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Grimm, Disney und die Wandlung der Geschlechterrollen: Eine Gender-Studie zwischen Märchenbuch und Zeichentrickfilm

©2013 Bachelorarbeit 57 Seiten

Zusammenfassung

Die Märchen der Brüder Grimm - bereits seit 200 Jahren kennen und lieben sowohl Kinder als auch Erwachsene die Geschichten von Schneewittchen, Aschenputtel und Co. Seit dem letzten Viertel dieser 200 Jahre bestimmen dabei oftmals die Gesichter aus den Märchenadaptionen des amerikanischen Filmemachers Walt Disney die Vorstellungen von schönen Prinzessinnen und tapferen Prinzen. Vor dem Hintergrund der weiblichen Emanzipationsbewegung kommt hinzu, dass beispielsweise eine zurückhaltende, träumerische Cinderella von einer Bratpfannen schwingenden Rapunzel abgelöst wurde. Der Inhalt der Märchen bzw. Märchen-Adaptionen beinhaltet nicht mehr nur konventionell gehaltene Rollenbilder, sondern trumpft auf mit handlungsaktiven Prinzessinnen und zum Teil unsicheren Prinzen. Die vorliegende Studie möchte zeigen, wie es zu dieser Wandlung gekommen ist und untersucht, ob sie ausschließlich progressiv zu bewerten ist oder ob dabei auch mögliche Gefahren festzustellen sind.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


genutzt wird, ,,denn sonst heisst es ja prinz".
5
,,Eben dieses gilt von dem Worte Königstochter",
6
gibt das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart nach Johann Adelung er-
gänzend an.
Anhand der Märchentexte soll analysiert werden, was über das Aussehen der Protagonistinnen ge-
sagt wird und wie andere Figuren im Märchen auf sie reagieren. Ein ebenfalls interessanter Aspekt
wird sein, wie die Protagonistinnen handeln und wie sie von ihrer Umwelt behandelt werden. Spie-
geln die Protagonistinnen das weibliche Rollenverständnis des 19. Jahrhunderts wider oder setzen
sie sich darüber hinweg? Ähnliche Fragen sollen geklärt werden, was die Figur des Protagonisten
betrifft. Inwiefern sind die Protagonisten in den ausgewählten Grimmschen Märchen tatsächlich
Helden in dem Sinne, dass sie das Motiv eines Retters und Beschützers erfüllen? Sind sie absolut
notwendig zum Glück der Protagonistin? Auch hier soll wieder geprüft werden, inwieweit die Be-
schreibung der Protagonisten mit dem männlichen Rollenverständnis des 19. Jahrhunderts überein-
stimmt.
Auf dieser Basis kann dann die Analyse der Disney-Filmadaptionen beginnen.
Die Reihenfolge der einzelnen Untersuchungen zu den fünf ausgewählten Märchen entspricht in der
Regel der Reihenfolge, in der die Disney-Filmadaptionen veröffentlicht wurden: 1937 erschien
Schneewittchen und die sieben Zwerge, 1950 wurde das Märchen Aschenputtel unter dem engli-
schen Namen Cinderella
7
veröffentlicht. 1959 zeigte man Dornröschen das erste Mal in den Kinos.
50 Jahre lang gab es dann keine Adaption der Grimmschen Märchen mehr. Erst 2009 wurde mit
Küss den Frosch wieder ein Film herausgegeben, der von dem Grimmschen Märchen Der Frosch-
könig inspiriert ist. Diesem folgte 2010 Rapunzel ­ Neu verföhnt, die bisher letzte Disney-Märchen-
adaption. Die Analyse der Filmadaptionen soll vor dem Hintergrund der Märchenoriginale gesche-
hen. In einem Überblick werden die Ausgangssituation, der Handlungsverlauf und das Ende der
Märchentexte und der Filme verglichen. Ähnlich wie zuvor bei den Märchen soll dann untersucht
werden, wie die Protagonistinnen im Film äußerlich wahrgenommen werden, wie die wichtigsten
Märchenfiguren jeweils handeln, was sie sprachlich zum Ausdruck bringen und was die Lebensziele
der Protagonistinnen sind ­ jeweils immer im Vergleich zum Märchentext und unter dem Aspekt, in
welchem Maße die verschiedenen Gesichtspunkte ein emanzipiertes Bild der Märchenfiguren wie-
dergeben. Neben dem Vergleich von Märchentext und Filmadaption wird dabei auch immer ein Ver-
gleich zwischen den Filmen an sich angestellt werden. Es soll überprüft werden, ob eine Tendenz
5 Deutsches Wörterbuch. Hg. v. Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm. 33 Bde. Leipzig 1873. Bd. 5.
6 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart: ,,Der Königssohn". http://lexika.digitale-
sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009132_6_1_1879 (01.10.2013).
7 Das Grimmsche Aschenputtel bekommt seinen Namen von der bösen Stiefmutter und deren Töchtern, da es immer
in der Asche am Herd schlafen muss. Obwohl dieser Aspekt im Disney-Film herausgelassen wurde, findet sich auch
im englischen Namen ­ cinder (engl. Asche) ­ noch ein Hinweis darauf.
3

absehbar ist, inwiefern sich die Darstellung der filmischen Märchenfiguren hinsichtlich der weibli-
chen Emanzipation von 1939 bis 2010 verändert hat. Dabei soll insbesondere der Wandel der Le-
bensziele der Protagonistinnen im Laufe der Zeit aufgezeigt werden.
Ob diese Entwicklung zu einem emanzipierten Rollenbild positiv und progressiv ist und welche Ge-
fahren dadurch möglicherweise auch aufkommen könnten, wird im Anschluss an die Analyse erör-
tert werden.
4

2. Helden und Heldinnen in den Grimmschen Märchen
2.1 Von schönen Prinzessinnen ­ die Darstellung der Protagonistinnen
2.1.1 Aussehen und Rezeption durch andere Figuren
Laut Solms kann man die Heldinnen der Märchen meistens in zwei Kategorien unterteilen: Einer-
seits gebe es die, ,,die eine bestimmte Tugend verkörpern", diese seien ,,in der Regel niederer Her-
kunft". Andererseits gebe es die, ,,die sich durch Schönheit auszeichnen", diese seien ,,fast immer
Königstöchter".
8
Untersucht man das für alle Märchen der Brüder Grimm, mag das vielleicht zutref-
fen. Für die fünf ausgewählten jedoch bestätigt sich diese Theorie nur teilweise. So lassen sich Tu-
gend und Schönheit nicht immer genau differenzieren; in manchen Fällen überschneiden sie sich
sogar. Schneewittchen, Dornröschen und die Protagonistin aus Der Froschkönig sind zum Beispiel
alle sehr schöne Königstöchter, doch kann man bei Schneewittchen und Dornröschen auch Tugend-
haftigkeit finden. Aschenputtel und Rapunzel dagegen sind keine Königstöchter,
9
werden aber ne-
ben ihrer Tugendhaftigkeit auch als schöne Frauen beschrieben.
Als Kind von der Mutter ,,so weiß wie Schnee, so roth wie Blut, und so schwarzhaarig wie Eben-
holz"
10
gewünscht, wird Schneewittchen tatsächlich mit diesen äußeren Merkmalen geboren. Sie
wächst heran und wird mit jedem Jahr ,,immer schöner", sodass sie im Alter von sieben Jahren mit
dem Vergleich ,,so schön wie der klare Tag" beschrieben wird; im Vergleich zu Schneewittchens
Stiefmutter, der Königin, die ebenfalls ,,eine schöne Frau" genannt wird, ist sie sogar noch ,,schöner
als die Königin selbst".
11
Ihre Umwelt reagiert auf diese Schönheit. Der Jäger, der Schneewittchen
eigentlich töten soll, bekommt Mitleid, weil Schneewittchen ,,so schön"
12
ist, und lässt sie fliehen.
Auch die Zwerge bewundern Schneewittchen, als sie sie schlafend in ihrem Bett finden. Obwohl sie
eigentlich unrechtmäßig in das Haus der Zwerge eingedrungen ist, lassen sie sie weiterschlafen,
weil sie sich so sehr an ihrer Schönheit erfreuen.
13
Zum Ende hin rettet Schneewittchens Schönheit
8 Wilhelm Solms: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999. S. 56.
9 Aschenputtel ist als Tochter eines reichen Mannes wahrscheinlich ,nur` eine Bürgerliche (vgl. Brüder Grimm:
,,Aschenputtel". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm. Vollst. Ausg. auf der
Grundlage der 2. Aufl. (1819). 2 Bde. Textkritisch revid. u.m.e. Nachw. hg. v. Heinz Rölleke. Köln 1982. Bd.1. S.
85-91, hier: S. 85.).
Rapunzels Hintergrund erfährt man nicht, man kann aber auf eine gewisse Armut schließen, da ihr Vater die
Rapunzeln stehlen muss (vgl. Brüder Grimm: ,,Rapunzel". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch
die Brüder Grimm. Vollst. Ausg. auf der Grundlage der 2. Aufl. (1819). 2 Bde. Textkritisch revid. u.m.e. Nachw. hg.
v. Heinz Rölleke. Köln 1982. Bd.1. S. 52-55, hier: S. 53.).
10 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm.
Vollst. Ausg. auf der Grundlage der 2. Aufl. (1819). 2 Bde. Textkritisch revid. u.m.e. Nachw. hg. v. Heinz Rölleke.
Köln 1982. Bd.1. S. 185-193, hier: S. 185f.
11 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 186.
12 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 187.
13 Vgl. Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 188.
5

ihr sogar indirekt das Leben. Da sie nach dem Biss in den vergifteten Apfel zwar tot erscheint, aber
noch ,,wie ein lebender Mensch" mit ,,schönen rothen Backen" aussieht,
14
wird sie nur in einem glä-
sernen Sarg aufgebahrt statt begraben zu werden. Das gibt dem Königssohn, der zufällig am Haus
der sieben Zwerge vorbeikommt, die Gelegenheit, das tote Schneewittchen zu sehen. Ihre Schönheit
ist immer noch so stark, dass der Königssohn sich ,,nicht satt an seiner Schönheit"
15
sehen kann und
sich augenblicklich in Schneewittchen verliebt. Er handelt mit den Zwergen um den Sarg und ist be-
reit, jeden Preis zu zahlen, nur um Schneewittchen immerzu ,,ehren und hochhalten"
16
zu können,
was letztlich zum missglückten Transport des Sargs und somit zu Schneewittchens ,,Auferstehung"
führt.
Auch Dornröschen ist die Schönheit buchstäblich in die Wiege gelegt. Als echtes Wunschkind gebo-
ren, ist Dornröschen schon als Baby ,,ein so schönes Mädchen, daß der König vor Freuden sich
nicht lassen wußte und ein großes Fest anstellte".
17
Während dieses Festes bekommt Dornröschen
von den geladenen weisen Frauen unter anderem auch für die Zukunft ,,Schönheit" und ­ entgegen
der Theorie Solms ­ ,,Tugend" geschenkt.
18
Diese Geschenke bewirken, dass Dornröschen überall
als ,,so schön, sittsam, freundlich und verständig" bekannt ist, dass ,,es jedermann, der es ansah, lieb
haben mußte".
19
Obgleich Donröschen so also auch für ihre Tugend bekannt ist, besteht ihr Ver-
mächtnis doch in ihrer Schönheit, denn nachdem sie in den tiefen 100-jährigen Schlaf fällt, spricht
man nur noch von ,,dem schönen, schlafenden Dornröschen".
20
Das allein reicht aus, dass über die
Jahrzehnte immer wieder Prinzen zur Rettung eilen wollen und dabei ihr Leben riskieren und verlie-
ren. Zu den faszinierten Prinzen gehört auch jener Königssohn, der schließlich zu Dornröschen
durchdringt. In seinen Augen ist sie ,,so schön", dass er ,,die Augen nicht abwenden" kann.
21
Die
,,schlafende Schöne" ist das ,,Urbild weiblichen Liebreizes"
22
und der Prinz kann nicht anders als
ihr einen Kuss zu geben, von dem sie aufwacht. So rettet ihr ihre Schönheit wie schon bei Schnee-
wittchen indirekt das Leben.
Die dritte schöne Protagonistin in dieser Auswahl ist die Königstochter aus Der Froschkönig. Von
ihr wird ab der Fassung von 1837 gesagt, dass sie ,,so schön" war, dass sogar ,,die Sonne selber, die
14 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 192.
15 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm. Ver-
größerter Nachd. d. zweibändigen Erstausg. von 1812 u. 1815 . 2 Bde. Göttingen 1986. Bd.1. S. 238 - 250, hier: S. 248.
16 Ebd.
17 Brüder Grimm: ,,Dornröschen". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm. Vollst.
Ausg. auf der Grundlage der 2. Aufl. (1819). 2 Bde. Textkritisch revid. u.m.e. Nachw. hg. v. Heinz Rölleke. Köln
1982. Bd.1. S. 176-179, hier: S. 176.
18 Brüder Grimm: ,,Dornröschen" (1819), S. 177.
19 Brüder Grimm: ,,Dornröschen" (1819), S. 177.
20 Brüder Grimm: ,,Dornröschen" (1819), S. 178.
21 Brüder Grimm: ,,Dornröschen" (1819), S. 179.
22 Carl-Heinz Mallet: ... und rissen der schönen Jungfrau die Kleider vom Leib. Männlichkeitsmodelle im Märchen.
Düsseldorf 1995. S. 70.
6

doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien".
23
Ist Schneewittchen
unter den Königstöchtern also die Schönste im ganzen Land, so ist die Königstochter aus Der
Froschkönig die Schönste des Universums. Doch hier endet auch schon die Beschreibung. Im Ge-
gensatz zu den anderen ausgewählten Märchen wird nicht weiter auf das Aussehen der Königstoch-
ter eingegangen und es dient auch keinem besonderen Zweck. Selbst für den zu einem Frosch ver-
wandelten Königssohn ist ihre Schönheit nicht wichtig, er profitiert alleine von der Tatsache, dass
sie eine Königstochter ist ­ und zwar die, die ihn ,,allein" vom Zauber der Hexe erlösen kann.
24
Im Gegensatz zu den ersten drei Beispielen gehören Aschenputtel und Rapunzel nicht zu den Kö-
nigstöchtern.
25
Doch wie Schneewittchen, Dornröschen und die namenlose Königstochter aus Der
Froschkönig sind auch diese beiden anscheinend Schönheiten. Bei Aschenputtel wird dies zwar
nicht so explizit und wiederholt erwähnt wie in den anderen Märchen, doch trotzdem ist diese Infor-
mation an manchen Stellen zu finden. Da Aschenputtel gezwungen wird, sich zum Schlafen ,,neben
den Heerd in der Asche" hinzulegen, sieht sie ,,immer staubig und schmutzig" aus, was ihr ihren
herabwürdigenden Spitznamen einbringt.
26
Als Aschenputtel jedoch gepflegt und in prächtigen Klei-
dern beim Ball erscheint, erstrahlt sie in ihrer Schönheit, sodass selbst ihre eigene Stiefmutter und
ihre Stiefschwestern denken, sie ,,müßt ein fremdes Königsfräulein seyn".
27
Auch die übrige Ballge-
sellschaft ist über ihre ,,Schönheit" erstaunt und verstummt bei ihrem Anblick ,,vor
Verwunderung".
28
Mazenauer und Perrig behaupten sogar, dass Aschenputtel genauso wie Dornrös-
chen unter anderem mit ihrer ,,Schönheit" und ,,Anmut" ,,für ideale Frauengestalten"
29
steht.
Rapunzel ist ähnlich wie die Königstochter aus Der Froschkönig ,,das schönste Kind unter der Son-
ne".
30
Ein Merkmal ihres Aussehens bildet sogar einen zentralen Aspekt des Märchens: ihre
,,[prächtigen langen] Haare, fein wie gesponnen Gold",
31
die über 20 Ellen lang aus dem Turm her-
unterragen, sind ihre einzige Verbindung zur Außenwelt, von der sie durch die Zauberin in ihrem
Turm ansonsten komplett abgeschottet ist. Ihre Schönheit in Kombination mit ihrer ,,süßen Stimme"
bringt den ,,jungen Königssohn" dazu, sich in sie zu verlieben. Das setzt die Ereignisse in Gang,
die nach einigen dramatischen Wendungen letztlich dazu führen, dass Rapunzel und der Königssohn
23 Brüder Grimm: ,,Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges.
durch die Brüder Grimm. Vollst. Ausg. auf der Grundlage der 3. Aufl. (1837). 2 Bde. Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt
a. M./Leipzig 2004. Bd. 1. S. 23-26, hier: S. 23.
24 Brüder Grimm: ,,Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges.
durch die Brüder Grimm. Vollst. Ausg. auf der Grundlage der Großen Ausgabe (1857). 2 Bde. Textkritisch revid.
und hg. v. Hans-Jörg Uther. München 1996. Bd. 1. S. 7-11, hier: S. 10.
25 Vgl. Fußnote 9.
26 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel" (1819), S. 85.
27 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel" (1819), S. 88.
28 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel" (1819), S. 88f.
29 Beat Mazenauer / Severin Perrig: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann: Archäologie der Märchen. Leipzig
1995. S. 231.
30 Brüder Grimm: ,,Rapunzel". (1819), S. 53.
31 ebd.
7

zusammen mit ihren zwei Kindern in Reich des Königssohn ,,noch lange glücklich und vergnügt"
leben können.
32
2.1.2 Handeln und behandelt werden
Schneewittchens positives Erscheinungsbild beruht nicht nur auf ihrer Schönheit, sondern auch auf
ihrer Tugendhaftigkeit. So bedient sie sich zwar beispielsweise vor lauter Hunger an der Mahlzeit
der sieben Zwerge, bleibt dabei aber immer noch gerecht. Sie isst nicht einen einzelnen Teller leer,
sondern achtet darauf, dass sie ,,von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot" nimmt und von
,,jedem Becherlein einen Tropfen Wein" trinkt.
33
Auch ist Schneewittchen ein frommes Mädchen.
Nachdem sie ein Bett gefunden hat, das groß genug für sie ist, schläft sie nicht sofort ein, sondern
spricht zuerst noch ein Abendgebet, worin sie sich Gott anbefiehlt.
34
Nachdem sie am nächsten Mor-
gen merkt, dass die Zwerge ihr wohlgesonnen sind, lässt sie sich auf einen Handel mit ihnen ein,
um das eigene Überleben zu sichern. Schneewittchen verspricht, alle Tätigkeiten im Haushalt zu
übernehmen. Sie will ,,kochen, betten, waschen, nähen und stricken",
35
um im Gegenzug freie Kost
und Logis zu erhalten. Schneewittchens Tagesablauf sieht so aus, dass sie tagsüber, wenn die Zwer-
ge ihrer Arbeit nachgehen, den Haushalt führt. Die Zwerge erwarten von ihr, dass abends das Essen
bereitsteht, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen.
36
Man findet im Märchentext keine Infor-
mation darüber, dass Schneewittchen sich diesen Anforderungen widersetzt oder sich Gedanken
darüber macht, wie sie dieser Situation entkommen kann. Sie scheint zufrieden zu sein; der Leser
erfährt nicht, ob sie Pläne für die Zukunft hat. Die drohende Gefahr in Gestalt der bösen Stiefmutter
schwebt über dieser scheinbaren Idylle. Das Tugendhafte, das Schneewittchen bereits zuvor ge-
kennzeichnet hat, ist auch jetzt wieder zu sehen, diesmal führt es jedoch zu Schneewittchens Un-
glück. Obwohl sie von den Zwergen mehrmals eindringlich gewarnt worden ist, niemand hereinzu-
lassen,
37
unterliegt Schneewittchen der List der bösen Königin, da sie nie etwas Böses bei den An-
geboten der verkleideten Stiefmutter vermutet. Schneewittchen scheint immer nur das Gute im
Menschen zu sehen. Ob das reine Tugend oder einfach Arglosigkeit ist, ist fraglich. So führt ihr Ver-
halten dazu, dass sie immer wieder durch die Zwerge gerettet werden muss. Auch sind es die Zwer-
32 Brüder Grimm: ,,Rapunzel". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm. Vollst.
Ausg. auf der Grundlage der 3. Aufl. (1837). 2 Bde. Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M./Leipzig 2004. Bd. 1. S.
75-78, hier: S. 78.
33 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 187.
34 Vgl. ebd.
35 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 188.
36 Vgl. ebd.
37 ebd.
8

ge, die ihr erklären müssen, dass die ,,alte Krämerfrau [...] niemand als die Königin" war,
38
und die
sie warnen ,,noch einmal auf [der] Hut zu seyn und niemand die Thüre zu öffnen".
39
Es scheint, als
ob Schneewittchen dies alleine nicht kombinieren kann, was auch wieder auf eine gewisse Arglosig-
keit schließen lässt. Aus heutigem Blickwinkel könnte man sogar ,,kindliche Arglosigkeit" sagen,
denn da Schneewittchen im Märchen erst sieben Jahre alt ist, ist sie nach heutigen Maßstäben nichts
anderes als ein Kind. So ist es auch nur verständlich, dass sie beim dritten Besuch der verkleideten
Stiefmutter den angebotenen rotbackigen Apfel mit kindlichem Verlangen ,,anlustert"
40
und erneut
auf den Trick der bösen Königin hereinfällt. Auch für die vorherigen Gegenstände interessiert sich
Schneewittchen nicht etwa, ,,weil sie eitel wäre, sondern weil sie arglos ist".
41
Man findet im Text
keine Hinweise darauf, dass Schneewittchen über einen Plan zur Beseitigung der gefährlichen Stief-
mutter nachdenkt. Deutlich ist also festzustellen: Schneewittchen ist keine aktive Heldin, die für
sich selbst einsteht. Sie schafft es zwar, den Prinzen für sich zu gewinnen, der sie dann rettet, doch
diese Rettung geschieht nicht durch ,,List und Mut", sondern nur durch ihre ,,unschuldige Schön-
heit" und ,,schöne Unschuld".
42
Schneewittchens letzte Handlung ist ihre Zustimmung zur Hochzeit
mit dem Königssohn. Obwohl sie ihn vor ihrem Erwachen offensichtlich noch nie gesehen hat, ist
sie einverstanden, seine Gemahlin zu werden.
43
Der Leser erfährt dabei nur, dass Schneewittchen
dem Königssohn ,,gut" ist.
44
Er weiß jedoch nicht, ob dies eine spontane, unüberlegte Handlung aus
Liebe ist, was ein Märchenende wahrscheinlich in den meisten Fällen suggerieren möchte, oder ob
Schneewittchen mit der Heirat eine Aufstiegschance sieht, dem eintönigen hausfraulichen Leben bei
den Zwergen zu entkommen und stattdessen eine Königin zu werden, die nun sogar miterleben
kann, wie ihre böse Stiefmutter für ihre Taten büßen muss.
45
Wie Schneewittchen ist auch Aschenputtel tugendhaft. Sie wird als ,,fromm und gut"
46
beschrieben
und bleibt es auch, als sie von ihren Stiefschwestern gedemütigt und zu harter Arbeit gezwungen
wird. Ihre Aufgaben entsprechen denen einer ,,Küchenmagd": Sie muss ,,Wasser tragen, Feuer an-
machen, kochen und waschen".
47
Es fällt auf, dass diese ,,schwere Arbeit"
48
eigentlich keine andere
als die ist, die auch Schneewittchen erledigt. Der Unterschied liegt jedoch vielleicht darin, dass
Schneewittchen durch einen freiwilligen Handel mit männlichen Charakteren dazu kommt und da-
38 Vgl. Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 189.
39 Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 190.
40 Vgl. Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 191.
41 Annegret Hofius: ,,Sneewittchen oder die Schöne und das Böse". In: Wilhelm Solms (Hg.): Das selbstverständliche
Wunder. Beiträge germanistischer Märchenforschung. Marburg 1986. S. 63-81, hier: 65.
42 Solms: Moral. S. 56.
43 Vgl. Brüder Grimm: ,,Sneewittchen" (1819), S. 193.
44 ebd.
45 Vgl. ebd.
46 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel" (1819), S. 85.
47 ebd.
48 ebd.
9

her die Rolle der Frau im Haushalt einnimmt; Aschenputtel hingegen bekommt sie von Vertretern
ihres eigenen Geschlechts aufgezwungen. Doch unabhängig davon, wie schlecht Aschenputtel auch
behandelt wird, bleibt sie immer freundlich und bescheiden. Während ihre Stiefschwestern ,,[schö-
ne] Kleider", ,,Perlen und Edelsteine" von Aschenputtels Vater fordern, wünscht sich Aschenputtel
zum Beispiel nur ein ,,Reis" aus der Natur. Auch der christliche Aspekt fehlt nicht: Aschenputtel
bleibt fromm, wie sie ihrer Mutter am Sterbebett versprochen hat, und betet drei Mal täglich an ih-
rem Grab.
49
Obwohl sie stets demütig und zurückhaltend handelt, erreicht sie letztlich doch noch ihr
Ziel, heimlich zum Ball des Königssohns zu gehen. Das macht sich bezahlt, denn der Königssohn
hat den ganzen Abend nur Augen für sie.
50
Trotz des Erfolgs gibt sie sich aber nicht sofort zu erken-
nen. Insgesamt drei Mal läuft sie ihm davon und versteckt sich. Solms interpretiert diese Handlung
so, dass Aschenputtel den Blick des Königssohns von ihrem Aussehen auf ihre ,,inneren Werte"
51
lenken will. ,,Der Königssohn, der bisher nur von ihrer äußeren Schönheit angezogen ist", soll sie
nun ,,auch in ihrer Erscheinung als schmutzige Dienstmagd" erkennen.
52
Deshalb gibt sie auch je-
den Abend nach dem Ball ihre prächtigen Kleider an ihre magischen Helfer zurück und kleidet sich
wieder in ihr ,,grau Kittelchen".
53
Ob sie nun im Haushalt arbeitet, auf dem Ball tanzt oder auf die
Anweisungen ihrer Stieffamilie reagiert, sie führt ihre Handlungen stets tugendhaft aus. So ist es
nicht verwunderlich, dass eine Passage aus der Grimmschen Ausgabe von 1812 getilgt wurde, die
dieses Bild stören könnte. Ursprünglich ist im Märchen eine Situation beschrieben, die am zweiten
Abend nach dem Ball stattfindet und in der Aschenputtel vorgibt, die ,,Prinzessin" im ,,prächtigen
Wagen mit den sechs Rappen" gesehen zu haben,
54
die sie ja eigentlich selber ist. Aschenputtel be-
hauptet dies, um ihre Stiefschwestern eifersüchtig zu machen.
,,Mit unverhohlener Schadenfreude
lügt sie und neckt die Schwestern noch dazu."
55
Durch die Tilgung dieser Passage bleibt Aschenput-
tel in den späteren Ausgaben tugendhaft ehrlich und erträgt stillschweigend die Schikanen ihrer
Stiefschwestern. Auch am Ende des Märchens findet man keinen Hinweis, dass Aschenputtel an Ra-
che interessiert ist. Zwar empfangen die Stiefschwestern eine Strafe, doch geschieht das durch die
Natur selbst, in Form zweier Tauben, die ihnen die Augen auspicken. Dass Aschenputtel den Tauben
wie zuvor im Falle der Linsen eine Anweisung zum Picken gegeben hat, wird nicht beschrieben. Ob
Aschenputtel nun eine ,,sich selbst verwirklichende, emanzipatorische Märchenheldin" oder das
49 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel" (1819), S. 86.
50 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel" (1819), S. 88.
51 Solms: Moral. S. 12.
52 Solms: Moral. S. 16.
53 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel" (1819), S. 89.
54 Brüder Grimm: ,,Aschenputtel". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm.
Vergrößerter Nachd. d. zweibändigen Erstausg. von 1812 u. 1815 . 2 Bde. Göttingen 1986. Bd.1. S. 88-101, hier: S. 95.
55 Bernd Dolle: ,,Märchen und Erziehung. Versuch einer historischen Skizze zur didaktischen Verwendung
Grimmscher Märchen (am Beispiel ,Aschenputtel`)". In: Helmut Brackert: (Hg.): Und wenn sie nicht gestorben
sind ... Perspektiven auf das Märchen. Frankfurt a. M. 1980. S. 165-192, hier: S. 170.
10

konservativ gehaltene ,,Heimchen am Herd" ist,
56
darüber ist man sich in der Märchenforschung
noch nicht einig. Die bisherigen Beobachtungen bestätigen diesen Zwiespalt. Aschenputtel lässt
sich nicht total in eine Kategorie einordnen, da sie sehr wohl selber aktiv handelt, um ihrem Glück
näher zu kommen, es aber letztlich doch der Prinz und die Kraft der Magie sind, durch deren Hilfe
sie an ihr Ziel gelangt.
Im Vergleich zu Schneewittchen und Aschenputtel nimmt Dornröschens Handeln nicht viel Raum
im Märchen ein, da die weibliche Hauptfigur die meiste Zeit schläft und somit handlungsunfähig
ist. Lediglich für die Zeit vor dem 100-jährigen Schlaf könnte man annehmen, dass eine gewisse
Neugierde festzustellen ist, wie es auch die erste Ausgabe von 1812 formuliert.
57
Dornröschen nutzt
die Abwesenheit ihrer Eltern, um das Schloss zu erforschen. Sie geht ,,aller Orten herum" und be-
tritt verschiedene ,,Stuben und Kammern".
58
Ihre Neugierde wird ihr letztlich zum Verhängnis, da
sie in einer Kammer die verhängnisvolle Spindel findet, durch die sie in tiefen Schlaf fällt.
59
Im
weiteren Verlauf ist interessant, dass sie ähnlich wie Schneewittchen ebenfalls nicht erschreckt ist,
als sie erwacht und den Prinzen erblickt, der genau genommen eigentlich ein Fremder ist und ihr
ohne ihr Einverständnis einen Kuss gegeben hat. Ganz der Märchentradition folgend ist sie eher er-
freut und stimmt sofort einer prächtigen Hochzeit zu, nach der Dornröschen und ihr Prinz ,,vergnügt
bis an ihr Ende"
60
leben.
Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Protagonistinnen ist die Königstochter in Der Froschkönig
eine Ausnahme, was ihr Handeln betrifft. Konnte man sehen, dass das Aussehen der Königstochter
im Gegensatz zu Schneewittchen und Dornröschen keinen besonderen Zweck erfüllt, so ist ihr Han-
deln umso bedeutungsvoller. Die Königstochter ist nicht die typische tugendhafte, liebenswürdige
Prinzessin, die in vielen Märchen vorgestellt wird. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Frosch
nennt sie ihn ,,[garstig]" und fällt in ihren Gedanken das Urteil, dass er ,,[einfältig]" ist und niemals
eines ,,Menschen Gesell" sein kann.
61
Damit zeigt sie indirekt eine hochmütige Haltung, denn sie
akzeptiert ihn nicht, weil er einem anderen sozialen Hintergrund entstammt. Zusätzlich gibt sie ihm
ein Versprechen, das sie von Anfang an nicht zu halten gedenkt.
62
Als Königstochter untersteht sie
aber ganz klar der patriarchalischen Gewalt des Königs und muss somit seinen Anweisungen nach-
kommen. Doch auch dabei zeigt sie kein tugendhaftes Verhalten. Sie beginnt ,,gar bitterlich" zu
56 Solms: Moral. S. 12.
57 Vgl Brüder Grimm: ,,Dornröschen". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm.
Vergrößerter Nachd. d. zweibändigen Erstausg. von 1812 u. 1815 . 2 Bde. Göttingen 1986. Bd.1. S. 225-229, hier: S. 226.
58 Brüder Grimm: ,,Dornröschen" (1819), S. 177.
59 Vgl. ebd.
60 Brüder Grimm: ,,Dornröschen" (1819), S. 179.
61 Brüder Grimm: ,,Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges.
durch die Brüder Grimm. Vollst. Ausg. auf der Grundlage der 2. Aufl. (1819). 2 Bde. Textkritisch revid. u.m.e.
Nachw. hg. v. Heinz Rölleke. Köln 1982. Bd.1. S. 9-12, hier: S. 9.
62 Vgl. Brüder Grimm: ,,Der Froschkönig" (1819), S. 9f.
11

weinen ­ eine Taktik, die Frauen oft zugesprochen wird, um Männer umzustimmen ­,
63
und als das
nichts hilft, ist sie ,,in ihrem Herzen bitterböse".
64
Zwar beugt sie sich zuerst dem Willen ihres Va-
ters, doch nur, solange er sie im Blick hat. Kaum ist sie nämlich mit dem Frosch alleine in ihrem
Gemach, wo ,,der König keine unmittelbare Verfügungsgewalt über sie hat",
65
widersetzt sie sich
der Anweisung, ihn ins Bett zu heben, und wirft ihn ,,aus allen Kräften an die Wand".
66
Die zuvor
erwähnte, leicht rassistische Haltung lässt sich auch zum Ende der Geschichte hin feststellen. Wollte
sie den ,,kalten Frosch" zuvor nicht ,,in ihrem schönen, reinen Bettlein schlafen" lassen, so ändert
sie ihre Meinung, sobald aus dem Frosch ,,ein lebendiger, junger Königssohn" wird, der nicht nur
dank seiner ,,schönen und freundlichen Augen" attraktiv für sie ist, sondern auch aufgrund seines
königlichen Standes zu ihr passt.
67
Da er jetzt keine Froschgestalt mehr hat, stimmt sie zu, dass er
durch eine spontane Trauung ,,ihr lieber Geselle und Gemahl"
68
wird. Die Figur dieser Königstoch-
ter ist oftmals in der feministischen Märchenforschung besprochen worden, da es ungewöhnlich ist,
dass eine Protagonistin ,,dreimal versucht, ihr Wort zu brechen", damit ,,dreimal gegen das Gebot
der Treue" verstößt und ,,trotzdem ihr Glück [macht]".
69
Ähnlich wie bei Dornröschen sind auch Rapunzels Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, da sie
von der Zauberin dazu bestimmt wird, ein Leben alleine in einem hohen Turm zu führen. Von Frau
Gothel bereits als Neugeborenes mitgenommen und mit zwölf Jahren in den Turm eingeschlossen,
verbringt sie ihr Leben in Einsamkeit.
70
Der erste Eindruck, den man von ihr bekommt, zeigt tu-
gendhaften Gehorsam gegenüber der Zauberin. Stets folgt Rapunzel ihrem Befehl, wenn diese ruft:
,,Rapunzel, Rapunzel! laß mir dein Haar herunter."
71
Es scheint so, als ob Rapunzel nie rebelliert
oder etwas gegen den Willen der Zauberin tut. Das ändert sich zu dem Zeitpunkt, als sie das erste
Mal das andere Geschlecht entdeckt. Zu Beginn noch erschrocken über den fremden Gast, der an
ihren Haaren in den Turm steigt, verliert sie sehr schnell ihre Scheu, da ,,ihr der junge König so
gut"
72
gefällt. Sie verabredet sich täglich mit ihm und hält diese Besuche vor der Zauberin geheim.
Ähnlich wie in Aschenputtel wurde auch der Rapunzel-Text an einer Stelle von den Brüdern Grimm
63 Tatsächlich findet man in den untersuchten Märchen immer wieder, dass die Protagonistinnen anfangen zu weinen,
und dass dieses Weinen und die zugehörigen Tränen einen positiven Fortgang der Geschichte sichern.
Schneewittchen erweicht mit ihrem Weinen das Herz des Jägers, Aschenputtels Tränen begießen das Grab ihrer
Mutter, das den Reis zu einem Wunderbaum heranwachsen lässt, und Rapunzels Tränen geben dem Königssohn sein
Augenlicht wieder. Auch scheint es, als sei das Weinen den Frauen vorbehalten ­ man findet keinen einzigen
weinenden Mann in den ausgewählten Märchen ­ und als diene es der Frau indirekt als Waffe gegen böse Umstände.
64 Brüder Grimm: ,,Der Froschkönig" (1819), S. 11.
65 Solms: Moral. S. 198.
66 Brüder Grimm: ,,Der Froschkönig" (1819), S. 11.
67 ebd.
68 ebd.
69 Solms: Moral. S. 199.
70 Rapunzel beginnt vor lauter Einsamkeit zu singen. Vgl. Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1837), S. 69.
71 Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1819), S. 53.
72 Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1819), S. 54.
12

umgeschrieben, um das tugendhafte Erscheinungsbild Rapunzels zu bewahren. Im Text von 1812
leben Rapunzel und der Königssohn einige Zeit ,,lustig und in Freuden", was in Kombination mit
Rapunzels Ausspruch: ,,[Meine] Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen",
73
darauf schließen lässt, dass Rapunzel während der Besuche des Königssohn außerehelich schwan-
ger geworden ist. Diese ,,unmoralische Handlung" wurde in den folgenden Ausgaben durch eine
Heirat legitimiert. Der Königssohn fragt Rapunzel, ,,ob sie ihn zum Manne nehmen" will, und sie
stimmt zu und legt ,,ihre Hand in seine Hand"
74
, was einer Eheschließung gleichkommt. Außerdem
wurde ,,Frau Gothel",
75
die in der ersten Fassung von 1812 noch als ,,Fee"
76
auftritt, zu einer Zaube-
rin umgeschrieben.
77
Das verstärkt den Eindruck, dass Rapunzel mit ihren Handlungsweisen im
Recht ist, und suggeriert dem Leser weiterhin ein tugendhaftes Bild von Rapunzel. Es ist somit gut
nachvollziehbar, dass Rapunzel den Königssohn gerne heiratet, da ,,er schön und jung" ist und sie
ihn ihrer Meinung nach ,,lieber haben [wird] als die alte Frau Gothel".
78
So erscheint auch die fol-
gende Behandlung durch die Zauberin ­ das Abschneiden der Haare und die Verbannung in die
Wüste ­ nicht mehr als Strafe für ein unmoralisches Handeln, sondern als pure Grausamkeit, unter
der Rapunzel zu leiden hat. In den ersten Fassungen von 1812 und 1819 bleibt Rapunzel passiv. Sie
wehrt sich nicht gegen die Zauberin und versucht weder einen Ausweg aus dem Turm noch aus der
,,Wüstenei" zu finden, in der sie später ,,kümmerlich" mit ihren Kindern lebt.
79
Erst ab der Ausgabe
von 1837 wird Rapunzel aktiver und hat einen Plan zur Flucht aus dem Turm.
80
Doch auch dabei
braucht sie immer noch den Königssohn als Retter, vor allem, als der Plan durch ihre eigene Unbe-
dachtheit fehlschlägt. Anstatt erneut selbst einen Ausweg zu suchen, verharrt sie in der Wüstenei bis
der nunmehr erblindete Königssohn sie durch Zufall findet. Selbst dessen Heilung beeinflusst sie
nicht wissentlich, da es allein durch einen magischen Zufall dazu kommt, dass er durch ihre Tränen
wieder sehend wird und sie somit in sein Reich führen kann.
73 Brüder Grimm: ,,Rapunzel". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm. Vergrößerter
Nachd. d. zweibändigen Erstausg. von 1812 u. 1815 . 2 Bde. Göttingen 1986. Bd.1. S. 38-43, hier: S. 39.
74 Brüder Grimm: ,,Rapunzel". In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen ges. durch die Brüder Grimm. Vollst.
Ausg. auf der Grundlage der Großen Ausgabe (1857). 2 Bde. Textkritisch revid. und hg. v. Hans-Jörg Uther.
München 1996. Bd. 1. S. 67-72, hier: S. 70.
75 Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1819), S. 54.
76 Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1812), S. 38.
77 Feen sind ,,den Menschen meist wohlwollend gegenüberstehendes weibliches Märchenwesen" (Dudenredaktion:
,,Fee". http://www.duden.de/rechtschreibung/Fee (01.10.2013).), wogegen eine Zauberin oftmals als
,,Schwarzkünstlerin" (Dudenredaktion: ,,Zauberin". http://www.duden.de/rechtschreibung/Zauberin (01.10.2013).)
für böse dunkle Magie steht. So wurde aus dem guten bzw. neutralen Charakter Gothel eine böse Gegenspielerin.
78 Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1857), S. 70.
79 Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1819), S. 54.
80 Vgl. Brüder Grimm: ,,Rapunzel" (1857), S. 70f.
13

2.1.3 Übereinstimmung mit dem weiblichen Rollenverständnis des 19. Jahrhunderts
Ausschlaggebend für die Erschaffung von Charakteren sind immer die Autoren der Geschichten.
Durch sie bekommen die Figuren ihre Charaktermerkmale und Handlungsweisen einverleibt, die
oftmals mit dem Rollenverständnis der jeweiligen Erzähler zusammenhängen. Im Falle der Grimm-
schen Märchen sind die Autoren nicht immer klar zu fassen. Natürlich sind die Brüder Grimm als
Schreiber und Publizisten der Märchen bekannt, doch die eigentlichen Erzähler bleiben den Lesern
der Märchen oftmals unbekannt. Dabei ist es gerade bei der Frage nach dem Rollenverständnis
wichtig zu wissen, dass viele der Personen, die den Brüdern Grimm die Märchen erzählten, weib-
lich waren. So wird berichtet, dass unter den Erzählern und Erzählerinnen zum Beispiel Gretchen
Wild ­ die Schwägerin Jacob Grimms ­ zu finden war. Andere Erzählinstanzen fanden die Brüder
Grimm in den unverheirateten ,,Märchenbeiträgerinnen der ersten Stunde",
81
Marie Hassenpflug
und Friederike Mannel. Rölleke stellt fest, dass die Erzähler ­ abgesehen von einigen wenigen Aus-
nahmen wie der etwa 60-jährigen Dorothea Viehmann ­ meistens ,,relativ junge, unverheiratete Da-
men und die Aufzeichner erster Hand ebenso junge und sozusagen notorisch unverheiratete junge
Männer waren."
82
So kann es durchaus sein, dass diese überwiegend ,,[jungen, gebildeten] Damen
des Kasseler Stadtbürgertums"
83
die Protagonistinnen der Märchen passend zum weiblichen Rollen-
verständnisses des 19. Jahrhunderts erschufen. Rölleke führt an, dass die Brüder Grimm diese
,,Idealvorstellung ihrer Zeit von der Rolle der bürgerlichen Frauen und Töchter" übernahmen und
sie sogar noch etwas ausbauten. Auch ,,bei Beginn ihrer Märchensammlung" war dies schon der
Fall gewesen, als ihr ,,Bild [...] der Frau [...], die Idealvorstellung" in erster Linie durch das Vor-
bild ihrer ,,Mutter, Tante und Schwester" bestimmt wurde.
84
Doch was genau war diese Idealvorstel-
lung? Ende des 18. Jahrhunderts kam das Rollenmodell des ,,natürlichen Geschlechtscharakters"
auf, das auch noch im 19. Jahrhundert die Gesellschaft eingehend prägte. Laut Vahsen hatten Frau-
en demnach
keinen Subjekt-Status, waren keine mündigen, autonomen Menschen, sondern benötigten
eine Geschlechtsvormundschaft, ausgeübt durch den Vater, den Bruder oder den Ehemann.
Aufgrund der ihnen zugewiesenen ,natürlichen Geschlechtseigenschaften` wie Tugend, Sitt-
samkeit und Fleiß war die ihnen nun zugedachte Rolle die der Ehefrau und Mutter. Dieses
81 Heinz Rölleke: Wo das Wünschen noch geholfen hat. Gesammelte Aufsätze zu den ,Kinder- und Hausmärchen` der
Brüder Grimm. Bonn 1984. S. 224.
82 Heinz Rölleke: ,,Die Frau in den Märchen der Brüder Grimm". In: Ders.: Die Märchen der Brüder Grimm: Quellen
und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier 2000. S. 196-210, hier: S. 199.
Wilhelm Grimm heiratete erst, als er fast 40 war, und Jakob Grimm blieb ein Leben lang ledig. (Vgl. Rölleke: ,,Die
Frau in den Märchen", S. 197.)
83 Rölleke: ,,Die Frau in den Märchen", S. 199.
84 Rölleke: ,,Die Frau in den Märchen", S. 197.
14

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956848865
ISBN (Paperback)
9783956843860
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Märchen Gender Studies Emanzipation Rollenbild Grimmsches Märchen

Autor

Carolin Kotthaus wurde 1988 in Nordrhein-Westfalen geboren. Auf Grund ihrer Begeisterung für Literatur und die englische Sprache nahm sie an der Bergischen Universität Wuppertal ein Studium der Fächer Germanistik und Anglistik auf und schloss es 2013 mit einem Bachelorabschluss erfolgreich ab. Auf der Suche nach einem Thema für ihre Abschlussarbeit stieß sie auf Gender-Aspekte in populären Zeichentrickfilmen, die sie dazu bewegten, dieses Thema in der vorliegenden Studie genauer zu untersuchen.
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Titel: Grimm, Disney und die Wandlung der Geschlechterrollen: Eine Gender-Studie zwischen Märchenbuch und Zeichentrickfilm
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