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„Die Stadt“ in der Lyrik des Expressionismus: Heyms und Lichtensteins Stadtansichten

©2006 Bachelorarbeit 45 Seiten

Zusammenfassung

Die Großstadt spielt in der Lyrik des Expressionismus eine wichtige Rolle. Sie ist zu dieser Zeit das Zentrum der Kultur und die Menschen setzen sich mit dem neuen Leben in der Großstadt auseinander. Anders als auf dem Land leben sie anonym und in der Masse. Diese neuen Erfahrungen im Lebensraum 'Stadt' verarbeiteten die Autoren des Expressionismus in ihren Gedichten. Dieses Buch zeigt exemplarisch an den Gedichten 'Die Stadt' von Georg Heym und Alfred Lichtenstein wie sie diese neuen Erfahrungen künstlerisch und lyrisch verarbeitet haben. Zunächst wird die Zeit des Expressionismus und hier vor allem des Lebensraums Großstadt wird näher beleuchtet, anschließend werden die Gedichte formal analysiert. Die Darstellung der Stadt und die des Menschen werden im Weiteren näher betrachtet und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Gedichte analysiert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.2 Die Großstadt Berlin

Die fortschreitende Industrialisierung und die einsetzende Verstädterung An­fang des 19. Jahrhunderts stellen die Großstadt in den Mittelpunkt der zeitge­nössischen Lyrik. Viele der heute bekannten expressionistischen Autoren sind in einer Großstadt geboren bzw. aufgewachsen. Diese Tatsache stellt sich als einer der grundlegendsten Unterschiede zu vorherigen Epochen bzw. Stilrich­tungen, wie dem Naturalismus, heraus: die jungen Schriftsteller des Expressio­nismus waren Kinder der Stadt. Sie lebten in ihr und kehrten ihr nicht den Rücken, um sich in ländlichen Randgebieten niederzulassen.[1] Zu diesen Kin­dern der Stadt gehören auch Georg Heym, welcher 1887 in Schlesien geboren wurde und sich in Berlin dem 1909 gegründeten Neuen Club anschloss, und der in Berlin geborene und aufgewachsene Alfred Lichtenstein. Beide Autoren zählen zu den bemerkenswertesten Figuren des Berliner Frühexpressionis­mus.[2] Anhand ihrer gleichnamigen Werke „Die Stadt“ wird in den nächsten Kapiteln das Motiv der Großstadt analysiert. Um einen besseren Eindruck über die Lebensbedingungen und Erfahrungsbereiche der beiden Lyriker zu erhal­ten, wird zunächst ein sozialgeschichtlicher Überblick der Großstadt Berlin gegeben.

Die soziale Situation Berlins um die Jahrhundertswende ist geprägt durch eine schnell ansteigende Bevölkerungszahl, welche durch die Landflucht und die rasch fortschreitende Industrialisierung der vorausgegangenen Jahrzehnte be­dingt ist. Die Einwohnerzahl Berlins steigt in den Jahren 1871 von 826.000 auf eine Million Einwohner im Jahre 1877. Bis 1905 verdoppelt sich die Einwoh­nerzahl Berlins auf zwei Millionen und 1914 schließlich auf vier Millionen. Die Bevölkerungsdichte 1861 beträgt 89 Personen pro Hektar, 1881 schon 169 Personen pro Hektar und 1914 schließlich 286 Personen pro Hektar. Die fol­gende Tabelle ermöglicht einen Überblick über die Verteilung der einzelnen Berufsgruppen der Erwerbstätigen in der Reichshauptstadt im Jahre 1910.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Verteilung der Berufsgruppen der Erwerbstätigen in Berlin im Jahre 1910 (vgl. Läufer, B.: Jakob van Hoddis: Der Variete-Zyklus. S. 17f)

Anhand dieser Zahlen wird das soziale Gefälle, welches in Berlin herrscht, verdeutlicht. Dieses soziale Ungleichgewicht wird auch bei der Betrachtung der Wohnverhältnisse veranschaulicht. In den Mietskasernen, welche im letz­ten Drittel des 19. Jahrhunderts gebaut worden sind und dies vorwiegend im Norden und Osten der Stadt, wohnen 1912 etwa 600.000 Menschen. Die be­heizbaren Zimmer der Wohnungen werden jeweils mit fünf bis dreizehn Perso­nen belegt. Um die Kosten der Wohnungen tragen zu können, sehen sich viele Mieter jedoch noch gezwungen, Untermieter aufzunehmen.[3] Die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen, die Arbeitslosigkeit, die niedrigen Löhne sowie die epidemischen Krankheiten und der Alkoholismus führen bald zu einer Massenverelendung des neu entstandenen vierten Standes und daraus resultierenden sozialen und politischen Spannungen.[4] Im gleichen Zug entste­hen im Westen und Süden der Stadt die Villenkolonien der wohlhabenden Bürger, Industriellen, Adligen und höheren Beamten, welche durch den Aus­bau der Großindustrie ihre Macht und ihr Vermögen vermehrt haben.[5] Der Urbanisierungsschub, der nirgends deutlicher zu spüren war als in Berlin, ver­größert nicht nur die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, sondern bringt auch eine Zunahme an Verkehr und die Ansiedlung großer In­dustriefirmen in der Metallverarbeitung, im Maschinenbau, der Textilproduk­tion und der Elektroindustrie mit sich.[6] Die Berliner Expressionisten sind infol­gedessen dem Druck der Vermassung und der großstädtischen Enge so intensiv wie in keiner anderen deutschen Stadt ausgesetzt. Die Wirklichkeit der Expressionisten besteht aus Steinlabyrinthen, Mietskasernen, gejagten, stoßen­den und schiebenden Menschenmassen, qualmenden Fabriken, Maschinenge­kreische, rasselnden Straßenbahnen und wild hupenden Autos.[7] Die neuen Kommunikationsmittel und die erhöhte Verfügbarkeit von Nachrichten aus aller Welt, aber auch aus dem lokalen Bereich, führen zu einer steigenden Schnelllebigkeit.[8] Der in Berlin lehrende Soziologe und Philosoph Georg Sim­mel beschreibt die auf das Individuum einströmenden Eindrücke und die ver­änderten Wahrnehmungsbedingungen in seinem Aufsatz «Die Großstadt und das Geistesleben» wie folgt:

„Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Der Mensch ist ein Unterschieds­wesen, d.h. sein Bewußtsein wird durch den Unterschied des augenblicklichen Ein­drucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ih­rer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrau­chen sozusagen weniger Bewußtsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen.“[9]

Der stetige Rhythmus und die Geschwindigkeit des Alltags bieten dem Men­schen kaum noch Freiräume und demzufolge wird die Nervosität als perma­nenter Erregungszustand zur typischen Erkrankung des Großstadtbewohners.[10] Neben den raschen und wechselnden Eindrücken, die auf jeden Einzelnen ein­strömen, leidet der Großstadtmensch auch an der Vermassung und Entindivi­dualisierung der Stadt. Die Auswirkungen der enormen Entwicklung der mo­dernen Technologie, Industrie und Geldwirtschaft um die Jahrhundertwende beschreibt Simmel wie folgt:

„Jedenfalls, dem Überwuchern der objektiven Kultur ist das Individuum weniger und weniger gewachsen. Vielleicht weniger bewußt, als in der Praxis und in den dunklen Gesamtgefühlen, die ihr entstammen, ist es zu einer quantité négligeable herabgedrückt, zu einem Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation von Dingen und Mäch­ten, die ihm alle Fortschritte, Geistigkeiten, Werte allmählich aus der Hand spielen und sie aus der Form des subjektiven in die eines rein objektiven Lebens überführen. Es be­darf nur des Hinweises, daß die Großstädte die eigentlichen Schauplätze dieser, über alles Persönliche hinauswachsenden Kultur sind. Hier bietet sich in Bauten und Lehran­stalten, in den Wundern und Komforts der raumüberwindenden Technik, in den For­mungen des Gemeinschaftslebens und in den sichtbaren Institutionen des Staates eine so überwältigende Fülle kriystallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, daß die Per­sönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann.“[11]

Die Einwohner der Stadt werden zum Teil einer großen Masse, in der sich je­der behaupten muss. Ferner gewährt das Großstadtleben den Menschen kaum noch Freiräume, um ihre Individualität zu entfalten.[12] Durch die immer spürba­rere Ökonomisierung und Mechanisierung des äußeren Lebens droht das ei­gentlich Menschliche unter einer Anhäufung von Außenphänomenen, Institu­tionen und Konventionen abhanden zu kommen.[13]

Bei der Lyrik des Expressionismus könne man, so Rothe, von einer soziologi­schen Dichtung sprechen, welche das Schicksal der Einzelseele zwischen Tau­senden abwandelt. Demgegenüber steht der Lyriker, der das Neu-Werdende von außen betrachtet und das Bild, die Änderung und die Be­gebenheiten der Umwelt zu fixieren bzw. zu erfassen versucht.[14]

Die Großstadt Berlin erscheint den jungen Künstlern nach der Jahrhundert­wende „als der Ort eines ins großstädtische befreiten Lebens und Ort einer wahrhaft avancierten Kunst.“[15] Aus diesem Grund ziehen immer mehr junge Künstler nach Berlin. Die Stadt symbolisiert für sie die Ausgeburt der verab­scheulichten bürgerlichen Zivilisation. Das Großstadtleben dient den Künstlern als Katalysator für neu formulierte, den modernen, nervösen Lebensrhythmus reflektierenden Lyriktheorien.[16] Als der Neue Club finden sich die expressionisti­schen Autoren, unter ihnen auch Georg Heym, im Nollendorf-Casino in der Kleiststraße Nr. 41 in Berlin-Schöneberg zusammen und tragen ihre Dichtungen vor.[17]

Um noch einmal zusammenzufassen: Das Berlin der Jahrhundertwende ist ge­prägt von einer schnell anwachsenden Bevölkerung sowie einer großen Dis­krepanz zwischen den einzelnen sozialen Schichten. Dieses Spannungs­verhältnis wurde vor allem bei der Betrachtung der Verteilung der Erwerbstätigkeit der arbeitenden Bevölkerung und der Wohnsituation deutlich. Darüber hinaus bestimmen die Schnelligkeit des alltäglichen Rhythmus und die Mecha­nisierung das Leben der Städter. Die ständig wechselnden Impressionen der Stadt, die veränderten Wahrnehmungsbedingungen und der Ausbau des Kom­munikationssystems führen, nach Simmel, zu einer Steigerung des Nervenle­bens. Die Bewohner der Großstadt fühlen sich nicht mehr als Individuen, son­dern als Teil einer Masse. Die Lyriker greifen diese Thematik wieder auf und versuchen, die Großstadt von außen zu betrachten und zu erfassen. Ebenso spielt das Schicksal des Einzelnen innerhalb der Großstadtmasse eine Rolle in ihrer Dichtung. Dem Künstler diente die Großstadt, um neue Lyriktheorien zu formulieren, die dem modernen schnellen Lebensrhythmus angepasst waren. Nun stellt sich die Frage, wie die Dichter die veränderten Lebens- und Wahr­nehmungsbedingungen der Großstadt in ihren Gedichten umgesetzt haben.

3 Heyms und Lichtensteins «Die Stadt»

3.1 Formale Eigenheiten der Großstadtlyrik Heyms und Lichtensteins

Die Zeit des Expressionismus ist geprägt von Massendasein, Entindividualisierung und nicht zuletzt von der Industrialisierung. An die Stelle von manuellen und geistigen Fertigkeiten treten mechanische Arbeitsabläufe. Der daraus resultierende mechanische, zeitökonomische Rhythmus beschränkt sich nicht nur auf die Fabriken, sondern überträgt sich ins alltägliche Leben und wird somit zu einem Taktgeber für gleichförmige Bewegungsabläufe. Diese veränderten Umweltbedingungen verarbeiten die Berliner Frühexpressionisten in ihren Gedichten. Im weiteren Verlauf werden die formalen Eigenheiten der Großstadtlyrik Heyms und vor allem Lichtensteins anhand ihrer gleichnamigen Gedichte «Die Stadt» untersucht.

Das allgemeine Zeitgefühl der modernen technisierten Welt ist von Hektik und Geschwindigkeit bestimmt. Zeit stellt sich für den modernen Menschen in Form von beschleunigter, mannigfaltiger und paralleler Geschehensabläufe dar. Die Zeit sei somit zu gerafften Momentaufnahmen schnell wechselnder Eindrücke geworden, die das Individuum kaum noch begreifen und kontrollie­ren könne[18]. Es findet sich in seiner Wirklichkeit nicht mehr zurecht, sie wird ihm fremd und undurchschaubar, wodurch das Subjekt in eine tiefe Identitäts­krise gerate. Der Reihungsstil sei als Folge dieser Wahrnehmungsproblematik, die von der großstädtischen Wirklichkeit ausgelöst wurde, zu betrachten.[19]

Das im Reihungsstil geschriebene Simultangedicht, welches sowohl mit Heyms als auch Lichtensteins «Die Stadt» vorliegt, versucht durch die Reihung heterogener Wahrnehmungs- und Reflexionselemente der verwirrenden Viel­falt der Eindrücke in der Großstadt einen formal stimmigen Ausdruck zu ver­leihen. Simultanität sei gekennzeichnet durch die Verschiebung und Zerle­gung der Gegenstände, Zerstreuung und Verschmelzung der Einzelteile, die von der gebräuchlichen Logik befreit und nun voneinander unabhängig seien. Man müsse sichtbar machen, was sich unter der Oberfläche rege und was sich rechts und links von einem ereigne, so Vollmer. Diese Definition stimme ge­nau mit Lichtensteins literarischer Intention überein. Auch er versuche, die Gegenstände zu verschieben und zu zerlegen, zerstreut und verschmelzt die von der gewöhnlichen Logik befreiten und voneinander unabhängigen Einzel­teile, um die Gesamtheit eines Vorgangs in seiner Synchronität und Viel­schichtigkeit zu zeigen.[20] Heym notierte am 21. Juli 1910 in seinem Tagebuch:

„Ich glaube, daß meine Größe darin liegt, daß ich erkannt habe, es gibt wenig Nachein­ander. Das meiste liegt in einer Ebene. Es ist alles Nebeneinander.“[21]

Der Simultanstil ermöglicht den Dichtern, die Totalität des Daseins auszudrüc­ken.[22] Der Künstler sei nicht mehr ein Opfer der Welt, sondern ein Schöpfer und Gestalter dieser.[23] Der Dichter selbst fungiere dabei als Regisseur, der die Anordnung und Abfolge der Eindrücke bestimme und somit versuche, die Zeit zu versprachlichen.[24] Dabei gehe es nicht um die objektive Beobachtung und Rekonstruktion eines Außenstehenden, nur indirekt betroffenen Analytikers, sondern um die künstlerische Umsetzung subjektiver Wahrnehmungen. Die Dichtungen seien Werke eines die Stadt von innen her Betrachtenden, welcher unmittelbar mit ihr verbunden, von ihr abhängig und der Individualität zerstö­renden Kräfte ausgeliefert sei.[25] Das lyrische Ich verschwindet hinter der sach­lich protokollierten Wirklichkeit und erscheint abwesend. Es habe die Funktion eines neutralen Berichterstatters, der aus distanzierter Perspektive in aller Weltoffenheit gleichwertige Geschehensabläufe registriert und damit ein Ma­ximum an Objektivität gegenüber der Welt schaffe. Diese objektive und ichab­gewandte Darstellung des Weltzerfalls sei für Lichtenstein ein gewaltiger und konsequenter Akt der Befreiung von einer leidensverursachenden Lebensbe­drängnis. Die distanzierte Perspektive erhebe den Dichter über das Weltge­schehen bzw. Weltchaos heraus. Lichtenstein mache sich die zersplitterte Welt damit verfügbar.[26]

Das Simultangedicht werde durch den Verlust des zeitlichen Nacheinanders zeitlos, es scheint als stehe die Zeit in der Gleichzeitigkeit des Geschehens still und somit wirke sie räumlich. Durch den raschen Wechsel der Bilder verliere der Raum seine Einheit und löse sich auf. Das kompositorische Prinzip dieser Auflösung von Raum und Zeit ist die Methode der parataktischen Reihung. Die Parataxe eigne sich besonders für die assoziative Aneinanderreihung von Ein­drücken und ermögliche mit ihrem abgehackten Rhythmus eine rasche Proto­kollierung gleichzeitiger, schnell wechselnder Wahrnehmungsmomente. Dieses Phänomen finde man in der Lyrik meist in Form des Zusammenfalls von Satz- und Zeilenende.[27] Im Gegensatz zu Heym wendet Lichtenstein in seinem Ge­dicht «Die Stadt» die parataktische Reihung fast durchweg an, wobei Vers 7 und 8 sowie Vers 10 und 11, jeweils durch ein Enjambement miteinander ver­bunden, die Ausnahmen bilden. Auch das Metrum, sowohl bei Heym als auch bei Lichtenstein der fünfhebige Jambus, trage zur Protokollierung der Ein­drücke bei. Durch die Verwendung des Jambus entsteht bei den aneinander gereihten Zeilenaussagen eine gewisse Gleichmäßigkeit.[28] Dem stimmt auch Rölleke zu, der Greulichs Assoziation des Jambus als Marsch- und Maschinen-Rhythmus wiedergibt.[29] In Heyms «Die Stadt» verdeutliche das ständige Auf und Ab der Jamben sowie das Aufeinanderfolgen der immer stumpfen Reime das gewirkte Einerlei der gleichförmigen Stadt. Darüber hinaus stehe zehnmal ein gleichgültig reihendes «Und» (V. 1; 3; 4 (2x); 6; 7; 12 (3x); 14) und das Leitwort «stumpf» (V. 7) erscheine gleich zweimal in dem Gedicht und einmal das Wort «dumpf» (V. 11). Ebenso falle das dauernde Aussparen des Artikels, besonders in den beiden Terzetten, auf dass die Dinge unindividuell und plötz­lich erscheinen lasse. Diese formalen Aspekte stehen zudem in Bezug zu den teilnahmslos bzw. lethargisch anmutenden Sätzen.[30] Heym erziele durch die Fremdartigkeit seiner Vorwürfe, die strenge Sachlichkeit, die teilnahmslos Bild an Bild reiht, sowie die statische Regelmäßigkeit der Rhythmik, die ein brau­sendes Chaos in eine knappe und zugleich unbewegte Form sperrt, eine selt­same Wirkung.[31] Besonders bei Heym könne die traditionelle Form des Sonetts durchaus bestehen bleiben, da das chiliastische Sehen so stark sei, dass diese mit in die Katastrophe bzw. Apokalypse gerissen werde.[32]

Im Gegensatz zu Heym und auch Trakl arbeiten Lichtenstein und van Hoddis mit einer wesentlich radikaleren und wirklichkeitsdeformierenderen Reihungstechnik. Sowohl Lichtenstein als auch van Hoddis zersplittern die Wirklichkeit durch grotesk-komische Kontrastierungen, zerlegen die Realität in zusammen-hanglose Fragmente und fügen diese uneinheitlichen Scherben zu widersinnigen und akausalen Bilderreihen zusammen.[33] Diese grotesk-komische wirken­den Gegensätze sind typisch für die Lyrik Lichtensteins. Die Groteske laufe im Gegensatz zum Tragischen oder Komischen nicht auf eine Sinngebung oder eine Wiederherstellung eines harmonischen Weltverhältnisses hinaus, denn man erkenne die Welt dieser Harmonie in der Grotesken gar nicht mehr.[34] Voll­mer zieht die Definition der Grotesken Wolfgang Kaysers heran, der das Wesen des Grotesken in der entfremdeten Welt sieht. „Was uns vertraut und heimisch war, (enthüllt) sich plötzlich als fremd und unheimlich … Es ist un­sere Welt, die sich verwandelt hat.“[35] Eine weitere Begriffsbestimmung, auf die sich Vollmer beruft, ist die von Carl Pietzcker, welcher die Groteske wie folgt definiert:

„Die Struktur, in der die Erwartung, ein Sachverhalt werde in einer bereits bekannten Weise gedeutet, enttäuscht wird, ohne daß eine weitere, angemessene Deutungsweise bereitsteht. Im grotesken Werk müssen Zerstörung und Erhaltung des Erwartungshori­zontes in gespanntem Gleichgewicht stehen; nur so kann es die dem Grotesken oft zuer­kannte Wirkung erzielen, anzuziehen und zugleich abzustoßen.“[36]

Lichtenstein selbst schreibt über die Groteske:

„Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet, soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben. Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu finden.“[37]

Demnach versuche das Groteske, die Unvereinbarkeiten des existentiellen Be­reichs zu überbrücken. „Grotesk sei immerhin eine Brücke zu einem Weg“, heißt es in einer anderen Geschichte Lichtensteins.[38] Die Groteske sei die ästheti­sche Form, die der Entfremdung, Disharmonie und der Bedrohung Aus­druck verleihe und somit den Zerfall und die Auflösung des Weltzusammen­hangs veranschauliche.[39] Lichtenstein wende die Groteske vor allem bei der Verbindung zweier logisch unvereinbarer Vorstellungsbereiche, meist in Form von Adjektiven oder Verben, an. Diese beiden Bildbereiche werden dann zu gewichtigen Ausdrucksträgern und verleihen seinen Gedichten das typisch Groteske. Das Bild, dass durch die Kombination von Adjektiv, Substantiv und Verb (vgl. beispielsweise «Die Häuser sind halbtote alte Leute», V. 3) entsteht, gebe die von Lichtenstein gemeinte Situation in einer perspektivitischen Ver­zerrung wieder, welche die Diskrepanz zwischen Bild und realem Ereignis verdeutlichen soll. Lichtenstein beabsichtige nicht den real deutbaren Bereich darzulegen, sondern die räumliche Trennung zugunsten einer «ideelichen» Wirklichkeit zu entfernen. Die Bilder werden somit nicht zu Funktionen eines Gegenstandes, sondern einer in höchstem Maße subjektiven Einbildungskraft. Diese Kompromisslosigkeit des Sehens führe zur Kompromisslosigkeit des lyrischen Gedichtes und somit übertreffe er sowohl formal als auch sprachlich sein Vorbild und Wegbereiter Jakob van Hoddis.[40]

Des Weitern sei der neue Simultanstil, der die Werke Lichtensteins ab 1911 bestimme, nicht mehr auf die Schlusspointe angewiesen, wie es in Heyms Ge­dicht der Fall ist, sondern baue die weltverfremdende Groteske von vornherein auf, da jede Wahrnehmung der Wirklichkeit diese Verfremdung bereits ent­halte. Die den 1913 in der Aktion veröffentlichten «Dämmerungsgedichte», zu denen unter anderem auch «Die Stadt» zählt, zugrunde liegende Lyriktheorie zeigt einmal mehr die allgemeine Wahrnehmungsproblematik, die den neuen Stil herausgefordert habe. In seinem Kommentar zur «Dämmerung» beschreibt Lichtenstein die Intentionen, die das Gedicht bestimmen: Die Absicht des Künstlers sei es, die Wesensmerkmale der Zeit und des Raumes zugunsten der «Idee» zu beseitigen. Aus diesem Grund könne und müsse er für die «Idee» mit der traditionellen Raum-Zeit-Vorstellung brechen, denn nur auf diese Weise sei es möglich, die Totalität des Weltgeschehens sichtbar zu machen. Rühmkorf schreibt dazu:

„Als ob hier einer nichts so sehr gewünscht hätte, als den Moment vor dem Untergang anzuhalten, die Ängste in der Schwebe zu bewahren, die Konturen einer unheilsvollen Welt in Dunst und Dämmer zu hüllen, das anschwellende Grauen mit bösem Witz und grimmigen Späßen abzuwehren und die vage Zeit im Zustand des Alsob zu fixieren.“[41]

Der Dichter will außerdem keine reale denkbare Landschaft wiedergeben, dies ist die Aufgabe der Malerei. Der Vorzug der Dichtkunst gegenüber der Malkunst sei, dass sie «ideeliche» Bilder habe. Mit seiner Lyriktheorie wendet sich Lichtenstein gegen das künstlerische Prinzip der Mimese. Lichtenstein gibt damit der «inneren Idee» den Vorrang gegenüber der äußeren Realität.[42] Er versucht in seinen Gedichten, die Umgebung mit dem Auge eines Primitiven zu betrachten. Dabei beschreibt er ausschließlich was er hört und was er sieht, sein Wissen über die Dinge schiebt er als überflüssige Reflexion beiseite. Die Dinge ohne überflüssige Reflexionen aufnehmen bedeute, das Wesen eines Vorgangs zu erkennen und es heiße, diesen Vorgang von allen wesens-verdec­kenden Überflüssigkeiten zu befreien, um den Kern des Geschehens unmittel­bar und direkt zu treffen, so Vollmer. Diese Technik könne als primitive Optik bezeichnet werden, in der der Dichter bei dem bloßen Eindruck stehen bleibe.[43]

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Simultanität unvereinbarter Bilder die auffälligste formale Innovation des Expressionismus ist. Der Dichter agiert als Schöpfer der Welt, welcher die Gesamtheit des Daseins sichtbar macht. Die Verschmelzung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sowie die Auflö­sung von Zeit und Raum ermöglicht eine rasche Protokollierung der wechseln­den Wahrnehmungsbedingungen. Die Simultanität wird in den Gedichten durch die Technik der parataktischen Reihung umgesetzt, welche den Gedich­ten einen abgehackten Rhythmus verleihen. Darüber hinaus trage der Jambus, welcher von Rölleke als Marsch- und Maschinenrhythmus definiert wird, zur Wiedergabe der schnell wechselnden Eindrücke bei. Die Groteske, die vor al­lem von Lichtenstein angewendet wird, dient zur Veranschaulichung der Ent­fremdung und Disharmonie der Welt. Durch sie wird der Unterschied zwischen dem Bild des Lyrikers und der wirklichen Welt bzw. dem wirklichen Bild ver­deutlicht. Diese Gegensätze zwischen Wirklichkeit und dem Bild des Dichters spiegeln sich auch in der Diskrepanz zwischen Form und Inhalt wider. Der fest geschlossene Strophenbau steht damit im Gegensatz zur Heterogenität und Diskontinuität des Inhalts. Dieses Missverhältnis sei allerdings nicht das Er­gebnis eines misslungenen Kunstaktes, sondern ein ganz bewusstes Stilprinzip, dass die Disharmonie des modernen Weltgefühls nicht nur thematisiert, son­dern auch veranschaulicht.[44]

Nachdem die formalen Eigenheiten der Großstadtlyrik untersucht worden sind, erscheint es nun notwendig, die inhaltliche Umsetzung der neuen Lebens- und Wahrnehmungsbedingungen zu analysieren.

[...]


[1] Vgl. Läufer, B.: Entdecke dir die Hässlichkeit der Welt. a.a.O. S. 160

[2] Vgl. Rothe, W.: Deutsche Großstadtlyrik vom Naturalismus bis zur Gegenwart. a.a.O. S. 19

[3] Vgl. Läufer, B.: Jakob van Hoddis: Der Variete – Zyklus. a.a.O. S. 17f

[4] Vgl. Läufer, B.: Entdecke dir die Hässlichkeit der Welt. a.a.O. S. 157

[5] Vgl. Läufer, B.: Jakob van Hoddis: Der Variete – Zyklus. a.a.O. S. 18

[6] Vgl. Gutjahr, O.: „Berlin als Hauptstadt des «modernen Durchbruchs»: Das Beispiel Henrik Ibsen“. In: Gutjahr, O.; Henningsen, B.; Müssner, H.; Lorenz, O. (Hrsg.): Attraktion Großstadt um 1900: Individuum – Gemeinschaft – Masse. Berlin 2001. S. 59

[7] Vgl. Vollmer, H.: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. Ein Beitrag zur Erforschung der Literatur des Expressionismus. Aachen 1988. S. 108f

[8] Vgl. Siefert, C.: Die Industrialisierung in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. a.a.O. S. 4

[9] Simmel, G.: Die Großstadt und das Geistesleben. In: Vietta, S. (Hrsg.): Lyrik des Expressionismus. Tübingen 1976. S. 11

[10] Vgl. Läufer, B.: Jakob van Hoddis: Der Variete – Zyklus. a.a.O. S. 20

[11] Simmel, G.: Die Großstadt und das Geistesleben. a.a.O. S. 15f

[12] Vgl. Läufer, B.: Jakob van Hoddis: Der Variete – Zyklus. a.a.O. S. 20

[13] Vgl. Daniels, K.: „Expressionismus und Technik“. a.a.O. S. 171

[14] Vgl. Rothe, W.: Deutsche Großstadtlyrik vom Naturalismus bis zur Gegenwart. a.a.O. S. 7

[15] Vgl. Hermand, J.: „Das Bild der «großen Stadt» im Expressionismus“. In: Scherpe, K. R. (Hrsg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Hamburg 1988. S. 67

[16] Vgl. Vollmer, H.: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. a.a.O. S. 107f

[17] Vgl. Vietta, S.: Das literarische Berlin im 20. Jahrhundert: mit aktuellen Adressen und Informationen. Stuttgart 2001. S. 19f

[18] Vgl. Vollmer, H.: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. a.a.O. S. 104

[19] Vgl. ebd., S. 110

[20] Vgl. ebd., S. 99

[21] Vgl. ebd., S. 88

[22] Vgl. ebd., S. 113

[23] Vgl. ebd., S. 84

[24] Vgl. ebd., S. 106

[25] Vgl. Läufer, B.: Entdecke dir die Hässlichkeit der Welt. a.a.O. S. 156

[26] Vgl. Vollmer, H.: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. a.a.O. S. 104f

[27] Vgl. ebd., S. 91

[28] Vgl. ebd., S. 117

[29] Vgl. Rölleke, H.: Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl. a.a.O. S. 84

[30] Vgl. ebd., S. 145

[31] Vgl. ebd., S. 79

[32] Vgl. ebd., S. 86

[33] Vgl. Vollmer, H.: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. a.a.O. S. 92

[34] Vgl. ebd., S. 86

[35] Vgl. ebd., S. 86

[36] Vgl. ebd., S. 86

[37] Schaefer, Dietrich: „Alfred Lichtenstein. Gesammelte Gedichte“. In: Neue deutsche Hefte Nr. 92 März/April 1963. S. 111

[38] Vgl. ebd., S. 111

[39] Vgl. Vollmer, H.: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. a.a.O. S. 85

[40] Vgl. Lohner, E.: „Die Lyrik des Expressionismus“. In: Rothe, W. (Hrsg.): Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern/München. 1969. S. 122f

[41] Vgl. Rühmkorf, P.: „Jakob van Hoddis Weltende und andere Dichtungen“. In: Neue Rundschau 74 (Jg. 1963) S. 676f

[42] Vgl. Vollmer, H.: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. a.a.O. S. 95f

[43] Vgl. ebd., S. 101f

[44] Vgl. ebd., S. 117

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2006
ISBN (PDF)
9783956849527
ISBN (Paperback)
9783956844522
Dateigröße
4.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,5
Schlagworte
Georg Heym Alfred Lichtenstein Großstadt Gedicht Stadtansicht

Autor

Britta Paulinsky wurde 1983 im Ruhrgebiet geboren. Ihr Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum schloss die Autorin im Jahr 2008 mit dem akademischen Grad des Masters of Education ab. Das Zweite Staatsexamen für Lehrämter an Gymnasien und Gesamtschulen machte die Autorin im Jahr 2011 und ist seitdem erfolgreich im Schuldienst tätig. Im Zuge ihrer Bachelorarbeit befasste sich die Autorin mit der Lyrik des Expressionismus, welche sie schon seit der Schulzeit faszinierte.
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