Lade Inhalt...

Macht Herrschaft Gewalt? Eine vergleichende Analyse des Herrschaftsbegriffs bei Max Weber und Hannah Arendt

©2008 Studienarbeit 29 Seiten

Zusammenfassung

In dieser Arbeit werden der Typus charismatischer und totalitärer Herrschaft gegenübergestellt. Beide Modelle wurzeln in der Zeit der gesellschaftlich-politischen Umbrüche der Moderne, wobei bei Max Weber Religion und Glaube noch eine Rolle spielen, wohingegen bei Hannah Arendt das Fehlen sinnstiftender Kategorien, verlässlicher Strukturen und verbindlicher Werte die Grundlage bildet für eine alle Lebensbereiche durchdringende Herrschaft des Terrors.
Revolutionen und Umbrüche sind somit ein zentraler Gegenstand der vorliegenden Analyse. Die Veränderungen politischer Systeme in den arabischen Staaten rücken die Frage nach Grundlagen legitimer Herrschaft erneut in den Fokus. Ein Beitrag dieser Arbeit zur Diskussion dieser Frage liegt einerseits in einer begrifflichen Abgrenzung der Kategorien Macht Herrschaft und Gewalt. Des Weiteren werden politiktheoretische Perspektiven auf das zwischen diesen Kategorien bestehende Spannungsfeld aufgezeigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.Grundlagen der Herrschaftsphilosophie bei Max Weber und Hannah Arendt

2.1 Glaube und Hingabe versus Totalität

Max Weber definiert Macht und Herrschaft folgendermaßen:

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht. […] Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angegebenen Personen Gehorsam zu finden“.[1]

Den Begriff „Macht“ hält Max Weber für „soziologisch amorph“[2], da jeder Mensch in jeder denkbaren Situation unter bestimmten Voraussetzungen Macht ausüben kann. Er schlägt vor, Macht präziser als „für einen Befehl Fügsamkeit finden“ zu definieren.[3] Noch deutlicher formuliert Hannah Arendt eine Ab­hängigkeitsbeziehung der Mitglieder einer Gruppe als Voraussetzung für Macht, wenn sie Macht als „menschliche[…] Fähigkeit, […] sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen zu handeln“ definiert.[4] Über Macht kann somit niemals ein Einzelner für sich allein verfügen, sondern lediglich eine Gruppe. Selbst wenn einer Einzelperson Macht zugeschrieben ist, ist damit die Tatsache gemeint, dass diese Person von einer Gruppe ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.[5]

Max Weber nennt drei „reine Typen legitimer Herrschaft“: 1. die rationale beziehungsweise legale Herrschaft, die auf dem Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen beruht, 2. die traditionale Herrschaft, deren Grundlage der Alltagsglaube an die Heiligkeit von jeher geltenden Traditionen gilt und 3. die charismatische Herrschaft, die auf der außeralltäglichen „Hingabe an die Heiligkeit oder Heldenkraft“ oder allgemein auf der Vorbildlichkeit einer Person basiert.[6] Als konkrete Formen rationaler beziehungsweise legaler Herrschaft nennt Weber: mit Verwaltung verbundene Herrschaft, Herrschaft durch ökonomische Differenzierung, Herrschaft durch Parteien. Formen traditionaler Herrschaft sind Herrschaft der Honoratioren und Ältestenherrschaft. Unter charismatischer Herrschaft ist die Herrschaft durch einen Führer zu verstehen. Als weitere Form der Herrschaft, die sich keiner der drei Gruppen eindeutig zuordnen lässt, benennt Max Weber die Herrschaft durch Geheimhaltung.[7]

Stellt man diesem soziologisch orientierten Herrschafts-Verständnis das Herrschafts-Verständnis Hannah Arendts gegenüber, so sind zunächst deren grundlegend andere Prämissen festzustellen. Herrschaft bedeutet bei ihr totale bzw. totalitäre Herrschaft.[8] Eine präzise Definition des Begriffes gibt Hannah Arendt nicht. Folgender Satz benennt zumindest wesentliche Merkmale:

„Vergleicht man den totalen Herrschaftsapparat mit einem der vielen uns aus der Geschichte bekannten Staatsapparate, so kann man ihn nur als strukturlos bezeichnen. Dabei vergisst man, dass nur ein Gebäude eine Struktur haben kann, dass aber eine Bewegung, nimmt man dies Wort so buchstäblich ernst, wie die Nazis es genommen haben, nur eine Richtung haben kann und dass jegliche gesetzliche oder staatliche Struktur für eine immer schneller werdende Bewegung nur ein Hindernis ist.“[9]

Hannah Arendts Interesse konzentriert sich auf die Formen totaler Herrschaft des Nationalsozialismus und Stalinismus. Hannah Arendt geht bei ihrer Erklärung der Ursprünge totaler Herrschaft von der Situation einer erfolgreichen Revolution aus, deren Dynamik nach Erreichung der Revolutionsziele nachlässt.

„In Stalins wie in Hitlers Falle […] lagen die Dinge an sich außerordentlich ähnlich: In beiden Fällen war die Existenz der Bewegung durch eine offenbare Normalisierung der Verhältnisse ernstlich in Gefahr; die Revolution war an ihr Ende gekommen, und die Bevölkerung wünschte sich nichts sehnlicher als die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse.“[10]

Stabilisierung durch totale Herrschaft bedeutet jedoch die künstliche Etablierung eines Zustands der permanenten Unstabilität, einer „permanenten Revolution“[11]. Paradoxerweise ist das Ziel dieses Zustands, das zu verhindern, was der Machthaber versprochen hat.[12] Verwaltungstechnische und öko­nomische Faktoren spielen dabei nicht nur keine Rolle, sondern wären sogar – bei Entwicklung eigener Strukturen – kontraproduktiv.[13] Eine Besonderheit des Führerprinzips, das einen wesentlichen Bestandteil von totaler Herrschaft darstellt, besteht darin, dass keinerlei Hierarchie existiert. Herrschaft ist im engen Wortsinn total. Das heißt, sie erstreckt sich über alle Bereiche des Lebens, ohne bestimmten Gesetzen und Regeln zu folgen. Damit verbunden ist das Fehlen von Autorität. Während Autorität zum Zweck der Beschränkung von Freiheit eingesetzt wird, zielt das Führerprinzip auf die Eliminierung der Freiheit ab.[14] Hierin liegt ein Widerspruch zu der von Max Weber als ein Element der Herrschaft benannten ökonomischen Differenzierung. Diese setzt unverzichtbar Freiheit voraus. Auch eine Beteiligung anderer an der durch einen Führer ausgeübten Herrschaft, die Max Weber im Zusammenhang mit der Herrschaft durch Parteien thematisiert, kommt in Hannah Arendts Ansatz nicht vor. Zwar brauchte Hitler die Unterstützung der Anhänger der von ihm geführten „Bewegung“ um an die Macht zu gelangen. Einmal dort angekommen, hat er jedoch jegliche Beteiligung anderer an der Macht abgelehnt. Anders als Stalin, der Cliquenbildung durch physische Liquidierungen unterband, hat Hitler die Machtverhältnisse immer wieder verschoben.[15] Auf diese Weise hat er nicht nur Cliquenbildung verhindert, sondern zugleich die Etablierung fester Strukturen und damit das Entstehen von „Normalität“ unmöglich gemacht. Die Differen­zierung ist bei Max Weber auch dasjenige Prinzip, das der Herrschaft durch Honoratioren und jeder anderen Form von Herrschaft zugrunde liegt. Die Gesellschaft wird als differenziertes, arbeitsteiliges Zusammenleben von Menschen verstanden, unter denen es Bevorzugte und Benachteiligte, Menschen mit hohen und Menschen mit niedrigerem Prestige gibt. Totale Herrschaft hingegen kennt all diese Unterschiede nicht. Ebenso wenig unterscheidet sie zwischen Information und Nicht-Information der Beherrschten über Planungen und Handlungen, sondern führt das Prinzip der Geheimhaltung durch eine Medienpolitik propagandistischer Pseudoinformation ad absurdum, während sie zugleich jede Selbstinformation der Beherrschten rigoros unterdrückt. Da der Machthaber nicht gänzlich verhindern kann, dass geheime Informationen aus dem Kreis der Eingeweihten nach draußen dringen, muss die Bedrohung für diejenigen, die diese Information weiter verbreiten, immens sein. Jedermann muss sich darüber klar sein, „dass es nichts Gefährlicheres und nichts Verboteneres gibt, als über diese offenen Geheimnisse zu sprechen oder sich gar nach ihnen zu erkundigen“[16]. Diese Situation erschwert es den Beherrschten, zwischen der Information über Tatsachen und Geschichten und Gerüchten zu unterscheiden, „da Menschen für Wissen wie Erfahrungen der Mitmenschen bedürfen, die das Gewusste und Erfahrene mitverstehen und bestätigen können“[17]. Max Weber begründet seine Theorie der Herrschaft durch Verwaltung mit der Gleichheit aller in einer Gesellschaft lebenden Menschen hinsichtlich ihres sozialen Status. Diese Prämisse ist bei totaler Herrschaft undenkbar.

„Was immer wir von der Hitler- und der Stalin-Diktatur wissen, deutet darauf hin, dass die Isolierung und Atomisierung, welche der totalen Herrschaft ihre Massenbasis verschaffen, sich bis in die Spitze der Führung fortsetzen, und dass der Führer auch im intimsten Kreise niemals als ein Primus inter pares auftritt.“[18]

2.2 Charisma und Führerkult

Eine Gemeinsamkeit der Konzeption von totaler Herrschaft bei Hannah Arendt und charismatischer Herrschaft bei Max Weber ist die herausragende Stellung einer einzelnen Person. Die Rede ist hier zunächst von dem, was Max Weber als „Charismatismus“[19] bezeichnet. Der von ihm untersuchte Aspekt der „Umbildung des Charisma“[20] wird an dieser Stelle außer Betracht gelassen. Heino Speer weist darauf hin, dass das, was Weber mit dem Begriff Charisma benennt, mit einer wesentlichen Ausnahme der altchristlichen Theologie entstammt.[21] Die Anerkennung eines Führers als Pflicht der Beherrschten, als die sie bei Weber dargestellt wird, steht im Widerspruch zu der kirchen­rechtlichen Bezeichnung Charisma, die „den Glauben an die charismatische Begabung des Führers“ meint, und dessen Folge ein Gehorsam ist, der aus der freien Überzeugung von der Tatsache, dass der Wille Gottes in dem Führer wirkt, resultiert.[22] Heino Speer kritisiert an der Verwendung des Charisma-Begriffs durch Max Weber die Reduzierung seiner Bedeutung auf den Aspekt der Herausgehobenheit des Führers aus der Menge seiner Anhänger. Charisma sei damit bei Weber zu einer leeren Formel geworden, die falsche Assoziationen wecke.[23] Der Charisma-Begriff ist somit als sozial­wissen­schaftlicher Terminus problematisch. An dieser Stelle erscheint eine Ab­grenzung zur traditionellen Terminologie der Sozial- und Rechtswissenschaft als sinnvoll, da herkömmliche Kategorien wie Diktatur oder Tyrannis das Phänomen der totalen Herrschaft nicht hinreichend präzise beschreiben können und es sich bei Nationalsozialismus und Stalinismus um bis dahin unbekannte Herrschaftsphänomene handelt.[24]

Unter Diktatur ist die „Herrschaft einer Person, Gruppe, Partei oder Klasse zu verstehen, die die Macht im Staat monopolisiert hat und sie unbeschränkt (oder ohne große Einschränkung) ausübt“[25]. Tyrannis bezeichnet die „ungesetzliche Entartungs- beziehungsweise Zerfallsform der Einpersonen-Herrschaft“, die aus selbstsüchtigen Motiven heraus zum Schaden der Allgemeinheit errichtet wird.[26] Totalitarismus wird definiert als „eine Form der Herrschaft, die Gesellschaft und Individuum einer totalen, weder durch Grundrechte noch durch Gewaltenteilung beschränkten Kontrolle“ unterwirft und alle Lebensbereiche, einschließlich der Wirtschaft, der Medien und der Gesellschaft vereinnahmt, die Gesellschaft militarisiert und als systemfeindlich eingestuften Kräften mit systematischem Terror begegnet. Der Staatsapparat ist dabei typischerweise auf einen Führer hin ausgerichtet und wird von einer Einheitspartei beherrscht.[27] Es ist festzuhalten, dass Totalitarismus die Ideologie ist, die hinter dem von Hannah Arendt beschriebenen Phänomen der „totalen Herrschaft“ steht. In der Nachkriegszeit wurde die Verwendung des Begriffs Totalitarismus sowohl für den Nationalsozialismus als auch für den Stalinismus mit dem Argument kritisiert, dass ersterer ideologisch durch ein „trübes Gemisch von Rassenwahn und Chauvinismus“[28] geprägt war, während dem Stalinismus die Theorie von Karl Marx als ideologischer Hintergrund diente. Das Phänomen der „totalen Herrschaft“ bleibt davon allerdings unberührt. Totalitarismus nach Hannah Arendt ist also mehr als eine Ideologie, wenngleich sie die ideologischen Komponenten totalitärer Regime durchaus thematisiert.[29] Die Begriffe Diktatur und Tyrannis sind nur teilweise geeignet, die nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft zu beschreiben. Beide Herrschafts-Phänomene weisen zweifellos diktatorische wie tyrannische Merkmale auf. Die Eigenschaften einer vollkommenen Durchdringung aller Lebensbereiche und der gezielten Auflösung aller gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Strukturen sind jedoch weder Bestandteil des einen noch des anderen. Die Hervorhebung einer Führer-Persönlichkeit, deren Unfehlbarkeit zum pseudoreligiösen Dogma wird, und deren Allmacht eine Überwachung und Kontrolle aller durch alle zur Folge hat, sind Merkmale, die dem Totalitarismus qua definitionem innewohnen und die National­sozialismus und Stalinismus in der praktischen Anwendung perfektioniert haben. Die Parallelführung des kirchenrechtlichen Charisma-Begriffs und der Führer-Herrschaft bei Max Weber mag terminologisch problematisch sein. Sie ist jedoch geeignet, die Besonderheiten der Führer-Herrschaft zu verdeutlichen. Lässt man historische und juristische Aspekte außer Betracht, so lässt sich die Problematik, auf die Heino Speer aufmerksam gemacht hat, auch anders formulieren: Hitler und Stalin haben sich als gottgleiche Instanzen inthronisiert und ihren Anhängern das Gefühl vermittelt, Auserwählte einer neuen, von ihnen gestifteten Heilslehre zu sein. Nicht nur die kultischen Inszenierungen mit Fahnen, Aufmärschen und dogmatischen Reden untermauern die These von der Aura des Übermenschlichen, mit der sich Hitler und Stalin umgeben wollten. Auch die Existenz eines klar vorgeschriebenen Weges zur „Erlösung“, die als Grundlage des Denkens und Handelns dienen sollte, stellt eine Parallele zum kirchlich-religiösen Bereich dar. Selbst die Durchdringung verschiedener Lebensbereiche wird von der Kirche angestrebt. Was der Kirche jedoch – sieht man von der Zeit der Kreuzzüge ab – fremd ist, ist das Mittel von Gewalt und Terror, um ihre Ziele durchzusetzen und Andersdenkende auszuschalten.

2.3 Staatsmacht gleich Staatsgewalt?

Der frei beschlossene Gehorsam ist ein Widerspruch zum Gehorsam aus Pflicht. Allerdings ist der Terminus „Pflicht“ semantisch wiederum nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Pflicht entsteht häufig in einem Verhältnis zwischen natürlichen oder juristischen Personen, in dem sich eine oder mehrere Personen anderen gegenüber zu etwas verpflichten. Das heißt, dass Pflicht an die freie Entscheidung der Verpflichtung gebunden und von Zwang zu unterscheiden ist. Anders verhält es sich bei (staats-) bürgerlichen Pflichten, die jemandem allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsverband auferlegt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Max Weber letztere Bedeutung von Pflicht nicht gemeint hat, da die Außeralltäglichkeit des Charismas dessen Bürokratisierung ausschließt.[30] Ebenso sieht Hannah Arendt die Spontaneität als wesentliches Element jedes freien menschlichen Handelns an.[31] Max Weber betrachtet den Begriff des „Charisma“ vollkommen wertfrei.[32] Die von Hannah Arendt beschriebene totale Herrschaft muss also mehr sein als charismatische Herrschaft. Denn zwar verlangt charismatische Herrschaft Gehorsam als Pflicht der Beherrschten. Weder Herrschaft noch Gehorsam sind jedoch notwendigerweise total. Ein Instrument zur Herstellung totaler Herrschaft ist der Terror.[33] Dieser schließt die systematische, Verfolgung und Vernichtung von Menschen mithilfe von Gewaltmitteln ein.

„Gewalt schließlich ist […] durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet. Sie steht dem Phänomen der Stärke am nächsten, da die Gewaltmittel, wie alle Werkzeuge, dazu dienen, menschliche Stärke bzw. die der organischen „Werkzeuge“ zu vervielfachen, bis das Stadium erreicht ist, wo die künstlichen Werkzeuge die natürlichen ganz und gar ersetzen.“[34]

In ihrer Schrift „Macht und Gewalt“ setzt sich Hannah Arendt mit Max Webers Gewaltbegriff auseinander, der die „legitime physische Gewaltsamkeit“ als spezifisches Merkmal des Staates ansieht.[35] Hannah Arendts Kritik an dieser Auffassung geht dahin, dass Gewalt nicht für sich, sondern als Synonym beziehungsweise Steigerung von Macht angesehen werde.[36] Zwei Schlüsse sind daraus zu ziehen: Zum einen kommt in der Philosophie Max Webers Gewalt lediglich als Teil eines Ganzen vor. Zum anderen ist Gewalt bei Hannah Arendt der Faktor, durch den die Dynamik einer revolutionären Bewegung in eine Form von Herrschaft überführt werden kann, während Gewalt bei Weber eine statische Komponente von Herrschaft bleibt. Hannah Arendt ergänzt die Form von Herrschaft, die nach Max Weber auf Gewalt gegründet ist, das heißt staatliche Herrschaft als Monarchie, Oligarchie, Aristokratie und Demokratie um die Bürokratie, die als Herrschaft durch ein komplexes System von Ämtern Verantwortlichkeit verhindere, und die sie daher als „Niemandsherrschaft“ mit Tyrannis gleichsetzt.[37] Bezüglich der Gesetzesherrschaft, die bei Max Weber als „legale Herrschaft“ ebenfalls vorkommt, arbeitet Hannah Arendt einen wesentlichen Unterschied zur Personenherrschaft heraus. Herrschaft des Rechts gründet sich zwar, wie andere Herrschaftsformen, auf Gehorsam. Jedoch ist dies ein Gehorsam gegenüber Gesetzen, nicht gegenüber Menschen. Im Gegensatz zu einer Republik kann „eine Demokratie, die […] nicht an Gesetze gebunden zu sein braucht, also eine einfache Mehrheitsherrschaft, die nur auf Macht basiert, […] Minderheiten auf eine furchtbare Weise unterdrücken“[38]. Voraussetzung für eine Herrschaftsbe­ziehung, die auf Befehl und Gehorsam basiert, ist das Vorhandensein eines Raums, innerhalb dessen die Herrschenden Macht über die Beherrschten ausüben können. Für Hannah Arendt ist dieser Raum ein zentrales Kriterium der Freiheit und dessen Fehlen ein Merkmal totalitärer Herrschaft, wie Manfred Reist aufzeigt.[39] Politischer Raum bedeutet dabei in erster Linie öffentlicher Raum und damit in weiterer Konsequenz die „Polarität zwischen Publizität und Privatheit“[40]. Das in diesem Raum politisch Machbare ist nur machbar durch die Freiheit der Menschen zu handeln und konstituiert erst deren Macht.[41] Somit ist bei Hannah Arendt Macht etwas vollkommen anderes als Gewalt, da Macht, anders als Gewalt, nicht Mittel, sondern Zweck ist.

3. Kontextuierung und kritische Reflexion

3.1 Charisma als philosophische Kategorie?

Zur Kontextuierung der herrschaftstheoretischen Schriften Max Webers und Hannah Arendts kann die Einteilung von Claus Leggewie zugrunde gelegt werden, der drei politikwissenschaftliche Grundperspektiven des Herrschafts­begriffs unterscheidet: 1. Herrschaft durch ein legitimes staatliches Gewalt­monopol bei Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes, 2. die vertrags­theoretische Perspektive, bei der sich freie Bürger freiwillig auf eine revidierbare Herrschaftsinstanz einigen und 3. eine klassentheoretische Perspektive, die von einer sozioökonomischen Ungleichheit ausgeht und diesem Zustand die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft entgegenstellt.[42] Leggewie nennt Max Weber als den Hauptvertreter der hier erstgenannten Grundperspektive. Bei Weber findet sich als Träger der Herrschaft ein politischer Herrschaftsverband, der seinen Bestand durch Androhung und Anwendung physischen Zwangs sichert.[43] Hannah Arendts Philosophie stuft Leggewie hingegen als vertragstheoretisches Werk ein.[44] Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird auf die klassentheoretische Perspektive und in Zusammenhang damit auf die Schriften von Karl Marx hier nicht näher eingegangen. Welche Unterschiede lassen sich hinsichtlich der hier vorgenommenen Einteilung zwischen Max Webers und Hannah Arendts Positionen zu Herrschaft, Macht und Gewalt finden? Claus Leggewie weist darauf hin, dass Max Webers Akteurszentriertheit die Beherrschten als notwendige Komponente eines funktionierenden Herrschaftssystems nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt.[45] Seine apriorische Annahme einer Bereitschaft zum Gehorsam bei den Beherrschten lässt darüber hinaus Zweifel bezüglich der All­gemeingültigkeit seiner Aussagen aufkommen. Während Thomas Hobbes theoretische Insuffizienz und Esoterik durch die Konstruktion einer politischen Philosophie nach mathematischem Vorbild zu beseitigen[46], führt Max Weber in seiner Herrschaftsphilosophie mit dem Charisma eine Kategorie ein, die wissenschaftlicher Analyse schwer zugänglich ist. Zwar ist im Hinblick auch das Postulat der Allgemeingültigkeit das Charisma durchaus zu akzeptieren, da von jedem Menschen angenommen werden kann, dass das Charisma eines anderen Menschen mehr oder weniger Wirkung auf ihn zeigt. Damit ist jedoch ein psychologischer Vorgang angesprochen, der die Aussagekraft einer sozialwissenschaftlichen Theorie stark einschränkt, da unzählige abhängige Variablen (Menschen im Wirkungskreis des Charisma) auf eine unabhängige Variable (Charisma eines anderen Menschen) treffen.

Stellt man die Frage nach der Herkunft von Herrschaft, also die Frage, wie Herrschaft erlangt werden kann, so kann zunächst Niccolò Machiavelli eine Orientierung bieten. Ihm zufolge kann Herrschaft im Wesentlichen durch Erbe, tüchtige oder glückliche Eroberung sowie Verbrechen erlangt werden.[47] Lässt sich Max Webers Charisma einer dieser Kategorien zuteilen? Mit dieser Frage ist das Problem verbunden, ob Charisma ausschließlich gut, ausschließlich böse oder beides sein kann, oder aber ob Charisma ethisch-moralisch neutral ist. Als Bestandteil des menschlichen Charakters ist dem Charisma in einem allgemeinen Verständnis ebenso wenig eine ausschließlich gute oder ausschließlich böse Qualität zuzuschreiben, wie es ausschließlich gute oder ausschließlich böse Menschen gibt. Bezüglich der ethisch-moralischen Neutralität des Charismas ist Charisma als „Gnadengabe“, so die Wort­bedeutung, wohl kaum ethisch-moralisch zu bewerten und somit tatsächlich als neutral anzusehen. Die ethisch-moralische Neutralität ist allerdings aufgehoben, wenn ein Mensch sein Charisma bewusst zur Erreichung bestimmter Ziele einsetzt.[48] Max Webers „religiöses Charisma“[49] ist dagegen mit einem ethischen Anspruch verbunden. Dieses religiöse Charisma ist nach Auffassung Webers ein Moment im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess hin zu einer Rationalisierung von Herrschaft.

„Während in der herrschaftlichen und sozialen Gliederung weiterhin Formen des magischen Charismas dominieren, gilt dies im Reich der Ideen nicht. Hier erlebt das Charisma eine Metamorphose und verwandelt sich in eine neue Form: das ‚religiöse Charisma’. Für den Prozeß der Entzauberung ist diese Metamorphose von grundlegender Bedeutung. Erst dem religiösen Charisma gelingt es […] die magischen Momente zu entwerten und den Glauben der Massen aus seiner magisch motivierten Traditionsgebundenheit zu reißen.[50]

Diese „Durchbrechung von magischen oder rituellen Normen durch ethische Prophetie“[51] führt zu einer religiösen Ethik des innerweltlichen Handelns, die rational, das heißt von Magie und anderen Formen der Heilssuche frei ist.[52] Ethik ist für Max Weber ein von Wissenschaft strikt zu trennender Bereich. Ethischen Wertungen spricht er jegliche normative Dignität und somit Übertragbarkeit auf eine andere als die ursprünglich bewertete Frage ab.[53] Ebenso hat die Tatsache, „dass man […] die kausale Wirkung des faktischen Bestehens gewisser ethischer oder religiöser Überzeugungen auf das Wirtschaftsleben untersucht und unter Umständen hoch veranschlagt, […] nicht etwa die Folge, dass man nun jene kausal vielleicht sehr wirksam gewesene Überzeugungen um deswillen auch zu teilen habe oder auch nur für wertvoll halten müsse, wie umgekehrt durch Bejahung des hohen Werts einer ethischen oder religiösen Erscheinung nicht das Geringste darüber ausgesagt ist, ob auch die ungewohnten Folgen, die ihre Verwirklichung gehabt hat oder haben würde, mit dem gleichen positiven Wertprädikat zu versehen wären“[54]. Der Widerspruch zwischen Charisma und Wissenschaftlichkeit ist also nicht zufällig, sondern von Max Weber gewollt und bejaht.

3.2 Rationalisierung und Freiheit

Wie aber ist unter diesen Voraussetzungen eine „Rationalisierung von Herrschaft“ möglich? Wolfgang Schluchter unterscheidet drei Verwendungsweisen des Begriffs Rationalisierung. Demnach bedeutet Rationalisierung zum einen „die Fähigkeit, Dinge durch Berechnung zu beherrschen“, zum zweiten „Systematisierung von Sinnzusammenhängen, intellektuelle Durcharbeitung und wissenschaftliche Sublimierung von ‚Sinnzielen’“ und zum dritten „Ausbildung einer methodischen Lebensführung“.[55] Diese Konkretisierungen des Begriffs Rationalisierung sieht Schluchter als Folgen von 1. „empirischem Wissen und Können“ (wissenschaftlich-technischer Rationalismus), 2. „‚innerer Nötigung’ des Kulturmenschen, die Welt als einen sinnvollen Kosmos nicht nur zu erfassen, sondern auch zu ihr Stellung zu nehmen“ (metaphysisch-ethischer Rationalismus) und 3. „Institutionalisierung von Sinn- und Interessenzusammenhängen“ (praktischer Rationalismus).[56] Daraus lassen sich drei Grundannahmen ableiten. Webers Rationalisierungs­these basiert zum einen auf dem Verhältnis von Ideen, das aus dem Bedürfnis der Menschen entspringt, eine einheitliche Stellungnahme zur Welt zu formulieren, zum zweiten auf dem Verhältnis von Ideen und Interessen, das in dem Bedürfnis der Menschen gründet, ihre Stellung in der Welt festzuschreiben und zum dritten auf dem Verhältnis der Ideen beziehungsweise Interessen zu Organisationen, das aus dem Bedürfnis der Menschen resultiert, ihre Be­ziehungen zur Welt berechenbar zu machen.[57] In seiner historischen Soziologie entwickelt Weber ein pluralistisches Weltbild, das an die Stelle des traditionellen dualistischen Weltbilds treten soll.[58] Er setzt sich damit über die Vorstellung hinweg, dass die abendländische Rationalität die einzige sei. Damit geht die für die damalige Zeit neue Erkenntnis einher, dass es keine „für sich seiende, substantielle Rationalität“[59] gibt. Das Entscheidende dabei ist die Stellung der Religion, die für Weber nicht „das bloße Arationale“ darstellt, sondern vielmehr ihren eigenen Rationalitätscharakter trägt.[60] Ebenso ist eine historische Entwicklung nicht „bloßer Fortschritt einer sich stetig fortentwickelnden nichtreligiösen Rationalität“[61]. Gerade die Religion kann zur treibenden Kraft einer historischen Entwicklung werden.[62]

„Die Wendung der außerweltlichen Askese des Mönchtums hin zur innerweltlichen Askese der calvinistisch-puritanischen Frömmigkeit […] erlegte dem religiösen Subjekt jene bestimmte Weltsicht auf, die allein den Traditionalismus durchbrechen konnte. Die calvinistische Vorstellung der Prädestination und der damit verbundene Gedanke der Bewährung stellte den Gläubigen unter den Zwang der ständigen Selbstkontrolle, der rastlosen Arbeit und somit unter den Zwang der ständigen Methodisierung, Disziplinierung und rational-asketischen Durchorganisation der gesamten Lebensführung.“[63]

Die rationalistische Wahrheitssuche ist also durch den Glauben an den Fortschritt, nicht aber durch den Anspruch historistischer Wahrheitsfindung motiviert.[64] Wenn der Glaube zu Zwang und ständiger Selbstkontrolle führt, stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Freiheit zukommt. Zunächst ist zwischen politischer und persönlicher Freiheit zu unterscheiden. Max Weber geht davon aus, dass politische Freiheit als unveräußerliches Gut nicht in letzter Konsequenz zu erreichen sei, da immer neue Aristokratien und Autoritäten dies verhindern würden.[65] Dagegen verfüge das Volk in modernen Demokratien über eine persönliche Entscheidungsfreiheit, wenn es seine Herrscher wählt.[66] Diese Entscheidungsfreiheit ist in Max Webers Herrschaftssoziologie aus der antiautoritären Umdeutung des charismatischen Legitimationsprinzips abgeleitet. Dem gegenüber haben marxistisch-leninistische Regime ihren autoritären charismatischen Führungsanspruch aufrechterhalten, da das Volk der revolutionären Partei ohne Alternative folgen muss.[67] Als Maßstab für die praktische Verwirklichung politischer Freiheit in politischen Systemen legt Günther Roth die Existenz einer demokratischen Verfassung, die effektiven Wettbewerb sowie gleiches Wahlrecht und unabhängige Gerichte garantiert, zugrunde.[68]

Für Hannah Arendt ist Freiheit dagegen ausschließlich politische Freiheit.[69] Dabei ist der Begriff der Freiheit eng mit dem Begriff der Not­wendigkeit verknüpft, da Freiheit erst möglich ist, „wenn für die viel vordring­licheren Lebensnotwendigkeiten gesorgt ist“[70]. Auf den Punkt gebracht lässt sich also feststellen, dass bei Hannah Arendt Freiheit dort beginnt, wo Notwendigkeit aufhört.[71] Doch wie gestaltet sich diese Freiheit? Wolfgang Heuer unterscheidet vier Bereiche des politischen Denkens, die Hannah Arendt geprägt hat: „ihre Definition des politischen Handelns, das eine der grundlegenden Dimensionen der menschlichen Existenz ist und zugleich Offenheit und Risiko in sich birgt; die Ersetzung des modernen Subjektivismus und Individualismus durch einen Intersubjektivismus, der jeglichen Bezug zur Wirklichkeit auf aktive Pluralität gründet; die Bestimmung politischer Phänomene wie Macht, Gewalt und Freiheit ausgehend von Intersubjektivität und Pluralität; das Verständnis von einer freien politischen Gesellschaft als einem durch politisches Handeln ständig lebendig zu haltenden Ort der Zivilisation“[72]. Damit wird ein elementarer Unterschied zum Denken Max Webers deutlich: Für Hannah Arendt ist Politik nicht Herrschaft, sondern Handeln. Sie bricht damit mit einem seit der Antike vorherrschenden Politikverständnis.[73]

„Seit Plato […] wurden Regierungssysteme als Herrschaftsformen verstanden, bei denen einer über alle, wenige über viele oder alle über sich selber herrschen. Die Bestimmung von Politik als Handeln hebt diese Trennung auf und stellt die damit verbundenen Hierarchien oder Ausschlüsse sowie implizite Gleichsetzung von Politik und Gewalt infrage.“[74]

Ein weiteres Element, das mit dieser Sichtweise verbunden ist, ist die Aufhebung der Abgrenzung von Individuen und Gruppen. Vielmehr treten Personen, nicht als Herrscher und Beherrschte, sondern als Handelnde miteinander in Beziehung.[75] Hinter diesem Ansatz steht eine „offene und horizontale Sichtweise von Politik“[76], die auf der menschlichen Pluralität basiert. Damit verbindet Hannah Arendt nicht Toleranz oder gar Gleichgültigkeit, also negative Kriterien, sondern vielmehr eine positive Ausgestaltung der Zwischenmenschlichkeit.[77] Freiheit existiert demnach nicht allein durch die Möglichkeit frei zu sein und ist auch mit geistiger Freiheit nicht erreicht, sondern lässt sich einzig durch das Handeln realisieren. Hannah Arendt geht dabei so weit, Freiheit mit Politik gleichzusetzen und einem Raum, der ohne Freiheit ist, auch die Existenz von Politik abzusprechen.[78] Freiheit ist bei Hannah Arendt nicht nur innenpolitisch das zentrale Kriterium:

„Souveränität, in der politischen Theorie lange der positive Inbegriff außenpolitischer Freiheit, ist aus Arendts Sicht undialogisch, weil sie die Unabhängigkeit über die Gemeinsamkeit mit anderen stellt. Nicht, weil Souveränität in einer Welt wachsender Interdependenzen hinderlich wird oder der Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte im Wege steht, ist sie abzulehnen, sondern weil es der menschlichen Bedingtheit der Pluralität, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der mit ihr verbundenen Weltlichkeit widerspricht.“[79]

Aus dieser Perspektive wird deutlich, weshalb Macht und Gewalt bei Hannah Arendt, anders als bei Max Weber nicht identisch sind. Ein Politikverständnis, das auf Max Webers Formel vom staatlichen Gewaltmonopol aufbaut, kann das Potenzial von Macht für die Freiheit nicht erkennen[80], wohingegen Gewalt im Sinne Arendts eindeutig destruktiv und deren Zweck letztlich die Vernichtung aller Macht und somit auch aller Freiheit ist.[81]

3.3 Legitimität zwischen Offenbarungsglauben und Sinnkrise

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Frage nach der Legitimität von Herrschaft? In den drei Typen der legalen Herrschaft, die Weber nennt, lässt sich als Fundament von Herrschaft der Legitimitäts-Glaube des Beherrschten feststellen.[82] Die Besonderheit in Webers Herrschaftssoziologie hinsichtlich des Aspekts der Legitimität liegt also darin, dass die Beherrschten den Herrschenden mehr entgegen bringen als das bloße Befolgen von Befehlen oder die rein äußerliche Akzeptanz der Herrschaft. Stattdessen bedeutet Legitimität für Weber „die innere Anerkennung, das Einverständnis, das Gelten-Sollen“. Allerdings versteht Weber Legitimität dennoch nicht als normative, sondern als empirische Kategorie, die sich auf den faktisch existenten Legitimitätsglauben der Gesellschaftsmitglieder bezieht.[83] An dieser Stelle ist auf den historischen Kontext zu verweisen, in dem Max Webers Weltbild geprägt wurde, und der sich nicht ohne weiteres auf andere historische Kontexte übertragen lässt. Heute erscheint es als fraglich, ob ein Legitimitäts­glaube von Beherrschten gegenüber den Herrschenden in derselben Weise als gegeben anzunehmen ist, wie zur Zeit Max Webers. Über die Abhängigkeit seiner Legitimitätsthese von historischen Entwicklungen war sich Max Weber selbst im Klaren. Joachim Heidorn weist darauf hin, dass „Webers Interpretation der geschichtlichen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft […] wesentliche Einsichten in mögliche Ursachen einer Legitimationskrise dieser Gesellschaftsordnung“ enthält. Zwar spricht Weber nicht explizit von einer Legitimationskrise, beschreibt aber einen Prozess, der dazu führt, dass die Mitglieder einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung diese Ordnung in Frage stellen.[84] Durch fortschreitende Rationalisierung wird der emotional-affektuelle Offenbarungsglaube als Grundlage charismatischer Herrschaft durch technokratische Organisation von außen abgelöst. Damit geht jedoch ein Wert, durch den der Legitimitätsglaube motiviert war, verloren, ohne durch einen neuen Wert ersetzt zu werden. Die Folge ist eine Sinnentlehrung des Lebens der Beherrschten und der Wegfall der Motivation des Legitimitätsglaubens.[85] Heino Speer kritisiert an Webers Legitimitätsthese, dass der Begriff des Legitimitätsglaubens nicht konsequent angewandt wird. Sein Vorwurf richtet sich in erster Linie auf den – seiner Ansicht nach unbegründeten – Ersatz des Legitimitätsglaubens durch die Anerkennung der Faktizität bei der Behandlung der traditionalen wie legalen Herrschaft.[86] Speer folgert daraus die Notwendigkeit einer Differenzierung des Begriffs des Legitimitätsglaubens in zwei unterschiedliche Aspekte der Legitimitätsgeltung: Zum einen ist dies die reflektierte Orientierung an der Verbindlichkeit einer Ordnung, also eine normative Legitimitätsgeltung, bei der charismatischen beziehungsweise wertrationalen Legitimität. Auf der anderen Seite steht die unreflektierte Hinnahme einer Ordnung als effektive Legitimitätsgeltung bei der legalen beziehungsweise traditionalen Legitimität.[87] Inwiefern Heino Speer mit seiner Differenzierung Recht zu geben ist, bleibt eine Frage der Weber-Interpretation.

Vergleichsweise klar ist die Frage der Legitimität bei Hannah Arendt, sofern man sich mit einer Definition von Legitimität der Macht, nicht aber der Herrschaft, zufrieden gibt. Legitim ist alles, was die Mitglieder einer Gruppe, die sich frei zu gemeinsamem Handeln zusammengeschlossen haben, beschließen.[88] Hannah Arendt lässt dabei die konkrete Beschlussform offen und verzichtet auf die Diskussion unterschiedlicher Demokratie-Modelle. Sie differenziert jedoch zwischen Legitimität beziehungsweise Rechtfertigung von Macht und Gewalt. Macht bedarf demnach keinerlei Rechtfertigung, „da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist“. Jedoch bedarf Macht der Legitimität. Diese ist nicht mit den zukünftigen Zielen und Zwecken, die eine Gruppe durch ihr Handeln verfolgt, verbunden, sondern leitet sich einzig durch den Machtursprung, das heißt die Gründung der Gruppe, in der Vergangenheit ab.[89] Umgekehrt verhält es sich bei der Gewalt, die als Mittel unter Berufung auf einen Zweck zwar gerechtfertigt, aber niemals legitim sein kann.[90] Folglich sind auch Formen illegitimer Macht denkbar. Mit Blick auf poststalinistische Sowjetunion spricht Hannah Arendt von einer solchen illegitimen Macht, die die Stufe der totalen Herrschaft überwunden habe, jedoch angesichts der latent noch immer vorhandenen Totalität der Herrschaft wieder auf diese Stufe zurückfallen könne.[91]

[...]


[1] Max Weber: Grundriss der Sozialökonomie. III. Abteilung: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 19473. S. 28

[2] Ebd. S. 28

[3] Vgl. ebd. S. 29

[4] Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 2000. S. 45

[5] Vgl. ebd.

[6] Vgl. ebd. S. 124

[7] Vgl. ebd. S. 612

[8] Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 200611. S. 814 f.

[9] Ebd. S. 832

[10] Ebd. S. 818

[11] Vgl. Leo Trotzki: Die permanente Revolution. Essen 1993

[12] Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 200611. S. 819

[13] Vgl. ebd. S. 841

[14] Vgl. ebd. S. 843

[15] Vgl. ebd. S. 846

[16] Ebd. S. 902

[17] Ebd.

[18] Ebd. S. 846

[19] Max Weber: Grundriss der Sozialökonomie. III. Abteilung: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 19473. S. 753

[20] Ebd. S. 758

[21] Vgl. Heino Speer: Herrschaft und Legitimität. Zeitgebundene Aspekte in Max Webers Herrschaftssoziologie. Berlin 1978. S. 42

[22] Vgl. ebd. S. 44 ff.

[23] Vgl. ebd. S. 46 f.

[24] Vgl. Ernst Vollrath: Hannah Arendt. In: Karl Graf Ballestrem / Henning Ottmann (Hrsg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts. München 1990. S. 16

[25] Dieter Nohlen: Lexikon der Politik. Band 7: Politische Begriffe. München 1998. S. 126

[26] Vgl. ebd. S. 653

[27] Vgl. ebd. S. 647 f.

[28] Ernst Vollrath: Hannah Arendt. In: Karl Graf Ballestrem / Henning Ottmann (Hrsg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts. München 1990. S. 17

[29] Vgl. ebd. S. 16

[30] Max Weber: Grundriss der Sozialökonomie. III. Abteilung: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 19473. S. 758

[31] Manfred Reist: Die Praxis der Freiheit: Hannah Arendts Anthropologie des Politischen. Würzburg 1990. S. 264

[32] Vgl. ebd. S. 753

[33] Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 200611. S. 872

[34] Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 200014 S. 47

[35] Vgl. ebd. S. 36

[36] Vgl. ebd.

[37] Vgl. ebd. S. 39

[38] Ebd. S. 43

[39] Vgl. Manfred Reist: Die Praxis der Freiheit: Hannah Arendts Anthropologie des Politischen. Würzburg 1990. S. 264

[40] Ebd. S. 265

[41] Vgl. ebd.

[42] Vgl. Claus Leggewie: Herrschaft. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik. Band 1: Politische Theorien. Hg.v. Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze. München 1995. S. 180-190. Hier S. 182

[43] Vgl. ebd. S. 183

[44] Vgl. ebd. S. 185

[45] Vgl. ebd. 183 f.

[46] Vgl. Klaus-Michael Kodalle: Thomas Hobbes – Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens. München 1972. S. 9

[47] Vgl. Herfried Münkler (Hrsg.): Niccolò Machiavelli: Politische Schriften. Frankfurt/Main 1990. S. 52 f.

[48] Vgl. dazu die Anmerkung von Hans Lenk zur Trennung zwischen „Entdecker“ und „Erfinder“ in der Wissenschaft in: Hans Lenk: Moralische Herausforderung der Wissenschaft? In: Hans Lenk (Hrsg.): Wissenschaft und Ethik. Stuttgart 1991. S. 7-24. Hier S. 11

[49] Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Tübingen 19765. S. 328, 329 u. 354

[50] Stefan Breuer: Max Webers Herrschaftssoziologie. Frankfurt/Main 1991. S. 60

[51] Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Tübingen 19765. S. 349

[52] Vgl. Stefan Breuer: Max Webers Herrschaftssoziologie. Frankfurt/Main 1991. S. 60

[53] Vgl. Max Weber: Soziologie. Universalgeschichtliche Analyse. Politik. Hg.v. Johannes Winckelmann. Stuttgart 1973. S. 265

[54] Ebd. S. 267

[55] Vgl. Wolfgang Schluchter: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber. Frankfurt am Main. 1980. S. 10

[56] Vgl. ebd.

[57] Vgl. ebd. S. 11

[58] Vgl. ebd. S. 39

[59] Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziolgie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung. Berlin. 1980. S. 33

[60] Vgl. ebd.

[61] Ebd.

[62] Vgl. ebd.

[63] Ebd. S. 35

[64] Vgl. Reinhard Bendix: Freiheit und historisches Schicksal. Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen. Frankfurt am Main. 1992. S. 35

[65] Vgl. Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hg.v. Johannes Winckelmann. Tübingen 19713. S. 63 ff.

[66] Vgl. Günther Roth: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen 1983. Frankfurt am Main. 1987. S. 15

[67] Vgl. ebd.

[68] Vgl. ebd.

[69] Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 19896. S. 33

[70] Ebd. S. 62

[71] Vgl. Manfred Reist: Die Praxis der Freiheit. Hannah Arendts Anthropologie des Politischen. Würzburg 1990. S. 129

[72] Wolfgang Heuer: Politik und Verantwortung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 39. Jahrgang 2006. S. 8-15. Hier S. 8

[73] Vgl. ebd.

[74] Ebd.

[75] Vgl. ebd.

[76] Ebd.

[77] Vgl. ebd. S. 8 f.

[78] Vgl. Hannah Arendt: Was ist Politik? München 1993. S. 52

[79] Wolfgang Heuer: Politik und Verantwortung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 39. Jahrgang 2006. S. 8-15. Hier S. 9

[80] Vgl. ebd. S. 11

[81] Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 2000. S. 56

[82] Vgl. Joachim Heidorn: Legitimität und Regierbarkeit. Studien zu den Legitimitätstheorien von Max Weber, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und der Unregierbarkeitsforschung. Berlin 1982. S. 12

[83] Vgl. ebd. S. 13

[84] Vgl. ebd. S. 51

[85] Vgl. ebd. S. 53

[86] Vgl. Heino Speer: Herrschaft und Legitimität. Zeitgebundene Aspekte in Max Webers Herrschaftssoziologie. Berlin 1978. S. 87

[87] Vgl. ebd. S. 89

[88] Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 2000. S. 53

[89] Vgl. ebd.

[90] Vgl. ebd.

[91] Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 19865. S. 491

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2008
ISBN (PDF)
9783958205451
ISBN (Paperback)
9783958200456
Dateigröße
9.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Kontextuierung kritische Reflexion Staatsmacht Staatsgewalt Totalität
Zurück

Titel: Macht Herrschaft Gewalt? Eine vergleichende Analyse des Herrschaftsbegriffs bei Max Weber und Hannah Arendt
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
29 Seiten
Cookie-Einstellungen