Lade Inhalt...

Ockhams Rasiermesser in der Skeptikerbewegung

©2014 Bachelorarbeit 48 Seiten

Zusammenfassung

Die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandene Skeptikerbewegung, deren prominenteste Vertreter das Committee for Skeptical Inquiry (CSI) und hierzulande die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Paraphänomenen (GWUP) sind, hat es sich zum Ziel gesetzt, mit vermeintlich wissenschaftlicher Methodik das Vordringen von Esoterik und Pseudowissenschaften in der Gesellschaft zu bekämpfen. Hierbei lässt sie allerdings selbst grundlegende wissenschaftstheoretische Regeln völlig außer Acht, wie die vorliegende Untersuchung anhand der Verwendung von Ockhams Rasiermesser in der Skeptikerbewegung nachweist. Dabei wird nicht nur die fahrlässige Arbeitsweise der Skeptiker analysiert, sondern auch aufgezeigt, dass das Rasiermesser selbst seine hohe Reputation in der Wissenschaftstheorie oftmals zu Unrecht genießt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Der falsche Gebrauch von Ockhams Rasiermesser

Bereits zu Beginn seines Aufsatzes macht Gernert in einem kurzen Abstract[1] deutlich, woran ihm gelegen ist. Er definiert Ockhams Rasiermesser in aller Kürze als „methodological principle, due to the medieval philosopher William of Ockham, who mainly opposed an unjustified creation of new terms in philosophy“[2]. Die Motivation für diesen Aufsatz sei die Tatsache, dass „this principle and its later versions are frequently quoted in discussions about anomalies“[3], wobei der Autor möglicherweise skeptische Einwände im Blick hat, die darauf abzielen, außergewöhnliche Behauptungen mit der Begründung zurückweisen zu können, dass diese Behauptungen das wissenschaftliche Sparsamkeitsprinzip verletzen würden – man denke hier etwa an ein Streitgespräch zwischen einem Esoteriker, der die Existenz einer Seele behauptet und an seinen skeptischen Diskussionsgegner, der diese Existenzbehauptung zurückweist mit der Begründung, das Vorhandensein einer Seele sei eine überflüssige Zusatzannahme, die Ockhams Rasiermesser zuwiderlaufe. Gernert folgert, dass „An incorrect use of Ockham's Razor only leads to a perpetuation and corroboration of existing prejudice“[4] gegenüber wissenschaftlichen Anomalien und stellt daher die Forderung auf, dass „this principle should not be used to easily get rid of unwelcome data or concepts“[5].

In einem ersten Abschnitt auf S. 135 hebt Gernert ein immer wiederkehrendes Muster („ a Recurrent Pattern[6] ) hervor, das er „ misinterpretations of empirical facts [7] nennt. Diese „Fehlinterpretationen von empirischen Fakten“ bestehe aus zwei Komponenten: erstens darin, dass gewisse Phänomene zu Unrecht und in irriger Weise als wahr anerkannt würden, obwohl diese Erscheinungen wissenschaftlich nicht haltbar seien („erroneous acceptance of phenomena“[8] – Gernert nennt hier als Beispiele N-Strahlen, Polywasser und den Piltdown-Menschen[9] ) und zweitens darin, dass im Gegensatz hierzu bestimmte Phänomene zunächst ungerechtfertigterweise zurückgewiesen würden, die sich im Nachhinein jedoch als wahr herausstellten („unjustified rejection of phenomena“[10] – hier nennt der Autor etwa Meteoriten, Kugelblitze, die Kontinentalverschiebung und Reverse Transkriptasen[11] ).

Im zweiten Abschnitt auf S. 136 nimmt sich Gernert nun des eigentlichen Sparsamkeitsgedankens Ockhams an. Er definiert Ockhams Rasiermesser als „ ‚methodolodical principle, particularly in the context of ontological issues, according to which philosophy and science should assume as few theoretical entities as possible for purposes of explanation, explication, definition etc’ “[12]. Dieses Gesetz der Parsimonie wiederum erscheine, so Gernert, in zwei Ausprägungen: „ ‚Pluralitas non est ponenda sine necessitate’ and ‚Frustra fit per plura, quod potest fieri per pauciora’ “[13]. Der entscheidende Satz ist jedoch folgender: „the frequently cited form ‚Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem (sine necessitate)’ (entities must not be multiplied beyond necessity) does not occur in Ockham“[14].

Dieses vorläufige Fazit muss nun überraschen, glaubt man doch als Wissenschaftler oft, mit Ockhams Rasiermesser eine Methodik an der Hand zu haben, mittels derer man dazu in die Lage versetzt würde, viele außergewöhnliche Behauptungen (wie etwa die, der Mensch besitze eine Seele oder sogenannte „Ufos“ seien Raumschiffe Außerirdischer) aufgrund ihrer vermeintlichen Verletzung des Sparsamkeitsgedankens zurückzuweisen. Dass dem allerdings nicht so ist – zumindest dann nicht, wenn man derlei Behauptungen unter Rückgriff auf die dritte Formulierung angreifen wollte, denn diese taucht ja, wie gezeigt, bei Ockham nicht auf – weist Gernert überzeugend nach. Und er steht mit seiner Meinung nicht allein da: In Bezug auf die Formel Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem hält auch das Historische Wörterbuch der Philosophie fest, dass diese „bei Ockham nicht belegt ist“[15].

Den wahren Sinngehalt von Ockhams methodologischer Regel könne, so der Autor weiter, „be understood only in the context of the philosophical and theological debates of that time, especially on the ‚problem of universals’ “[16], wobei sich Gernert offenkundig auf den Universalienstreit der Scholastik bezieht.

Drei mögliche abgewandelte Versionen des ursprünglichen Ockham’schen Rasiermessers listet Gernert zum Ende dieses Abschnitts hin auf: 1) das Parsimonieprinzip („ principle of parsimony[17] ), das der Originalversion am nächsten komme und behutsame Umsicht fordere, was die Prägung neuer Begrifflichkeiten und Konzepte anginge[18], 2) das Einfachheitsprinzip („ principle of simplicity[19] ), das abziele auf „explanations, reasons, theories, etc., which should be as simple as possible“[20] und 3) die Forderung nach Ausschluss unnötiger Zusatzannahmen („demand for an exclusion of unnecessary additional hypotheses[21] ).

Auf den folgenden dritten Absatz auf S. 136 soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Wichtig ist hier nur, dass der Autor auch auf andere Konzepte zum Umfang von Theorien und Begriffen eingeht[22] und den wichtigen Hinweis gibt, dass bis heute ungeklärt sei, was unter „concepts like ‚simpler theory’ and ‚unnecessary additional hypothesis’ “[23] überhaupt zu verstehen sei.

Der vierte Abschnitt von S. 137-139 ist in vier Unterabschnitte gegliedert und trägt den Namen „ 4. The Myth of Simplicity[24], in Anspielung auf ein Werk gleichen Namens des argentinischen Philosophen Mario Bunge[25], in dem dieser sich ebenfalls kritisch mit Ockhams Rasiermesser auseinandersetzt.

Unterabschnitt „ 4.1. The Scientist and the ‚Unknown Unknown’ [26] wirft einen Blick zurück in die Wissenschaftsgeschichte und führt unter Verweis auf einen Fachaufsatz Henry Bauers[27] als Quelle vieler Forschungsirrtümer die Unterscheidung zwischen dem bekannten Unbekannten, „which can be derived from secured knowledge (and hence is suitable for research proposals“[28] und dem unbekannten Unbekannten an, „that cannot be expected on the basis of the state of knowledge“[29]. Hier nun schlägt Gernert denn auch den Bogen zur eingangs erwähnten „unjustified rejection of phenomena“[30]: Wo er anfangs Erscheinungen wie Meteoriten[31] und Kugelblitze zu den Phänomenen rechnete, die von der scientific community ungerechtfertigt zurückgewiesen und nicht wissenschaftlich anerkannt worden seien, erläutert er nun, wie es dazu gekommen sei, dass der wissenschaftliche Mainstream diesen Naturereignissen die Akzeptanz verweigert habe:

The scepticism against reports supplied by laymen [bezüglich der Meteoritenbeobachtungen, K.S.] […] induced a persistent deterioration of the faculty of judgement, such that even substantiated evidence and experts' reports […] were dismissed under the same prejudice. Being accustomed to categorize phenomena within the usual conceptual and explanatory schemes, scientists easily run the risk of a reductionist trap, finally being content with such a sloppy categorization, however wrong it may be.[32]

Den ersten Unterabschnitt beschließt Gernert, indem er ein Muster erläutert, das er die „ ‚discovery before the discovery’ “[33] nennt: Bereits vor Lavoisier habe es drei Chemiker gegeben, die Sauerstoff hergestellt, diesen jedoch irrtümlich als ein schon bereits bekanntes Gas eingestuft hätten[34]. Ähnlich habe es sich bei der Entdeckung des Planeten Uranus verhalten, der vor seiner offiziellen Anerkennung als neuer Planet mindestens schon 17 mal beobachtet worden sei[35].

Wenngleich Gernert es in diesem Abschnitt nie offen ausspricht, so macht er doch indirekt vielfältig deutlich, dass er „Einfachheit“ als empirisches Kriterum auf dem Weg zur Wahrheitssuche – und damit natürlich auch Ockhams Rasiermesser – ablehnt. Dies wird nicht nur an der Formulierung reductionist trap, der „reduktionistischen Falle“ also, deutlich, sondern zeigt sich darüber hinaus auch in seinem Rückverweis auf Bauer. Dieser hatte nämlich nicht nur die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen dem bekannten und dem unbekannten Unbekannten eingeführt, sondern stellte laut Gernert auch die These auf, dass „open-mindedness for the new exists only so long as the new things are not too new[36]. Sind also gewisse Erscheinungen zu neu, so mache sich im akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb ein Skeptizismus breit, der dazu führe, diese Anomalien in reduktionistischer Manier zurückzuweisen, so also Gernert. Denkt man dieses Szenario nun zu Ende, so ist es nicht weit hergeholt zu folgern, dass Mainstream-Wissenschaftler sich der falschen Version von Ockhams Rasiermesser (Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem) bedienen könnten, um ihr Ziel – die Zurückweisung wissenschaftlicher Anomalien – zu erreichen. Unser Autor denkt hier also radikal anti-Kuhnianisch: Auftretende Anomalien würden demnach also nicht, wie Kuhn es noch behauptet hatte[37], zur Ablösung eines alten und somit zur Errichtung eines neuen Paradigmas führen, sondern die Vertreter des alten Wissenschaftsparadigmas bedienten sich der verstümmelten und mit seiner Originalfassung nichts mehr gemein habenden Version von Ockhams Rasiermesser. Dies alles wird bei Gernert nie offen ausgesprochen, muss als zugrundeliegender Subtext jedoch stets mitbedacht werden und ergibt sich mit zwangsläufiger Notwendigkeit, wenn man seine Ausführungen konsequent zu Ende denkt.

Der nächste Abschnitt auf S. 137f. trägt den Titel „ 4.2. Nearness Distortion – a Characteristic Pattern of Misunderstanding[38]. Gernert listet hier einen weiteren „recurrent type of misinterpretation“[39] auf: den der nearness distortion, worunter er eine Art Selektionsbias im Umgang mit Phänomenen versteht, die den Forscher dazu verleite, Erklärungen für ein Problem heranzuziehen, die innerhalb der Reichweite der von ihm zuvor gemachten Erfahrungen lägen („humans are always at risk of […] adopting explanations close to their individual range of prior experience“[40] ). Dies illustriert der Autor erneut mit mehreren Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte. So erwähnt er etwa Galilei, der einen Zusammenhang von Ebbe und Flut mit der Gravitation des Mondes ausgeschlossen und stattdessen eine irdische Theorie der Gezeiten entwickelt habe[41]. Auch verweist er wieder auf die Forschungsgeschichte der Meteoriten, deren Existenz als vom Himmel fallende Gesteine von den damaligen Gelehrten geleugnet worden sei: „Even scholars who were up to the standards of their time tried to contrive explanations to circumvent the idea that material can fall from the sky“[42]. Aus heutiger Sicht völlig abwegige Theorien seien gar herangezogen worden, um das Phänomen zu deuten[43]. Seine volle Wirkung entfaltet dieser Argumentationsgang von Gernert aber erst durch ein weiteres, auf die Meteoritendebatte anspielendes Beispiel, das unmittelbar folgt. Der Autor erwähnt das Nördlinger Ries, einen Einschlagkrater in Bayern, dessen Entstehung bis 1960 lange Zeit Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen sei. Viele Theorien seien bezüglich der Herkunft vorgeschlagen worden, doch erst nach dem erwähnten Datum habe die „now generally accepted theory [eines Meteoriteneinschlags, K.S.]“[44] breite wissenschaftliche Zustimmung erhalten.

Am Schluss dieses Unterabschnitts setzt Gernert der nearness distortion, also der menschlichen, aber die eigentliche Sachlage nicht erkennen wollenden Neigung zu einfachen Erklärungen, die sich in das Spektrum bereits gemachter Erfahrungen einfügen, den menschlichen Hang zu „ ‚far-fetched reasons’ “[45] entgegen, also zu weit hergeholten und damit nicht mehr zutreffenden Erklärungen.

Den Kern von Abschnitt „ 4.3. In Search of a Simplicity Criterion“[46] auf S. 138f. bildet eine betrachtende Gegenüberstellung von Einfachheit von Theorien einerseits und Komplexität eben dieser andererseits. Beide Kriterien gewönnen ihre Bedeutung nur „on the context of application and the user’s prior understanding“[47]. Sowohl die Forderung nach Einfachheit als auch die nach Komplexität sei gewissen Einwänden und Problemen ausgesetzt. So würde zwar ein Vergleichsmaßstab asureichen, „that marks one of two possible explanations of an empirical fact as the ‚simpler one’ “[48], doch wäre ein solcher „feasible only in limited contexts within a formal science (e.g., comparing two formulas of a logic calculus)“[49], wohingegen andererseits „a measure of complexity will immediately provoke reservations as soon as relationships with empirical data come into play“[50].

Drei Beispiele führt Gernert an, um die begrenzte Anwendungskraft eines Kriteriums der Einfachheit aufzuzeigen. Das erste ist astronomischer Natur und bezieht sich auf die geometrische Form der Umlaufbahnen der Planeten:

The degree of simplicity of a curve equation can be defined by the number of free parameters: a circle in the plane gets the measure 3, and an ellipse gets the number 5. On the basis of simplicity we would have to prefer the circular planetary orbits of Copernicus to Kepler’s ellipses. Simplicity and precision are conflicting demands.[51]

Sein zweites Beispiel ist ein mathematisches und nimmt Bezug auf die Angleichung einer Kurve:

Furthermore, a measure of simplicity depends upon a predefined scheme. In a task of curve fitting, given a set of measurement points, a reasonable curve is to be determined. If a fixed task requires, in a fist step, to express such a curve by a polynomial, whereas in a second step also sin (x), log (x) , etc., will be permitted, then the latter representation will be "simpler", but at the price of more complex means of expression.[52]

Dass es auf die einfachste Erklärung auch nicht immer ankommt, macht Gernert mit einem dritten Beispiel – das vom Quanten-Hall-Effekt – deutlich. Hier geht es ihm darum, dem Leser vor Augen zu führen, weshalb das Kriterium der Komplexität nicht immer hilfreich sein könne:

On the other hand, the simplest answer―maybe a straight or slightly curved line—is not always useful: for the quantum Hall effect, just the extrema of the curve are relevant. The theory of complexity is not helpful here.[53]

Vielmehr müsse jeder Einzelfall betrachtet werden, wenn es darum gehen solle, Komplexität als Wahlkriterium zur Grundlage einer Theorie zu machen, denn

In the literature we find various definitions of "complexity", each of which is tailored to a specific application; each of them is related to its specific class of formally defined constructs, like algorithms or series of signs.[54]

Abschnitt 4.3 endet mit Gernerts Feststellung, dass formale Werkzeuge nicht dazu im Stande sein würden, bei einer Auswahl von konkurrierenden Erklärungsmöglichkeiten eine geeignete auszuwählen („The problem of deciding between competing explanations for empirical facts cannnot be solved by formal tools“[55] ). Schon Mario Bunge habe aufgezeigt, dass „a demand for simplicity (in any of its facets) will conflict with other essentials of science (as exemplified above by a conflict between simplicity and precision)“[56]. Gernert zitiert Bunge mit den Worten: „ ‚In Science, as in the barber shop, better alive and bearded than cleanly shaven but dead’ “[57].

Der letzte Abschnitt „ 4.4. What Ockham's Principle Cannot Accomplish[58] erläutert, wie der Titel bereits ankündigt, was Ockhams Rasiermesser „nicht leisten kann“. Im Wesentlichen stellt dieser Abschnitt die Rekapitulation der Gedanken des Autors aus den vorherigen Abschnitten dar. Er spricht dem Gedanken der Einfachheit die Fähigkeit dazu ab, irgendeinen Beitrag bei der Auswahl von Theorien leisten zu können[59] und hebt hervor, dass stets nur das einfach, klar, logisch und evident erscheine, was „compatible with somebody’s own pre-existing world-view [sei, K.S.], […] whereas what is contradicting that world-view will quickly be rejected as an unnecessarily complex explanation and a senseless additional hypothesis“[60]. Doch so gerate Ockhams Rasiermesser nicht nur zu einem „Spiegel des Vorurteils“ („ mirror of prejudice[61] ), sondern gar zu einem Zerrspiegel („distorting mirror“[62] ), der den wahren Ursprung dieser Maxime verschleiere.

Zu was für fatalen Folgen ein falscher Gebrauch von Ockhams Rasiermesser führen könne, zeigt Gernert anhand eines hypothetischen Anhängers des geozentrischen Weltbildes, der seine – heutzutage natürlich überholte – Vorstellung von der Erde als Mittelpunkt des Universums gegen Vertreter des heliozentrischen Modells zu verteidigen sucht:

As an example, an advocate of the geocentric system could argue: some easiness in the calculation of planetary orbits is irrelevant, because we are not obliged to adapt our world system to the mathematicians’ wishes for comfort, and the hypothesis of a moving Earth is an unnecessary― and adventurous―additional hypothesis, not at all supported by any sensual perception.[63]

Zum Schluss verweist Gernert noch auf eine andere wissenschaftliches Methodenmaxime, deren Ursprung in der Platonischen Akademie liege und von Harald Walach und Stefan Schmidt weiter ausgebaut worden sei: Platos Rettungsboot. Dieses Konzept „claims that a theory must be comprehensive enough ‚to save the phenomena’; this was triggered by observed anomalies in planetary motion“[64], führt Gernert weiter aus.

Mit einem fast schon emphatisch vorgetragenen Appell beschließt Gernert seinen Aufsatz. Mit Nachdruck hält er noch einmal fest, dass unsere Welt doch facettenreicher sei, als es sich manch einer vorzustellen vermöge und weitere Missverständnisse sicherlich folgen würden. Dennoch dürfe Ockhams Rasiermesser nicht als Totschlagargument dienen, um unerwünschte Anomalien von vornherein abzulehnen: „But the principle of that honourable mediaeval philosopher should not be misused as a secret weapon destined to smuggle prejudice into the discussion and to easily dismiss unwelcome concepts“[65].

Zur vorläufigen Wertung von Gernerts Überlegungen: Bei der Lektüre dieses Aufsatzes stechen vor allem zwei Aspekte hervor: Zum einen die Betrachtung der ursprünglichen Verwendung des Rasiermessers bei Ockham selbst und zum anderen die in weiten Teilen wissenschaftssoziologische Gedankenführung. Dem Autor gelingt es in klarer und überzeugender Weise, die fehlerhafte Anwendung von Ockhams Rasiermesser in der modernen Skeptikerbewegung zu entlarven. Die – wenn auch im Vergleich zum überwiegend wissenschaftssoziologischen Teil nur relativ kurz gehaltene und knapp umrissene – Betrachtung der ursprünglichen Verwendung des Gedankens bei Ockham und damit verbunden auch die Rückverfolgung der philosophischen Tradition dieses Werkzeugs erweist sich als äußerst fruchtbar für die Intention der in Rede stehenden Abhandlung. Eine genaue Klärung der Funktion von Ockhams Sparsamkeitsgedankens kann nur auf der Basis der eingehenden Untersuchung der Tradition selbst erfolgen, womit gemeint sein soll, dass es von enormer Wichtigkeit ist, die ursprüngliche Autorintention desjenigen zu erhellen, der dieses Methodeninstrument erschaffen hat – eben Ockham selbst. Die Beibehaltung dieser Verfahrensweise wird sich später noch als richtig und wichtig erweisen, wenn im Rahmen dieser Arbeit die Untersuchung Beckmanns zur wissenschaftstheoretischen Geltung des Rasiermessers im Vordergrund stehen wird. Abschließend kann gesagt werden, dass Gernert es vermag, dem Leser klar vor Augen zu führen, dass William von Ockham eben kein Wissenschaftstheoretiker im modernen Sinn war und es ihm nicht darauf ankam, ein Instrument zu schaffen, um echte Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu trennen, sondern sein Anliegen einzig darin bestand, einen Exzess an Begriffen innerhalb des Universalienstreits zu vermeiden. Soviel zum ersten Aspekt von Gernerts Überlegungen.

Der zweite Aspekt besteht in den wissenschaftssoziologischen Argumenten des Autors. Gerade den mit den berühmten Angriffen Kuhns auf den Wissenschaftsbetrieb vertrauten Fachwissenschaftler werden die Ausführungen zur subjektiv und daher von Forscher zu Forscher divergierenden Auffassung davon, was unter Einfachheit zu verstehen sei, überzeugen. Wenn jeder Wissenschaftler etwas anderes darunter versteht, was in einem bestimmten Fall denn nun einfach sein soll und was nicht, so steht Ockhams Rasiermesser freilich auf wackeligen Füßen. Eine Notwendigkeit der Existenz eines Einfachheitskriteriums kann dann ohnehin nicht mehr eingefordert werden. Es würde einer vernünftigen Grundlage entbehren. Mehr noch: Nicht nur den Faktor Mensch bezieht der Autor in seine Überlegungen mit ein. Er verdeutlicht auch, dass eine konsequente Anwendung von Ockhams Rasiermesser zu Ergebnissen führen kann, die unserem gesicherten Kenntnisstand geradezu widersprechen. Exemplarisch hierfür stehen kann sein Beispiel vom Befürworter des geozentrischen Weltbildes.

Dass selbst in den etablierten Wissenschaften diskutierte und auch durchaus anerkannte Deutungsmodelle der Welt dem Ökonomiegedanken Ockhams widersprechen können, will auch der (allerdings umstrittene) britische Biologe Rupert Sheldrake aufzeigen, wenn er in Bezug auf die kosmologische Theorie der Multiversen schreibt:

Die Multiversen-Theorie ist die denkbar größte Abweichung von einem Prinzip, das »Occams Rasiermesser« genannt wird. Es besagt, dass die »Anzahl der Entitäten nicht über das notwendige Maß hinaus zu vermehren« ist oder, mit anderen Worten, dass wir mit möglichst wenig

Annahmen auskommen sollten.[66]

Sheldrakes Ausführungen zu Ockhams Rasiermesser sind hier allerdings mit allergrößter Vorsicht zu genießen. Einerseits vertritt er einen in den heutigen materialistisch-mechanistischen Naturwissenschaften als pseudowissenschaftlich abgelehnten Dualismus von Geist und Materie, andererseits zitiert er hier zustimmend die berühmte und in die Irre führende Entia non sunt multiplicanda -Formel, auf deren Unrichtigkeit ja bereits hingewiesen worden ist.

[...]


[1] Gernert, a.a.O., S. 135.

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd

[5] Ebd.

[6] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[7] Ebd. Hervorhebungen wie im Original.

[8] Ebd.

[9] Vgl. für die drei Beispiele ebd.

[10] Ebd.

[11] Vgl. für die vier Beispiele ebd.

[12] Gethmann, C.F.: Ockham’s razor. In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissen- schaftstheorie. 4 Bde. Bd. 2 H-O. Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut, 1984. S. 1063-1064. Hier: S. 1063. Zit. nach: Gernert, a.a.O., S. 136.

[13] Gernert, a.a.O., S. 136.

[14] Ebd.

[15] Cloeren, H.J.: Ockham’s razor. In: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörter- buch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‹Wörterbuchs der philosophischen Begriffe› von Rudolf Eisler. 13. Bde. Bd. 6 Mo-O. Basel/Stuttgart: Schwabe, 1984. S. 1094-1096. Hier: S. 1094.

[16] Gernert, a.a.O., S. 136.

[17] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[18] Vgl. ebd.

[19] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[20] Ebd.

[21] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[22] Vgl. ebd.

[23] Ebd.

[24] A.a.O., S. 137. Hervorhebung wie im Original.

[25] Bunge, Mario: The Myth of Simplicity. Problems of Scientific Philosophy. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall, 1963.

[26] Gernert, a.a.O., S. 137. Hervorhebung wie im Original.

[27] Bauer, Henry H.: Scientific Literacy and the Myth of the Scientific Method. Urbana, IL: University of Illinois Press, 1992.

[28] Gernert, a.a.O., S. 137.

[29] Ebd.

[30] A.a.O., S. 135.

[31] Vgl. hierzu besonders Westrum, Ron: Science and Social Intelligence about Anomalies: The Case of Meteorites. In: Social Studies of Science Vol. 8, No. 4 (1978), 461-493.

[32] Gernert, a.a.O., S. 137. Hervorhebung wie im Original.

[33] Ebd.

[34] Vgl. ebd.

[35] Vgl. ebd.

[36] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[37] Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago, IL: University of Chicago Press, 1962.

[38] Gernert, a.a.O., S. 137. Hervorhebung wie im Original.

[39] A.a.O., S. 138.

[40] A.a.O., S. 137.

[41] Vgl. S. 137f.

[42] A.a.O., S. 138.

[43] Ebd.

[44] Gernert, a.a.O., S. 138.

[45] Ebd.

[46] Ebd. Hervorhebungen wie im Original.

[47] Ebd.

[48] Ebd.

[49] Ebd.

[50] Ebd.

[51] Ebd.

[52] Ebd. Hervorhebungen wie im Original.

[53] A.a.O., S. 138f.

[54] Ebd.

[55] Ebd.

[56] Ebd.

[57] Bunge, a.a.O., S. 115. Zit. nach Gernert, a.a.O., S. 139.

[58] Gernert, a.a.O, S. 139. Hervorhebung wie im Original.

[59] Vgl. ebd.

[60] Ebd.

[61] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[62] Ebd.

[63] Ebd.

[64] Ebd.

[65] Ebd.

[66] Sheldrake, Rupert: Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat. Aus dem Ameri- kanischen von Jochen Lehner. München: O.W. Barth, 2012. S. 22f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783956849831
ISBN (Paperback)
9783956844836
Dateigröße
710 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,5
Schlagworte
GWUP Esoterik Pseudowissenschaft Skeptiker Committee for Skeptical Inquiry

Autor

Kim Schlotmann, B.A., wurde 1987 in Hamm geboren. Sein Studium der Philosophie und der Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster schloss der Autor im Jahre 2014 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. Sein Interesse an Wissenschaftstheorie und dem Demarkationsproblem sowie dem soziokulturellen Umgang mit Pseudowissenschaften motivierte ihn dazu, sich näher mit den Hintergründen und Methoden der sogenannten ‘Skeptikerbewegung’ auseinanderzusetzen.
Zurück

Titel: Ockhams Rasiermesser in der Skeptikerbewegung
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
48 Seiten
Cookie-Einstellungen