Zeichnen und Zeichenförderung im Kunstunterricht: Eine Stationenarbeit
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
4.1.1 Historischer Exkurs
Seit Anbeginn des institutionalisierten Zeichenunterrichts in den Volksschulen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gehört die schulische Vermittlung zeichnerischer Fähigkeiten zum Themenkanon; dies jedoch mit sich wandelnden Ab- und Ansichten hinsichtlich Funktion und Bedeutung des Zeichenunterrichts.
Jenseits bürgerlicher Kultur- und Bildungsbeflissenheit, welche sich in Bezug auf künstlerische Bestrebungen zumeist durch Privatunterricht bei bildenden Künstlern ausdrückte, standen im Zeichenunterricht in den Schulen der unteren Schichten reine Nützlichkeitserwägungen im Vordergrund. Nicht die ästhetische Auseinandersetzung zwischen dem Ich und der Welt, nicht das zweckfreie, erforschende Spiel mit den vielfältigen Gestaltungsformen der Kunst stand im Mittelpunkt, sondern die drillähnliche Disziplinierung und Abrichtung der Schüler auf die sie erwartende, handwerkliche Tätigkeit in der Arbeitswelt einer fortschreitenden, zunehmend technisierten Industrialisierung. Inhaltlicher Kern des Zeichenunterrichts war das Einüben und langwierige Wiederholen elementarer Grundformen geometrischer Körper und Muster, welches zunehmend zum Selbstzweck verkam und weder thematische noch technische Erweiterungen fand. So war beispielsweise der produktive Umgang mit Farben völlig unüblich und wurde lediglich theoretisch abgehandelt. Die Eintönigkeit und letztendliche Zweckfreiheit dieser Übungen entsprach den kleinteiligen, maschinellen Produktionsabläufen in den Fabriken und Manufakturen und „…diente dazu, mittels monotonen Drills die vom Produktionswesen verlangten Tugenden wie Fleiß, Disziplin und Ordnung für die industrielle Arbeit einzuüben.“ (Peez 2005, 72; vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, 98f.)
Als Beispiel eines solchen, der Kunst entfremdeten Zeichenunterrichts kann das sogenannte stigmo-grafische Zeichnen nach der Methode des Hamburger Schulrats Adolf Stuhlmann dienen. Dabei wurden innerhalb eines Linienrasters in den Heften der Schüler auf Anweisung der Lehrer Linien gezogen bzw. Punkte miteinander verbunden, um somit ornamentale Gebilde und Schemen simpler Gegenstände zu erzeugen. Ziel dieses Zeichnens auf Diktat war die „Gewinnung klarer Vorstellungen“ (Stuhlmann, zit. nach Peez 2005, 71) für die weitere Auseinandersetzung mit Natur, Wissenschaft und Kunst und war im Kern jedoch nur pedantische, stupide und lebensferne Dressur der Schüler ohne dabei tatsächliche Aspekte der bildenden Kunst auch nur zu berühren – Zeichnen war bloßes Mittel zum Zweck, keines des künstlerischen Ausdrucks.
Ein tatsächlicher, positiver Wandel in den Konzeptionen und Inhalten des Zeichenunterrichts, der nun auch erstmals mit einer umfassenden pädagogischen Unterfütterung einherging, trat mit den Reformbestrebungen der Kunsterzieherbewegung am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert auf. Im Rahmen der Versuche zur Überwindung sozialer und politischer Spannungen und der Eindämmung historisierender Tendenzen in der Kunst durch kulturelle Neuerungen (beispielsweise des Jugendstils) kam auch der Handzeichnung ein neuer Stellenwert zu. Der Zeichenunterricht vollzog im Laufe der Kunsterzieherbewegung einen Wandel vom Mittel der Disziplinierung hin zu einem sowohl rezeptiv als auch produktiv orientierten Schulfach mit ausdrücklich pädagogischem Anspruch, welchen der Hamburger Zeichenlehrer C. Götze wie folgt formulierte: „Für Zeichnen und Formen kommt es darauf an, durch Kunst zu erziehen, nicht zur Kunst“ (zit. nach Eid/Langer/Ruprecht 2002, 106, Hervorhebung nicht im Original; vgl. Peez 2005, 72f.). Aspekte der Kunst wurden somit erstmals im umfassenden Sinne Inhalt schulischer Lehre und Erziehung.
4.1.2 Die Verankerung des Zeichnens in brandenburgischen Lehrplänen
Aspekte und Übungen rund um die schulische Förderung der Zeichenfähigkeit können nur dann Gegenstand der Vermittlung werden, wenn sie durch Vorgaben und Anforderungen der jeweiligen curricularen Richtlinien der entsprechenden Schulform legitimiert sind. Dahingehend werden im Folgenden exemplarisch die Rahmenlehrpläne des Faches Kunst im Bundesland Brandenburg für die Primarstufe[1] sowie für die Sekundarstufen I und II untersucht.
Rahmenlehrplan Grundschule:
Bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung arbeitet der aktuelle Rahmenlehrplan für die Grundschule mit fünf Themenfeldern, welche den Unterricht strukturieren und die angezeigten, verbindlichen Standards am Ende der Primarstufe gewährleisten sollen. Diese Themenfelder gliedern sich wie folgt:
➔ grundlegende Erfahrungsbereiche
➔ künstlerische Strategien
➔ Material
➔ Verfahren und Techniken
➔ Künstlerinnen / Künstler und Kunstwerke aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen (vgl. MBJS 2004, 25)
Laut Curriculum sind diese Themenfelder zur Unterrichtsplanung gleichberechtigt, sollen in Bezug zueinander und nicht etwa in chronologischer Abfolge bearbeitet werden. Jedes der Themenfelder wird kommentiert und spezifiziert, sodass weiterführende Hinweise und Anregungen entnommen werden können. Im Themenfeld „Verfahren und Techniken“ erfolgt der Verweis auf die Technik des Zeichnens, welche nach dem Malen an zweiter Position geführt wird und welcher das Drucken, Collagieren, plastisches und skulpturales Arbeiten, das Spielen und Agieren sowie das Fotografieren und die Arbeit mit digitalen Medien folgen (vgl. MBJS 2004, 28).
Die eigentliche Technik Zeichnen wird durch folgende, ihr eigene Gestaltungsweisen spezifiziert: skizzieren, kritzeln, schreiben, linieren, schraffieren, punktieren, strukturieren, durchzeichnen, einritzen (vgl. ebd.).
Zuvor erfolgt in der Erläuterung des Themenfeldes „Material“ der Verweis auf den Einsatz von Farben und Stiften jeder Art, wobei bezüglich des grafischen Gestaltens Stifte, Kreide, Tinten und Tuschen, Wachs-, Öl- und Pastellkreide, Filzstifte und Kugelschreiber sowie Kohle genannt werden (vgl. MBJS 2004, 27).
Die zeitliche Strukturierung der Inhalte in der Grundschulausbildung basiert auf der Einteilung in Doppeljahrgangsstufen, in welchen die genannten Themenfelder aufgegriffen und hinsichtlich verbindlicher Anforderungen und potentieller Inhalte untergliedert werden. Je nach Jahrgangsstufe werden Anforderungen und Inhalte komplexer und umfangreicher. Exemplarisch seien hier die Inhalte der Doppeljahrgangsstufe 5/6 zitiert, da diese die inhaltlichen Aspekte der vorigen Jahrgangsstufen weitestgehend mit enthalten: „Linien und Kritzel, ihre Eigenschaften, Möglichkeiten und Ausdruckswerte: dick – dünn, gerade – gebogen, durchgehend – unterbrochen, abbildend – formgebend, dicht – weit, leicht – zart, als Kontur- oder Binnenzeichnung, Schreiben als spurbildender Vorgang“ (MBJS 2004, 39).
Rahmenlehrplan Sekundarstufe I:
Die inhaltlichen und thematischen Vorgaben des Rahmenlehrplans für die Sekundarstufe I gliedern sich in fünf Entscheidungsfelder, welche recht präzise den Themenfeldern des Grundschullehrplans entsprechen (die einzige Abweichung findet sich in der Benennung des ersten Entscheidungsfeldes, welches hier „Grundlegende Erfahrungen der Jugendlichen“ heißt; vgl. MBJS 2008, 19). Im Gegensatz zur Primarstufe erfolgt in diesem Plan keine detaillierte zeitliche Strukturierung der Inhalte in einzelne Jahrgänge oder Doppeljahrgänge. Lediglich spezifische Unterrichtsvorhaben werden aufgeführt, welche je nach Entscheidungsfeld in bestimmter Anzahl und inhaltlicher Ausrichtung bis zum Ende der Jahrgangsstufe 10 durchlaufen werden müssen; nur das Entscheidungsfeld „Grundlegende Erfahrungen der Jugendlichen“ differenziert die Verteilung der zu absolvierenden Inhalte bis zum Ende der Jahrgangsstufe 8 und bis zum Ende der Jahrgangsstufe 10 (vgl. MBJS 2008, 26).
Entsprechend dem Grundschullehrplan und dem Wesen der Zeichnung gemäß erfolgt deren Nennung auch hier im Entscheidungsfeld „Verfahren und Techniken“, wo das Zeichnen in gleicher Form aufgeführt und angeordnet wird wie bereits im Primarstufenplan. Ebenso wie dort werden variable Erscheinungs- bzw. Gestaltungsformen (skizzieren, kritzeln etc.) genannt. Die verbindlichen Vorgaben des Entscheidungsfeldes fordern, dass die Schüler im Verlauf der SEK I Erfahrungen mit allen aufgelisteten Verfahren und Techniken machen (welche ebenfalls denen des Grundschullehrplanes recht ähnlich sind) und somit zu einer Erweiterung, Festigung und Vertiefung ihrer bereits erworbenen Kenntnisse gelangen.
Rahmenlehrplan Sekundarstufe II:
Der aktuelle Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe II betrifft die Unterrichtsinhalte und Vorgaben der Qualifikationsphase für das Abitur, also die Jahrgangsstufen 12 und 13[2]. Übergeordnetes Ziel dieses Curriculums ist die Erreichung einer fachspezifischen „Bildkompetenz“, welche durch die Auseinandersetzung mit fünf Handlungsfeldern erlangt werden soll. Neben den Feldern „Bilder imaginieren“, „Bilder wahrnehmen“, „Bilder verstehen“ und „über Bilder kommunizieren“ erscheint bezüglich der Förderung der Zeichenfähigkeit das Feld „Bilder machen“ als relevant, welches auf die „Produktion von Bildern in materialisierter Form“ (MBJS 2006, 11) abzielt. Innerhalb der Themenfelder hat eine Differenzierung zwischen Prozessen der Produktion und Rezeption zu erfolgen, welche als „Kompetenzbereiche“[3] des Faches verstanden werden (vgl. ebd.).
Bezüglich der Vorkenntnisse bzw. der zu erwartenden Eingangsvoraussetzungen zu Beginn der Qualifikationsphase äußert sich der Lehrplan umfassend. Vorhandene Fähigkeiten im Bereich der Zeichnung werden wie folgt umschrieben:
Die Schülerinnen und Schüler
➔ erfassen mit angemessenen zeichnerischen Fähigkeiten gegenständliche Zusammenhänge und stellen ihre Vorhaben bildhaft dar […]
➔ verfügen über ein Repertoire an Grundkenntnissen über Gestaltungsmittel und nutzen sie form- und bedeutungssetzend,
➔ wenden zeichnerische, malerische, dreidimensionale und mediale Bildfindungsmethoden an,
➔ setzen die Eigenarten von Materialien und Werkzeugen exemplarisch in Gestaltungsprozessen ein… (MBJS 2006, 14)
Bei dieser Auflistung handelt es sich also um ein umfassendes Paket an Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche die Schüler vor der Qualifikationsphase beherrschen sollen und auf welche im weiteren Unterricht angeknüpft wird. Weniger auf spezifische technische Fähigkeiten bzw. auf die Kenntnisse von Verfahren ausgerichtet sind die abschlussorientierten Standards am Ende der Ausbildung. Diese zielen ab, differenziert nach Grund- und Leistungskursen, auf umfassende Formen des bildnerisch gestaltenden Ausdrucks und die Betonung der Selbständigkeit und Angemessenheit hinsichtlich selbst gewählter Gestaltungs- und Ausdrucksmittel zu konkreten Aufgaben (vgl. MBJS 2006, 15).
Die Beschäftigung mit Aspekten grafischer Gestaltung ist in diesem Curriculum im dritten Kurshalbjahr vorgesehen und soll dort unter der Überschrift „Bilder und Bildwelten als Ausdrucksmittel des Menschen“ (MBJS 2006, 20) berücksichtigt werden. Ziel dieses Themenfeldes ist es unter anderem, die Schüler mit traditionellen (also vor allem handwerklichen) und aktuellen Gestaltungskonzepten vertraut zu machen, was gerade im Schwerpunkt Grafik die wiederholte und vertiefte Auseinandersetzung mit der künstlerischen Handzeichnung ermöglicht. Als ergänzender Hinweis taucht der Bereich Grafik in allen anderen drei Kurshalbjahren wieder auf und rangiert dort stets nach der Malerei an zweiter Stelle.
Fazit der curricularen Betrachtungen:
Als Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Lehrplaninhalten kann festgehalten werden, dass die Technik des Zeichnens über die Klassenstufen hinweg eine ausreichende Verankerung in den Brandenburger Lehrplänen findet und eine umfassende Beschäftigung mit ihren Darstellungsformen, Ausdrucksmöglichkeiten und Wirkungen eingeräumt wird, was auch der Bandbreite der Zeichnung als dezidiert künstlerisches Ausdrucksmittel entspricht. Deutlich wurde, dass der in Kapitel 3.1 und 3.2 erwähnte, bis heute aktuelle Diskurs um eine Sonderrolle der Zeichnung bei der Ausbildung technisch-künstlerischer Fähigkeiten im schulischen Rahmen keine Rolle spielt. In den eingesehenen Curricula wird das Zeichnen somit nicht als spezifische Grundlage für die praktische Auseinandersetzung mit künstlerischen Themen ausgewiesen, sondern wird als gleichgestellte Technik neben anderen Gestaltungsweisen und Verfahren angesehen.
Ebenfalls als angemessen erscheint die Aufnahme zeichnerischer Gestaltungsformen und Materialien, wie sie vor allem in den Plänen der Primar- und Sekundarstufe I vorgenommen wurde. Dem Umfang und dem Potential, welches die Handzeichnung besitzt, ist somit nahezu uneingeschränkt Genüge getan. Des Weiteren bieten die Lehrpläne zahlreiche Anknüpfungspunkte für konkrete Unterrichtseinheiten zu Übungen und Weiterentwicklungen der Zeichenfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Selbiges gilt auch für die thematische Einbettung der Technik Zeichnen in die Themenfelder der jeweiligen Jahrgangsstufen. Implizit wird hier eventuell doch der grundlegende Charakter, die Betonung des Zeichnens als basale kulturelle Technik deutlich, da in den Ergänzungen zu den entsprechenden Themenfeldern häufig auf die Grafik als unterstützenden, hilfreichen Bezug verwiesen wird.
Hinsichtlich der stetigen Förderung der Zeichenfähigkeit über alle Klassenstufen hinweg bestehen also im Land Brandenburg nahezu keine curricularen Einschränkungen für die fortgesetzte Beschäftigung mit allen Spielformen der Zeichnung.
4.1.3 Das Zeichnen und Aspekte der bildnerischen Entwicklung
Nahezu die gesamte Schulzeit von Kindern und Jugendlichen in den Sekundarstufen I und II ist geprägt durch tiefgreifende und weitreichende Veränderungen in Physis und Psyche. Die Prozesse der Pubertät, der körperlichen und intellektuellen Reifung, haben ebenso Auswirkungen auf das ästhetische Verhalten der Betroffenen und finden Eingang in deren bildnerische Arbeit. Oft beschriebene Phänomene dieser Zeit sind die wachsende Kritik gegenüber den eigenen Arbeiten, zumeist einhergehend mit gesteigerten qualitativen Ansprüchen, die Unlust, sich überhaupt auf bildnerische Weise mit der Welt auseinanderzusetzen, die Übernahme und die Orientierung an einer medial geprägten Formen- und Inhaltssprache bis hin zur völligen Aufgabe und Ablehnung jeder künstlerischen Tätigkeit.
Die kunstpädagogische Literatur zur bildnerischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen spricht hierbei von Anzeichen einer Krise in der Ontogenese, welche bedingt wird durch die Veränderungen während der Pubertät. Die Angaben zur Altersspanne, in welcher sich diese Veränderungen vollziehen, reichen von 9 Jahren (vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, 152) bis hin zu 12 Jahren (vgl. Widlöcher 1974, 218) und sind wie alle Altersgrenzen innerhalb entwicklungspsychologischer Vorgänge nur ein ungefährer, grober Rahmen, welcher gekennzeichnet ist durch Abweichungen sowohl nach oben als auch nach unten, denn Divergenzen, Stagnationen und Regressionen innerhalb der bildnerischen Entwicklung stellen eher die Regel als die Ausnahme dar.
Als wesentlicher Ausgangspunkt der Krise der bildnerischen Entwicklung kann die zunehmende Rationalisierung betrachtet werden, mit welcher Jugendliche im fortschreitenden Verlauf der geistigen Entwicklung ihre künstlerischen Arbeiten beurteilen. Sie sind nun befähigt zu einer verstärkt objektiven, kritischen Sicht auf die eigenen Produkte und versuchen diese in Passung mit der sie umgebenden, beeinflussenden Welt zu bringen. Die Jugendlichen haben zusehends die Naivität, Unbekümmertheit und Unreflektiertheit kindlicher Zeichnungen und Bilder abgelegt und ziehen nun Vergleichsmaßstäbe zur qualitativen Bewertung der eigenen Arbeiten heran. Gerade hierin kann ein wesentlicher Grund der Krise in der Jugendzeichnung liegen, denn die jugendlichen Zeichner und Maler werden jener Diskrepanz gewahr, welche zwischen ihren eigenen Hervorbringungen und den jeweiligen Vorlagen und Modellen liegt. Da diese in der Phase der Jugendbildnerei nicht selten den geschönten, verfälschten und selektiven Quellen der Medienwelt entspringen, fällt diese erfahrene Diskrepanz umso drastischer aus. Der Kern jener Krise der Jugendzeichnung liegt also im erfahrenen Zwiespalt zwischen einem angestrebten Wollen des bildnerischen Ausdrucks, welches durch vielerlei Vorbilder determiniert ist, und dem persönlichen handwerklichen Können, welches als unzureichend, zu unperfekt empfunden wird, um beispielsweise eine Vorlage oder ein Modell realistisch korrekt wiedergeben zu können. Aus der wiederholten Erfahrung dieses Widerspruchs zwischen bildnerischem Wollen und Können erwächst im negativen Fall ein Frustrationspotential, welches den jeweils Betroffenen endgültigen Abstand nehmen lässt zur bildnerisch-künstlerischen Beschäftigung. Aus dieser Resignation heraus, aus der Erfahrung des Misserfolgs in der Beschäftigung mit künstlerischen Themen erfolgt oftmals eine Hinwendung zu Tätigkeiten jenseits der fordernden, langwierigen künstlerischen Praxis, die den Jugendlichen einen schnelleren, einfacheren Weg zur Erfüllung des Wunsches nach persönlichem Ausdruck ermöglichen.
Kritisch muss festgestellt werden, dass das schulische Lernumfeld und der Unterricht dergleichen Entwicklungen oftmals Vorschub leistet durch unmotivierte, der Kunst wesensfremde Aufgabestellungen und durch Übungen, die als sinnlos empfunden werden (vgl. Dieck 1998). Allein die Rahmensetzung eines Themas durch den Lehrer und dessen Ansprüche und Bewertungskriterien an ein potentielles Bild stellen einen Erwartungsdruck, einen Grad an Unfreiheit in der bildnerischen Umsetzung eines Jugendlichen dar, der gerade die umgekehrten Folgen als die avisierten Unterrichtsziele nach sich ziehen kann. Hinzu kommt der stetige, wenn auch zumeist nur unterschwellig ausgetragene Wettbewerb der Peergroup um das „beste Bild“, welcher eine zusätzliche Erwartungshaltung aufbaut.
Gerade in dieser Phase der Erschütterung des bisherigen kindlichen Selbstbewusstseins im Umgang mit den eigenen künstlerischen und kreativen Tätigkeiten bedarf es der behutsamen und aufmerksamen kunstpädagogischen Betreuung, um die beschriebene Resignation und Abwendung von der praktischen Tätigkeit zu verhindern bzw. erfahrene Widerstände als Antriebskraft, als Ausgangspunkt eines neuen, persönlichen Ehrgeizes auf der Suche nach einer individuellen künstlerischen Handschrift nutzbar zu machen.
4.2 Das Konzept der Zeichenförderung nach Judith M. Burton
Die US-amerikanische Kunstpädagogin Judith M. Burton geht in ihrem Aufsatz der Frage nach, inwiefern die Förderung der Zeichenfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen Auswirkungen hat auf deren geistige Entwicklung und wie diese Entwicklung Eingang findet in die künstlerischen Arbeiten von Schülern (vgl. Burton 2007). Ausgangspunkt der Überlegungen Burtons ist der Übergang vom Kindes- ins Jugendalter und die damit einhergehenden Probleme in der künstlerischen Auseinandersetzung pubertierender Jugendlicher (vgl. Kap. 4.1.3). Als Auslöser der „Jugendkrise in der Kunst“ (Burton 2007, 41) steht für die Autorin der Drang nach objektiver Abbildgenauigkeit, also das Streben nach realistischer Wiedergabe eines Objektes und der korrekten räumlichen Darstellung auf dem zweidimensionalen Bildträger. Burton argumentiert in Konsequenz dessen gegen die ausführliche Vermittlung naturwissenschaftlicher Aspekte der Perspektive und lehnt auch deren normierende Eigenschaft als qualitatives Gütekriterium für eine gelungene Zeichnung ab. Die Anwendung der Perspektive in der Kunst entspräche einer „kulturelle[n] Konvention“ (ebd. 41), welche zwar raumwirkliche Illusion erlaube, aber durch deren zugrundeliegende wissenschaftliche Konstruktion den alltäglichen Wahrnehmungen von Jugendlichen eher entgegenstehe und bei geforderter Anwendung oftmals zu starren, ausdruckslosen und unpersönlichen Ergebnissen führe. Darauf aufbauend geht Burton der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen der kritische Punkt an dieser Stelle der Jugendbildnerei überwunden und eine fortlaufende, kontinuierliche Weiterentwicklung künstlerischer Tätigkeit gesichert werden kann. Zur Annäherung an diese Problemstellung greift Burton auf eine Unterrichtsreihe zurück, in welcher sie sechs, von ihr als „Spielversuche“ bezeichnete Übungen erläutert und deren Ergebnisse hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zur Förderung der Zeichenfähigkeit reflektiert.
Zu Beginn dieses Vorhabens steht eine Art diagnostische Eingangsphase, in welcher Burton die anfänglichen Fähigkeiten ihrer Schüler untersucht. Interessant erscheint der Ansatz, sowohl „nach dem Gedächtnis“ als auch „nach dem Modell“ einen Menschen zu zeichnen dahingehend, da sich auch in den „Beobachtungsbildern“ Merkmale und Darstellungsformeln der „Gedächtnisbilder“ wiederfinden lassen. Dies gilt selbst noch dann, wenn die Zeichnungen nach dem realen Modell sehr viel lebendiger ausfallen, eine Vielfalt der Linien aufweisen, die nach Volumen und räumlicher Wirkung sowie nach Bewegung und individueller Physiognomie suchen und somit im Kontrast stehen zu den meist schemaähnlichen Darstellungen der Gedächtnisbilder. Im Rahmen der Spielversuche sucht Burton nun einen Weg, diese erfahrene Vielfalt der zeichnerischen Formensprache, welche die Schüler in der Gegenüberstellung von Gedächtnis- und Modellzeichnung erfahren haben, zu sichern und für die Anforderungen des schulischen Kunstunterrichts nutzbar zu machen.
Die sechs beschriebenen Spielversuche wurden jeweils im Rahmen einer Unterrichtsstunde durchgeführt und stellen dabei jeweils einen Aspekt zeichnerischer Darstellungs- und Formensprache in den Mittelpunkt. Behandelt und untersucht werden folgende Fragen und Phänomene:
➔ Erkundung von Material- und Linienvielfalt
➔ das Phänomen räumlicher Wirkung durch Überschneidung
➔ Transformation geometrischer Figuren unter Beibehaltung wesentlicher formaler Eigenschaften (vom Kreis hin zum kreisförmigen Objekt)
➔ Spiel mit der dritten Dimension; zeichnerische Erkundung eines geformten, gefalteten, angeschnittenen Bogens aus Photokarton
➔ Darstellung eines fiktiven Raumausschnitts; Formgebung eines imaginären Objektes durch Draht
➔ Herstellung einer Kleinplastik aus Aluminium; dabei Darstellung von Bewegung und Materialeigenschaften
Nach diesen Spielversuchen sollten deren potentielle Auswirkungen anhand einer erneuten Zeichnung eines menschlichen Modells untersucht werden, wobei Burton eine deutliche qualitative Steigerung festgestellt haben will:
Die Zeichnungen des menschlichen Körpers sind allesamt groß; manchmal reichen Teile sogar über den Bildrand hinaus; eine größere Vielfalt an Gewicht, Intensität und Dicke der Linien wird eingesetzt, um Volumen und räumliche Bewegung darzustellen; die Figuren in den Zeichnungen haben Präsenz und scheinen vielmehr innerhalb des Bildes als auf der Oberfläche des Blattes zu existieren; die Zeichnungen zeugen von großem Selbstbewusstsein und unterscheiden sich individuell in ihrer Interpretation der ,Lebendigkeit‘ der menschlichen Figur, wie die meisten es nannten… (Burton 2007, 50).
Bezüglich der zuvor erfolgten Spielversuche deutet Burton deren positive Ergebnisse im Rahmen der sich anschließenden Porträtzeichnungen wie folgt aus:
1.: Zuerst steht der Effekt der wiederholten oder erstmaligen Bewusstmachung grafischer Ausdrucksformen im Mittelpunkt. Die bewusst erlebte Erfahrung, welche Möglichkeiten der Darstellung spezifische Materialien bieten, welche motorische Handlungsabläufe sie einfordern, steht den oftmals unreflektierten Routinen des Zeichnens gegenüber, welche sowohl von Schülern als auch von Kunstpädagogen als hinlänglich bekannt angenommen werden, ohne dass diese jemals tatsächlich vertieft eingeübt wurden – der deutliche Nachteil einer stets als grundlegend charakterisierten Fertigkeit!
2.: In Konsequenz daraus sieht Burton im erlebten Spektrum zeichnerischer Ausdrucksmöglichkeiten wiederum die Ursache dafür, dass die Schüler ein sehr viel weiteres Repertoire an Linienformen nutzen und diese nicht nur zur Veranschaulichung und Verortung eines Modells auf der Fläche des Bildträgers gebrauchen. Eingang fand dies in der „…Erkenntnis, dass eine Linie gleichzeitig Aufbau, Bewegung und Kompaktheit der Struktur [eines Modells] ausdrücken konnte…“ (ebd. 51) sowie in der nun deutlich erkenntlichen, individuellen Formensprache jedes Schülers.
3.: Im Aspekt der nun vollzogenen persönlichen Interpretation eines künstlerischen Sachverhalts erkennt Burton den eigentlichen Nutzen ihrer Übungen zur Zeichenförderung. Die Erkenntnis, dass Zeichnen immer singuläre Ausdeutung des Gesehenen im Medium selbst ist, wurde von den Schülern erfahren, ebenso wie die „…dialektische Auseinandersetzung […] zwischen dem Beobachten der Figur und dem Nachdenken über das langsam Form annehmende Bild.“ (ebd.)
Abschließend bewertet Burton ihre Herangehensweise als Chance der Sensibilisierung für neue, erweiterte zeichnerische Fähigkeiten zum Zeitpunkt eines diffizilen Entwicklungsstandes, der die Gefahr der Ablehnung künstlerischer Sicht- und Handlungsweisen in sich birgt. Des Weiteren verweist die Autorin auf den prozessualen, performativen Charakter des Zeichnens, der losgelöst von einer bloßen „symbolischen Referenz“ (ebd. 53) und dem „schönen Bild“ als Ergebnis eine ergänzende, wertvolle Erfahrung für Schüler sein kann, die auch jenseits der Annahme eines zeichnerischen Talents oder Nicht-Talents vollzogen werden kann. Insgesamt ist der Ansatz Burtons als klares Plädoyer für die vertiefte Auseinandersetzung mit der Kulturtechnik Zeichnen zu lesen, deren Möglichkeiten gerade im Rahmen pädagogischer Interaktion als nicht hoch genug angesehen werden können.
5 Zeichenförderung am Beispiel einer Stationenarbeit
5.1 Situative Voraussetzungen
Aufgrund der überraschend deutlichen positiven Ergebnisse in der Durchführung des Konzeptes von Burton wurde versucht, diesen Ansatz in ähnlicher Form an Schülergruppen zu probieren, um entsprechende Auswirkungen zu erzielen. Dabei handelte es sich um zwei Schulklassen der Jahrgangsstufen 8 und 9 einer brandenburgischen Gesamtschule, deren Gruppenstärke bei jeweils ca. 20 Schülern lag. Der Grund für die Adaption des Unterrichtsansatzes nach Burton lag in den zeichnerischen Fähigkeiten der Schüler, welche (trotz Beachtung entwicklungstypischer Stagnationen und Regressionen in der bildnerischen Entwicklung) über einen längeren Zeitraum betrachtet und insgesamt als defizitär bewertet wurden. Bei verschiedenen praktischen Aufgaben konnte in beiden Klassen wiederholt beobachtet werden, dass nach wie vor in höchst schematischen, starren, kindlichen Darstellungsformen gearbeitet wird und dass der Umgang mit Zeichenmaterialien und deren gestalterischen Spektren nur unzureichend verinnerlicht ist, dass grundlegende Fragen der Komposition auf dem Bildträger nicht berücksichtigt werden und häufig ein unreflektierter Rückgriff auf klischeehafte, ornamentale, sich wiederholende Motive der Pop- und Jugendkultur erfolgt.
Durch diese Beobachtungen konnte davon ausgegangen werden, dass sich ein Großteil der Jugendlichen in den beiden Klassen in ebenjener „Krise“ der bildnerischen Entwicklung befindet, wie sie in Kapitel 4.1.3 erwähnt wurde und welche auch Burton als Ausgangspunkt ihres Konzeptes ansah. Bewusst und treffend äußerten Schüler wiederholt Kritik an den eigenen Hervorbringungen, maßen ihre Arbeiten an Vorbildern oder Arbeiten von Mitschülern und nahmen oftmals ein fehlendes persönliches Talent, ein generelles zeichnerisches Unvermögen als Ursache ihrer Unzufriedenheit an. Als überraschend stellte sich der Hang der Schüler zur deutlichen, ja destruktiven Kritik den individuellen Arbeiten gegenüber dar, welche sich vor allem im Umgang mit den fertigen Ergebnissen ausdrückte. Nochmals verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den bildpragmatischen Ansatz von Sowa (2000). Die Schüler verneinten meistens die Frage, ob sie Arbeiten des Kunstunterrichts sammeln oder diese in den Familien besprechen würden. Deutlichstes und traurigstes Kennzeichen der Geringschätzung gegenüber den eigenen Arbeiten ist deren Vernichtung noch im Klassenraum direkt nach der Rückgabe.
Aus dieser überkritischen Haltung zu den eigenen Fähigkeiten lässt sich ansatzweise auch die Einstellung der Schüler dem Kunstunterricht und dessen Gegenständen gegenüber erklären. Aufgrund der mangelnden Erfolgserlebnisse entsteht eine Unlust und Geringschätzung, welche auch in den beiden hier herangezogenen Klassen zu beobachten war. Während in der 9. Klasse sich die Skepsis gegen das Fach zumeist in stillem Motivationsmangel ausdrückte, wurde die Sinnfrage des Faches in Klasse 8 drastisch und deutlich formuliert: „Wofür brauche ich denn Kunst?!“
Basierend auf dieser kritischen Ausgangslage in beiden Klassen erschien das Vorgehen in kleinteiligen, zeichnerischen Übungen, welche nicht auf das Produzieren eines größeren, themenspezifischen Bildes abzielten, als günstig, um zeichnerische Fertigkeiten bewusst zu machen, zu wiederholen und jenseits der Frage von Können und Talent einzuüben.
5.2 Inhaltliche Entscheidungen
Orientiert an der Unterrichtseinheit von Burton, der Bandbreite zeichnerischer Gestaltungsformen und den ausgemachten Defiziten innerhalb der beiden Klassen wurden Überlegungen angestellt, mithilfe welcher Inhalte eine Zeichenförderung für die Schülergruppen am produktivsten erfolgen konnte. Basis für die inhaltliche Gestaltung der Unterrichtseinheit waren die „Spielversuche“ Burtons, anhand derer eigene Zeichenübungen konzipiert oder adaptiert wurden. Vorab erwähnt werden muss, dass aufgrund der schulischen Gegebenheiten (Unterrichtsstunden von 45 Minuten, allgemeiner Zeit- und Notendruck, organisatorischer Rahmen, vorhandene Materialien etc.) aus der unendlichen Vielfalt zeichnerischer Ausdrucks- und Gestaltungsformen natürlich stets nur ausgewählte, an den Bedürfnissen der Schüler orientierte Inhalte herangezogen werden konnten, sodass die folgenden Aspekte keinen Anspruch auf vollständige Abbildung des Repertoires zeichnerischer Formensprache erheben und hauptsächlich didaktisch-methodischen Überlegungen geschuldet sind. Die inhaltliche Ausrichtung der erprobten Stationenarbeit gestaltete sich wie folgt:
- Station 1 – praktische Übung – Zeichenmaterial erkunden (siehe S. 40)
Ähnlich dem ersten Spielversuch bei Burton stand hier die Erkundung und Erforschung von Zeichenmaterialien im Mittelpunkt. Aufgabe war es, gegenstandslos mindestens fünf der ausgelegten Materialien hinsichtlich ihrer Linien- und Formensprache zu erproben. Ergänzt wurde das Arbeitsblatt der Station durch Abbildungen diverser Schraffuren und Materialeindrücke, die das Agieren der Schüler in geringem Umfang lenken sollten, ohne dabei ein konkretes Vorgehen vorwegzunehmen.
Für diese Übung wurden den Schülern nahezu alle Zeichenmaterialien zur Verfügung gestellt, die die Ausstattung des Kunstraumes bot. Dies waren im Kern diverse Blei-, Grafit- und Rötelstifte, Zeichenkohle, Zeichentusche sowie Mal-, Zeichen-, Öl- und Pastellkreiden in vielfältigen Farben. Als Bildträger diente die Rückseite des Arbeitsblattes im Format A3.
- Station 2 – Arbeit mit dem Lehrbuch (siehe S. 41)
Abweichend vom Unterricht Burtons stand im Rahmen der Stationenarbeit der beiden Klassen auch eine knappe theoretische Auseinandersetzung rund um Praktiken des Zeichnens auf dem Programm. Unter Einbezug des Lehrbuches von Klant/Walch (1993) sollten sich die Schüler in dieser Station mit grundlegenden Techniken des Zeichnens vertraut machen bzw. vorhandene Kenntnisse reaktivieren und schriftlich knapp fixieren. Neben spezifischen Charakteristika der Bleistift-, Feder-, und Kohlezeichnung wird im Text auf vier reich bebilderten Seiten in kurzer Form auch eine einfache Definition der Technik Zeichnung versucht und diese durch ihre Eigenschaften zu anderen Praktiken abgegrenzt. Aufgrund der Kürze des Textes, der Anschaulichkeit der zahlreichen Abbildungen und der verständlichen Formulierungen stellen diese Seiten des Lehrbuches einen adäquaten, altersgerechten und somit didaktisch gut aufbereiteten Überblick rund um das Zeichnen dar, der dem Alter der Schüler angemessen ist.
- Station 3 – praktische Übung – Figuren verändern (siehe S. 42/43)
Die Übung der dritten Station „…diente der Erforschung der Transformation oder des Übergangsprozesses von einem Stadium ins nächste.“ (Burton 2007, 47) Die Aufgabe für die Schüler bestand hier in der Veränderung und Abwandlung von sechs auf dem Arbeitsblatt vorgegebenen Formen unter der Forderung, dass die Ausgangsfigur, z.B. ein Kreis, in der letzten Stufe der Verwandlung in ihrer Grundform noch immer erkennbar sein sollte, also der Kreis als Ursprung noch ersichtlich ist. Hierfür sollte die gesamte Rückseite des Arbeitsblattes verwendet werden, auf welcher sich auch die vorgegebenen Figuren befanden. Zweck dieser Übung war die Erkenntnis seitens der Schüler, dass ein umfassendes, vielschichtiges grafisches Gebilde in seiner Gesamtheit, im Zusammenspiel aller seiner Linien wieder auf eine einfache, grundlegende Form zurückgeführt werden kann. Des Weiteren stellte die Übung eine Herausforderung an die Phantasie der Jugendlichen und ihr bildliches Vorstellungsvermögen dar, da sie eine fortlaufende, sich steigernde Abwandlung einer kompakten Ausgangsform über unterschiedliche Stadien hinweg verlangte.
- Station 4 – praktische Übung – „drunter und drüber“ (siehe S. 44)
Kern dieser Station ist eine vereinfachte Variante des zweiten Spielversuchs nach Burton, in welchem auf Auseinandersetzung mit Bewegung und räumlicher Tiefe abgezielt wurde, welche mithilfe von Papierstreifen erfolgte, die die Schüler in beliebigen Varianten (knicken, biegen, falten, zerschneiden etc.) auf dem Bildträger befestigen sollten.
Reduziert wurde die Station dahingehend, dass die Schüler die Papierstreifen nur in beliebiger Weise übereinander legten, sodass sich diverse Überschneidungen ergaben. Diese sollten in Ausschnitten zu Papier gebracht werden, nach Möglichkeit ohne im Bild zu korrigieren. Anliegen war die Schulung des konzentrierten Sehens, um erfassen zu können, welche Umrisslinie des Papierstreifens durch eine andere unterbrochen wird oder welche durchgängig ohne Überschneidungen verläuft. Je nach Anzahl der Papierstreifen ergab sich eine größere Anzahl an Überlappungen dergleichen, sodass es die Schüler selbst in der Hand hatten, den Grad an Komplexität zu gestalten. Subjektiv ergab sich der Eindruck, dass gerade diese Übung den Schülern großen Spaß machte, sodass immer wieder neue Varianten und Kombinationen der Anordnung der Streifen gesucht und die Arbeitsblätter sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite bezeichnet wurden.
- Station 5 – praktische Übung – „Ausschnitte suchen“ (siehe S. 45)
Losgelöst von den Inhalten Burtons standen hier grundlegende Fragen der Komposition im Mittelpunkt. Neben dem Arbeitsblatt erhielten die Schüler ein Kompositionsfenster aus Karton, mit welchem sie auf ihrem Arbeitsplatz kleine, interessant aussehende Stillleben suchen und zeichnen sollten. Es wurde darauf hingewiesen, dass diese Stillleben nicht extra inszeniert, sondern dass vorhandene Anordnungen von Gegenständen im Arbeitsbereich der Schüler oder im Klassenraum ausgesucht werden sollten. Mithilfe des Kartonfensters, welches wie der Sucher einer Kamera gebraucht werden konnte, sollten die Schüler kompositorisch reizvolle An- und Ausschnitte auswählen und zeichnen, sodass mit dieser Übung der Blick für künstlerisch reizvolle Situationen sowie die ansprechende Anordnung von Bildgegenständen geübt wurde.
- Station 6 – praktische Übung – „Verwandlung“ (siehe S. 46)
Die sechste Station orientierte sich inhaltlich am vierten Spielversuch Burtons und stellte die zweidimensionale zeichnerische Umsetzung einer nun dreidimensionalen Vorlage in den Mittelpunkt. Zusammen mit dem Arbeitsblatt erhielten die Schüler einen Bogen Zeichenkarton im Format A5, welcher auf völlig freigestellte Weise verformt, geknickt, gefaltet und eingeschnitten werden durfte, sodass ein ungegenständliches, dreidimensionales Papierobjekt entstand. Die einzige Vorschrift war, dass der Karton zwar eingeschnitten, aber kein Teil abgeschnitten werden durfte. Kern der zeichnerischen Annäherung dieser Aufgabe war das Üben und Erfassen einfacher räumlicher Situationen und deren Wiedergabe. Durch die Veränderung des Papierbogens entstand ein Objekt mit einer Vielfalt von Umriss- und Binnenlinien, welche Flächen abgrenzten, die sich wiederum überschnitten, verdeckten und somit im Ganzen auch Bewegung und Dynamik erzeugten, die es galt zu erfassen und zeichnerisch festzuhalten. Durch die einfach zu verändernde Vorlage ergab sich die Möglichkeit, die gestellte Aufgabe aus einer Vielzahl von Perspektiven zu erledigen, was den Reiz und den Übungscharakter dieser Station zusätzliche verstärkte.
5.3 Methodische Entscheidungen
Die weiteste Abwandlung erfährt der Ansatz Burtons in der methodischen Gestaltung der hier diskutierten Unterrichtseinheit. Die Autorin stellte pro Unterrichtsstunde ein einzelnes zeichnerisches Problem als Thema ins Zentrum und bearbeitete dieses zusammen mit den Schülern über den festgelegten Zeitraum einer Unterrichtsstunde. Die sechs Spielversuche umfassten also genau sechs Stunden (vgl. Burton 2007). Dieser Ansatz wurde aufgrund der situativen Bedingungen in den Klassen methodisch abgewandelt, die inhaltlichen Schwerpunkte modifiziert (vgl. Kap. 5.2). Gesucht wurde anfänglich ein methodischer Zugang für die Schüler, der einen weitgehend selbstgesteuerten, individuellen Arbeitsprozess ermöglichen und der ein gewisses Spektrum an Inhalten und Themen bieten sollte, in dem die Schüler wählen konnten. Hierfür bot sich eine abgewandelte Form der Stationenarbeit an, die im Zusammenspiel von situativen Voraussetzungen und Unterrichtszielen am günstigsten erschien. Im Rahmen der Unterrichtseinheit bedeutete die Anwendung der Methode Stationenarbeit, dass über einen bestimmten Zeitraum (dieser variierte in den beiden Klassen zwischen fünf und sechs Unterrichtsstunden) alle Stationen mit den jeweils benötigten Materialien aufgebaut und angeboten wurden und seitens der Schüler unter bestimmten Bedingungen[4] durchlaufen werden mussten.
Angemerkt sei, dass es sich bei der Unterrichtseinheit nicht um eine Stationenarbeit im klassischen Sinne handelte, da die Erarbeitung der jeweiligen Station nicht an einen fest umrissenen Raum gebunden war, wie es bei dieser Methode üblich ist. Die Arbeit erfolgte nicht durch örtliche Rotation, also den räumlichen Wechsel von Station zu Station nach der Beendigung der entsprechenden Aufgabe, sondern die Schüler erledigten die einzelnen Stationen an ihren üblichen Sitzplätzen. Die Ausgabe der Arbeitsmaterialien und Arbeitsblätter erfolgte von zentraler Stelle im Klassenraum. Berechtigt ist die Bezeichnung als Stationenarbeit dennoch, da die Aufgaben in separater, abgetrennter Weise durch individuelle Arbeitsblätter (siehe S. 47-49) dargeboten wurden sowie durch die thematisch bestimmte Vergabe von Materialien, welche wiederum stationsspezifisch zugeordnet waren. Die konzeptionelle und didaktische Ausrichtung der Unterrichtseinheit hätte grundsätzlich auch die Stationenarbeit im herkömmlichen Sinne möglich gemacht, jedoch war dies hauptsächlich aus räumlichen Gründen in der Schule nicht geboten. Durch ausreichend zur Verfügung gestelltes Material konnte auch der hypothetische Fall abgesichert werden, dass alle Schüler gleichzeitig eine Station durchlaufen wollten, was bei der Stationenarbeit im eigentlichen Sinne wieder zu räumlichen Problemen führen würde.
Im Folgenden sollen einzelne Aspekte der Stationenarbeit hinsichtlich ihrer methodischen Vorteile erörtert werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den weniger günstigen Eigenschaften der Methode erfolgt in der anschließenden Reflexion des gesamten Unterrichtskonzeptes.
- Nochmals zu unterstreichen ist das Höchstmaß an Individualität, mit welchem die gestellten Aufgaben erfüllt werden können. Im Rahmen der Stationenarbeit haben die Schüler die Möglichkeit, den Ablauf, die Reihenfolge und die zeitliche Gestaltung ihres Arbeitsprozesses selbst zu bestimmen. Dies übt über die Ziele des Kunstunterrichts hinaus die Selbstorganisation und schult Selbständigkeit, Reflexion und die Kontrolle des eigenen Vorgehens, da die Arbeit zwar selbstbestimmt erfolgt, aber durch konkrete Aufgabenstellungen gelenkt wird.
- Die methodische Aufbereitung als Stationenarbeit unterstützt den handlungsorientierten Charakter des Faches Kunst, da die gesamte Unterrichtseinheit durch das aktive Tun der Schüler über einen langen Zeitraum dominiert wird. „In Handlungen gehen sinnliche Wahrnehmungen, konkrete Operationen und intellektuelle Selbststeuerungen ebenso ein wie Kooperationen, Vereinbarungen und wechselseitige Hilfeleistungen.“ (Schulz 1998, 88)
- Sowohl inhaltliche Gestaltung als auch methodische Darbietung des Themas ermöglichen einen Zugang durch die Schüler, der losgelöst ist von der Orientierung an ein übergeordnetes, bildnerisches Ziel. Die kleinteiligen Übungen der jeweiligen Stationen haben einen spielerischen, entdeckenden Charakter und über ihren Anspruch als Übung hinaus keine bildnerische, darstellende Absicht, was auch der kurzfristigen Rotation zwischen den Stationen entspricht. Nicht das kompositorisch lang erarbeitete Bild steht im Mittelpunkt, sondern die rasch zu leistende, skizzenhafte Übung, die notfalls abgebrochen oder verworfen werden kann – Inhalt und methodischer Ansatz ergänzen sich somit optimal. In der Erfahrung, nichts falsch machen zu können ist den Schülern auch der Druck der eigenen Erwartungshaltung und die Erwartungshaltung der Lehrenden genommen, sodass dem gesamten Vorgehen eine sicherlich positivere Einstellung gegenübergebracht wird als manch anderer komplexen Aufgabe.
- Organisatorisch setzt eine solche Stationenarbeit einen gewissen Aufwand voraus. Jedoch wird gerade durch die Fixierung der Aufgabenstellung in Form von Handlungsanweisungen auf Arbeitsblättern der eigentliche Unterrichtsablauf vereinfacht. Anforderungen müssen nicht umständlich erläutert werden, sondern können seitens der Schüler, unterstützt durch Beispielabbildungen, nachvollzogen werden. Der Lehrer kann sich auf seine Rolle als Berater und Organisator des Lern- und Übungsprozesses beschränken.
- Die Aufgabenstellungen zu spezifischen Phänomenen der Zeichnung können beliebig erweitert, ergänzt, abgewandelt oder auch begrenzt werden. Je nach situativer Voraussetzung und Lerngruppe kann man die Methode der Stationenarbeit individuell anpassen und variieren. Denkbar sind weiterführende thematische Konzentrationen zu zeichnerischen Aspekten oder auch die Berücksichtigung von Vorlieben und Wünschen der Schüler. Durch die Darreichung der Stationen mittels eines Arbeitsblattes können diese auch in anderen Stunden als Exkurse oder Ergänzungen herangezogen werden. Somit stellen die vorgefertigten Arbeitsblätter der einzelnen Übungen ein umfangreiches Repertoire für den Lehrer dar, das im Schulalltag umfassend genutzt werden kann.
[...]
[1] Ausgehend von der Annahme, dass es sich bei der Zeichenfähigkeit um eine sukzessiv geschulte, auf Vorkenntnissen aufbauende Fähigkeit handelt sowie der noch ausstehenden Betrachtung von Fragen der bildnerischen Entwicklung, wird hier der Vollständigkeit halber die Primarstufe in die Betrachtungen miteinbezogen.
[2] Die aktuelle Handreichung für die Jahrgangsstufe 11 (vgl. LISUM 2007) findet hier aufgrund der umfangreichen Erläuterungen zu den Eingangsvoraussetzungen für die Qualifikationsphase der SEK II (vgl. MBJS 2006, 14) keine weitere Beachtung.
[3] Kritisch angemerkt sei die Subsumierung reflexiver Prozesse im Kunstunterricht unter den Kompetenzbereich „Rezeption“ (vgl. MBJS 2006, 12-13). Im neuen Rahmenlehrplan der SEK I wurde die Komplexität und Relevanz der Reflexion über Kunst angemessener beachtet und durch einen eigenen Kompetenzbereich erweitert (vgl. MBJS 2008, 15).
[4] Eine anfängliche Differenzierung in Pflicht- und Wahlstationen wurde im Verlauf der Unterrichtseinheit aufgehoben, da sich der zeitliche Rahmen als ausreichend erwies, um alle Stationen erarbeiten zu können.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2008
- ISBN (PDF)
- 9783956849756
- ISBN (Paperback)
- 9783956844751
- Dateigröße
- 14.4 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Staatliches Studienseminar für das Lehramt für die Sekundarstufe II Neuruppin
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,3
- Schlagworte
- Kunstpädagogik Kunstdidaktik Kunstvermittlung Judith M. Burton Methodik
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing