Die Gestaltung der Gawan-Figur im siebten Buch von Wolframs 'Parzival'
Zusammenfassung
Schwerpunkt hier ist nicht die Hauptfigur, Parzival, sondern die zweite, Gawan. Gawan als Figur hat selbst eine eigene literarische Geschichte und Hintergrund, tritt in verschiedenen Romanen auf – mit immer anderer Gestalt. Die Konzeption hier im 'Parzival', so wie Wolfram sie ausgestaltet ist einzigartig: Nicht nur, dass Gawan als idealtypischer Ritter klassifiziert wird, er dient auch noch als direktes Gegenbeispiel zum Namensgeber des Romans. Im siebten Buch ist er Hauptheld und wird vor allem in seiner Rolle als Konfliktlöser und erfolgreicher Kämpfer dargestellt, der oftmals seine Kämpfe nicht mit dem Schwert, sondern dem Verstand gewinnt. Gerade hier soll eine Forschungslücke geschlossen werden, die die Vielschichtigkeit dieser Figur ausblendet, bzw. nicht entsprechend würdigt. Gawan als Streitschlichter, Friedensstifter und weiser Kämpfer: das ist das Bild, welches Wolfram im siebten Buch entwirft, welches nun wissenschaftlich fundiert beleuchtet wird.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
II. Einführung der Figur – Die Blutstropfenszene und die Anklage durch Kingrimursel
Um eine Figur aufschlüsseln zu können, werden die Eindrücke, die während der Bearbeitung des Textes gewonnen wurden, analysiert und interpretiert. Zunächst soll der erste aktive Auftritt Gawans im >Parzival< untersucht werden. Dabei handelt es sich um die Szene, in der Gawan Parzival aus der Minneversunkenheit erlöst und ihn zum Artushof bringt. Sowohl bei Chretien als auch bei Wolfram ist diese Szene vorhanden, die Darstellung bzw. Gestaltung der Episode jedoch unterschiedlich. Es bietet sich nun an, die Unterschiede, die Gawans Verhalten – und somit den ersten Eindruck von der Figur – näher zu untersuchen und mit denjenigen Gauvains zu vergleichen.
2.1 Gauvain und Gawan – zwei Einführungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten
Die Blutstropfenszene ist die erste Stelle im Roman, in der Gawan aktiv auftritt. Nachdem ein garzûn Cunnewares den in den Anblick der drei Blutstropfen versunkenen Parzival gefunden hat, reiten sowohl Segramors als auch Keie zu diesem, um ihn zur Rede zu stellen und an den Artushof zu führen. Obwohl von beiden angesprochen, reagiert Parzival nicht, sodass er angegriffen wird. Segramors sowie auch Keie unterliegen und kehren verletzt an den Hof zurück. Vergleicht man die Motivationen der zwei Ritter, die Parzival im Wald besuchten, so werden eindeutige Unterschiede auffällig. Segramors will die Tjost gegen Parzival, um seinen persönlichen Ruhm zu steigern („ ungerne het er dô vergehen / sîns kumenden prîses pflihte/ ieman an der geschihte“; 286, 20-22), Keies primäres Ziel ist nicht der persönliche Ruhm, sondern der des Artushofes, wie in 290, 8-21 ersichtlich wird. Der Erzähler stellt auch klar, dass Keie deswegen nicht beschuldigt werden darf, denn er kämpft nicht für seinen eigenen Ruhm, sondern für den des Hofes. Als Gawan Keie aufgrund seiner Verletzungen (295, 23-25) bemitleidet, beschuldigt Keie ihn, nicht ordentlich an die eigene und die Ehre des Artushofes zu denken und kampfunwillig zu sein. Gawan wird bezichtigt, lieber bei den Frauen zu bleiben als in den ritterlichen Kampf zu ziehen und, wenn er denn zieht, nie mit ganzer Kraft zu kämpfen. „Er unterstellt, Gawan neige mehr zur diemuot gegenüber Frauen als dazu, Tapferkeit zu zeigen.“[1] Gawans Antwort darauf könnte nicht kürzer ausfallen: Er weist Keie darauf hin, dass er sich zu jeder Zeit seinen Pflichten vollends bewusst ist, und diese auch wahrnimmt (299, 15-26). Allein die Tatsache, dass Gawan Keies Anschuldigungen nicht mehr entgegnet, zeigt schon seine Überlegenheit und sein Selbstvertrauen. Gawan ist sich seiner Position und seines Status am Artushof wohl bewusst und sieht keinen Grund, sich wegen solcher Beschuldigungen aufzuregen. Dies ist ein Zug, den die Figurengestaltung Gawans ausmacht: er ist sich stets seiner selbst bewusst. Daraufhin macht sich Gawan – wie oben beschrieben – auf zu Parzival. Schon jetzt wird deutlich, dass er anders an ihm unbekannte Situationen herangeht als die anderen Artusritter. Er reitet „ sunder swert und âne sporn“ (299, 30), „ sunder kalopieren / und âne punieren“ (300, 7f) zu Parzival – also eindeutig ohne die Möglichkeit eines Kampfes in Betracht zu ziehen. Dies verwundert angesichts der beiden besiegten Ritter. Doch Gawan will die Situation ohne Kampf klären und – ein entscheidender Punkt – ohne weitere Verletzungen. Sieverding sagt dazu: „Im Gegensatz zu Segramors und Keie […] durchbricht Gawan von Anfang an [die] oft tödlich endenden Mechanismen [ritterlicher Verhaltensethik]. […] Gawan zeigt hiermit seine innere Souveränität gegenüber ritterlichen Verhaltensnormen.“[2] Diese Souveränität zeichnet Gawan aus und wird vom Autor als grundlegendes Gestaltungsprinzip der Figur Gawan eingeschrieben.
Vergleicht man dies mit Chretiens >Perceval<, so sind dort einige Unterschiede festzumachen. Zum einen ist die Anschuldigungsrede Keus viel länger als bei Wolfram und zum anderen wird Gauvain weniger sein Verweilen bei Frauen zum Vorwurf gemacht, sondern seine Art zu kämpfen. Keu beschuldigt ihn, immer erst dann einzugreifen, wenn er sicher weiß, dass er gewinnt, da der Gegner schon ausgelaugt ist (4370-4404). Hier liegt der Schwerpunkt der Anschuldigung demnach leicht anders als bei Wolfram. Nicht Gawans Beziehung zu Frauen wird getadelt, sondern sein Verhalten im Kampf. Auch stellt Keu klar heraus, dass Gauvain lieber redet als kämpft, was in Keus Augen sehr unritterlich ist. Dieser Hang zum Reden äußert sich auch darin, dass Gauvain, bevor er zu Perceval reitet, darüber nachdenkt bzw. mit Artus darüber spricht, was mit dem Ritter sein könnte. Gawan hingegen handelt auf eigene Initiative hin. Er beratschlagt sich mit niemandem, sondern nimmt die Situation selbst in die Hand. Somit zeigt er, dass er selbst autonom ohne Rücksprache plant und handelt.[3] Wie sich zeigt, funktionieren diese Pläne zumeist auch – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Gawan sich nur allzu gut in andere hineinversetzen kann, wie ebenfalls durch die Blutstropfenszene deutlich wird. Gauvain erkennt schon durch die Erzählungen Segramors und Keus, dass mit dem unbekannten Ritter im Wald etwas nicht stimmt. Anhand der Beschreibung schlussfolgert er, eine Art Trance oder Versunkenheit aufgrund eines Verlustes läge bei Parzival vor. Dieser Gedankengang ist insoweit interessant, als dass er zeigt, dass Gauvain den Ritter gar nicht erst sehen muss, um Aussagen über sein Verhalten zu treffen – Diagnosen zu stellen, die nahezu den Kern des Problems treffen. Gawan kann dies erst erkennen, als er Parzival gegenüber steht. Für Gawan hat also Erkenntnis viel mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun. Situationen kann er erst überblicken, wenn er mittendrin steht, den Raum überschaut und Kontakt zu den Beteiligten hat. Konsequenz dieser Tatsache ist, dass Gawan nicht übereilt handelt, da er Entschlüsse erst trifft, wenn er sich den ganz wörtlich gemeinten Überblick verschafft hat. Als er Parzival gegenüber steht, erkennt er, in welchem Zustand Parzival sich befindet – er kannte ihn auch schon: „ Gâwân was solher n œte al wîs “(301, 8). Der Einblick in Gawans Gedanken bestätigt ihn nur noch: > waz op diu minne disen man / twinget als si mich dô twang,/ und sîn getriulîch gedanc/ der minne muoz ir siges jehen?< (301, 22-25). Gawan kennt Parzivals Zustand aus eigener Erfahrung. Als er dann noch Parzivals Blick zu den Blutstropfen folgt, versteht er. Er erlöst Parzival aus der Minneversunkenheit, indem er seinen Mantel über die Blutstropfen legt. Hier werden zum ersten Mal Gawans Gedanken gezeigt. Gawan denkt darüber nach, ob Parzival wohl der gleichen Macht unterlegen ist, wie er selbst einst (301, 22-25). Wie schon vormals erwähnt, zeigt dies, dass Gawan in der Lage ist, Situationen genau zu analysieren, Zusammenhänge zu erkennen, um dann gewaltfreie Lösungen zu finden. Diese Fähigkeit, sich in andere Figuren hineinversetzen zu können, zeichnet Gawan aus und ist grundlegender Faktor der Figurengestaltung. Gawans primäre Aufgabe ist – wie bei Parzival– die Erlösungsaufgabe.[4] Anders jedoch als bei Parzival, erreicht Gawan die Erfüllung dieser Aufgabe nicht durch Kämpfe und Zufall, sondern vielmehr durch Einfühlsamkeit, Verstand und Gespräche.
In Chretiens Darstellung sind die Blutstropfen bei Gauvains Eintreffen schon fast geschmolzen und Perceval schon fast aus der Trance erwacht (4426-4431). Ein Eingreifen seitens Gauvains ist also nicht mehr nötig. Er spricht Perceval einfach an und dieser erwacht vollends aus der Trance. Hier stellt sich heraus, dass die Souveränität der Gawan-Figur nicht ihre Grundlage in der Gauvain-Figur hat. Gauvain fehlt Gawans Art der Handlungsinitiative, zumindest kommt er nie in Situationen, in denen er eine solche anwenden müsste.
Warum weitet Wolfram diese erste Einführungsszene der Gawan-Figur in seiner Darstellung aus? Gawan spricht nicht erst mit König Artus über den Zustand des Ritters, obwohl er auch dort bestimmt den Erzählungen von Segramors und Keie zugehört hat. Er reitet völlig unbewaffnet los und erkennt der Zustand Parzival aufgrund eigener Erfahrung. Er analysiert Parzivals Situation bzw. dessen Verhalten und erkennt dann – anders als Keie und Segramors – auch den Grund für die Minnetrance. Die beiden anderen reagieren standardmäßig und greifen den bewaffneten Ritter an, als dieser nicht antwortet. Sie interpretierten dies als Zeichen zum Kampf. Gawan jedoch „begnügt […] sich nicht mit dieser „Standardinterpretation“[5], worauf Sieverding hinweist. Weiterhin stellt er heraus, dass durch Gawans Alternative „sowohl das Ansehen des Artushofes“[6] als auch die Ehre des unbekannten Ritters gewahrt bleiben und er der Bestrafung durch die Schmähung zweier Ritter entgehen kann. Diese Denkweise Gawans zeigt, dass er nicht den Standardgepflogenheiten des Artushofes folgt und dies aus Absicht.
Da Gawan sich also wissentlich und willentlich gegen den ritterlichen Kampf entscheidet und deshalb Keies Spott ertragen muss, „kann die âventiure-Ideologie in den Augen Wolframs keine grundsätzlich positiv zu bewertende Lebensform sein.“[7] Das soll heißen, Sieverding geht davon aus, dass durch die neue Gestaltung der Gawan-Figur, welche so ein gänzlich anders Bild vom Rittertum präsentiert, eben dieses geläufige Standard-Rittertum des Artushofes kritisiert werden soll. Dem ist zuzustimmen, denn Gawans Einstellung zum Kampf wie auch zu Frauen propagieren ein anderes Rittertum als z.B. Keies und Segramors Einstellung es tun. Gawan wägt die Möglichkeiten ab und vor allem deren Konsequenzen. Würde Gawan gegen Parzival kämpfen, so wie Segramors und Keie, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch er verletzt werden würde oder der unbekannte Ritter. Beides möchte Gawan vermeiden, zumal eine Niederlage seinerseits zur erneuten Schmähung des Artushofes führen würde. Bumke beschreibt Gawan in dieser Situation als „Repräsentant einer höfischen Klugheit, der die Situation durchschaut und in der Lage ist, die Konfliktsituation, die sich aufgrund von Missverständnissen aufgebaut hat, mit diplomatischen Mitteln zu lösen.“[8] Gawan wird als mitfühlender und kluger Mann dargestellt, der in seiner Auffassung vom Rittertum vom Standard abweicht. Er reagiert nicht ohne nachzudenken und greift nicht zur ersten Handlungsoption, die sich ihm bietet, sondern er analysiert und reflektiert, bevor er handelt. „Ritter […] scheinen in der Artuswelt auf bestimmte Schlüsselreize nur mechanisch reagieren zu können, dies macht ihr Verhalten steril und unmenschlich.“[9] Gawan jedoch ist das genaue Gegenteil. In seiner Gestaltung spiegelt er Menschlichkeit und Klugheit wieder, die sich sowohl auf Zwischenmenschlichkeit als auch auf gesellschaftliche oder scheinbare Zwänge erstrecken. Er muss sich nicht zwangsläufig an die Regeln der Artusgesellschaft halten – jedenfalls nicht wortgetreu. Er legt aus und passt die Regeln seinem Verhalten an, sodass aus seinem Tun kein Leid erwächst. Dies zeigen die folgenden Szenen im siebten Buch. Wie groß die Rolle seiner Klugheit in der Gestaltung Gawans ist, wird sich noch im Folgenden zeigen.
Vergleicht man die Bezeichnungen, welche durch die Erzähler Gawan und Gauvain zugeschrieben werden, so kann man Folgendes feststellen: Gawan ist unter anderem „ mîn hêr Gâwân“ (298, 6), „ der wol gelobte man“ (299, 13), „ der werde degen“ (339, 15) oder der „ tavelrunder hôhster prîs“ (301, 7). Schon durch solch kleine Kommentare bzw. Attribute, deutet der Erzähler auf Gawans Außergewöhnlichkeit und seinen großen Ruhm hin. Die Bezeichnung mîn hêr ist ehrenvoll und als solche nur hochgestellten Persönlichkeiten vorbehalten, welches der Erzähler somit kundgibt. Gauvain indes bekommt den Titel mesire Gavain (4349) oder monseigneur Gavain (4960). Auch diese sind bezeichnend. Die Ehrerbietung ist also sowohl bei Gawan als auch bei Gauvain gleichermaßen hoch. Somit haben auch Anschuldigungen durch z. B. Keie und im späteren Verlauf durch Obie weniger Gewicht, denn wenn der Erzähler Gawan oder Gauvain mit solcherlei Titeln bedenkt, dann fallen die Beschwerden nicht wirklich ins Gewicht. Der Rezipient wird hier dem Urteil des Erzählers eher vertrauen, da dieser sich bisher als glaubwürdig erweisen hat. Der Rezipient wird sich höchstens verwundern, dass Keie einen offensichtlich hochgelobten Mann auf solche Art und Weise beschuldigt. Dies mag unter anderem daran liegen, dass in anderen zeitgenössischen Texten Gawan nicht als der Vorzeigeritter der Tafelrunde gesehen werden kann. Im Zuge des siebten Buches werden Gawan noch weitere Attribute zugeschrieben und er erhält durch den Erzähler weitere Titel, die wiederum ein gänzlich positives Licht auf ihn werfen.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass sowohl Gauvain als auch Gawan anders als erwartet handeln: Beide finden eine konfliktfreie, alternative Lösung zur ritterlichen Tjost, ohne dabei den Ruhm des Artushofes oder den eigenen zu schmälern. Allerdings scheint Gauvain dem Kämpfen oder strît eher zugetan zu sein als Gawan. Immerhin reitet er bewaffnet und somit für alles vorbereitet, zu Perceval, wohingegen Gawan einzig auf sein Redegeschick vertraut und keine Vorsichtsmaßnahmen trifft. Inwiefern sich dieser Unterschied im Weiteren bemerkbar macht, wird der folgende Vergleich der Darstellungen und Gestaltungen Wolframs und Chretiens zeigen. Bezeichnend für die Gestaltung der Figur Gawans sind seine Selbstaussagen in Buch 6. Diese sollen nun näher untersucht werden.
2.2 strît und wîsheit: Gawans Selbstaussage
Der strît, der Kampf, spielt im höfischen Kontext eine unabdingbar wichtige Rolle. Durch gewonnene Kämpfe erlangt der Ritter prîs und ere, nicht nur für sich, sondern auch für den Hof seines Herrn. Allerdings versucht Gawan immer dem Kampf, wenn er nur durch Ehrgewinn motiviert ist, aus dem Weg zu gehen bzw. diesen zu vermeiden. Dieses Verhalten eines Ritters – vor allem einen mit dem Ruf Gawans – ist doch eher seltsam. Erstmals zeigt sich dies in der Blutstropfenszene und ist ein immer wiederkehrendes Motiv. So ist es denn von höchstem Interesse gerade in Bezug auf die Gestaltung der Gawan-Figur, auf deren Verhältnis zum strît einzugehen.
Ebenso wichtig ist der Begriff der wîsheit. Klugheit, Verstand, Erfahrung – so können mögliche Übersetzungen lauten. Scheuer meint zu diesem Begriff: „Denn wîsheit […] zielt vor allem auf die Frage nach der intensivierten Wahrnehmungsweise der Sinne und nach dem Umgang mit den so zustande kommenden inneren Bildern [ab].“[10] Was bedeutet dies nun in Bezug auf Gawan und seine Selbstaussage bzw. sein Handeln? Bis jetzt folgendes: Schaut man sich Gawans Wahrnehmung in der Blutstropfenszene erneut an, so stellt man fest, dass er die Geschehnisse ganz anders wahrnimmt als z.B. Keie oder Segramors. Die beiden sehen den gewappneten unbekannten Ritter, der weder auf ihr Ankommen, noch ihre Ansprache reagiert. Daraufhin greifen sie an. Gawans Interpretation geht allerdings viel weiter. Er sieht den unbekannten Ritter, beobachtet sein Verhalten und folgt seinem Blick. Gawan erkennt die Versunkenheit in das Bild der drei Tropfen und diese Erkenntnis lässt ihn inne halten und nicht zum Kampf ansetzen, was ihm ohne Waffen auch nicht gut bekommen wäre. Der in sich versunkene Parzival erweckt in Gawan die Erinnerung an eine ähnliche Begebenheit, die er selbst erlebte. Diese Verbindung herzustellen zwischen äußerem Eindruck und eigener Erinnerung bezeichnet das, worauf Scheuer hinauswill: durch die intensivierte Wahrnehmungsweise und die so zustande kommenden Bilder entsteht – als Konsequenz – reflektiertes und überlegtes Handeln. Das ist wîsheit. Dies ist für Gawan prägend, denn er denkt immer über die Folgen seines Handelns nach, bevor er handelt. Diese Gedankengänge sollen im Folgenden noch weitergehend untersucht werden. Wichtig ist auch: Gawan weiß, dass er diese Fähigkeit hat, wie seine Aussage über sich selbst zeigt.
Diese Aussage erfolgt im Rahmen der Anschuldigungen durch Kingrimursel. Gawan unterhält sich mit seinem Bruder Beacurs. Dieser möchte für Gawan kämpfen, welcher allerdings mit folgender Begründung ablehnt:
>ich pîn so wîs
daz ich dich, bruoder, niht gewer
dîner bruoderlîchen ger.
Ine weiz war umbe ich strîten sol,
ouch entuot mir strîten niht sô wol:
ungerne wolt ich dir versagn,
wan daz ich müesez laster tragn.< (323, 24-30)
Diese Selbstaussage ist ausschlaggebend zur Analyse sämtlicher Handlungen Gawans. Was sagt er dort über sich selbst? Zum einen, dass er sich als wîs erachtet und zum anderen dies auch im Rahmen der Blutstropfenepisode unter Beweis stellt. Durch den Gebrauch seines Verstandes hat Gawan den Kampf vermieden. Allerdings ist er sich nun ganz eindeutig darüber im Klaren, dass er diesen Kampf gegen Kingrimursel führen muss und ihn nicht an jemand anderen abgeben kann. Dies würde zum Ehrverlust führen, und den will er vermeiden. „Aus einer passiven Grundhaltung heraus zielt sie[, Gawans Einstellung zum strît,] zum einen auf die Vermeidung von Kämpfen, […] andererseits [sieht er] aber auch die mögliche Notwendigkeit des strît als Mittel zur Bewährung des eigenen Ansehens.“[11] Der zweite Teil der Selbstaussage betrifft Gawans Verhältnis zum strît: > ouch entuot mir strîten niht sô wol. < (323, 28). Übersetzen könnte man wohl mit: „auch tut mir kämpfen nicht so gut.“ Lachmann übersetzt mit „auch macht mir Kämpfen nicht viel Spaß.“ Diese Übersetzung ist allerdings Sinn verzerrend gegenüber dem Original und kann zu Fehlinterpretationen führen. Vielmehr geht es Gawan nicht um den Spaß am Kämpfen – ich denke nicht, dass er daran Spaß hat –, sondern vielmehr ist der Kampf für ihn ein notwendiges Übel, um in der Artuswelt, der höfischen Welt, sein Ansehen zu erhalten. „Was den ritterlichen Kampf so problematisch macht, ist vor allem die Tötungsgefahr. Immer wieder wird im >Parzival< von Rittern erzählt, die im Kampf gefallen sind, was in vielen Fällen schlimme Folgen hat.“[12] Diese Folgen möchte Gawan verhindern, indem er den strît nur als letzte Möglichkeit in Betracht zieht. Dennoch ist er ein hoch angesehener Ritter, der in vielen Schlachten gekämpft und dort Ruhm erworben hat. Wie kommt also ein Ritter, der eigentlich nicht gerne kämpft, dazu besonders durch seine Kämpfe Ruhm zu erlangen? Wieso legt Wolfram Gawan diese Selbstaussage in den Mund? Erklärung dafür bietet Gawans Figurenkonzeption: Er ist immer in einer Art Zwiespalt, der sich deutlich in solchen Szenen zeigt. Er will nicht kämpfen, wenn es alternative Lösungswege gibt, wie die Blutstropfenepisode zeigt. Andererseits will er ebenfalls nicht kämpfen, dennoch tut er es, da er weiß, dass er als Ritter dazu verpflichtet ist und „[a]us Kenntnis der Verhaltenscodices der ritterlichen Gesellschaft weist Gawan auch die Bitte seines Bruders Beacurs zurück, statt seiner gegen Kingrimursel antreten zu dürfen.“[13]. Hier wird schon deutlich, dass Gawan einen speziellen Bezug zum Kämpfen hat. Nicht aufgrund des prîs -Erwerbs will er kämpfen. Er muss stichhaltige Gründe haben für einen Kampf, denn das Verletzungsrisiko ist immer groß in solchen Kämpfen und Tjosten. Dies zeigt sich eindeutig, als Keie mit gebrochenem rechtem Arm und linkem Bein von der Tjost mit Parzival zurückkehrt (295, 23-25). Durch Kämpfe, die nur aufgrund von persönlichem Ehrerwerb geführt werden, also bar jedweder sozialen oder anderen Grundlage sind, können gute Ritter und Kämpfer getötet oder verletzt werden und stehen dann in wichtigen Auseinandersetzungen, in denen es um fundamentale Dinge geht, nicht mehr zur Verfügung. „Wo der Kampf eine soziale Funktion hat, wo er dem Schutz oder der Befreiung unschuldig in Bedrängnis geratener Frauen dient, wird er nicht in Frage gestellt.“[14] Weder von Gawan, noch vom Erzähler. Gawan ist sich also der großen Gefahr für Leib und Leben bewusst und wägt daher ab, ob und wann er zur Waffe greift. Dass er es dennoch tut, zeigt sein schon im sechsten Buch dargestellter Ruhm – irgendwie ist er erster der Ritter geworden – und er macht es sehr gut. Gawan willigt nicht nur um seiner selbst willen in den Kampf mit Kingrimursel ein. Er ist sich über die Bestimmungen des Hofes, dessen Mitglied er ist, immer bewusst. Diese öffentliche Anschuldigung greift Gawan auf persönlichster Ebene an – den Grundmauern seines Rittertums. Kingrimursel beschuldigt ihn nicht nur des Mordes, sondern auch der schweren Heimtü name="_ftnref15" title="">[15] Als Artusritter und vielmehr als der „ tavelrunder hôhster prîs“ (301, 7f) muss er in ritterlichen Kämpfen bestehen, um seinen Status aufrecht zu erhalten. Man könnte durchaus attestieren, dass Gawan immer nur so viel kämpft, wie nötig ist, um seine Ziele zu erreichen. Nicht wie etwa Parzival, der nur um des Kampfes Willen kämpft. Gawans wîsheit ist also der ausschlaggebende Faktor bei der Entscheidung, ob er zu den Waffen greifen soll oder nicht. Sieverding bezeichnet diese Art des Rittertums als reagierendes Rittertum: „Gawan [sucht] zwar den ritterlichen Kampf in der Regel nicht, […]er [vermag] aber jeden Angreifer sehr wohl zurechtzuweisen.“[16] Diese Art des passiven, reagierenden Rittertums zeichnet Gawan aus und ist grundlegender Bestandteil seiner Vorbildfunktion. Indem Gawan nicht von sich aus den Kampf sucht, sonder vielmehr nur dann kämpft, wenn er herausgefordert, wird eine neue Funktion des Rittertums herausgestellt: nämlich primär die der Defensive. Wolfram konzipiert somit einen Ritter, der anders als seine vielen Vorlagen, einem idealen Rittertum nacheifert, dessen Schwerpunkt nicht in der kämpferischen Auseinandersetzung liegt, sondern vielmehr im Erhalt des Friedens durch alternative Lösungswege.
Im Vergleich zu Gawan zeigt Chretiens Gauvain eher Kampfeslust. Schon durch die Tatsache, dass er bewaffnet zu Perceval reitet, wird dieser Eindruck unterstützt. Die Reaktion auf die Anschuldigung Guigambresils ist auch leicht anders, als Gawans Reaktion. Gauvain scheint eher darauf erpicht zu sein, einen Kampf um seiner Ehre willen zu bestreiten. Zwar weist auch Gauvain darauf hin, dass er lieber alternative Entschuldigungen vorgezogen hätte, jedoch „ Et se il a dit son outrage, /Je m’en desfent et tent mon gage / ou chi ou la ou lui plaira. “ (4785-4787). Anders als bei Gawan zeigt sich bei Gauvain keine Kampfesunlust in dem Sinn, dass er den Sinn des Kampfes nicht sieht (323, 27). Eher wäre es Gauvain lieb gewesen, eine Alternative zu finden. Da dies aber durch die Art der Anschuldigung nicht mehr möglich ist – Gauvain ist beleidigt worden – kämpft er. Hier tritt kein Artus oder Beacurs auf, der sich für Gauvain als Kämpfer anbietet. Auch stellt Gauvain nichts infrage. Er wird öffentlich beschuldigt, und obwohl ihm andere Mittel auch recht wären, kämpft er – eben weil er um die Konsistenzlosigkeit dieser Anschuldigung Bescheid weiß.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Gawan eher noch als Gauvain ein anderes Verhältnis zum Kämpfen hat als der normale Artusritter oder Ritter generell. Im Wissen um die Rechtschaffenheit oder den Nutzen einzelner Kämpfe, wägt Gawan ab, wann er in einen Kampf einwilligt und wann nicht. Er steht im Kontext ritterlicher Verhaltensregeln – allerdings auch im Kontext seiner eigenen Regeln und Verhaltensweisen, die ihn zum überlegt Handelnden machen, der sich nahezu zu jeder Zeit über die möglichen Konsequenzen seines Handelns im Klaren ist. Dies wird vor allem durch seine Selbstaussagen und, praktisch angewandt, in den Kämpfen vor Bearosche deutlich, die im Folgenden untersucht werden.
III. Das siebte Buch – Der Kampf um Bearosche
Im siebten Buch wird berichtet, wie Gawan auf dem Weg nach Schampfanzun Bearosche erreicht. Dabei entdeckt er zunächst einen Heereszug, der detailliert beschrieben wird. Erkannt wird Gawan nicht, allerdings erkennt auch er niemanden. Im Gespräch mit einem Knappen wird Gawan der Hintergrund der kommenden Schlacht erläutert: nämlich, dass die Schlacht stattfindet, damit Meljanz, der junge Herrscher des Landes, Obie, die Tochter eines Vasalls, zur Frau nehmen kann. Als Gawan in Bearosche selbst ankommt, durchreitet er zunächst das lagernde Heer des Meljanz, bis er schließlich die Stadtburg erreicht und dort rastet. Dabei bekommt er ein Streitgespräch der Töchter Lyppauts mit, in dem er selbst Gegenstand ist. Obie und Obilot streiten sich, ob Gawan nun Ritter oder Kaufmann sei, wobei Obilot Gawan als Ritter erkennt. Anschließend versucht Obie Gawan zu demütigen, welches jedoch bei Gawan nur begrenzt zu Reaktionen führt. Schließlich schickt sie Scherules zu Gawan; dieser jedoch erkennt ihn als Ritter und bietet ihm Gastrecht an. Daraufhin erfährt auch Lyppaut vom Rittertum des vermeintlichen Betrügers und versucht Gawan für die Schlacht zu gewinnen. Dieser jedoch lehnt ab und erst nach einem Gespräch mit Obilot willigt er schließlich ein. Aus dem Kampf der folgenden Tage geht Gawan als Sieger hervor und nimmt Meljanz, den König, gefangen. Anschließend wird die Versöhnung zwischen den verfeindeten Parteien gestiftet und Obie nimmt Meljanz endlich als Liebenden an. Die Gesellschaft ist nun also wieder im Gleichgewicht und Gawan macht sich auf den Weg. In dieser Episode in Bearosche wird die Gawan-Figur weiter eingeführt und nun soll untersucht werden, wie genau Wolfram dies tut.
3.1 Gedanken und Entscheidungen: Wie Gawan denkt und Entscheidungen trifft
Hier nun soll der Wechsel der Erzählperspektiven untersucht werden, wie z.B. Gawans Gedanken und Erzählerkommentare. Die Erzählebene wechselt an mehreren Stellen im siebten Buch aus der narrativen Perspektive in die Figurenebene und so erhält der Rezipient Einblick in die Gedankenwelt Gawans. Wenn ein Erzähler oder ein Autor dem Leser oder Hörer z.B. Einblick in die Gedanken einer Figur gewährt, so hat das immer eine Funktion. Dieser Funktion soll hier nachgespürt werden. Was sagen Gawans Gedanken über ihn aus? Wie trifft er mittels dieser Gedanken Entscheidungen und wie passt dies ins Gesamtbild, welches sich im siebten Buch von Gawan erschließt? Dies sind Fragen, denen in diesem Teil nachgegangen wird.
Auf dem Weg nach Schampfanzun entdeckt Gawan, als er aus einem Wald reitet, ein Heer. Der Gedanke, der Gawan in den Kopf kommt ist Folgender:
„er dahte >sol ich strîten sehn,
und so des niht von mir geschen,
sost al mîn prîs verloschen gar.
kum ab ich durch strîten dar und wirde ich dâ geletzet,
mit wârheit ist entsetzet
al mîn werltlîcher prîs.
ine tuon es niht decheinen wîs:
ich sol ê leisten mînen kampf<
sîn nôt sich in ein ander klampf.
gegen sîner kampfes verte
was ze belîben alze herte:
ern moht ouch dâ niht für gevarn.“ (350, 1-13)
Dieser Exkurs in die Gedanken zeigt, dass Gawan sich der möglichen Handlungsvarianten und vor allem deren Konsequenzen völlig bewusst ist. „Der Anblick kampfbereiter Ritter weckt bei ihm keineswegs Freude aufgrund der sich möglicherweise bietenden Gelegenheit zum strît und damit verbundenem prîs -Gewinn.“[17] Im Gegensatz zu manch anderem Ritter – hier sei Parzival als das Paradebeispiel genannt: „ ern suochte niht wan strîten.“ (390, 9) – verlangt es Gawan nicht nach Kämpfen. Er sieht vielmehr hinter jedem möglichen Kampf auch die möglichen resultierenden Konsequenzen, also Verletzung oder Tod. Andererseits steht hier seine ritterliche Ehre auf dem Prüfstand: einfach an einer Gelegenheit des ritterlichen Kampfes vorbeizureiten, das will Gawan auch nicht. Schon hier werden erste Zweifel ersichtlich, die Gawan in Bezug auf das eigene Handeln hat, auf die im Folgenden noch weiter eingegangen wird. Allerdings zeigt sich hier schon, wie Gawan Entscheidungen treffen kann. Zum einen durch genaues Überlegen der nächsten Schritte, wie z.B. in der Blutstropfenszene, und zum anderen auch durch `Bauchentscheidungen`. Denn eigentlich könnte er weiterreiten: Weder kennt er das Heer noch die Umstände. Er ist keiner der beiden Seiten in geringster Weise verpflichtet, hat aber – und das ist ständig vordergründiger Gedanke – einen Termin in Schampfanzun mit Kingrimursel, um sich und seine Ehre zu verteidigen. Dennoch entscheidet er sich, nach Bearosche zu reiten. Diese Entscheidung wird nicht durch weitere Gedankeneinblicke erklärt und so entsteht eine Leerstelle. Man kann nun nicht wirklich sagen, warum genau sich Gawan entscheidet, nach Bearosche und somit dem Heer hinterher zu reiten. Mögliche Erklärungen wären, dass Gawan doch den Kampf suchen möchte, wie beispielsweise Bumke attestiert: „Gawan sieht sich in Bearosche in eine Entscheidungssituation gebracht, die ihm schier ausweglos erscheint: unter dem Terminzwang des Gerichtskampfes in Schampfanzun muß er alles vermeiden, was ihn unterwegs aufhalten könnte. Andererseits muß er fürchten, daß seine Untätigkeit sein ritterliches Ansehen schädigt.“[18] Der Terminzwang Gawans führt also auch dazu, dass er sich nicht immer sicher ist, wenn es um sein eigenes Handelns geht. Gerade in der Szene vor Bearosche muss er lange überlegen, wie er sich verhalten soll. Einerseits wartet die Herausforderung Kingrimursels auf ihn und andererseits möchte er – gleichsam aus einem inneren Drang heraus – erfahren, warum das Heer anrückt und ob er vielleicht von Nutzen sein kann.
„der zwîvel was sîns herzen hovel,
dâ durch starkiu angest sneit.“ (350, 30f)
Hier wird deutlich, dass Gawan anders als Parzival genau überlegen muss, wie er sich zu verhalten hat. „The hero’s duty, his knightly honor demand that he perform a certain task. Simultaneously, however, he has other obligations to carry out.”[19], stellt Johnson fest. Hinzu kommt noch: „He would like, naturally, as a knight, to take part in the impending fight, but he feels the weight of his obligation to Kingrimursel.”[20] Obschon sich Gawan zu diesem Zeitpunkt dazu entschlossen hat, sich Bearosche und deren Problematik näher anzusehen, zweifelt er, während er durch das Heerlager auf Bearosche zureitet. Er zweifelt generell an der Entscheidung, nach Bearosche zu reiten als auch an seinem momentanen Standort im Heerlager. Er sieht das Heer, durch welches er reitet, fühlt sich dort nicht sicher genug und nimmt den weiteren Weg zur Stadtburg hinauf. Deutlich wird, dass Gawan um sich selbst und seine Sicherheit besorgt ist: er darf nicht aufgrund von Verletzungen oder Gefangenschaft seinen Termin bei Kingrimursel verpassen. Zeit ist ein entscheidender Faktor hier. Gawan steht die ganze Zeit unter terminlichem Druck und dieser hat immer Einfluss auf seine Entscheidungen. Hier ist es besonders interessant, dass er sich von Lyppaut Bedenkzeit einfordert. Obwohl er nur wenige Tage Zeit hat, um nach Schampfanzun zu gelangen, will er darüber nachdenken in den Kampf zu ziehen. Jedoch stimmt er nicht zu, sondern dessen Tochter Obilot.
Was sagt das über Gawan aus? Warum lässt er sich von Obilot überreden, wo ihn doch schon ein Fürst fragte? Gawan ist ein Ritter, der durch sein Handeln Frauen schützen will. Nicht um ritterlichen prîs geht es ihm, wenn er hilft, sondern darum, die Ehre der Frau zu schützen und diese zu verteidigen. „Indem er sich in den Dienst des Kindes Obilot begibt, zeigt sich noch deutlicher als in einem unmittelbaren Hilfeversprechen an Lyppaut, daß Gawan die kulturelle Stellung der Frau achtet und bereit ist, ihre […] Rechte und Ansprüche durch seine ‚ritterschaft‘ zu schützen.“[21] Somit zeigt sich auch hier, dass Wolfram Gawan als Ritter konzipiert, der anstelle von Kampfesruhm und persönlichem Gewinn an Ehre, einen solchen Ritter oder das Bild eines Ritters darstellt, der den Schwerpunkt seines Handelns auf die Weiblichkeit setzt. Gawan wird oft als der Minneritter dargestellt. Doch ist er vielmehr als das. In seiner Beziehung zu Obilot wird dies deutlich und aufgrund der Tatsache, dass Gawan kämpft ohne lôn erwarten zu können. Damit zeigt er, dass er für die Frau, nicht aber für den Kampf um prîs -Erwerb kämpft. Doch wie das Eingangszitat schon andeutet: Gawan muss jede Handlung zunächst vor sich selbst rechtfertigen und abwägen. Die dargestellten Gedanken Gawans erleichtern dabei nachzuvollziehen, warum er etwas tut. Nur an wenigen Stellen erhält der Rezipient keinen Einblick, z.B. über den genauen Grund für Gawans Entscheidung nach Bearosche zu reiten oder die Gedanken, die er zum Gespräch der beiden Schwestern über ihn hat. Diese Leerstellen sagen für mich Folgendes über Gawan: Es macht ihn menschlicher. Diese ‚Bauchentscheidungen‘, wie sie jeder kennt, sind z.T. nur schwer nachvollziehbar – wenn sie es denn sind. Dass Gawan, der Überlegende und planend Handelnde auch zu solchen spontanen Entscheidungen ohne jedwede Begründung fähig ist, macht ihn nur menschlicher und greifbarer. Auch der ihn plagende Zweifel unterstützt dieses Greifbare. Gawan und seine Handlungen werden also explizit dargestellt und begründet, meistens durch ihn selbst. Dies ist schon interessant, denn die eigenen Handlungen nahezu immer begründen zu können, ist eine Leistung, die im Rahmen des >Parzival< nur auf Gawan zutrifft. Er kann immer sagen, warum er handelt oder nicht handelt. Kämpft er, liefert er eine Begründung; kämpft er nicht, so ist auch dies begründet. Wolfram konzipiert Gawan so, dass dieser immer Rechenschaft über sein Verhalten ablegen kann, denn in den seltensten Fällen fehlt eine moralische oder andersartige Begründung. Nie hat diese dann mit dem simplen Drang nach prîs zu tun, dem Kämpfen als Ritter nur um des Kampfes Willen.
3.2 Perspektiven und Dialoge: Informationen über Gawan durch Gespräche
Interessant ist der Blick auf die Perspektive des Erzählens in diesem siebten Buch sowie die Dialogführung deshalb, da auf unterschiedliche Weise Gawan dargestellt wird und Informationen über ihn gegeben werden. Zunächst einmal startet die Erzählung aus Sicht Gawans. Gleichsam durch seine Augen erfährt der Rezipient was geschieht: der Aufmarsch des Heeres, das Ankommen in Bearosche und das Streitgespräch Obies und Obilots. Interessant zu bemerken ist, dass der Rezipient hier auf verschiedenen Ebenen etwas über Gawan erfährt. Sowohl auf narrativer Ebene, also vom Erzähler durch Kommentare als auch in Figurenrede erfahren wir, wie Gawan denkt, handelt und wirkt. Durch diese übergreifende Gestaltungsweise gewinnt die Figur an Plastizität. Nachfolgend soll also untersucht werden, welche Information wir über oder durch Gawan erhalten, wie dies geschieht und inwiefern Besonderheiten in der Gestaltung der Figur auffällig werden. Die Dialoge dienen der Charakterisierung der Figuren: über die Art und Weise, wie sie sprechen, kann der Rezipient sich ein besseres Bild machen. Hinzu kommt noch, „[da] sich der Erzähler mit Wertungen und Erläuterungen über die Figuren zurückhält, werden die Zuhörer gezwungen, sich anhand der Figurensprache und Handlungsweisen selbst ein Bild zu machen.“[22] Somit entsteht ein Bild Gawans und man gewinnt Einblick in die Gestaltungsweise der Figur.
Die Dialoge zeigen, speziell in puncto Gawan, dessen Talent zur Gesprächsführung. Somit sind auch die Dialoge wichtiger Teil der Figurendarstellung, – wie erfährt man durch die Figurenrede was über Gawan? Dieser Frage wird im Einzelnen in der Analyse der verschiedenen Dialoge nachgegangen.
3.2.1 Erzählperspektive – Erzählerkommentare zu Gawan
Zunächst einmal soll auf die Erzählerperspektive eingegangen werden. Wann und unter welchen Umständen beschreibt der Erzähler Gawan und mit welchen Worten stellt er ihn dar. Beginnen möchte ich mit einer kurzen Zusammenfassung der Beschreibung Gawans, wie sie zum einen Chretien liefert und zu anderen Wolfram. Chretiens Erzähler hält sich mit Beschreibungen Gauvains stark zurück. Nur an wenigen Stellen beschreibt er Gauvain und dann sein Verhalten, weniger sein Äußeres. Als edelmütig und wohlgesittet wird mesire Gauvain dargestellt. Weitere Beschreibungen bleiben den Figuren selbst überlassen. So beschreibt z.B. die jüngere Tochter Gauvain recht häufig.
Wolframs Erzähler hingegen verweist sehr oft auf Gawans Attribute: „ der wol gelobte man “, „ wolgezogenem man “, „ der tavelrunder hôhster prîs “, „ Gâwân, der manheite pflac “, „ der werde degen “ und mehr solcher Anschreibungen an Gawan lassen sich von der Blutstropfenszene bis zum Ende der ersten Gawan-Partie finden. Wolfram legt demnach viel Wert darauf, dass die Rezipienten die Wichtigkeit und vor allem die Daseinsberechtigung Gawans als zweiten Haupthelden erkennen. Der Erzähler wird nicht müde, an wichtigen Stellen auf Gawans Unschuld hinzuweisen – wenn er in Bearosche nicht kämpft oder von Obie als Kaufmann bezeichnet wird, so verweist der Erzähler sofort auf Gawans Unschuld: „ Gâwân, der âne schulde truoc “ (360, 8) und „ unschuldec was hêr Gâwân “ (363, 17). „Nichts spricht gegen, vielmehr alles für die Auffassung, Wolfram habe Gawan nicht weniger Aufmerksamkeit zugewandt als Parzival.“[23] Dies wird eben durch die vielen Erzählerkommentare deutlich. Allerdings zeichnet sich dies anhand der gesamten Gestaltung der Figur ab, wie im Folgenden ersichtlich werden soll. Eine weitere Auffälligkeit neben den vielen Verweisen auf Gawans Ruhm und Ehre ist die Tatsache, dass Gawans Verhalten zumindest bis und inklusive des siebten Buches nicht hinterfragt, kritisiert oder infrage gestellt wird. Wo der Erzähler beispielsweise bei Parzival oftmals kritisch betrachtend ist, bleibt dies bei Gawan völlig aus. Der Erzähler nimmt vielmehr eine Position auf Seiten Gawans ein und schützt ihn vor falschen Vermutungen der Rezipienten, indem er immer wieder auf Gawans Unschuld und seinen sehr guten Ruf anspielt.
3.2.2 Der Dialog mit dem Knappen – Gespräche als Mittel zur Informationsbeschaffung
Der Knappe, der von Gawan angesprochen wird, reagiert nahezu empört auf Gawans Frage nach der Identität der für ihn fremden Ritter, da er davon ausging, dass Gawan mit zum Heer gehört. „In der folgenden Dialogphase wird vorgeführt, wie die beiden Sprecher das Missverständnis mit den Regeln der zuht beseitigen.“[24] Gawan erklärt dem Knappen, dass er fremd sei und deswegen niemanden erkennen würde. Eigentlich – so der Knappe – sollte Gawan dies können: > ir erkennt ein ander baz dan ich: waz hilft dan daz ir frâget mich?< (342, 27-29) Nach Gawans Eingeständnis, dass er sich seines Nicht-Wissens schämt– Gawan dazu: > mîn varn hat schande < (343, 4) –, ist der Knappe in die Situation gebracht, diese Entschuldigung anzunehmen. Somit kann die gespannte Dialogatmosphäre gelockert werden und Gawan erhält Antwort auf seine Fragen. Durch diese Szene wird deutlich: Gawan löst Probleme effektiv am besten durch die Formen der Rede – genauer gesagt, der höfischen Rede. Die Tatsache, dass er mit dem Knappen in höflich formvollendeter Art spricht, lässt diesen auch antworten. „Die ganze Exposition ist von Gawan her erzählt und von ‚erlebter Rede‘, ‚erlebtem Sehen‘, monologischem ‚Denken‘ und monologischem Sprechen durchsetzt.“[25] Durch diese Perspektive erfährt der Rezipient Gawans Sicht der Dinge, gleichsam als sei er selbst derjenige, der auf dem Feld steht. Auch erhält er Einblick in Gawans Gedanken und Eindrücke. Die Erzählung des Knappen (343,19-349,16) geschieht in erlebter Rede und lässt den Rezipienten teils vergessen, dass es sich nur um eine Nacherzählung des Knappen handelt und nicht um gerade Stattfindendes. Durch die Monologe in erlebter Rede – v.a. die Erzählung des Knappen – wird nicht nur Gawan über die Situation informiert, sondern auch der Rezipient. Wo Gauvain bei Chretien die gröberen Zusammenhänge schon kannte, ist Gawan hier ein Fremder unter Fremden: „ er sach viel kleider wol gesniten/ und manegen schilt sô gevar/ daz er niht bekande gar,/ noch keine baniere under in.“ (340, 18-21). Er wird nicht erkannt und erkennt auch selbst niemanden. Daher muss er – um effektiv und produktiv handeln zu können – informiert werden. Ebenfalls benötigt der Rezipient ebenso viele Informationen über Gawan wie über den Raum, in dem sich dieser bewegt, um sich in der Situation zurechtzufinden. So gesehen erfährt er auch viel über Gawan. Durch seine Fragen zeigt Gawan – im Vergleich zu Parzival, der nie etwas fragt und sich schweigend durch die Handlung kämpft – Interesse an den Dingen, die um ihn herum passieren und vor allem ein Gespür für diese, wie zum Beispiel die teils gespannten Verhältnisse der Figuren zueinander. Ebenfalls zeichnet sich Gawan dadurch aus, dass er meistens weiß, wo er ist und zu welcher Zeit. Er ist sich der Orte bewusst, durch die er zieht – auch wenn er eventuell die Namen der Landschaften nicht kennt. Dies ist jedoch nicht ausschlaggebend, denn immer ist jemand da, der Gawan informiert. Somit zeigt gerade die Exposition, wie Gawan mit Situationen umgeht, die ihm erst mal fremd sind. Im Gegensatz zu anderen reitet er nicht direkt zu Angriff oder flieht. Vielmehr versucht er, sich weitestgehend zu informieren. Was schon in der Blutstropfenepisode anklingt, bestätigt sich somit hier erneut. Durch die gewählte Perspektive erhält der Rezipient direkten Einblick und dadurch schrumpft die Distanz – sowohl zur Figur als auch zu den Geschehnissen. Durch Gawan erfährt man, wie der Raum, den er durchquert beschaffen, ist und – was ebenso wichtig ist – man erfährt genau, was Gawan weiß und was ihm noch nicht klar ist. Dadurch, dass er selbst fremd ist, sind die von außen zu ihm gebrachten Informationen die einzige Wissensquelle. Dazu Urscheler: „Gawan [geht] einer unbekannten Aventiure nach, indem er sich mit hartnäckigen Fragen informiert und so einen Auskunftsdialog initiiert und steuert.“[26] Somit beschafft er sich selbst die Informationen, die er benötigt. Gawan ist also der Handelnde, der sich selbst bewegt und nicht auf Bewegung wartet. Derjenige, der selbst tut und nicht in Abhängigkeit von anderen agiert – ohne jedoch übereilt oder vorschnell zu handeln. Das bedeutet für die Gestaltung der Figur, dass sie von sich selbst aus aktiv wird, ohne allzu viele Reize von außen; dass sie von innen heraus den Drang verspürt, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten und die Dinge aktiv zu gestalten.
Was diese Unterhaltung auch zeigt – wie im Übrigen auch die nachfolgenden Dialoge – ist aus Rezipientensicht Folgendes: „Was die Information für die Zuhörer betrifft, so versucht der Erzähler, Gawans allmählichen Übergang von Ungewissheit zu Gewissheit nachzuahmen.“[27] Dieser Übergang ist insoweit wichtig, als dass wieder vorgeführt wird, dass Gawan bar jeder Information agiert. Dass er in solch einem Zustand nicht überstürzt reagiert und z.B. flieht, somit seine Ehre verliert, oder angreift, was selbstmörderisch wäre, ist seinem reflektierenden Gemüt zu verdanken. Der Autor konzipiert Gawan so, dass er überlegend und nicht überstürzend handelt. Somit steht Gawan immer im Kontext und Vorsicht walten lässt, wenn er nicht genug Information zur Verfügung hat.
3.2.3 Der Dialog der Schwestern – Wie Gawan wirkt
Gawan rastet unterhalb des Burgtores und hört den Streit der Töchter mit an. Diesmal erhält man keinen Einblick in Gawans Gedanken, jedoch ist der Rezipient in der Lage, durch Gawan mitzuerleben, was passiert: Dass die Schwestern sich mit ihrer Mutter über den Kampf und den nahenden Gawan unterhalten. Erstaunlich ist jedoch Gawans Verhalten: Er regt sich weder auf noch sagt er etwas zu den Anschuldigungen Obies, er sei ein „ koufman“ (352, 16) oder ein „ wehselaere“ (353, 26). Dargestellt wird nur das Gespräch Obies mit Obilot und der Mutter, so wie deutlich gemacht wird, dass Gawan alles hört: „ schier het er von in vernomn “(352, 11). Dies eröffnet eine interessante Perspektive auf Gawan, wie er wirkt und auftritt. Wie schon gegen Ende des sechsten Buches beschrieben, reist Gawan mit viel Gepäck, unter anderem mehreren Schilden, und einigen Knappen (Beschreibung dazu in 335, 10-30). Daher ist Obies Schluss, er sei wohl ein Kaufmann relativ nachvollziehbar[28]. Selbst der Erzähler gibt dies als Grund des Missverständnisses an (363, 17-20). Gawan wird also aufgrund seiner Aufmachung und seines Trosses nicht direkt als Ritter, sondern erst als Kaufmann erkannt. Nur Obilot vermag in ihm den Ritter zu sehen – allerdings auch erst, als er näher kommt. Der Autor konstruiert diese Szene so, dass der Rezipient wie auch die Gawan beobachtenden Figuren mit der Verringerung der Distanz mehr Wissen bzw. Informationen erlangen. Je näher Gawan kommt, desto eindeutiger wird seine Zuordnung zum Ritterstand. Er selbst sieht keinen Grund sich persönlich an dem Gespräch über ihn zu beteiligen, da er eigentlich nur auf der Durchreise ist und nicht wirklich involviert sein möchte in die Ereignisse um ihn herum. „Manchmal erweist es sich am vorteilhaftesten für Gawan, gar nichts zu tun, sondern abzuwarten wie sich die Situation entwickelt.“[29] Gawan wartet ab und lauscht dem Gespräch über ihn. Erst durch Obies Versuch, ihn zu einer Reaktion zu zwingen indem sie einen garzûn zu ihm schickt, reißt sie Gawan aus seiner Passivität und seinem teilnahmslosen Zuschauen.
Im Vergleich zu ihrer Schwester erkennt Obilot Gawan, vor allem an seinem ihr zusagenden Äußeren: > er ist sô minneclîch getân < (352, 23). Selbst die Herzogin erkennt, als Gawan schließlich unter der Linde lagert, dass Obie wohl unrecht hat mit ihrem Urteil über den unbekannten Mann: > tohter, welch koufman/ kunde alsus gebâren? < (353, 14f). Zu den Gründen, warum Obie Gawan so behandelt und im späteren Verlauf immer wieder durch Boten angreift (der garzûn, Scherules und schließlich Lyppaut selbst), sagt Emmerling: „Sie muss Gawans Position schwächen oder ihn gar loswerden, um die Überlegenheit ihres Geliebten zu sichern.“[30] Das zeigt für Gawan, dass er anscheinend rein durch sein Auftreten schon eine potentielle Gefahr für Meljanz darstellt – mindestens in Hinsicht des Status und des Ruhmes. Wie wird nun dieser Eindruck bei Obie erreicht? Gawan wird als Mann dargestellt, der stilvoll mit viel Gepäck reist, und anscheinend keine Angst hat, sich in einer Stadt niederzulassen, die gerade in einen Kampf verwickelt ist.
3.2.4 Die Reaktion auf Obies erste Anschuldigung – Gawans Zorn
Obwohl nur kurz und in wenigen Versen erzählt, so ist diese Reaktion doch betrachtenswert. Zu Gawan wird ein garzûn geschickt, der im Auftrag Obies Gawans vermeintliche Waren kaufen soll. Gawan – der dies gehört hat – wird ungemein wütend und schreit. Solch ein Gefühlsausbruch ist bis jetzt singulär, noch nicht vorgekommen bei Gawan. Selbst bei der Anschuldigung durch Kingrimursel hat sich Gawan nicht derart aufgeregt:
„Gâwâns ougen blicke
In lêrten herzen schri>Gâwân die rede ouch niht enliez.“ (360, 19-24)
Wieso lässt der Autor Wolfram Gawan gerade in dieser Situation die Beherrschung verlieren? Diese Reaktion zeigt, dass Gawan sich seines Status eindeutig bewusst ist und sich ungern herabstufen lässt. Seine durch Obie angegriffene Ehre und vor allem die Tatsache, dass er als Ritter erkannt wurde – nämlich durch die Herzogin und Obilot – lassen ihn wütend auf den Knappen werden, der Obies Auftrag zu erfüllen hat. Dieser Ausbruch Gawans zeugt davon, dass er nicht nur friedfertig und höflich diskutierend auftritt, sondern ebenso eine Grenze hat, die man nicht überschreiten sollte. Diese Anschuldigungen oder Beleidigung ihm gegenüber –völlig zu Unrecht, wie der Erzähler oft und vehement betont – sind Auslöser für rein menschliches Verhalten. Wer würde nicht irgendwann wütend werden und sich und seine Stimme nicht mehr unter Kontrolle haben, wenn oftmals unberechtigte Anschuldigungen und absichtliche Ehrverletzungen gegen ihn erhoben werden? Für die Gestaltung der Gawan-Figur als solche bedeutet dieser Ausbruch meiner Meinung nach Folgendes: Dadurch, dass Gawan hier das erste Mal wirklichen Zorn zeigt, wird er menschlicher. Als Rezipient stellt man sich ohnehin die Frage, warum er nicht schon früher solch ein Verhalten zeigte. Auch die Tatsache, dass Gawan nicht schon vorher in das Gespräch der Töchter selbst eingreift, um z.B. seinen Status oder seine Person zu erklären, mag verwundern. Für Gawan jedoch ist die Anonymität gewollt und wird auch bis zum Aufbruch von Bearosche gewahrt bleiben. Weiterhin ist diese Anonymität motivisch für Gawan. Das soll heißen, in fast jeder Begegnung wird Gawan nicht erkannt. Er bestreitet nahezu alle seiner Aufgaben ohne, dass die anderen Figuren seine Identität kennen – wohl aber seinen Status als Ritter. Somit zeigt sich hier schon, dass Gawan stets darauf bedacht ist, am Rande des Geschehens zu bleiben, um weder anzuecken noch durch etwaige Verstrickungen seinem Termin nicht gerecht werden zu können und den Kampf mit Kingrimursel zu verpassen. Anstatt sich also preiszugeben und die Figuren über seine Identität aufzuklären als Neffe von Artus und Ritter der Tafelrunde, stellt er sich in den Schutz der Anonymität, um so Kämpfen und Hindernissen aus dem Weg zu gehen, um zielstrebig zu seinem Ziel in Schampfanzun zu kommen. „Es ist nicht nur ein Spiel, wenn Gawan seine Identität verschweigt und die Leute rätseln läßt, wer er ist. […] Anonymität ist für Gawan […] ein Schutzschild, hinter dem er seine Pläne verbirgt.“[31] Im Fall Bearosche dient seine Anonymität dazu, seinen Zeitplan zu schützen. Doch dieser Wutausbruch zeigt, dass Gawan schon involviert ist in das Geschehen um ihn herum. Anstatt den garzûn einfach zu ignorieren, wird Gawan wütend – in einem bis jetzt noch nicht gekannten Maß. Zwar zeigt schon sein eigentlicher Ritt nach Bearosche, dass er zumindest dezent an dem interessiert ist, was dort passiert, allerdings denke ich, wirklich involviert ist er erst nach diesem Wutausbruch und durch Obie, welche ihn persönlich angreift und zu einer Reaktion zwingt. Dies ist meiner Meinung nach auch Grund für Gawans Ausbruch: Er erkennt, dass seine Passivität nun ein Ende hat.
3.2.5 Scherules erkennt Gawan als Ritter – Äußerlichkeiten als Hinweis auf den Status Gawans
In dieser Szene sieht der Rezipient Gawan durch die Augen von Scherules, also auf Figurenebene. Scherules sieht einen Mann „ an dem er vant kranacheite flust, /lieht antlütze und hôhe brust, / und einen ritter wol gevar. “ (361, 21-23). Im Gegensatz zu Obie erkennt Scherules Gawan sofort als Ritter. Dieses Motiv ist schon aus verschiedenen Szenen bekannt – so erkennt auch Karnahkarnanz z.B. Parzivals hohe Geburt, seinen Adel, an seinem Äußeren. Ebenso ist es bei Scherules. Er sieht Gawan und für ihn stellt sich nicht mehr die Frage, ob dieser unbekannte Mann ein Betrüger ist. Eindeutig ist er dies nicht, sondern ein Ritter von hohem Stand. Dieser Status als Ritter wird also durch sein Äußeres hergestellt oder besser erkannt. Dementsprechend wird das folgende Gespräch der beiden auf höflich-höfische Weise geführt: Scherules bietet Gawan das Gastrecht an und bietet ihm Schutz vor möglichen Anschuldigungen – welche auch noch gegen Gawan erhoben werden. Diese Unterhaltung findet im höfischen Kontext und somit als Schau idealtypischer Gesprächsführung statt. Gawan als derjenige, der den Raum betritt, wird als Gast aufgenommen und bekommt das Gastrecht geboten. Scherules bietet ihm dies an, ohne dass Gawan dies durch eine erbrachte Leistung gerechtfertigt hätte: > daz hân ich ungedienet nich: / sol iu gerne volgen doch.< (362, 7f) Im Gegensatz zu den anderen Anwesenden entbietet allein Scherules Gawan den ihm zustehenden Respekt als Ritter. Er allein ist im Stande – abgesehen von der jungen Obilot – Gawan als Ritter zu erkennen. Anscheinend erkennen sich Männer gleichen oder nahezu gleichen Ranges eher als Außenstehende. Wobei nicht ganz klargestellt ist, warum Obie Gawan nach ihrem ersten Versuch ihn zu schmähen, immer noch für einen Kaufman oder Betrüger hält oder ihn ebenfalls als Ritter erkannt hat und durch die weiteren Anschuldigungen nur ihren Geliebten Meljanz stärken will, da sie Gawan als Rivalen von Meljanz und dessen Überlegenheit in Gefahr sieht.
Die Dialoge, vor allem der mit dem Knappen, dienen primär dazu, sowohl Gawan als auch die Rezipienten zu informieren. „Die stufenweise Informationsvermittlung durch verschiedene Informanten dient dazu, die Erlebnisweise der involvierten Protagonisten nachzuahmen.“[32] Wir erfahren also, wie Gawan an Informationen gelangt und diese verwertet. Dieser wichtige Punkt der Funktion von Dialogen wird ergänzt durch „[i]dealtypische Vorführung von höfischer Gesprächskultur.“[33] Gerade die Dialoge von Gawan mit dem Knappen und Scherules zeigen diese vorbildliche Gesprächsführung und auch der Dialog mit Obilot, der im späteren noch analysiert werden wird, zeigt dies deutlich. Nicht nur Gawans Vorbildlichkeit als Kämpfer und Denker wird also durch die Konzeption der Dialoge gestützt, sondern ebenso seine Vorbildlichkeit in der höfischen Welt mit all ihren Gepflogenheiten. Durch die Gesprächsführung kreiert der Autor das Bild eines ganz und gar vorbildlichen Ritters, der nicht durch eigenes Verschulden sondern durch äußere Umstände in Kämpfe verwickelt wird, die er dann aber alle siegreich bestreitet.
3.3 Kampfmotivation – warum Gawan doch am Kampf teilnimmt
Motivationen für Handlungen und Kämpfe sind ein großes und wichtiges Thema, denn hierin unterscheidet sich Gawan grundsätzlich von allen anderen Rittern. Wo bei Parzival nahezu immer die Begründung der Kämpfe fehlt und seine einzige Motivation sein Verlangen nach Kämpfen ist, so liegt bei Gawan der Fall eindeutig anders. Er muss Begründungen haben, um zu kämpfen, und zwar fundierte. Wie Gawan an Kampfmotivation kommt, soll in Bezug auf die Kämpfe um Bearosche betrachtet werden. Ein erneuter Blick auf die Handlungs-und Kampfmotivationen Gawans ist demnach erforderlich. Schon in Kapitel zwei wurde auf Gawans Verhältnis zum strît eingegangen, hier soll dies erneut geschehen allerdings in Hinblick auf die speziellen Kämpfe in bzw. vor Bearosche.
Auffällig ist schon Gawans Einzug in die Stadt. Er durchreitet das Heer, welches vor der Stadt lagert mit den Gedanken daran, dass er in der Burg wohl sicherer wäre. Auch will er den Kampf weitestgehend vermeiden und so sucht er Zuflucht innerhalb der Mauern. „Gawan sucht keine Kämpfe. Im Vordergrund steht vielmehr die Sorge um das eigene Wohlergehen, die aber verbunden ist mit entschlossener Bereitschaft zur Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs.“[34] Gawan zeigt schon durch dieses eher passiv geprägte Verhalten, dass er nicht die Motivation für einen Kampf hat. Auch wenn für einen Ritter jeder mögliche Kampf eine Art Bewährungsprobe darstellt oder darstellen sollte, so weist Gawan diese Möglichkeiten doch oft zurück. Anders in Bearosche: Zu Beginn dieser Episode will Gawan nur wissen, was passiert, ohne jedoch aktiv involviert zu sein. Allerdings schwindet dies im Lauf der Handlung, sodass Gawan schließlich doch eingreift. Um dieses Eingreifen und die zugehörige Motivation soll es nunmehr gehen.
3.3.1 Gawan und Obilot – Der Dienst für die kleine Minnedame als Anlass zum Kampf
Gawan ist nicht in Bearosche, um zu kämpfen. Diese Haltung formuliert er selbst immer wieder und behält sie auch lange. Obwohl Lyppaut ihn wortreich und wortgewandt als Mitstreiter zu gewinnen sucht, bleibt Gawan kampfunwillig und fordert Bedenkzeit. Allerdings kann schon diese Bedenkzeit als Eingeständnis an Lyppaut gewertet werden, wie auch als Eingeständnis an Gawans Rittertum und das doch vorhandene Streben nach Kampfesruhm. Nicht umsonst beschreibt der Erzähler Gawan als jemanden, „ in strîts gedrenge man in sach. “(339, 7) Erst, als Obilot mit Gawan spricht – unter anderem auch auf Wunsch ihres Vaters, wobei sie bereits vorhatte, Gawan zum Kämpfen zu bringen – ändert sich Gawans Haltung, und er verspricht, am nächsten Tag mit zu kämpfen. Warum nun entscheidet sich Gawan erst für den Kampf, als er mit Obilot spricht? Ein Ritter und Fürst von Rang und Namen bittet ihn, und er lehnt ab. Erst dessen etwa 8-jährige Tochter nimmt Gawan das Versprechen ab, für sie zu kämpfen. Wieso schafft Obilot, was ein Fürst an ihrer Stelle nicht schaffte? Hierzu muss erneut Gawans Verhältnis zum strît bemüht werden. Wie schon erläutert, kämpft Gawan nicht, wenn es nur um reinen Gewinn an prîs geht. Zu kämpfen um des Kampfes willen ist nicht Gawans Verlangen. Er kämpft nur, wenn es keine Alternative gibt. Und doch stellt er sich hier in den Dienst einer kleinen Dame, um für diese zu kämpfen. Hier wird deutlich, was die Forschung schon für Gawan attestiert: Er kämpft entweder, wenn er gefordert wird und keinen Ausweg mehr sieht, oder wenn es um die Ehre von Frauen geht, denn „[w]enn er schließlich dennoch in die Kämpfe vor Bearosche eingreift, dann nur, um weibliche Interessen und Rechte zu verteidigen.“[35] Dieses Interesse an weiblicher Ehre bezieht sich allerdings nicht nur auf Obilot, sondern ebenso auf Obie. Diese hat zwar durch ihr Verhalten zum großen Teil mit Schuld an der Belagerung der Stadt und dem Tod vieler Männer, allerdings trägt ebenso viel Schuld Meljanz. In seinem Ärger über Obies Forderung und abweisendes Verhalten einem – ihrem – König gegenüber, und der Forderung nach fünfjähriger ritterlicher Bewährung, lässt sich Meljanz zu einem Kampf gegen seinen Pflegevater hinreißen und Stolz und Hartnäckigkeit verbieten ihm ein Einsehen. Es ist allerdings Obies Recht als Minnedame, ihrem Ritter Aufgaben aufzuerlegen, welche dieser dann zu erfüllen hat. Betrachtet man dies, so scheint Meljanz Verhalten übertrieben und Obie kann – auch aufgrund ihrer charakterlichen Dispositionen und Figurenkonzeption – nicht anders, als stur an ihrem Willen festzuhalten und die Opfer in Kauf zu nehmen. Nun tritt Gawan auf den Plan und kämpft als Obilots Ritter in der Schlacht, um ihre Ehre zu verteidigen aber eben auch die Obies – gleichsam die Ehre von Bearosche als ganzem System. Als Gawan sich entschließt, für Obilot am Kampf teilzunehmen, entscheidet er sich gleichsam auch dafür, die aus dem Gleichgewicht gebrachte Gesellschaft von Bearosche wieder ins Lot zu bringen. „Gawans Minnedienst für sie soll also nicht Selbstzweck sein, sondern im Dienst der Gesellschaft von Bearosche stattfinden.“[36] Dementsprechend fällt Gawan die Entscheidung für den Kampf nicht unbedingt schwer, denn er sieht das höhere Ziel dahinter bzw. kann dies jetzt sehen. Durch Lyppaut wurde ihm nur nochmals – denn er wusste es schon selbst – der weltliche Ruhm dieser Schlacht oder Turniers nahegebracht. Auch verweist Lyppaut auf seine Unschuld am Verlauf der Dinge. Dennoch weist Gawan ihn zurück. Dadurch, dass ihn der Kampf mit Kingrimursel bindet, sieht er keine Möglichkeit, für Lyppaut zu kämpfen. Allerdings lässt er sich die Möglichkeit offen, doch einzugreifen, bittet jedoch um Bedenkzeit: >eins dinges will ich iuch gewern:/ ich sage iu hînt bî dirre naht,/ wes ich mich drumbe hân bedâht.< (368, 6-8). Johnson spricht in diesem Zusammenhang davon, dass “Gawan […] is sorely tempted to join the imminent clash.”[37] Somit scheint es mindestens fragwürdig, ob Gawan immer Kämpfen aus dem Weg geht, die nur um Ruhmerwerb geführt werden, denn schlussendlich ist der Kampf um Bearosche ein solcher. Man kann wohl – wie Johnson es ausdrückt – von einer Versuchung für Gawan sprechen, denn schließlich ist und bleibt er ein Artusritter, der ebenso nach weltlichem Ruhm strebt. Vielleicht nicht in dem Maße, wie es andere Ritter tun, aber dennoch strebt auch Gawan danach. Gerade mit dieser Bitte um Bedenkzeit wird dies deutlich. Und um dies dem Rezipienten zu verdeutlichen, lässt der Autor Gawan hier nachdenken bzw. um Zeit bitten. Denn schließlich soll Gawan nicht als Absonderung oder Sonderform des normalen Ritters gesehen werden, sondern als Vorbild – im Gegensatz zu sonstigen Darstellungen der Gawan-Figur in anderen Werken. Keies Vorwürfe, die im sechsten Buch dargestellt werden (z.B. 299, 3-6), werden hier erneut zurückgewiesen bzw. bestätigen sich nicht.[38]
Wann entschließt sich Gawan nun, für Obilot zu kämpfen und welche Motivation steht dahinter? Im Text ist der Moment, da sich Gawan für den Kampf entscheidet, klar dargestellt und zwar durch Gawans Gedanken:
„nu dâhter des, wie Parzivâl
wîben baz getrûwt dan gote:
sîn bevehlen was dirre magde bote
Gâwân in daz herze sîn.
dô lobter dem freuwelîn,
er wolde durch sî wâpen tragen.“ (370, 18-23)
Dass der Autor hier genauen Einblick gibt, warum Gawan sich entscheidet zu kämpfen, ist ein wichtiger Punkt. Dadurch erfährt nämlich der Rezipient ganz genau, warum Gawan es tut: nicht um der Ehre Willen oder des Ruhms, sondern für die kleine Obilot. Nur für sie zieht er in den Kampf. Hier tritt ein weiterer wichtiger Aspekt der Gestaltung der Gawan-Figur zu Tage: Für die Ehre von Frauen zieht Gawan immer in den Kampf. Minne und Frauen nehmen bei ihm einen unglaublich hohen Stellenwert ein, wie diese Szene zunächst mit Lyppaut und dann mit Obilot zeigt. Obwohl „der konkrete Bezug ritterlicher Kämpfe auf eine bestimmte Frau […] zwangsläufig einen Verlust in der allgemein-gesellschaftlichen Bedeutung des speziellen Kampfes nach sich [zieht]“[39], kämpft Gawan doch lieber für Frauen als um der eigenen Ehre willen. Dies wird ihm – und das zeigt erneut die neue Gestaltung der Gawan-Figur – vom Erzähler nicht negativ ausgelegt. Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang noch von Bedeutung: Gawan zeigt hier zusammen mit Obilot eine vorbildliche Minnepartnerschaft. „Die Begegnung mit Obilot ist für Gawan ein Kavaliersdienst, bei dem er beweist, dass er die Formen höfischer Minne ernst nimmt“[40] und auch beherrscht. Auch wird in dieser Beziehung die Wertigkeit der Minne und Minnebeziehung aufgetan. Wolfram konzipiert hier eine Beziehung, die auf völliger Gleichwertigkeit der beiden Partner basiert – immerhin sind sie eins, wie Obilot sagt. Ein weiterer Aspekt der Gestaltung der Gawan-Figur ist also dessen Verhältnis zu Frauen und zur Minne. Der eigentlich ausschlaggebende Faktor für Gawans Eingreifen besteht jedoch im Rollentausch Obilots und Gawans, welcher im Folgenden untersucht wird.
3.3.2 Der Rollentausch Obilots und Gawans als Gawans Möglichkeit zum Kampf
Entscheidend für Gawans Eingreifen ist Obilot und ihr Geschick in der Diskussionsführung. Indem sie Gawan und sich eins werden lässt, gewinnt sie seine Zusicherung, für sie zu kämpfen. Durch diese einfachen Worte erreicht sie Gawan:
>wande ich dâ ziu mîn selber bat.
ir sît mit der wârheit ich,
swie die namen teilen sich.
mîns lîbes namen sult ir hân:
nu sît maget unde man.< (369, 16-20)
Indem Obilot hier Gawan und sich verbindet, gleichsam ihre Identität mit der seinen verschmilzt, verbindet sie auch ihre Ziele mit denen Gawans. Obilot möchte Frieden haben in Bearosche, Frieden für Obie und Meljanz und vor allem für ihren Vater. Indem sie also von Gawan fordert, für sie und in ihrer Person zu kämpfen, fordert sie ebenso Frieden für sich und Ehrrettung für den Vater. „Diese kindliche Identitätsformel ermöglicht es Gawan, als Obilot, deren Ärmel er als Verpflichtungszeichen trägt, in den Kampf einzugreifen.“[41] Gawan, im Zwiespalt zwischen Kampf oder Abwarten gefangen, hat nun eine Möglichkeit gefunden, am Kampf teilzunehmen. Das Außergewöhnliche ist: Nichts, was er ab jetzt tun wird, hat Auswirkungen auf ihn selbst oder seinen Ruhm, denn er kämpft als Obilot. Indem er als seine Identität für kurze Zeit aufgibt und eine andere annimmt, wird er in die Lage versetzt, in Bearosche helfend einzugreifen. “Gawan has finally found a pretext […] to do what he really wanted to do all along.”[42] Aber sucht er wirklich nach Kampf? Ist es nicht vielmehr so, dass Gawan hier eingreift, da er sowohl die Ehre der Damen als auch das Gleichgewicht der Gesellschaft ernsthaft in Gefahr sieht, wenn er nicht eingreift? Für mich ist es weniger der innere Drang, sich in Kämpfen zu beweisen als derjenige, Harmonie zu stiften und den Streit beizulegen. Wie schon erwähnt, sind Kämpfe für Gawan dann akzeptabel, wenn sie zum einen der einzige mögliche Ausweg sind und zum anderen, wenn sie eine soziale Funktion haben. Über den einzigen möglichen Ausweg lässt sich natürlich diskutieren. Anstelle des Kampfes hätte Gawan natürlich zum Gespräch laden können, um die Zwistigkeiten ohne Streit und Kampf beizulegen. Dies ist aber nur eine scheinbare Alternatise. Er lädt nicht zum Gespräch, sondern reitet in den Kampf, um ein paar der wichtigsten Anführer und Meljanz selbst zu besiegen, ihre sicherheit zu nemen[43] und diese so von sich abhängig zu machen. In dieser Hinsicht ist dies ein kluger Schachzug, der Gawan die Treue Meljanz‘ garantiert, welche er braucht, um final Frieden zu stiften. Somit sollte man davon ausgehen, dass über der möglichen Freude am ritterlichen Kampf, welche u.a. Johnson und Mohr attestieren, noch mindestens der strategische Grund des sicherheit nehmen in Gawans Kampfmotivation immens hineinspielt.
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass Gawan immer noch unerkannt ist. Er ist und bleibt der unbekannte Ritter. In der Gestaltung der Figur ist dies ein ebenfalls wichtiger Punkt. Dass Wolfram seinen Helden hier unerkannt bleiben lässt, eröffnet diesem die Möglichkeit, seine eigene Identität ruhen zu lassen, um zeitweise eine andere anzunehmen.
3.4 Friedensstiftung: Gespräch statt Kampf
Eine weitere Unterhaltung ist von Belang für den erfolgreichen Abschluss dieser ersten Gawan-Partie: das `Abschlussgespräch` zwischen Gawan, Meljanz, Obie, Obilot und Lyppaut. In diesem Gespräch werden die letzten Konflikte beigelegt bzw. derjenige Konflikt, der als Initialkonflikt die Gesellschaft von Bearosche aus dem Gleichgewicht brachte – der Streit zwischen Obie und Meljanz. Dieser Streit ist grundlegend für das Ungleichgewicht, welches in Bearosche herrscht und Gawan ist nun derjenige, der dieses Ungleichgewicht wieder ins Gleichgewicht bringt. Indem er die Unterhaltung der Beteiligten leitet und führt, schafft er es durch die Unterstützung Obilots, die Situation zum Besseren zu wenden. Mohr beschreibt dies so:„Gawan ist ein Ritter, durch dessen pures Dabeisein die Welt, wo er auch hinkommt, menschlicher wird.“[44] Das bedeutet in diesem Fall, dass Meljanz Obie als die verletzte Frau sehen kann, die sie in diesem Moment ist und dass wiederum Obie Meljanz richtig sehen kann als jemanden, der sie liebt und schlussendlich beide in der Lage sind, ihren Zorn ruhen zu lassen (396, 21-30). Die Figur Gawan demnach ist so konzipiert, dass er eine erhellende Wirkung auf die anderen Figuren zu haben scheint. Indem er an entscheidenden Stellen der Unterhaltung eingreift, fördert er eine Einigung. Dieses Geschick der Gesprächsführung ist unter anderem grundlegendes Gestaltungselement dieser Figur. „Wolfram hat […] Gawans Fähigkeit, Gegensätze zu überwinden, Konflikte zu lösen und Menschen miteinander zu versöhnen, zum Zentrum seiner Gawan-Konzeption gemacht.“[45] In diesem Punkt ist Bumke nur zuzustimmen. Die Gestaltung der Gawan-Figur läuft darauf hinaus, einen Ritter darzustellen, der mit sich selbst, den Konventionen des Hofes sowie der äußeren Welt im Einklang steht und Schwankungen, Ärgernisse und Ungleichgewichte beheben kann– und zwar deshalb, da er sich über diese Dinge im Klaren ist und sie erkennen kann.
Die Unterhaltung, die schließlich im Frieden endet, ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen wird Meljanz als Herrscher vorgeführt, der gegen seinen treuen Vasallen einen unbegründeten Krieg führt. In der Ehrerbietung, die Lyppaut ihm durch seine Abwesenheit zeigt und dadurch, dass Scherules beim Essen hinter ihm steht, wird dies deutlich. Die Figuren verhalten sich alle ihrem Stand entsprechend gegenüber Meljanz – nur Gawan findet dies übertrieben, da er sieht, dass Meljanz diese Ehren eigentlich nicht verdient hat. Immerhin ist er gegen seinen Pflegevater in den Kampf gezogen, nur um dessen älterer Tochter zu imponieren. Gawan artikuliert dies auch indem er Scherules bittet, doch während des Essens Platz zu nehmen (391, 17-19). Eins der wenigen Male wird hier nicht auf Gawans Rat gehört. Die hier artikulierte Kritik am Verhalten der anwesenden Ritter, ist insoweit interessant, als dass sie von Gawan kommt. Er, der sich so gut in höfischen Konventionen auskennt und diese achtet, fordert hier von Scherules, genau dies nicht zu tun, sich über höfische Regeln hinwegzusetzen und Meljanz die Ehrerbietung zu versagen, alleine als Erster zu speisen. Warum kann er von Scherules fordern, sich über die Konventionen hinwegzusetzen? Gawan kann diese Forderung stellen, da er über ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein verfügt. Wolfram konzipiert Gawan so, dass dieser andere Figuren und vor allem Rechtslagen einschätzen kann und, dass durch Gawans reine Anwesenheit andere Figuren auch fähig scheinen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Allerdings ist hier Konvention stärker als Gawans Ansichten. Scherules und Meljanz stehen somit in einem gespannten Verhältnis zueinander. Dennoch: auch wenn Scherules hier nicht auf Gawan hört, so zeigt er durch seine Ehrerbietung gegenüber Meljanz, dass er dessen Fehlverhalten nicht durch eigenes unterstützen will. Durch die Ehrerbietung weist er Meljanz offen zurecht: Obwohl sich Meljanz nicht als guter Herrscher und König erwiesen hat, bekommt er dennoch die ihm gebührende Ehre erwiesen. Doch dieser weist den größten Teil der Schuld von sich und auf Obie zu. Damit Scherules und Meljanz an diesem Punkt nicht in ein Streitgespräch verfallen, muss Gawan intervenieren: „ dô sprach der werde Gâwân / > hie wirt ein suone getân,/ die niemen scheidet wan der tôt. <“ (392, 17-20). Da Gawan hier eingreift, kann die Situation nicht weiter eskalieren, da er das friedliche Ende der Kämpfe schon als Tatsache festhält. „Gawans rasche Intervention stellt beide Parteien praktisch vor vollendete Tatsachen.“[46] Erneut beweist Gawan hier sein Gespür für kluge Gesprächsführung. Indem er die Figuren vor diese vollendeten Tatsachen stellt, nimmt er ihnen die Motivation, den Streit eskalieren zu lassen. Im weitergehenden Gespräch mit den anderen im Palas bestätigt sich dies nochmals. Meljanz‘ Verweigerung des Friedenskusses von Obie ist zunächst spannungssteigernd. Die Gesprächsatmosphäre ist sofort angespannt. Gawan jedoch wirkt dort entgegen, indem er einfach auf einen anderen Punkt eingeht, nämlich den, dass er Meljanz sicherheite (395, 26) an Obilot überträgt. Dies ist ein äußerst geschickter und durchdachter Gedankenzug, denn so kann der Konflikt durch die Figuren in Bearosche selbst geklärt werden und Gawan als Außenstehender hat nunmehr nur noch eine anleitende Funktion.
Schon vorher hat Gawan Scherules zu Obilot geschickt; zum einen, um sie wieder zu sehen, zum anderen aber auch, um sich zu verabschieden. Auch erwähnt er den Rollentausch gegenüber Meljanz, dass Obilot ihn gefangen nahm und nicht Gawan. Hinzu kommt noch, dass er sie dazu anhält, sich zu überlegen, was sie mit Meljanz machen will. Dies ist ausschlaggebend für die folgende Friedensstiftung: da durch den Rollentausch Obilot als Ritter kämpfte und nicht Gawan als er selbst, kann auch nun Obilot den Frieden stiften – natürlich nur möglich durch Gawans Taktieren. „Gawan [handelt] anders als man es erwarten würde, weil er sich in sein Gegenüber hineinversetzen kann. Dadurch humanisiert sich sein Verhalten.“[47] Hier bestätigt sich wieder der grundlegende Gestaltungscharakter der Gawan-Figur: Er ist einfühlsam und zurückhaltend und dadurch spricht er die andern Figuren an. Er ist keine Bedrohung oder erzwingt Entscheidungen, sondern durch sein umsichtiges, planendes Handeln und Reden überzeugt er. Indem er die Figuren so aufstellt, dass sie sich miteinander auseinandersetzen müssen, erreicht er, dass sie sich versöhnen. Gawan setzt völlig auf die Macht von Worten und Gesprächen – was er auch muss, denn „[d]iese Szene zeigt neben der gesellschaftlichen Relevanz des Streites zwischen Obie und Meljanz, dass der Konflikt durch Kampf allein noch nicht gelöst ist und auch nicht gelöst werden kann.“[48] Hier muss also Gawan durch sein Verhandlungsgeschick eingreifen und er bezieht Obilot in konkreter Weise mit ein: Durch sie wird der Friedensschluss besiegelt („ got ûz ir jungen munde sprach “: 369, 19).
Durch diese Szene wird erneut deutlich, um wie viel anders das Gawan-Bild Wolframs gegenüber anderen Artusromanen ist. „Es beginnt sich somit bereits in Buch VII ein neues Heldenbild herauszubilden, das sich stark von der traditionellen Rollenerwartung abhebt, in der Kampftüchtigkeit das grundlegende Wesensmerkmal eines vorbildlichen Ritters darstellt.“[49] Dies klingt vor allem schon in der Blutstropfenszene an, in der Gawan unbewaffnet zu Parzival hinausreitet und so ein Kampf nicht in Frage kommt. Hier allerdings ist der Kampf nötig, er hat eine Begründung und von daher ist Gawan bereit dazu. Allerdings zeigt sich deutlich, dass das anschließende Gespräch ebenso notwendig ist, um final den Konflikt zu lösen. Dazu erfolgt ein weiterer Rollentausch und zwar spricht nun Obilot als Gawan, denn diese führt schlussendlich den Frieden herbei, indem sie – wie von Gawan erwartet – so agiert, dass Obie und Meljanz sich wieder aneinander annähern und den gegenseitigen Zorn aufeinander aufgeben können. Obilot gibt Meljanz in die Hände von Obie: „ sult ir si hân durch ritters prîs:/ zeim hêrren und zeim amîs/ sol iuch immer gerne hân./ ine wils iuch dwederhalb erlân “(396, 15-18). Obwohl Obilot noch sehr jung ist, schafft sie es durch Menschlichkeit ihre Schwester mit Meljanz zu versöhnen. Allerdings spricht aus ihr nicht sie selbst, sondern Gawan, denn die beiden verbindet immer noch, dass sie die Identitäten getauscht haben. Somit ist „der Figur Obilots […] eine andere Funktion zugewiesen, die weniger mit einem neuen Weiblichkeits-als vielmehr mit einem neuen Männlichkeitsentwurf zu tun hat.“[50] Auch hier wird also durch Wolfram sein neues Bild des Helden, des Ritters weitergetrieben. Gawan hat in dieser Szene als Katalysator zwischen den verfeindeten Parteien den Frieden mithilfe Obilots geschaffen, und somit die Gesellschaft um Bearosche wieder ins Gleichgewicht gebracht. „Nur durch Gawans ‚ritterschaft‘ wird es möglich, sowohl Meljanz‘ als auch Obies Interessen zu wahren und sie harmonisch miteinander zu verbinden. Dies geschieht durch Obilot, deren Ritter Gawan ist.“[51] Was deutlich wird und werden soll in der Gestaltung der Figur ist demnach Folgendes: Kampf kann notwendig sein, um Konflikte zu lösen, kann aber nicht alleine für eine friedliche Lösung, bei dem keinem ein Leid widerfährt –schon gar nicht den Frauen–, garantieren. Für diese Lösung braucht es immer Gespräche und die führt Gawan so, wie er auch den Kampf angeführt hat. Das Bild Gawans wird also durch diese Szene noch verfeinert, indem sie zeigt, dass er als Ritter seine Aufgaben kennt, diese wahrnimmt, aber anders als andere stets darauf bedacht ist, niemandem ein Leid zuzufügen.
3.5 Gauvain in Tintaguel – Ein Vergleich
Allgemein sei zu sagen, dass bei Chretien die erste Gauvain-Partie viel kürzer ist als bei Wolfram. Bei Chretien fallen 841 Verse an, bei Wolfram sind es 1770 Verse, also 929 mehr. Ein Vergleich der Handlung und deren Ausarbeitung, besonders in Hinblick auf die Hauptperson Gawan, ist also sowohl sinnvoll wie lohnenswert. Zunächst einmal soll ein grober Vergleich der Handlung Unterschiede deutlich machen. Hierbei werde ich auf Kürzungen und Ausgeweitetem seitens Wolframs eingehen. „Chretien steht der Geschichte und ihren Personen gegenüber, Wolfram lebt in der Geschichte und den Menschen. […] Chretiens Kunst ist eine Kunst des Weglassens und des rechten Maßes, Wolfram nimmt hinein und entfaltet.“[52] Wie schon die Anzahl der Verse deutlich zeigt, hat Wolfram die Vorlage Chretiens deutlich ausgeweitet und mit vielen neuen Aspekten versehen. Nicht nur für die Gestaltung der Figuren hat er mehr Verse verwendet, sondern auch auf die Geschehnisse an sich. „Chretien lässt alles weg, was für den Erzählweg, auf den er seinen Helden führt, keine Funktion hat.“[53] Emmerling bemerkt dazu: „Sein Interesse gilt allein dem Artusritter.“[54] Somit wird die Erzählung auf wichtige Punkte und Szenen beschränkt, wie z.B. das Streitgespräch der Schwestern, welches ungleich viel Raum einnimmt, und, anders als bei Wolfram, auch Mittelpunkt der Erzählung um Tintaguel ist. Chretien lässt Gauvain auf geradem Weg, zielgerichtet und ohne Zweifel sein Ziel in Tintaguel finden. Gauvain bleibt auch nichts anders übrig als in die Stadt zu reiten, denn alle anderen Wege sind versperrt. Wo Gawan also im Zweifel ist, ob er sich in Bearosche einmischen soll oder nicht, bleibt Gauvain keine Wahl: Will er zu seinem Treffen mit Guigambresil, so muss er durch Tintaguel reiten. Ebenso unterscheidet sich die Atmosphäre, die geschaffen wird. „Bei Chretien de Troyes ist Gauvains Aufenthalt in Tintaguel […] eine locker erzählte Zwischenepisode, deren Funktion vor allem in der Einführung Gauvains als eines vorbildlichen und kampftüchtigen Ritters liegt.“[55] Wolfram hingegen spinnt auf dieser Grundlage ein Netz neuer Details hinzu. Die Figuren – die bei Chretien allenfalls im Hintergrund auftreten und wenig an Figurenzügen und Besonderem an sich haben – werden bei Wolfram ausgearbeitet, mit Funktionen versehen und aktiv ins Geschehen eingebunden. Somit dient bei ihm diese erste Gawan-Partie nicht nur als Einführung des zweiten Helden, sondern vielmehr ist sie angereichert durch Konflikte und somit spannungssteigernd. Gauvain bricht nach Tintaguel auf und trifft auf eine Gruppe von Rittern. Schon hier wird die erste Erweiterung Wolframs auffällig: Gawan trifft nicht nur chevaliers (4817), sondern auf ein her (340, 23). Auch wird bei Wolfram viel Zeit darauf verwendet, dieses Heer zu beschreiben, wobei der Schwerpunkt nicht auf den Kämpfern liegt, sondern dem Gefolge aus market (341, 16) und trippâniersen (341, 23). Insgesamt verwendet er knapp 30 Verse auf die Beschreibung, die bei Chretien denkbar kürzer ausfällt: er ist nach einem Vers fertig. Diese Art der Ausweitung lässt sich immer wieder beobachten. Ob es sich um die Beschreibung der Kampfszenen handelt oder die Beschreibung der Charaktere – hier insbesondere Obilot –, auffällig ist Wolframs Bemühen, viel mehr Details einzuarbeiten. Wo Chretien anscheinend ‚simplere‘ Wege bevorzugt, baut Wolfram auf dieser Grundlage immens aus. Die Figuren bekommen mehr Tiefe und gerade bei den Kämpfen holt Wolfram mehr aus als Chretien. Dieser beschränkt sich darauf, Gauvain als siegreichen Ritter darzustellen, der Meljanz besiegte und vier Pferde in Kämpfen erbeutet, welche er alle verschenkt. Bei Wolfram werden die Kampfbeschreibungen nahezu deckend berichtet, mit ungemeiner Detailliertheit. Gawan wird als Kämpfer präsentiert, der in vielen Kämpfen siegreich bleibt: „ waz er dâ ritter nider stach,/ und waz er starker sper zebrach,/ der werden tavelrunder bote! “ (380, 9-11). Einblicke in Taktiken Gawans (381, 21-30) lassen das ganze Geschehen plastischer wirken. Gawans Einzelkämpfe werden ausführlich beschrieben und zeigen ihn als eindeutig überlegenen Kämpfer: sowohl gegen Lysavander, Laheduman, Meljanz und Meljacanz ist er siegreich. Auch hier werden wie bei Chretien vier Kämpfe genannt, allerdings erfährt der Rezipient bei Wolfram die Namen, und die Kämpfe sind eingebettet in eine Schlacht, wo sie bei Chretien eher Turnier-denn Schlachtcharakter haben. Auch sind deutliche Unterschiede in der Haltung gegenüber den Kämpfen zu beobachten: Wo Gawan sich die Kämpfe einfach nur anschaut und mehr darauf bedacht ist, sich herauszuhalten, muss Gauvain sich sehr zurücknehmen, denn „der Eindruck von Meliants tüchtigen Taten, die Stichelreden der Damen auf der Burg reizen Gauvain vollends zum Mitmachen.“[56] Gauvain muss sich den sofortigen Kampfantritt vielmehr ausreden, indem er sich vorhält, dass er im schlimmsten Fall gefangen genommen werden könnte oder eine Verletzung erhält, die ihm das Wahrnehmen seines Termins bei Guigambresil nicht möglich machen würde. Die Darstellung dieser Kämpfe zeigt, dass Wolfram sehr viel Wert auf das Ganze der Episode legt. Anders als Chretien schöpft er aus einem großen Fundus an Beschreibungen und Zusatzinformationen. Hier wird nicht nur dargestellt, was dem Helden dient, sondern darüber hinaus was der Geschichte um Bearosche dient und somit der Gestaltung der einzelnen Figuren – insbesondere Gawan. Dadurch, dass Wolfram die Szenen in Bearosche so ausweitet und die Schwerpunkte deutlich anders setzt, als Chretien es tut, gibt er Gawan neue Züge. Er gestaltet die Figur fundamental anders und zwar in Richtung eines reflektierend planenden Ritters, der Kämpfen kritisch gegenüber steht, da er die vielen negativen Konsequenzen erkennen kann.
Hinzu kommt bei Wolfram noch eine weitere Komponente: Gott. Gawan zeigt seinen Glauben und ebenso wird durch textinterne Bezüge dieses Verhältnis hervorgehoben. Anders als bei Gauvain ist der Bezug zu Gott relativ dicht. Bevor Gawan in den Kampf vor Bearosche zieht, besucht er die Messe. „ ein pfaffe in eine messe gap./ der sanc se beide got unt in:/ dô nâhte ir werdekeit gewin. “ (378, 24-26). Im Gegensatz zu Parzival hegt Gawan nie Zweifel gegenüber Gott. Im Gegensatz zu Gauvain spielt er für Gawan eine Rolle. „In Gawans Tun kommen hervorragende Qualitäten und göttliche Gnadenkraft zusammen.“[57] Ohne den Beistand Gottes, so könnte man folgende Verse interpretieren, kann Gawan nicht das tun, was ihm bestimmt ist: „ durch der sêle âventiur/ und durch is s ælden urhap “ (379, 22f). Dies wird während den Kämpfen auch ausgedrückt, indem gesagt wird: „ het er die kraft niht von gote,/ sô w ær dâ prîs für in gegert. “(380, 12f). Durch diese Verweise auf Gottes Beistand für Gawan wird indirekt eine weitere Begründung für den Kampf geliefert: Es ist durch Gott gewollt, dass Gawan hier siegreich ist, denn er unterstützt ihn mit Kraft. Dies wird gestützt dadurch, dass auch der letzte Konflikt in Bezug auf Gott gelöst wird: Obilot spricht wie mit Worten Gottes: „ got ûz ir jungen munde sprach “ (369, 19). Dieser Aspekt der Gestaltung Gawans dient erneut dazu, ihn in Kontrast zu den übrigen Rittern und vor allem in Kontrast zu Parzival zu setzen. wo Parzival Gott hasst, da vertraut Gawan. Sein Vertrauen wird auch nie erschüttert oder ändert sich im Lauf der Erzählung. Er ist eine Konstante in Gawan und somit auch Teil des neuen Ritterbildes von Wolfram: Durch Beständigkeit im Glauben erhält ein Ritter, hier eben Gawan, die Kraft, um wichtige Handlungen vollbringen zu können.
Ebenfalls interessant ist der Vergleich des Verhältnisses Obilots zu Gawan und Gauvain. Zunächst sei bemerkt, dass Chretien ihr keinen wirklichen Namen sondern nur einen Spitznamen – „ La Pucele as Mances Petites “ (4989)– gibt. Bei Wolfram indes ist Obilot ein Mädchen, das sehr wohl schon weiß, wie es sich als werdende Minnedame und Dame des Hofes zu verhalten hat, wie in den Gesprächen deutlich wird. Bei beiden ist Obilot diejenige, die Gawan dazu bringt, doch zu kämpfen. Allerdings schafft sie dies auf unterschiedliche Weise: Bei Chretien durch ihre kindliche Art nach Genugtuung fragend, aufgrund der ungerechtfertigten Schläge der Schwester und bei Wolfram aus dem Minnediskurs heraus, indem sie ihn als ihren Ritter bestimmt – allerdings mit dem primären Ziel der Herstellung der gesellschaftlichen Ordnung und dem Verhältnis zwischen Obie und Meljanz. Gauvain ist erfreut über die Kindlichkeit Obilots. „Dass er das Spiel [der Kleinen] ein bisschen mitspielt aus echter Freude an der Kindlichkeit der Kleinen und weil er selbst Lust zum Turnieren hat – dass ihm ein Pflicht-Vorwand willkommen ist, damit er seiner Neigung frönen darf– das macht die Sache auf anmutige Weise menschlich.“[58] Deutlich wird auf jeden Fall, dass Obilot bei Wolfram ein viel ausgearbeiteter Charakter ist als bei Chretien. Zusammen mit Gawan vollführt Obilot die Versöhnung, wo es bei Chretien viel einfacher von statten geht. Bei ihm muss nicht taktisch klug ein Gespräch geführt werden und durch symbolische Übergaben die Liebe zwischen den beiden Streitenden wieder hergestellt werden.
Ein weiterer Unterschied der beiden Darstellungen der Gawan-Figur ist Folgender: Bei Chretien wird Gauvain nach seinem Namen gefragt (5615-5625), bei Wolfram bleibt er anonym. Das Gauvain seinen Namen kundtut – und dies erklärt er selbst– liegt daran, dass er danach gefragt wurde. Von sich aus sagt er ihn nicht, verheimlicht ihn aber auf Nachfrage auch nicht. Wolframs Gawan wird weder nach seinem Namen gefragt, noch steht das Thema seiner Identität im Mittelpunkt. Es ist auch nicht weiter von Belang. Ohne, dass die Figuren wissen, wer Gawan ist und somit bestimmte Eigenschaften oder Ansichten mit ihm assoziieren, betrachten sie ihn unvoreingenommen und so kann der Rezipient mehr über Gawans Wirkung erfahren. Wolfram gestaltet Gawan so, dass er auch ohne den Ruhm, den sein Name allein schon mit sich bringt, in Bearosche bestehen kann und durch seine ihm eingeschriebenen Qualitäten überzeugt. Gawan kämpft nicht für sich und behält nichts für sich. Er kämpft nicht einmal als er selbst. Alles geschieht im Dienste Obilots und der Gesellschaft von Bearosche. Somit zeigt er Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft und durch die Tatsache, dass Wolfram ihn anonym bleiben lässt, können diese Eigenschaften und Qualitäten herausgestellt werden. Andererseits behält auch Gauvain keine Beute, allerdings stellt Wolfram Gawans Qualitäten deutlicher in den Vordergrund.
Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass Chretien in seiner Ausarbeitung der Gauvain-Figur ganz andere Schwerpunkte setzt als Wolfram. Bei Gauvain ist die Abneigung gegenüber dem strît nicht so ausgeprägt und Gauvain erscheint auch nicht als derjenige, der überlegen nachdenkend Situationen überschaut um anschließend durch Gespräche Lösungen herbei zu führen. Gauvain ist noch eher der Artusritter, den man erwartet: er kämpft gerne – vor allem für Frauen, und dies auch ohne Lohn. Anders bei Gawan. Für ihn müssen Kämpfe in jedem Fall begründet sein. Auch im Verhältnis zu Obilot zeichnen sich Unterschiede ab. Bei Chretien ist es mehr der Spaß an der Kleinen, welcher Gauvain zuzüglich zum Spaß am Kampf zum teilnehmen animiert. Gawan hingegen muss von Obilot erst überzeugt werden, bis er ihr verspricht zu kämpfen. Insgesamt zeichnet sich das Bild von Gawan auch in dieser ersten Partie anders, als es Gauvains Bild tut. Was schon in der Blutstropfenszene anklingt, bestätigt sich somit hier nochmals.
[...]
[1] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S.240
[2] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S.238
[3] Vrgl: Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. S. 159: „Bei Wolfram ist diese Handlungsfolge so verändert, daß Gawan als der überlegen Planende und selbstständig Handelnde erscheint.“
[4] Vrgl. Mohr: Obie und Meljanz. S. 108 „Gawans Hauptaufgabe ist die Erlösungstat wie die Parzivals; Schastel Marveille ist seine Gralsburg.“
[5] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 239
[6] Ebd. S. 239
[7] Sieverding: Der Kampf bei Hartmann und Wolfram.. S. 226
[8] Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 145
[9] Dallapiazza: Wolfram von Eschenbach: Parzival. S. 113
[10] Scheuer: wîsheit. Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen. S. 86
[11] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S.242
[12] Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 185
[13] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S.244
[14] Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 185
[15] Ebd. S. 150
[16] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 241
[17] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 242
[18] Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 80
[19] Johnson: Parzival and Gawan. Their Conflict of Duties. S. 99
[20] Ebd.. S. 100
[21] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S.253
[22] Urscheler: Kommunikation. S. 289
[23] Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters II. S. 105
[24] Urscheler: Kommunikation in Wolframs>Parzival<. S. 148
[25] Mohr: Obie und Meljanz. S. 99
[26] Urscheler: Kommunikation in Wolframs>Parzival<. S. 151
[27] Ebd. S. 258
[28] Vrgl. Emmerling: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des >> Parzival<<. S. 13
[29] Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 153
[30] Emmerling: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des >> Parzival<<. S. 14
[31] Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 157
[32] Urscheler: Kommunikation: S. 289
[33] Ebd. S. 288
[34] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 242
[35] Ebd. S. 249f
[36] Emmerling: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des >> Parzival<<. S. 23
[37] Johnson: Parzival and Gawan. Their Conflict of Duties. S. 101
[38] Vrgl. Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 167: „In Wolframs Dichtung wird dieses traditionelle Gawan-Bild […] anzitiert, wenn Keie Gawan vorwirft, dass er sich stets lieber an Frauen gebunden habe als sich in ritterlichen Kämpfen zu bewähren. “
[39] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 226
[40] Emmerling: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des >Parzival<. S. 30
[41] Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters II. S. 106
[42] Johnson: Parzival and Gawan. Their Conflict of Duties. S. 102
[43] Vrgl. Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 185: „Die ritterliche Gesellschaft versucht, der Tötungsgefahr durch ritualisierte Unterwerfungsformen (sicherheit nemen) entgegen zu wirken.“
[44] Mohr: Parzival und Gawan. S. 79
[45] Bumke: Wolfram von Eschenbach. S. 151
[46] Urscheler: Kommunikation. S. 266
[47] Dallapiazza: Wolfram von Eschenbach: Parzival. S. 113
[48] Emmerling: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des >Parzival<. S. 17
[49] Ebd. S. 17
[50] Ebd. S. 32
[51] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 253
[52] Mohr: Obie und Meljanz. S. 106f
[53] Ebd. S. 98
[54] Emmerling: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des >Parzival<. S. 8
[55] Ebd. S. 8
[56] Mohr: Obie und Meljanz. S. 96
[57] Sieverding: Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 255
[58] Mohr: Obie und Meljanz. S. 98
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2010
- ISBN (PDF)
- 9783956848759
- ISBN (Paperback)
- 9783956843754
- Dateigröße
- 1 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Ruhr-Universität Bochum
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,6
- Schlagworte
- Mediävistik Figurenanalyse Gauvain strît und wîsheit Ritter