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Marionette einer fremden Macht: Nathanael und der Automat in E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“

©1999 Studienarbeit 22 Seiten

Zusammenfassung

In E.T.A. Hoffmanns Gesamtwerk kommen künstliche Menschen in vielfacher Ausführung vor, wobei sich die Novelle ‘Der Sandmann’ sehr gut zur Darstellung der seelischen Auswirkungen des Automaten auf den Menschen eignet. Weiterhin ist darin das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft unter Berücksichtigung des Schicksalsaspekts von zentraler Bedeutung. Ein Abriss der Geschichte des Automatenmotivs in der Literatur sowie der dazu parallel laufende technische Fortschritt ordnen die Erzählung in einen größeren Kontext ein. Dabei wird sowohl die Bedeutung der Marionette in der Literatur berücksichtigt, als auch das große Interesse der Romantik am Automatenmotiv, welches Kritik am rationalen Menschenbild der Aufklärung beinhaltet. Eine eingehende Textanalyse beleuchtet Nathanaels Darstellung als Marionette einer fremden Macht, seine Beziehung zu Clara und Olympia, Olimpias Funktion als Spiegel für Nathanael narzisstische Persönlichkeit sowie Hoffmanns Kritik an einer automatisierten Gesellschaft.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2 Entwicklung des Automatenmotivs

2.1 Geschichte des Automaten in Literatur und Technik

Das Motiv des künstlichen Menschen taucht bereits in der antiken Mythologie auf. Bei Hesiod erfahren wir vom Mythos der Pandora. Weil Prometheus den Göttern das Feuer gestohlen hatte, gab der griechische Göttervater Zeus He­phaistos den Auftrag, eine Frau zu bauen, um die damals nur aus Männern bestehende Menschheit zu bestrafen. Epimetheus verliebte sich in die künstliche Frau Pandora trotz der Warnung seines Bruders Prometheus. Als er sie zu sich nahm, öffnete sie ihre Büchse, aus der heraus sich Krankheit und Übel auf der Welt verbreiteten.

In Ovids Metamorphosen findet sich die Erzählung über den Bildhauer Pygmalion. Aus Ärger über die echten Frauen schuf dieser sich eine Statue. Diese war aber von solcher Schönheit und Perfektion, dass er sich in sie verliebte. Die Göttin Aphrodite erfüllte ihm schließlich seinen größten Wunsch und schenkte der Statue das Leben.

Zu jener Zeit war es technisch bereits möglich, selbstbewegliche mechanische Kunstwerke zu bauen. Spitzenleistungen brachte die Schule von Alexandria hervor. Byzanz wurde später ein weiteres Zentrum des Automatenbaus, in dem prunkvolle Automaten zu Repräsentationszwecken entstanden.

In der Literatur des Mittelalters kommen wiederholt Automaten vor, u.a. bewegliche Statuen und mechanische Vögel, wobei der damalige Stand der Technik den Bau letzterer durchaus erlaubte. In den Bereich der Sage gehören dagegen der mechanische Türsteher des Albertus Magnus und der sprechende Kopf des Papstes Sylvester II., der den Papst bei schwierigen Fragen beraten haben soll.

Mit dem Aufblühen der Uhrmacherkunst im 14. Jahrhundert konnten immer kompliziertere Automaten gebaut werden. Das Uhrwerk selbst galt seit dem 18. Jahrhundert als Symbol der Ordnung und Harmonie sowie des von Gott geschaffenen, regelmäßig funktionierenden Universums. Im 16. Jahrhundert avancierten die Automaten zum Repräsentationsobjekt des Adels, der sich als einziger die teuren beweglichen Weihnachtskrippen, Wasserspiele und Tierautomaten leisten konnte.

Die technische Entwicklung ermöglichte im 18. Jahrhundert schließlich den Bau von im­mer naturähnlicheren Automaten. Eine herausragende Stellung als Automatenbauer erreichte der Mechaniker Jacques de Vaucanson mit seinem fast lebensgroßen Flötenspie­ler und seiner fressenden und verdauenden Ente. Es entstanden Maschinen, die die menschliche Sprache imitierten, und Automaten mit einem Höchstmaß an Menschenähnlichkeit. Die drei Androiden der beiden Schweizer Jacquet-Droz erregten so großes Aufsehen, dass ihren Erbauern ein Pakt mit dem Teufel nachgesagt wurde und eine Verurteilung durch die Inquisition drohte. Es kam danach tatsächlich zu immer mehr Betrügereien durch Scheinautomaten, also durch Menschen, die sich als Automaten ausgaben. Die Technik widmete sich schließlich hauptsächlich der Entwicklung von Nutzmaschinen.[1]

Bereits dieser kurze Abriss der Geschichte des Automaten verdeutlicht das ewige Streben des Menschen, genau wie die Götter Lebewesen zu erschaffen. Der Drang zur Perfektion macht die Technik zum Ersatz für die Natur. In den Automaten präsentiert sich vermeintlich die Ordnung der Schöpfung, des Lebens und der Gesellschaft. Dies macht die Kunstwerke für die Menschen attraktiv, aber auch unheimlich und verbindet sie mit Elementen des Dämonischen.

2.2 Entwicklung des Automatenmotivs aus dem Marionettenstil und seine Bedeutung für die Romantik

Hoffmann selbst zeigt früh Interesse an Automaten. Er informiert sich über Automatenbauer seiner Zeit und besucht im Oktober 1813 eine Automatensammlung in Dresden. Auch soll er selbst kleine Automaten angefertigt haben. Überhaupt herrscht ein großes Interesse an mechanischen Kunstwerken in der Romantik. Die obengenannten Androiden sind Sensationen. Ebenfalls großer Beliebtheit erfreuen sich Puppenspieler, einige Puppentheater können sich etablieren.[2]

In der Literatur schlägt sich dieses Interesse nieder, seit die perfekten Automaten mit Menschen verwechselbar sind.[3] Dort entwickelt sich das Automatenmotiv aus der dichterischen Behandlung der Marionette.

Die Marionette als eine an Fäden gebundene Puppe zeichnet sich durch eine von einem über sie stehenden Lenker erzeugte Beweglichkeit aus. Einerseits erscheint sie somit lebendig, andererseits ist sie von der Willkür des Lenkers abhängig. Die Marionette verkörpert also die „Zwitterhaftigkeit menschlicher Existenz“[4] und die Lenkung des Menschen durch das Schicksal oder eine höhere Macht. Diese Bedeutung der Marionette macht sie zu einem ausdrucksstarken Stilmittel in der deutschen Dichtung. In der Epoche des Sturm und Drang symbolisiert sie Resignation oder Auflehnung gegen das unabwendbare Schicksal, welches das nach Freiheit und Unabhängigkeit strebende Genie behindert. Die satirische und parodistische Seite der Marionette wird im Rationalismus hervorgehoben. Die Romantik vereint diese Elemente, bringt jedoch auch die Perspektive des Fädenziehers mit in die Dichtung ein. Vor allem findet sich immer wieder die für die romantische Periode charakteristische dualistische Weltauffassung, das Gespaltensein zwischen Welt und Ich, Natur und Geist.[5]

Neben der als negativ aufgefassten Abhängigkeit und Leblosigkeit bekommt die Marionette nun aber auch positive Nuancen zugesprochen. Bei Tieck ist es die Lenkbarkeit der Puppe, die sie zum Spielzeug für die Phantasie des Dichters geeignet macht. Kleist hingegen hebt die Harmonie in den Bewegungen der Marionette und die Einheitlichkeit des Mechanismus hervor. Die Betrachtung der Marionette als mechanische Einheit stellt dabei die Überleitung zum Automatenmotiv dar.[6]

Dieses findet sich bei zahlreichen Autoren der Romantik, u.a. bei Jean Paul, Clemens Brentano, Bonaventura, Achim von Arnim. In den Werken E.T.A. Hoffmanns, in denen neben Automaten auch Marionetten, Puppen, Alraune und Golems auftreten, bildet es ein zentrales Motiv.[7]

Das große Interesse der romantischen Dichter an künstlichen Menschen lässt sich damit begründen, dass das Automatenmotiv die wichtigsten Probleme der Romantik anspricht. Auf den wesentlichen Bedeutungselementen des Marionettenstils aufbauend, stellt das Automatenmotiv „die Frage nach dem Sinn und den Möglichkeiten der menschlichen Existenz, nach Freiheit oder Unfreiheit in Bezug auf einen christlichen Gott oder auf ein undefinierbares, ungreifbares Schicksal“.[8] Der Optimismus der Aufklärung, dass der Mensch die Schöpfung mechanisch erklären kann und somit in die Lage kommt, sie nachahmen zu können, wird kritisiert. Die Betrachtung der Schöpfung als Maschine oder Uhrwerk degradiert den Menschen zu einem Bestandteil der Maschine. Als Rädchen im Uhrwerk ist der Mensch abhängig, unfrei und der Geistlosigkeit eines maschinalisierten Lebens unterworfen.[9]

Hoffmann möchte durch die Verwendung des Automatenmotivs dem Leser und der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, da sich für ihn „in einer Automate, ihrem Scheinleben und ihren Beziehungen zu ihrer organischen Umwelt das Verhältnis Mensch – Welt – Technik, das Verhältnis Mensch zu Mensch und die Beziehungen des Individuums zu Gott und der Welt widerspiegeln und symbolisieren“.[10] Im „Sandmann“ wird die Beziehung zwischen dem künstlerischen, phantasiebegabten Menschen und der be­schränkten, materialistischen Gesellschaft dargestellt. Das Automatenmotiv kann dabei unter dem Gesichtspunkt des zerrissenen Künstlers gesehen werden, der auf der Suche nach Anerkennung erstarrt, sowie in Bezug auf die leblose Gesellschaft, welche Gefühle zugunsten eines mechanischen Verhaltens unterdrückt.[11]

3 Das Automatenmotiv im „Sandmann“

3.1 Nathanael als Automat

Das Automatenmotiv begegnet uns im „Sandmann“ bereits im ersten Brief Nathanaels, in dem er ein traumatisches Erlebnis aus seiner Kindheit beschreibt. Von unwiderstehlicher Neugier getrieben, versteckt sich der zehnjährige Nathanael im Zimmer seines Vaters, um die Identität des geheimnisvollen Sandmanns zu ergründen. Als er die Gestalt des Advokaten Coppelius, den die Kinder als unheimlichen Gast kennen, erblickt und diesen für sich mit dem furchterregenden Sandmann identifiziert, ist er in seinem Ver­steck wie „festgezaubert“[12], d.h. er kann sich vor Grauen und Faszination nicht vom Fleck bewe­gen. So beobachtet er seinen Vater und Coppelius, wie sie versuchen, einen Automaten zu bauen. Als ihm Menschengesichter ohne Augen erscheinen, treibt ihn das Entsetzen aus seinem Versteck in die Arme des Coppelius, der dem Jungen die Augen stehlen will. Davor kann der Vater seinen Sohn noch bewahren, allerdings ist Nathanaels Grauen so groß, dass er sich dem Sandmann hilflos ausgeliefert fühlt. Dies zeigt sich an seiner Vorstellung, dass Coppelius ihm die Hände und Füße abschraubt und woanders wieder einzusetzen versucht. Nathanael wird hier als Automat, sein Organismus als Mechanismus behandelt. Dazu kommt das teuflische Erscheinungsbild des Advokaten, das ihn in die Nähe des Schicksals rückt und für Nathanael zu einer Verderben bringenden Kraft macht. Nathanael fühlt sich demnach hier und im weiteren Verlauf der Geschichte als Marionette einer fremden Macht.[13]

Diese sieht seine Verlobte Clara zwar als nur in seinem Inneren existent, bezeichnet sie aber trotzdem treffend als „dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Innerstes legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen, verderblichen Weg, den wir sonst nicht betreten haben würden“ (H 14, 13-16). Mehrmals fühlt sich Nathanael von dieser Macht in die Gefahr gezogen: Als der Wetterglashändler Coppola in seiner Wohnung auftaucht, stürzt ihn das in eine „zerrissene Stimmung des Geistes“ (H 3, 12); er sieht sein Liebesglück mit Clara von Coppelius gefährdet; eine „unwiderstehlich[e] Gewalt“ (H 28, 19) treibt ihn mehrmals dazu, Olimpias Anblick zu verfallen. Ebenso könnte man den Brand in seiner Wohnung, der ihn zwingt, gegenüber von Spalanzani ein Zimmer zu beziehen, schicksalhaft nennen, da dies die nähere Bekanntschaft mit Olimpia ermöglicht.

Schließlich reagiert Nathanael im Wahnsinn „in gräßlicher Raserei tobend“ (H 36, 36), „wie ein gehetztes Tier“ (H 39, 25) und „mechanisch“ (H 39, 20). Diese Ausdrücke verdeutlichen, dass er nur noch automatisch, also ohne Überlegung und ohne eigenen Willen handelt.[14]

Es muss beachtet werden, dass Claras und Nathanaels Positionen zwei verschiedene Wirklichkeitsauffassungen zugrunde liegen, die auch beide für sich gesehen logisch sind. Daher kann keine absolute Aussage über das Schicksal gemacht werden.[15]

3.2 Nathanael und Olimpia

Auch der Beziehung Nathanaels zum Automaten Olimpia greift Clara mit folgenden Worten voraus:

„Es ist auch gewiß [...], daß die dunkle psychische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so daß wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt spricht. Es ist das Fantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Gemüt uns in die Hölle wirkt, oder in den Himmel verzückt.“ (H 14, 24-34)

Auf diese Textstelle wird im Folgenden zurückgegriffen werden.

Nathanael sieht Olimpia das erste Mal, als er bei seinem Physikprofessor Spalanzani ist. Wieder ist es eine fremde Macht, die ihn etwas tun lässt, was sein ganzes Leben verän­dern wird. Durch einen kleinen Spalt erblickt er ein „hohes, sehr schlank im reinsten Ebenmaß gewachsenes, herrlich gekleidetes Frauenzimmer“ (H 16, 24-26). Er bewundert ihre perfekte Schönheit, bemerkt aber auch ihre starren Augen, die ohne Sehkraft sind und ihm Olimpia unheimlich erscheinen lassen. Dieses Urteil stimmt mit dem seiner Freunde überein, nachdem sie Olimpia auf dem Ball gesehen haben. Auch sie finden Spalanzanis vermeintliche Tochter schön, aber durch ihren Blick, welcher „ohne Le­bensstrahl [...], ohne Sehkraft“

3.2.1 Die Belebung Olimpias

Zu diesem Zeitpunkt ist Nathanael bereits blind vor Liebe, da er den Automaten für sich beseelt hat. Dies geschieht nach seinem Einzug in das Haus gegenüber von Spalanzani, denn dadurch kann er aus seinem Fenster genau in das Zimmer blicken, in dem Olimpia, ohne sich zu bewegen, sitzt. Zunächst ist sie ihm äußerst gleichgültig; er betrachtet sie als „schöne Bildsäule“ (H 26, 9), zumal er ihr Gesicht nur „undeutlich und verworren“ (H 25, 36-26, 1) wahrnehmen kann.

Dies ändert sich, als Coppola ihm ein Perspektiv verkauft, durch das er alles scharf und klar erkennen kann, so auch Olimpias Gesicht. Doch gerade dadurch werden Nathanaels Augen, die als Organe der visuellen Wahrnehmung auch „als Metapher für Erkenntnis schlechthin“[16] gelten, getäuscht. Das Perspektiv als „Symbol einer fremdbestimmten, von außen gelenkten Wahrnehmung“[17] verzerrt Nathanaels Perzeption und lässt ihn das Tote mit dem Lebendigen verwechseln.

Als Künstler empfindet Nathanael stets sehr intensiv und ist gefühlsbetonter als seine für ihn „kalte prosaische“ (H 33, 15) Umwelt. Hoffmann stellt dies mit Ausdrücken wie „entzünde[n]“ (H 24, 12), „glühen“ (H 30, 24) und „hoch entflammt“ (H 31, 8) klar heraus. Ebenso ist Nathanaels Wahnsinn mit Begriffen aus demselben Wortfeld dargestellt: „mit glühenden Krallen“ (H 36, 20f.), „Feuerkreis“(H 36, 23).

Diesen Gefühlsüberschwang und Überfluss an Lebensenergie kann Nathanael nun durch das Perspektiv kanalisieren und auf Olimpia übertragen.[18] Mit jedem schärferen Blick durch das Fernrohr entzündet er die Sehkraft des Automaten, so dass dieser ihm schließlich als „himmlisch-schöne“ (H 27, 33) Frau erscheint. Von diesem Augenblick an brennt Nathanael vor Leidenschaft und Liebe zu ihr. Dabei wird sein Verlangen durch einen vorläufigen Entzug seines Lustobjekts unermesslich gesteigert; er kann nur noch an Olimpia denken und verdrängt Clara aus seinem Herzen.

Umso erfreuter ist er, als er zu Spalanzanis Fest eingeladen wird, auf welchem des Pro­fessors Tochter in die Gesellschaft eingeführt werden soll. Dort muss allerdings die Bele­bung der Holzpuppe von neuem durchgeführt werden. Erst als Nathanael durch das Per­spektiv Olimpias sehnsüchtigen Liebesblick erschaut, wird auch ihre Musik beseelt.[19] Beim Tanz wird seine Wärme ebenfalls durch das Auge sowie durch das Ergreifen von Olimpias Hand auf seine hölzerne Partnerin übertragen. Zum dritten Mal wiederholt sich dieser Vorgang beim Abschiedskuss: Ihre „eiskalte[n] Lippen“ (H 31, 26) werden von Nathanaels heißen belebt.

Der Vorgang der Belebung von Unbelebtem durch die Übertragung von Lebensenergie rückt das Automatenmotiv in die Sphäre des Unheimlichen und der Magie, zumal Olim­pia nur auf Kosten Nathanaels lebendig erscheinen kann.[20]

3.2.2 Vergleich Clara – Olimpia

Im Gegensatz zu Nathanael ist Olimpia durch Ausdrücke aus dem Bereich ,Kälte‘ ge­kennzeichnet, was auf ihre Leblosigkeit hindeutet. So wird Nathanael beim Ergreifen ihrer Hand von „grausigem Todesfrost“ (H 30, 20) erfasst, und ihr kalter Kuss lässt ihn an die Legende von der toten Braut denken.

Clara wirkt auf Nathanael jedoch genauso kalt. Ihr „kaltes prosaisches Gemüt“ (H 22, 10) bereitet ihm Verdruss, da er sich unverstanden fühlt. Überhaupt treten im Text sehr viele Parallelen zwischen Claras Beschreibung und der des unbelebten Automaten auf. Am Anfang sieht Olimpia aus, „als schliefe sie mit offnen Augen“ (H 16, 31f.), während Nathanael kurze Zeit später Claras „nicht zu besiegende geistige Schläfrigkeit“ (H 22, 8) beklagt. Ferner benutzt Nathanael ähnliche Begriffe, um seine zwei Partnerinnen zu ido­lisieren: Solange er Clara liebt und sie ihn nicht kritisiert, ist sie sein „süßes liebes En­gelsbild“ (H 17, 4f.), hat ein „himmlisch reines, herrliches Gemüt“ (H 38, 35) und einen leuchtenden Geist. Olimpia lobt er mit den Worten „O du herrliches, du tiefes Gemüt“ (H 34, 18f.), „hoher herrlicher Liebesstern“ (H 28, 35) und „himmlische Frau“ (H 31, 12f.).

Zudem ähneln sich Clara und Olimpia in der äußeren Erscheinung. Zwar gilt Clara nicht direkt als schön, aber von Architekten werden „die reinsten Verhältnisse ihres Wuchses“ (H 19, 22) gelobt. In gleicher Weise muss Siegmund Olimpias regelmäßigen Wuchs aner­kennen. Enthusiasten sehen aus Claras Augen „wunderbare himmlische Gesänge und Klänge [ihnen] entgegenstrahlen“ (H 19, 32f.), während Nathanael in Olimpias Augen „feuchte Mondesstrahlen“ (H 27, 29) aufgehen sieht.

Weiterhin umfassen die sprachlichen Fähigkeiten des Automaten nur die Interjektion „Ach!“ und die formelhafte Wendung „Gute Nacht, mein Lieber!“ (H 34, 18). Ebenso liegt es Claras „schweigsamer Natur“ (H 20, 8f.) nicht, viel zu reden.

Olimpia ist also „eine radikalere Nachbildung der Clara“[21], was die beiden als Partnerin­nen für Nathanael austauschbar macht.

3.2.3 Der Automat als Reflektor

Was Nathanael an Clara und Olimpia bindet, ist ihre Leere, die seine Phantasieproduktion herausfordert.[22] Clara kann jedoch Nathanaels „dunkle, düstere, langweilige Mystik“ (H 22, 11f.) nicht verstehen, weshalb sie ihren Verlobten kritisiert. Von ihrem kalten Gemüt abgestoßen, weicht dieser daher auf Olimpia aus, die sich als tote Puppe seinen stundenlangen Lesungen nicht widersetzen kann. Ironischerweise beschimpft Nathanael Clara gerade in dem Moment mit den Worten „Du lebloses, verdammtes Automat!“ (H 24, 4f.), als sie sich seiner anzunehmen versucht.

Doch Nathanael benötigt „Partner, die sich als Echo seines Inneren gebrauchen lassen“[23], was bedeutet, dass er nur seine Gedanken aus dem Mund seiner Partnerin hören will. Er verträgt keine Kritik, ist also auch zu echter, zweiseitiger Kommunikation nicht fähig.[24] Olimpias „gänzliche Passivität und Wortkargheit“ (H 34, 30f.) macht sie deshalb zur perfekten Partnerin für Nathanael. Das ständige „Ach!“ ist dabei das Minimum an Kommunikation, „das den Eindruck des Monologs verhindert“[25] ; es ist ein Zeichen für mögliches Verständnis. Aus diesem Grund kann Nathanael dieses Wort auch „als echte Hieroglyphe der innern Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens in der Anschauung des ewigen Jenseits“ (H 33, 22-24) bezeichnen. In das an sich sinnleere „Ach!“ kann Nathanael sein gesamtes Innenleben hineinprojizieren und als Olimpias Antwort herauslesen.

Überhaupt fungiert Olimpia als Gefäß, das Nathanaels überschwängliche Gefühle und überströmende Lebensenergie in sich aufnimmt. So eignet sie sich auch als Spiegel für Nathanaels narzisstische Persönlichkeit.[26] Seine Worte „Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt“ (H 31, 14) und „nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder“ (H 33, 18f.) zeigen also nicht nur, dass er sich von Olimpia vollkommen verstan­den fühlt, sondern vor allem, dass es unmöglich ist, vom Automaten missverstanden zu werden. Olimpias Funktion als Spiegel verschafft Nathanael eine Illusion des Verständ­nisses seiner Kunst und der Bestätigung, die er braucht, um sich geliebt zu fühlen und um seine Identität zu akzeptieren.[27]

Wie in Claras oben zitierten Worten ist dementsprechend aus Nathanaels Außenwelt eine fremde Gestalt in sein Leben getreten, die er mit seiner Wärme zum Leben erweckt hat, so dass er nun seine Gedanken, sein eigenes Ich in Olimpia erkennt und sie ihn als vermeintliche Seelenverwandte „in den Himmel verzückt“ (H 14, 34).

3.2.4 Olimpias Zerstörung

Dass er getäuscht worden ist, wird Nathanael erst mit der Zerstörung des Automaten bewusst. Doch auch diese Erkenntnis vollzieht sich nur allmählich, was den hohen Grad von Nathanaels Verblendung verdeutlicht.

Nathanael geht mit dem Vorhaben, Olimpia einen Heiratsantrag zu machen, zu Spalanza­nis Wohnung hinauf, als er aus dem Zimmer des Professors Lärm und zwei wütende Stimmen hört. Drinnen sieht er Spalanzani und Coppola um „eine weibliche Figur“ (H 35, 28) kämpfen. Entsetzen und Zorn flammen in ihm auf, als er in ihr Olimpia erkennt. Doch selbst da sieht Nathanael in ihr noch seine Geliebte, die er verteidigen muss. Erst als Olimpias Füße „auf den Stufen hölzern klapper[n] und dröhn[en]“ (H 36, 5f.) und vor allem, als er statt Augen in ihrem Gesicht „schwarze Höhlen“ (H 36, 8) erblickt, nimmt Nathanael wahr, dass es sich bei seiner Seelenverwandten um einen Automaten handelt.

Die Augen, die als „Seelenorgan“[28] gelten, sind das Kriterium, anhand dessen sich Mensch und Maschine unterscheiden lassen. Durch ihr Fehlen kann Olimpias Automatenwesen nicht mehr verdeckt werden. Außerdem ist Nathanael nun nicht mehr in der Lage, Olimpia durch die Augen zu beleben; sie verliert ihre Funktion als Reflektor und als Projektionsfläche seiner Ideale. Da sich Nathanael mit all seinen Gefühlen und seiner ganzen Lebensenergie Olimpia hingegeben hatte (H 33, 34f.: „er lebte nur für Olimpia“), muss ihre Zerstörung unweigerlich für ihn zum Wahnsinn führen.[29]

3.3 Die Automatenbauer

Olimpias Erbauer ist Nathanaels Physikprofessor Spalanzani, den Hoffmann an einer Stelle als „geschickten Mechanicus und Automat-Fabrikanten“ (H 37, 3f.) bezeichnet. Aus seiner Entrüstung, dass Coppelius/Coppola ihm sein bestes Automat geklaut hätte, geht hervor, dass er schon mehrere Automaten gebaut haben muss. Verständlich ist da, dass ihm Nathanaels Besuche bei Olimpia sehr willkommen sind und er ihm „allerlei un­zweideutige Zeichen seines Wohlwollens“ (H 34, 37-35, 1) gibt, bestätigt sich doch durch die Täuschung der Außenwelt seine Kunstfertigkeit.

Zur Benennung nach einem der berühmtesten Naturforscher, Lazzaro Spallanzani (1729–1799), dürften Hoffmann dessen Versuche veranlasst haben, Tiere künstlich zu befruchten. Dieser Aspekt kann in Zusammenhang mit der biologisch-magischen Menschenproduktion gesehen werden, einer Sache, die Alchimisten und Magier aller Zeiten beschäftigt hat. Dabei wurde versucht, aus verschiedenen Rohstoffen, unter denen Sperma eine besondere Rolle spielte, einen künstlichen Menschen, den sogenannten Homunkulus, zu erschaffen.[30]

Dies wiederum verbindet das Automatenmotiv noch enger mit der Magie und dem Un­heimlichen, was sich auch in der Erscheinung der Automatenbauer zeigt. Spalanzani wird von Nathanael als „wunderlicher Kauz“ mit „aufgeworfnen Lippen“ und „kleinen ste­chenden Augen“ (H 16, 15-17) beschrieben. Als er durch den dunklen Ballsaal schreitet, klingen seine Schritte „hohl wider“, „von flackernden Schlagschatten umspielt“ bekommt er „ein grauliches gespenstisches Ansehen“ (H 31, 33-34). Diese Beschreibung ähnelt der seines Helfers Coppola bzw. Coppelius. Jener hat „grünliche Katzenaugen“, die unter „buschigten grauen Augenbrauen [...] stechend hervorfunkeln“, und das „schiefe Maul [...] zum hämischen Lachen“ (H 7, 15-19) verzogen. Auf Nathanael wirkt er „widrig und abscheulich“ (H 7, 30). Dazu passt, dass Nathanaels Vater während der Szene im Labor dem Coppelius ähnelt und für den Jungen „zum häßlichen widerwärtigen Teufelsbilde“ (H 9, 5f.) wird.

Die Automatenbauer bekommen also bei Hoffmann – wie der Automat – nichtmenschliche Züge, die fremd, unnatürlich und grauenerregend erscheinen.[31]

[...]


[1] Vgl. zur Geschichte des Automaten Lieselotte Sauer: Marionetten, Maschinen, Automaten. Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik, Bonn 1983, S. 12-24.

[2] Vgl. Dietrich Kreplin: Das Automatenmotiv bei E.T.A. Hoffmann, Bonn 1957, S. 11ff.

[3] Vgl. Ulrich Hohoff: E.T.A. Hoffmann. Der Sandmann. Textkritik, Edition, Kommentar, Berlin und New York 1988, S. 335.

[4] Kreplin, S. 1.

[5] Ebd., S. 2ff.

[6] Ebd., S. 5f.

[7] Vgl. Hohoff, S. 335.

[8] Sauer, S. 341.

[9] Ebd., S. 342f.

[10] Kreplin, S. 117.

[11] Vgl. Sauer, S. 345f.

[12] E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, herausgegeben von Rudolf Drux, Stuttgart 1991, S. 8, Z. 27. Im Weiteren zitiert als Sigel (H plus Seitenzahl, Zeilenangabe).

[13] Vgl. Sauer, S. 233.

[14] Vgl. Hohoff, S. 338.

[15] Vgl. Rudolf Drux: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von E.T.A. Hoffmann bis Georg Büchner, München 1986, S. 81.

[16] Ebd., S. 84.

[17] Ebd.

[18] Vgl. Hohoff, S. 330.

[19] Vgl. Sauer, S. 234.

[20] Vgl. Hohoff, S. 337f.

[21] Brigitte Feldges, Ulrich Stadler: E.T.A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1986, S. 145.

[22] Ebd.

[23] Ebd., S. 146.

[24] Vgl. Drux, S. 84.

[25] Hohoff, S. 333.

[26] Ebd., S. 332f.

[27] Ebd., S. 333.

[28] Ebd., S. 337.

[29] Vgl. Kreplin, S. 81.

[30] Vgl. Sauer, S. 24f.

[31] Vgl. Hohoff, S. 323.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
1999
ISBN (PDF)
9783956848896
ISBN (Paperback)
9783956843891
Dateigröße
3.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Romantik künstlicher Mensch Schicksal Marionette Spiegel Literaturwissenschaft Schwarze Romantik Schauermärchen
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