unterwelt zunehmend auf die Probe gestellt und muss zahlreiche und immer komplexer werdende Rätsel lösen, Abgründe und Hindernisse und demgemäß auch seine Angst überwinden, um seinen Weg fortsetzen zu können und die weibliche Figur zu finden. „Der Held wird insgeheim gelenkt von den Ratschlägen, Amuletten und verborgenen Kräften des mystischen Helfers.“ (Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, S.97)

- 7. Die Begegnung mit der Göttin: Diese Station wird vom Spiel lediglich durch das Erscheinen der weiblichen Figur angedeutet. Ihr Erscheinen verspricht uns eine möglicherweise bevorstehende Antwort auf unsere Fragen und verweist auf das vermeintliche Ziel des Spiels. Laut Campbell ist sie „Mutter, Schwester, Geliebte und Braut“ (Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, S. 107) , die „Inkarnation des Versprechens der Vollkommenheit, die Gewißheit der Seele“ (Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, S. 108). Der stilistische Kontrast, der durch die Inszenierung dieses Moments entsteht, vermittelt einen Eindruck von Wärme, Vertrautheit und Geborgen­heit.

- 8. Das Weib als Verführerin: Eine metaphorische Verführung, die den Spieler von der Fortsetzung seines Weges abhalten soll, ist nicht direkt zu erkennen. Man könnte allenfalls die Behauptung aufstellen, dass das Spiel selbst eine verführende Instanz darstellt, die den Spieler von seiner eigenen Realität entfernt. Dieser Gedanke ist jedoch nicht weiter konkret und rein spekulativ.

- 9. Versöhnung mit dem Vater: Eine explizite Versöhnung mit einer metaphorischen und allmächtigen Vaterfigur kann nicht festgestellt werden.

- 10. Apotheose: Eine Vergöttlichung des Protagonisten findet bei Limbo zu keiner Zeit statt. Das Gefühl der Unterlegenheit bleibt den Spielverlauf über beständig und bezüglich seiner Fähigkeiten entwickelt sich der Junge nicht ausdrücklich weiter. Natürlich lernt der Spieler im Laufe des Spiels dazu und kann einzelne Aspekte somit zügiger einordnen und verarbeiten, jedoch ist das Verhältnis des Spielers zur virtuellen Welt aufgrund des steigenden Schwierigkeitsgerades nahezu durchweg gleich­bleibend.

- 11. Die endgültige Segnung: Diese Station, also das Erreichen des angestrebten Ziels, ist im Rahmen des Spiels, wenn überhaupt, wesentlich später vorzufinden, da der kurz vor dem Schluss stattfindende Bruch durch die Glaswand als Rückkehr ausgelegt werden kann, die dementsprechend der angestrebten Zusammenkunft und dem somit eigentlichen Ende des Spiels vorausgeht.

3.3.3 Rückkehr

- 12. Verweigerung der Rückkehr: Auch die Verweigerung der Rückkehr findet im Spiel nicht statt, da die Rückkehr im Spiel nicht als solche thematisiert und erst reflexiv als solche angedeutet bzw. erkennbar wird. Der Spieler muss nicht an einem gewissen Punkt umdrehen und zum Ausgangspunkt zurückkehren, es sei denn, er möchte die virtuelle Welt als Spieler wieder verlassen.

- 13. Die magische Flucht: In den letzten Momenten des Spiels, in denen der Raum zunehmend verzerrt wird, muss der Spieler durchgehend sein ganzes Können unter Beweis stellen. Er muss alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um der Kombination verschiedener Bedrohungen zu entgehen.

- 14. Rettung von außen: Die Rettung von außen wird spielintern verweigert. Allein der Spieler als übernatürlicher Helfer könnte als solche angesehen werden.

- 15. Rückkehr über die Schwelle: Einerseits ist das Durchbrechen der Glaswand ein letztes Übertreten einer Schwelle und mit einer Rückkehr in den Wald verbunden, und andererseits muss der Spieler nach Abschluss des Spiels auch in seine eigene Welt und somit auch zu sich selbst zurückkehren. Wichtig ist dabei laut Campbell, dass der Held das erworbene Wissen behält und in der Lage ist, dieses mit dem Rest seiner Welt zu teilen.

- 16. Herr der zwei Welten: Hat der Spieler das Spiel abgeschlossen und ist erfolgreich in seine Realität zurückgekehrt, wird eine Balance zwischen dieser und dem virtuellen Erlebnis hergestellt; eine Horizonterweiterung hat stattgefunden und Reflexion ist im Idealfall die Folge.

- 17. Freiheit zum Leben: Die Auseinandersetzung mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit kann im Idealfall einen Verlust von Angst bewirken, der wiederum die Freiheit zu leben katalysiert. Ob das Spiel tatsächlich in der Lage ist, dies für den Spieler zu leisten, muss ich hier jedoch offen lassen.

3.3.4 Fazit

Es scheint nach dieser Analyse offensichtlich, dass die Figur des Jungen, also der Avatar selbst, keine komplexe Entwicklung durchläuft und nicht explizit zum Helden stilisiert wird; seine Eigenschaften verändern sich nicht, er lernt nichts dazu und verfügt von Anfang an über das vollständige Repertoire seiner Fähigkeiten. Außerdem lassen sich nicht alle von Campbell vorgesehenen Stationen direkt und eindeutig auf den Kontext des Spiels und den Spieler übertragen, weshalb auch keine konkrete Dreiteilung der Erzählung vorgenommen werden kann. Die nachweisbaren Analogien zeigen jedoch deutlich, dass ein gewisser Einfluss des Monomythos durchaus existiert und Limbo sich gerade durch diese nur angedeutete Beziehung einer eindeutigen Auslegung geschickt entzieht und die eigene Ambiguität inszeniert. Die große Schwierigkeit liegt im Gegensatz zur Analyse eines literarischen Werks in der Notwendigkeit, das Spielerlebnis ebenfalls zum Teil dieser zu machen, da das Spielerlebnis gerade im Falle Limbos ein wesentlicher Bestandteil der Erzählung und des Konzepts ist. Der Protagonist ist hier eigentlich der Spieler und nicht der leblose Avatar, dem der Spieler durch seine Eingaben Leben einhauchen muss. Dieter Mersch beschreibt dieses Phänomen der Interaktivität in seiner Auseinandersetzung mit der Logik und Medialität des Computerspiels folgendermaßen:

„Spielentscheidungen werden zu ‚je meinen’ Entscheidungen, die gleichzeitig im Spiel ‚reale’ Konsequenzen zeitigen. Sie verweisen damit auf die Reziprozität von Intentionen, auf Korrektur und Reaktion, die insoweit der ‚Autorität der ersten Person’ obliegen, als nur ‚ich’ Auskunft über ‚meine’ Absichten und deren Bedeutung zu erteilen vermag, ebenso wie nur ‚ich’ ihnen im Kontext des Spiels einen Sinn zu geben vermag und Verantwortung für ihre Folgen übernehmen kann.“ (Mersch, Game Over!?, S. 29)

In der Tat gibt es, ähnlich wie im amerikanischen Kino der Moderne zahlreiche Spiele, die sich des Konzepts der Heldenreise ausdrücklicher bedienen. Karla Schmidt zeigt in ihrer Analyse, dass das Survival-Horror-Spiel Silent Hill 2 (Konami, 2001) sich auf der narrativen Ebene nahezu vollständig mit dem Konzept der Heldenreise deckt. Hier lassen sich die einzelnen Stationen, anders als bei Limbo, eindeutig der Diegese zuordnen ohne dass dabei die Analyse der Rolle des Spielers einbezogen werden müsste.

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit möchte ich noch näher auf die handwerklichen Aspekte des Spiels eingehen, diese im Detail analysieren und anhand dieser schlussfolgernd prüfen, ob sich das hier grob gezeichnete Konzept der Heldenreise als haltbar herausstellt. Wir wissen nun, was im Verlauf der Handlung passiert, und können zahlreiche Motive des Spiels und deren Symbolcharakter grob einordnen. Schafft eine Analyse der erzählten Zeit, der Erzähl­zeit und des Zeitpunkts des Erzählens eventuell weitere Klarheit?

3.4 Erzählte Zeit / Erzählzeit / Zeitpunkt des Erzählens

Je nachdem, wie man das frühzeitige Ableben des Avatars im Spiel aus analytischer Sicht bewertet, decken sich – abgesehen von dem stark gedehnten Augenblick, in dem der Junge zum Schluss in Zeitlupe durch die Glaswand geschleudert wird – die erzählte Zeit und die Erzählzeit. Diese beträgt je nach Kompetenz zwischen einer (jedes Rätsel wird auf Anhieb gelöst, oder man spielt bereits zum zweiten Mal) und drei bis fünf Stunden beim ersten Spieldurchlauf. Diese relativ kurze Spieldauer – im Durchschnitt dauern moderne Spiele wie beispielsweise Fallout 3 ( Bethesda Softworks , 2008) oder Tomb Raider (Crystal Dynamics, 2013) etwa zwischen zehn und fünfzig Stunden je nach Konzept und Genre – ist laut Aussage der Entwickler fester Bestandteil des Konzepts von Limbo. Tatsächlich wurden siebzig Prozent der ursprünglichen Ideen im Verlauf der Produktion gestrichen, um die hohe atmosphärische Dichte des Spiels und den Anspruch der einzelnen Rätsel zu bewahren und unnötige Wiederholungen zu vermeiden. Patti sagt dazu in einem Interview mit Gamasutra:

„We have trashed around 70 percent of the content, which either wasn't tight enough or didn't fit in the context.“

( http://www.gamasutra.com/view/news/27043/Road_To_The_IGF_Limbos_Dino_Patti.php)

Behandelt man den spielinternen Tod und das damit verbundene Zurücksetzen als diegetisches Ereignis oder schafft es der Spieler das Spiel zu beenden, ohne dass der Avatar dabei stirbt, kann man von einer synthetischen Erzählung, also einer Erzählung ohne Anachronien und einer Deckung der beiden Zeitebenen sprechen. Die Zeit, die der Junge im Spiel benötigt, um das Mädchen und das damit verbundene Ende der Handlung zu erreichen, entspricht der vom Spieler investierten Zeit. Der Fortlauf der Erzählung hängt dabei natürlich ständig von den Eingaben des Spielers ab, geschieht also in Echtzeit. Erzählt wird hier dementsprechend im Präsens, denn der bewusste Verzicht auf Nebenhandlungen und den damit einhergehenden Wechsel der Perspektive, Ellipsen, nicht interaktive Zwischen­sequenzen und Rück- oder Vorgriffe innerhalb der Handlung sowie die aktive Anteilnahme des Spielers tragen zu einem Gefühl des unmittelbaren Erlebens bei.

Es ist naheliegend, das Konzept des Sterbens und das damit verbundene Zurücksetzen als diegetisches Phänomen zu deuten, da das vorzeitige Ableben laut Aussage Jensens durchaus dem Konzept des Spiels entspricht und ein sich bereits in der Vorhölle befindender Mensch tatsächlich nicht ein weiteres Mal sterben kann. Jensen bezeichnet Limbo obendrein als „trial and death“ (http://www.edge-online.com/features/the-making-of-limbo/) und bestätigt somit explizit die wichtige Rolle des Todes im Rahmen der spielinternen Welt. Natürlich entspricht das Zurücksetzen auch der klassischen Videospiellogik und dient als Feedback für den Spieler, dass an Stelle XY nicht gut genug gespielt wurde. Da in diesem Falle aber auf die Anzeige einer bestimmten Anzahl von Leben, negative Konsequenzen und ein vorzeitiges Ende des Spiels, also ein sogenanntes „Game Over“, verzichtet wird, erfüllt das Phänomen des Ablebens meines Erachtens noch eine weitere Funktion. Der Junge ist, und mit ihm auch der Spieler, dazu verdammt, seinen Weg bis zum Ende fortzusetzen und kann seinem Schicksal nicht entkommen, sich diesem nicht verweigern. Somit werden hier Erzählung bzw. die spielinterne Logik und die Spielmechanik geschickt miteinander verwoben – eine spannende Synthese, auf die ich in meiner Auseinandersetzung mit der Spielmechanik noch weiter eingehen werde. Erst die am Ende stattfindende Zusammenkunft der beiden Figuren könnte als potentielle Erlösung angesehen werden, und erst hier taucht eine mögliche Anachronie auf, denn, wie bereits erwähnt, wird der letzte Schauplatz des Spiels nach dem Abspann und im Optionsmenü in veränderter Form aufgegriffen und dargestellt. Ob der gesamte Spielverlauf dementsprechend als Rückblende auszulegen ist und somit doch im Präteritum erzählt wurde, oder ob es sich um ein Resultat der vom Spieler soeben erlebten Geschichte handelt, die Geschichte dementsprechend am Ende die Erzählgegenwart erreicht, ist und bleibt unklar. Diese Offenheit unterstreicht das mystische Element der hier erzählten Geschichte ausdrücklich und zeigt außerdem sehr deutlich die Schwierigkeit bei der literatur­wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den narrativen Elementen eines Spiels.

Bezüglich der Erzählgeschwindigkeit lässt sich außerdem Folgendes feststellen:

Da das Spiel konsequent in Echtzeit abläuft und von den Eingaben des Spielers abhängig ist, verändert sich die eigentliche Erzählgeschwindigkeit nicht bzw. passt sich dem Tempo der jeweiligen Eingaben des Spielers an. Es gibt keine explizite Zeitraffung oder Zeitdehnung, und selbst in den kurzen nicht spielbaren Sequenzen verändert sich die Geschwindigkeit der Erzählung nicht. Auf der spielmechanischen Ebene allerdings ist dies nicht der Fall. Es gibt zahlreiche Momente, in denen der Spieler vom Spiel regelrecht dazu gezwungen wird, schnell zu handeln, oder kurzfristig handlungsunfähig ist. Es gibt dementsprechend zahlreiche Elemente, die die Handlung auch unabhängig vom Spieler antreiben und dramaturgischen Zwecken dienen. Gute Beispiele hierfür sind das steigende Wasser in der Kanalisation und die zweite Konfrontation mit der bereits erwähnten Spinne. Beide Elemente beschleunigen den Ablauf und sanktionieren ein Zögern des Spielers sofort mit dem Tod. Die Spinne taucht hier unerwartet hinter dem Spieler/dem Jungen auf, beginnt ihn zu verfolgen und zwingt ihn so zur Flucht. Dabei muss er über zahlreiche Hindernisse klettern, Abgründe überwinden und wird von der Spinne getötet, wenn er zu langsam ist oder sich weigern sollte, sich zu bewegen. Spielintern sind die Aspekte der Beschleunigung und Verlangsamung also durchaus mehrfach vorhanden und wichtige dramaturgische Faktoren, deren Analyse allerdings auch eher unter den Punkt der Spielmechanik fällt, auf den ich später noch konkreter eingehen möchte. Im folgenden Teil möchte ich mich jedoch vorerst der Erzählperspektive und dem Aspekt der Distanz widmen, da diese Faktoren auch für die zeitliche Ebene von großer Bedeutung sind.

3.5 Dramatischer Modus / Distanz / Erzählperspektive

Limbo bedient sich, so wie auch das Theater, des dramatischen Modus der direkten Darstellung; die erzählende Instanz und die damit verbundenen technischen Komponenten rücken hier sehr stark bzw. nahezu völlig in den Hintergrund und ergeben ein homogenes Ganzes, so dass ein Eindruck von Unmittelbarkeit, einer unmittelbaren Präsenz des Geschehens entsteht und die erzählende Instanz, also die Technik, kaum noch als solche vom Spieler wahrgenommen werden kann. Spielinterne Erläuterungen, Kommentare und Re­flexionen sind ebenfalls nicht vorhanden und tauchen mit großer Wahrscheinlichkeit nur spielextern in den Gedanken des Spielers auf, da dieser, sofern er sich auf das Spiel einlässt, versuchen wird, die Leerstellen zugunsten einer konkreteren Ein- und Zuordnung des Erzählten mit Bedeutung zu füllen. Der damit verbundene spielinterne Verzicht auf das Element der Sprache steht nicht im Widerspruch zu diesem dramatischen Modus.

Zwar erinnern die dezente Bewegung (Annäherung und Entfernung) der Kamera, das Bildrauschen auf der visuellen und das ständige Knistern auf der akustischen Ebene den Rezipienten explizit auch an die hinter der erzählten Welt liegende technische Komponente, doch gleichzeitig tragen eben diese Elemente auch zur Erzeugung einer spezifischen Stimmung und Atmosphäre, zur Immersion, bei. Das Bildrauschen erinnert dabei an die Ästhetik alter Schwarz-Weiß- und Stummfilme der zwanziger und dreißiger Jahre, während das akustische Knistern die Assoziation einer alten Schallplatte weckt. Diese Elemente und Mechanismen wirken bezüglich gegenwärtiger Hör- und Sehgewohnheiten womöglich befremdlich auf den Rezipienten, unterstreichen aber gerade dadurch auch die Unmöglichkeit der konkreten zeitlichen und räumlichen Einordnung der erzählten Welt, was wiederum einen gewissen Anteil der Faszination des Spiels ausmacht. Limbo appelliert so an die Neugier des Spielers, versucht den Raum zwischen Auge und Bildschirm verschwinden zu lassen bzw. so gering wie möglich zu machen. Die Erzählung ist dabei durch das fast komplette Verschwinden der erzählenden Instanz durchweg zurückhaltend und sehr dezent. Es gibt zahlreiche Passagen, in denen auf dem vom Spieler zurückgelegten Weg scheinbar nichts passiert, in denen das Tempo zugunsten eines Realitätsüberschusses vom Spiel gedrosselt wird und das Spiel dennoch die Zügel in der Hand behält. Hier soll der Spieler sich mit der Welt vertraut machen, die einzelnen Elemente bewusst wahrnehmen und sich von den pointiert gesetzten Höhepunkten erholen. Die verrottete Welt wirkt dementsprechend organisch und scheint auch aufgrund einiger akustischer und visueller Faktoren, auf die ich im späteren Teil noch eingehen möchte, weit über das tatsächlich Dargestellte hinauszuweisen. Das Spiel erzeugt durch diese spezifische Form einen ausgeprägten Realitätseffekt, und es kommt zu einem Kurzschluss in der Beziehung von Erzähler und Adressat, da der Spieler in Verbindung mit dem Spiel und durch seine eigenen Reflexionen sowohl Miterzähler als auch Adressat zugleich ist. Hierbei kann meines Erachtens durchaus von einer durch die Inter­aktivität bedingten und komplexen narrativen Metalepse gesprochen werden.

In Limbo und auch weiteren Computer- und Videospielen, in denen der Avatar als Pro­jektionsfläche funktioniert, werden tatsächlich zwei Arten der Fokalisierung miteinander verknüpft. Einerseits lässt sich spielintern eine externe Fokalisierung feststellen; der Spieler hat keinerlei Einblick in die Gedanken und Beweggründe des Jungen, seine Persönlichkeit bleibt ihm verschlossen, er ist lediglich die Darstellung einer Silhouette mit zwei Augen, die Repräsentation des Spielers im virtuellen Raum, deren Perspektive sich nicht mit seiner deckt; und andererseits muss das spielexterne sensomotorische und kognitive Spielerlebnis als eine feste interne Fokalisierung angesehen werden, die auf den Spieler zu beziehen ist. Spieler und Spiel bedingen einander wechselseitig und der kognitiv reflexive Prozess des Spielers ist Teil der Erzählung. Es ist eben diese spezielle Kombination der beiden Erzählperspektiven, welche die spezifische Stärke des Mediums Video- bzw. Computerspiel gegenüber allen anderen Medien darstellt, und eben diese wird von Limbo sehr stark in den Vordergrund gerückt. Frank Degler bestätigt diese These in seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept des labyrinthischen Erzählens im Computerspiel:

„Basiert Literatur (allen modernistischen Experimenten zum Trotz) auf dem Prinzip des einmalig erzählten Geschehens und damit auf einer auf den singulären Helden zentrierten Perspektive – wird in vielen Computerspielen qua medialem Dispositiv die Geschichte prinzipiell multiperspektivisch erzählbar.“ (Degeler, „See I’m Real“, S. 67)

Wolfsteiner beschreibt den Spieler in seiner Rolle als „Agenten der komponierbaren Einheiten des Spiels“, der „sehr viel stärker konstruktiv tätig“ ist „als das Spiel preisgibt (Wolfsteiner, „See I’m Real“, S. 169), und laut Matthias Bickenbach gehört „die Differenz der erzeugten Bilder im Spiel und der Bilder im Kopf“ (Bickenbach, Game Over!?, S. 54 ) zum Computer- und Videospiel dazu.

Gleichzeitig liegt allerdings genau hier das große Problem der erzähltheoretischen Auseinandersetzung mit dem interaktiven Erzählen, denn anders als im Fall von Filmen und Büchern, deren Rezipient stets passiv bleibt, ist die Erzählung hier nicht nur eindeutig vom Spieler als Leser oder Zuhörer abhängig, sondern auch direkt von ihm mitbeeinflusst, die „Involvierung über die Spielhandlungen ist verwoben mit der Involvierung über die Interpretation“ (Neitzel, Game Over!?, S. 100). Der Begriff des Autors ist hier aufgrund des Elements der Interaktivität kein stabiler, denn der Spieler wird durch seinen Handlungsspielraum Teil der Diegese, er ist durch das Eingabegerät einerseits haptisch und durch die Identifikation mit dem Avatar und der Suche nach Kausalität andererseits kognitiv eng mit der Spielwelt verbunden. Degler beschreibt das Verhältnis von Erzählung und Spiel wie folgt:

„Wenn ein Spiel gespielt wird, findet zwar einerseits keine Rezeption eines stabilen (durch den Autor schon bis ins Detail festgelegten) Textes statt – sonst wäre es schlicht kein Spiel mehr. Andererseits erreichen die Spielenden festgelegte Punkte der Geschichte, an denen sie innerhalb stabiler Schemata eine bestimmte Freiheit – aber eben nicht alle Freiheiten – haben.“ (Degler, „See I’m Real“, S. 61)

Serjoscha Wiemer schreibt dazu:

„Videospiele weisen den Spielern gleichzeitig einen Platz im Zuschauerraum und auf der Bühne zu. [...] Wenn wir Videospiele spielen, begeben wir uns in eine besondere Nähe und Intimität zum Bild, den Geschehnissen im Bild, und zur technischen Apparatur, die unsere Position als Spieler und Betrachter festlegt.“ (Wiemer, „See I’m Real“, S. 179)

Darüber hinaus erzeugt das Spiel laut Wiemer eine „sensomotorische Synchronisierung zwischen Spieler und Spiel“, die auf die „Erzeugung von Präsenzeffekten“ abzielt und als „Verstärker“ dient (Wiemer, „See I’m real“, S. 180). Die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Protagonisten/Avatar seitens des Spielers ist hier und wie bei vielen anderen Spielen auch trotz der Außenperspektive, die Kamera zeigt das Geschehen aus der seitlichen Perspektive, wesentlich unmittelbarer, da die Figur vom Spiel selbst entsprechend offen gehalten wird und die der offenen Figur als Kontrast gegenübergestellte detailverliebte, visuelle und akustische Darstellung der Welt zur weiteren Verschmelzung mit dieser beiträgt.

„In ihren Spiel-Welten läuft die Aktion nicht in den Bildern ab, sondern im Engagement des Spielers, der sie nur sieht, wenn er sie erspielt. Und die Rückkopplung von Auge und Hand setzt in ihm jene Emotionen frei, die das Kino nicht bieten kann.“ (Bickenback, Game Over!?, S.55)

Der Junge ist eine Leerstelle, doch der inszenierte Raum wirkt lebendig, unabhängig und voll von Charakter.

„For game players, characters are vehicles onto which they project their own goals, skills, experiences and understanding the game. Characters in games, one might say, are functional and not emotionally and psychologically characterized entities as their counterparts in narratives.“ (http://gamestudies.org/0701/articles/simons )

Beschriebe man die Geschehnisse des Spiels aus der externen Beobachterperspektive, könnte eine solche Beschreibung wie folgt lauten:

„Als der Junge langsam seine Augen öffnet und im Wald erwacht, steht er auf und beginnt loszulaufen, bis er zu einem Abgrund gelangt. Er springt auf die andere Seite, um seinen Weg fortzusetzen und den Wald schließlich zu verlassen.“

Den parallel stattfindenden Gedankengang des Spielers könnte man womöglich wie folgt beschreiben:

„Wo bin ich? Ein Wald?! Ich wache auf und beginne zu laufen. Ein Abgrund. Ich muss ihn wahrscheinlich überqueren, damit ich diesen Wald verlassen kann. Sollte ich springen?“

Eben die Kombination dieser beiden Perspektiven macht das hier stattfindende Erlebnis im Wesentlichen aus.

Limbo scheint ferner bewusst mit dem natürlichen Bedürfnis des Menschen nach Sinn und Kausalität zu spielen, wenn es dem Spieler auf der erzählenden Ebene Ambiguitäten zumutet, viele Motive (z.B. die weibliche Figur) lediglich andeutet – und ihn so zur Reflexion anregt. Gleichzeitig werden, trotz des Verzichts auf ein HUD oder Tutorial, spielmechanische Regeln und Logik hinreichend klar vermittelt.[4] [5] Dies lässt schlussfolgern, dass das Spiel gerade wegen seiner sehr zurückhaltenden und minimalistischen narrativen Rahmung von zahl­reichen Spielern und Kritikern als so intensiv und einzigartig, als beim Spielen so unmittelbar und zum Reflektieren anregend empfunden wird. Trotz der strengen Linearität und der Tatsache, dass der Spieler am eigentlichen Verlauf der Handlung im Gegensatz zu zahl­reichen anderen Spielen, wie zum Beispiel bei der beliebten Reihe Mass Effect (Bioware, 2007ff), nichts maßgeblich verändern kann, erzählt uns das Spiel nicht einfach die Geschichte eines kleinen Jungen, der in einem Wald erwacht und am Ende seines Weges einer weiblichen Gestalt begegnet, sondern vielmehr sind wir als Spieler für die Fortdauer dieser hier erzählten Geschichte eben dieser Junge und bewegen uns selbst im Rahmen der Grenzen der hier erzählten Welt, weil wir die vom Spiel offen gelassenen narrativen Lücken füllen möchten und das Nichtanderskönnen hier zum Konzept wird; tatsächlich haben wir nur die Wahl zwischen dem Beenden oder dem Fortsetzen des Spiels und sind damit direkt verknüpft mit seiner Geschichte. Wir gehen über die Ebene der (wenn auch in diesem Fall begrenzten) Interaktivität eine kognitive Synthese mit dem Spiel ein, denn die sogenannte Psycho-Narration wird hier zwar immer wieder durch gewisse Schlüsselmomente und Voraus­deutungen vom Spiel bewusst in eine bestimmte Richtung gelenkt, aber gleichzeitig vom Spieler in Form eines inneren Monologs reflexiv mit konkreter Bedeutung gefüllt; „Computerspielen kann als Selbstbeobachtung unter ständiger Rückkopplung bezeichnet werden“ (Neitzel, Game Over!?, S. 102). Der Bewusstseinsstrom des Spielenden ist hier ein wesentlicher Bestandteil des interaktiven Erlebnisses und ebenso von seinen Eingaben abhängig wie der Fortlauf der spielinternen Handlung.

Dies bestätigen auch die zahlreichen von Spielern entwickelten Theorien zur Auslegung der narrativen Rahmung Limbos und das konsequente diesbezügliche Schweigen der Entwickler.

Der Artikel Limbo and the poetics of attention: or, how Limbo matters in the New Media Attention Economy (veröffentlicht auf der von der Universität Washington begründeten Internetseite CGP: Critical Gaming Project) charakterisiert das die narrative Ebene bei Limbo betreffende Phänomen der Suggestion treffend und wie folgt:

„[...] focusing the player’s attention on details that support a theory of an organized whole only possible in reflection.“

(https://depts.washington.edu/critgame/wordpress/2010/09/limbo-and-the-poetics-of-attention/)

Obwohl unklar bleibt, ob das auf den Abspann und im Menü folgende bereits erwähnte Bild zeitlich vor oder nach der vom Spieler erlebten und gespielten Geschichte einzuordnen ist, muss man hier am Konzept des dramatischen Modus festhalten, da sich an dem unmittelbaren Erleben trotz allem nichts ändert. Ort und Zeitpunkt des Erzählens decken sich mit dem Prozess des Spielens; das Spiel verlangt von seinem Spieler, dass dieser seine eigene Welt verlässt, um in der virtuellen aufzutauchen und zu handeln. Damit dieser Übergang nicht zu einem harschen Bruch wird, lässt sich das Spiel ganz bewusst Zeit mit der Etablierung wichtiger Spielelemente und den handlungsrelevanten Schlüsselszenen. Es gibt immer wieder Situationen des narrativen Leerlaufs, die jedoch nicht ohne Bedeutung sind, sondern ausschlaggebend für das intensive Empfinden zahlreicher Wendepunkte. Der temporäre Verzicht auf den andauernden direkten Fortlauf der Handlung – derartige Passagen dauern zwischen dreißig und neunzig Sekunden – betont das, was der französische Semiotiker Roland als „Realitätseffekt“ (Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 117ff) bezeichnet bzw. das, was im Rahmen der Analyse von Videospielen als Immersionseffekt bezeichnet wird: Indem die Aufmerksamkeit des Spielers auf die Wahrnehmung des virtuellen Raums und die überschüssigen Details gelenkt wird, lässt sich die Antizipation eines Ereignisses steigern; dies ist der bereits mehrfach erwähnte Realitätsüberschuss. Somit sind diese Augenblicke ebenfalls als dramaturgisches Mittel und Teil der Narration anzusehen, obwohl diese Elemente für sich genommen nicht direkt narrativ sind. Ein literarisches Äquivalent wären umfangreiche Naturbeschreibungen zwischen zwei drama­tischen Wendepunkten.

[...]


[1] http://www.ign.com

[2] „Originally, „avatar“ is a Hindi word that describes the mortal manifestation of a god [...]. This term was given new meaning in 1992, when Neal Stephenson released Snow Crash [...]. The graphical representations of users were referred to as avatars, and the term quickly spread outside the novel to mean the graphical representation of a user in any computer setting, be it an internet forum or a computer game.“ (Holmes , A Mind Forever Voyaging, S. 209)

[3] Michael Liebe unterscheidet in seinem Aufsatz zu den verschiedenen Dispositiven des Computer- und Videospiels insgesamt vier verschiedene Formen: Arbeit (Personalcomputer), Freizeit (Arcade), Wohnen (Konsole) und Mobilität (Handheld). Da ich mich ausschließlich mit der Mac- und Xbox-Version beschäftige, spielen lediglich Arbeit und Freizeit hier eine Rolle.

[4] „HUD is short for „Heads-Up Display“, an interface overlaid on realtime visual data. The term originated from the digital readouts on the cockpits of modern fighter jets. The vast majority of games feature a HUD of some kind, including such details as health bars, points, or available tools. A few recent games have omitted the HUD in favor of expressing all necessary information within the game enviroment [...].“ (Holmes, A Mind Forever Voyaging, S. 214)

[5] „tutorial: A section at the beginning of a game that trains the player in using the gamic systems. Sometimes presented in video, tutorials are most often designe das hands-on training, allowing the player to navigate an easy prologue ft he game while slowly introducing its features. The tutorial has largely replaced the manual in contemporary gaming.“ (Holmes, A Mind Forever Voyaging, S. 223)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956848391
ISBN (Paperback)
9783956843396
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Interaktives Erzählen Heldenreise Mise en scène Raumsemantik Motivanalyse

Autor

Wolfram Bange wurde 1983 in Neuss geboren und schloss sein Germanistik- und Philosophiestudium an der Bergischen Universität Wuppertal im Jahr 2013 erfolgreich mit dem ersten Staatsexamen ab. Schwerpunkte seines Studiums waren die Disziplinen der Narratologie, des Existenzialismus und der Phänomenologie. Neben seinem Studium arbeitete er außerdem als freischaffender Veranstalter (freies studentisches Kino der Bergischen Universität, Konzerte, Lesungen), Filmemacher und Musiker (Phasenmensch) und absolvierte zahlreiche Praktika im schulischen und medialen Bereich. 2014 wird er sein Referendariat an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen beginnen.
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Titel: Interaktives Erzählen und Minimalismus: Eine erzähltheoretische Auseinandersetzung mit Playdeads "Limbo" (2010)
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