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Unheimlicher Horror: Motive, Plots und literarische Verfahren zur Erzeugung von Schrecken bei H.P. Lovecraft

©2014 Bachelorarbeit 48 Seiten

Zusammenfassung

Ausgehend von evolutionär bedingten Reaktionen auf Assoziationen und instinktives Verhalten nach Konfrontation von lebensbedrohlichen Dingen und unmoralisch auffallendem Verhalten, bedient sich Lovecraft empirischer Fakten, um sie für literarischen Horror zu nutzen. Zur Klärung der Frage nach Motivation und Art und Weise dieser speziellen Literaturerschaffung bestätigt in dieser Arbeit ein biographischer Einblick, dass die individuelle Umgebung und Erziehung Lovecrafts ausschlaggebend zur Gestaltung seiner Horrorliteratur war. Dazu dienen allgemeine Theorien über Bestandteile und Unterschiede zwischen erlesener und realer Angst. Ebenso ist Lovecrafts Essay (Unheimlicher Horror – Das übernatürliche Grauen in der Literatur) über die richtige Art und Weise, den Leser in einen authentischen und jenseits von konventionalisierten, gesellschaftlich gewohnten Regeln, zu ängstigen, Teil der Lösung. Wie schafft es Lovecraft, Emotionen und Horror beim Leser zu erzeugen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.1 Kindheit und Gebrechen

Einige Umstände seiner Kinder- und Jugendzeit geben besonderen Anlass zur Erwähnung. Wie bereits in Kapitel 1 angedeutet, war HPL ein „altkluges Kind mit einem erstaunlichen Gedächtnis.“[1] Ereignisse und Umstände aus seiner Entwicklungsphase sind zweifellos Mit­begründer späterer Ansichten und literarischer Umsetzungen, vornehmlich in Angst- und Ekelerzeugung.

Seit seiner Kindheit wurde er von seiner „neurotischen Mutter[2] “, Sarah Susan Phillips, sehr einschränkend behandelt. Insgesamt war die Beziehung zu seiner Mutter eine der prägendsten, die im Zusammenhang mit seinem eigenen Verhalten und Ansichten stehen. De Camp zitiert in diesem Kontext den Anwalt der Familie, der sie als „schwachsinnige Schwester“ bezeichnet, und sogar der Psychiater des Butler Hospitals, in dem sie 1919 starb, beschrieb sie als „eine Frau von eingeengten Interessen, die durch eine traumatische Psychose im Ge­fühl eines nahenden Zusammenbruchs lebte.“[3] Sie behandelte ihn mit solcher Sorgfalt, dass sie ihm beinahe jede Freiheit zur Selbstentfaltung entzog. Gefahren wurden präventiv besei­tigt und körperlicher Kontakt mit HPL und Gleichaltrigen vermied sie auf exzessive Art und Weise. Dies störte die normale Entwicklung von Emotionen, Beziehungen zu Mitmenschen und Ansichten über Nähe und Sexualität sehr. In seinen späteren Schauergeschichten fällt dies besonders auf, da z.B. Protagonisten keinerlei Kommentare zu Sexualität bzw. eine ei­gene Libido zugestanden wird. Sie existiert schlicht nicht.[4] De facto reagierte er auf das Thema Sexualität wie etwa ein „zölibatärer Philosoph“, wie de Camp es ausdrückt. Jenes Thema beschreibt er in einem Brief an Sonia[5] in eloquenter Art und Weise.

Die gegenseitige Liebe zwischen Mann und Weib ist ein imaginatives Erlebnis, welches darauf beruht, daß ihr Gegenstand eine gewisse, eine spezielle Ästhetik mit dem eigenen ästhetisch-emotionalen Leben dessen besitzt, der sie empfindet...[sic!] Die Jugend bringt gewisse erogene und imaginative Stimuli mit sich, eingebunden in die taktilen Phänomene schlanker, jungfräulich gehaltener Körper und die visuelle Bildkraft klassischer ästhetischer Konturen, die eine Art von frischer und frühlingshafter Unreife symbolisieren, die zwar sehr schön ist, aber nichts mit der häuslichen Liebe zu tun hat. […] [J]eder hochklassige Mann weiß bald seine oder ihre physi­schen Bedürfnisse auf andere Gebiete zu übertragen, wenn er in die mittleren Jahre gelangt; andere Formen der Stimulation bedeuten solchen Menschen viel mehr als sexuelle Ausdrucksformen, die sie allenfalls eines flüchtigen Gedankens würdigen.[6]

Diese minder empathische Aussage erklärt im weitesten Sinne die Tatsache, weshalb auch seine Protagonisten diesem The­ma keine Aufmerksamkeit schenken (können).

Das sich die traumatische Behandlung durch sein Mutter in sein Erwachsenenalter erhielt, bezeugt eine Aussage Lovecrafts, in der er vor seiner Verlobung mit Sonia Greene zu ihr sagte: „Wie kann eine Frau ein Gesicht wie das meine lieben?“[7] Anlass zu derartigen Kom­mentaren von Susan über ihren Sohn vermutet man in einer Neigung Howards zur Chorea (Veitstanz), die sich in unkontrollierbaren Gesichtszuckungen und Grimassen äußert. Heute hält man Chorea minor für eine Folge von rheumatischem Fieber, das periodisch wieder­kehrt.[8]

Seine späteren Geschichten lassen mehrere wiederkehrende Muster erkennen, so z.B. eige­ne intellektuelle Bezüge und Verfahrensmuster bezüglich Topographie und Ort der unheim­lichen Handlungen und Empirie. So ermöglicht die aus der Kindheit herrührende Akropho­bie Rückschlüsse auf seine Faszination für enge Gänge, Brücken, Höhlen und dergleichen mehr.

Ein stets wiederkehrendes Schauer-Motiv seiner Geschichten liegt seinem Ekel gegenüber jeglichen Meerestieren zugrunde. Da der Großteil von HPLs Kurzgeschichten sich dieser Thematik annehmen, soll auch dies hier erwähnt werden. Meeresfrüchte aller Art riefen schon seit seinen frühesten Jahren Grauen und Abneigung bis hin zu phobisch anmutendem Ekel hervor. Fisch und alles aus dem Meer stammende rufe laut eigenen Angaben bei ihm unverzüglich schwerste Anfälle von Übelkeit hervor. Daher ist es „kein Zufall, daß die Un­geheuer in seinen späteren Erzählungen an Kombinationen aus verschiedenen Bewohnern eines Aquariums erinnern, die nur mit kolossaler Größe und einer bösartigen Intelligenz ausgestattet sind.“[9] Sprague de Camp sieht den Zusammenhang zwischen dieser Abscheu und dem Miteinbeziehen dieser Angst in seine Geschichten in einer generellen Abneigung gegen die See. Er verband wahrscheinlich das Meer, ebenso wie Kälte, Nässe und Dunkel­heit mit Assoziationen des Bösen in seinen Geschichten. In einem Austausch mit Donald Wandrei erzählte er einmal, er hasse Fisch und habe Angst vor der See und allem, was damit zu tun hat, seit er zwei Jahre alt war.[10]

Umsetzungen in seinen Geschichten bietet seine emotionale Verfassung, welche die Aussa­ge eines Psychiaters, der mit Lovecrafts Biographen geredet hat, unterstreicht. Eine etwaige angeborene Reserviertheit und Introvertiertheit wurde bei ihm durch die Neurosen und das Verhalten mütterlicherseits enorm verstärkt. Ein Gedächtnis, welches überdurchschnittlich gut Wissen speichern kann, wie es bei HPL der Fall war, geht oft mit einer beträchtlichen Einschränkung der emotionalen Fähigkeiten einher. Trauer z.B. und andere Emotionen zur Bewältigung bei Verlusten bieten dem Betroffenen Schwierigkeiten. Es wird auch von ei­nem eidetischen Gedächtnis gesprochen.[11]

Die oftmals mit ihm im Zusammenhang erwähnte Poikilothermie schränkte seine Mobilität und körperliche Verfassung noch weiter ein.

Anscheinend zog er sich ein seltenes und kaum erforschtes Leiden namens Poikilothermie zu. Der Erkrankte verliert dabei die normale Säugetierfähigkeit, seine Körpertemperatur unab­hängig von Veränderungen der Umgebungstemperatur konstant zu halten; sein Körper nimmt die Tem­peratur der Umgebung an – wie bei einem Reptil oder einem Fisch. Für den Rest seines Lebens fühlte Lovecraft sich nur bei Temperaturen über sechsundzwanzig Grad wohl.[12]

Seine Erziehung, maßgeblich seine Mutter, ist Hauptgrund für viele Gebrechen, an denen er bis zu seinem Lebensende litt. Viele davon finden sich in den Plots und Motiven seiner Ge­schichten wieder. Protagonisten stehen oftmals repräsentativ für Eigenschaften bzw. Krank­heiten HPLs. Aber nicht nur Hauptpersonen besitzen Ängste und Eigenschaften, welche sich im Rahmen der Lovecraftschen Biographie widerspiegeln, sondern ganze Topographien und atmosphärische Konstrukte lassen Rückschlüsse auf Lovecrafts Entwicklung und den evozierten inneren Gemütszuständen zu. Dies findet später noch genauer Einzug in die Ar­beit.

2.2 Literatur und Bildung

Aufgrund der immensen Fülle an (Fach-)Literatur die HPL seit Kindesalter rezipierte, kön­nen hier nur einige Werke und Autoren angegeben werden, die ihn inspirierten und bildeten. Es soll eine biographische Entwicklung zur Literaturaffinität vorgenommen werden, um den Zusammenhang von Leseerfahrung und eigenen Kreationen darzustellen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist neben seiner Lektüre auch der autodidaktische Aspekt, welcher beträcht­liche Auswirkungen auf seinen späteren Stil und seine Lebenshaltung hatte.

Durch die im vorangegangenen Kapitel erwähnten physischen und psychischen Belastun­gen, welchen er seit jeher ausgesetzt war, liegt es nahe davon auszugehen, dass Lovecraft sich nicht nur zurückzog, sondern auch Alternativen suchte, um sich zu beschäfti­gen. Ausgehend von der Tatsache, dass er früh Neigungen zu Schrift und Wort entwickelte – er konnte mit zwei Jahren Buchstaben als solche erkennen, mit drei Jahren einfache Texte lesen und mit vier Jahren eigene Kurztexte verfassen – war es auch dem Umstand zu ver­danken, dass er in seinem Elternhaus[13] Zugang zu einer gut ausgestatteten Bibliothek hatte. Es ist davon auszugehen, dass auch mündlich erzählte Geschichten den noch kleinen Ho­ward stark prägten. Whipple Phillips bemerkte das Interesse von Howard und förderte die­ses, denn „[a]ls er bemerkte, daß sein Enkel ähnliche Interessen entwickelte, erzählte Whipple Phillips dem Knaben Geistergeschichten und Gruselmärchen, die er sich selbst ausdachte.“[14] Bereits hier fallen die pessimistischen Bilder auf, welche Lovecraft unbestreit­bar inspirierten, denn auch er benutzte in seinen Geschichten äquivalente Bilder und Grund­gerüste, um Atmosphäre und düstere Stimmungen zu erschaffen. So hatte nicht nur seine Mutter „großen Einfluß auf H.P. Lovecraft, sondern auch die Bücher, mit denen er sich da­mals beschäftigte. […]. Bald verschlang er alles, was ihm an Geschriebenem vor die Augen kam. Eines der ersten Bücher, die er las, war Grimms Märchen.[15] Nebst E.A. Poe und Am­brose Bierce[16], war er später besonders von Edward John Moreton Drax Plunkett, Acht­zehnter Baron Dunsany, inspiriert. Sehr bezeichnend und eindeutig ist die Aussage über Lord Dunsany in seinem Essay Unheimlicher Horror (Originaltitel: Supernatural Horror in Literature), in dem er schreibt, Dunsany sei unübertroffen in der Zauberei einer kristallinen, singenden Prosa und von überragendem Rang in der Erschaffung einer prächtigen und sehnsuchtsvollen Welt irisierender, exotischer Visionen und dass dessen Geschichten und kurze Theaterstücke ein fast einzigartiges Element in unserer Literatur bilden.[17] Lovecraft sieht ihn als „Erfinder einer neuen Mythologie und als Erdichter überraschender Volksmär­chen“ und er stehe „im Dienst einer fremden Welt phantastischer Schönheit, verschworen dem ewigen Kampf gegen die Rohheit und Hässlichkeit der Wirklichkeit des Alltags.“[18] Der Einfluss Lord Dunsanys lässt sich offenbar nicht auf eine kurze Schaffensperiode begren­zen. So erinnert sich Lovecraft noch 1936 in einem Brief an Fritz Leiber schwärme­risch: „Dunsany has a peculiar appeal for me. Casual und tenuous though any one of his fantastic flights may seem, the massed effect of his whole cycle of theogony, myth, legend, hero-epic and dream-chronicle on my consciousness is that of a most potent and particular sort of cosmic liberation.“[19]

Als selbsternannter Gentleman fühlte er sich generell eher dem 18. Jahrhundert zugehörig und konsumierte daher nicht nur Literatur dieser Zeit, sondern beschäftigte sich eingehend mit der geschichtlichen Entwicklung des Schauerromans der gotischen Zeit, bis hin zu aktu­eller Literatur (zu HPLs Lebzeiten aktuell). Durch Unheimlicher Horror, erfährt man neben Literaturgeschichtlichem[20] auch viele Stellungnahmen und Bewertungen Lovecrafts zu un­zähligen Autoren früherer Zeiten. Anfängliche Schauerromane und die Kreation phantasti­scher, sowie phantasievoll morbider Geister- und Spukgeschichten, werden ebenso themati­siert wie Hintergründe und Beispiele. Gleich zu Beginn seines Essays vermerkt er generali­sierend:

Die Anziehungskraft des Gespenstisch-Gruseligen erreicht im allgemeinen nur einen kleinen Kreis, denn sie verlangt vom Leser ein gewisses Maß an Einbildungskraft und ein Vermögen, sich vom Alltagsleben zu distanzieren. Verhältnismäßig wenige sind frei genug vom Bann der täglichen Routine, um auf die Rufe von draußen zu reagieren, und Geschichten von ge­wöhnlichen Gefühlen und Ereignissen oder von allgemeinen sentimentalen Verzerrungen solcher Gefühle und Ereignisse werden immer den ersten Platz im Geschmack der Mehrheit behaupten; und das mit Recht vielleicht, da diese Dinge selbstverständlich den größten Teil der menschlichen Erfahrun­gen ausmachen.[21]

Durch seinen anglophilen und archaischen Lebensstil und der Skepsis allem modernen ge­genüber, verbrachte HPL die meiste Zeit damit, Romane und Kurzgeschichten aus zurück­liegenden Epochen zu rezipieren, was ihn unmittelbar und merklich beeinflusste.

Als Ästhet mit eskapistischen Tendenzen war es auch HPL daran gelegen, die Schwierigkei­ten der Existenz und der Welt außerhalb seines gewohnten Habitats zu beschreiben und in eine für ihn angemessene literarische Form zu bringen. Da von der Außenwelt (z.B. fremde Bräuche, Moderne) und generellen Veränderungen (Moderne, Industrialisierung), stets Nachteile für HPL aufwarteten, wie er durch seine Erziehung indoktriniert wurde, entwi­ckelte sich ein Weltbild, gleich dem, welches er aus seiner Lektüre in sich aufnahm. Ein Zu­fall kann bei Betrachtung seiner Biographie und eindeutigen Aussagen seinerseits katego­risch ausgeschlossen werden. Verluste von Familienmitgliedern und gewohntem Umfeld entwickelten sich zu suizidalen Gedanken und Resignation sowie Stagnation der eigenen Arbeiten. Nach dem Verscheiden seiner Mutter verschlechterte sich seine Verfassung enorm und Zweifel am Recht seiner weiteren Existenz erhoben sich. Auch wurden negative Äuße­rungen und depressive Texte produziert. Nach dem Tode Sarahs schrieb er:

Ich verachte mich selbst, weil ich weiterlebe, ohne die geringste gültige Ausrede für die Fortset­zung einer so kläglichen Farce angeben zu können. Selten erwache ich, ohne mit Abscheu daran zu denken, daß es nun notwendig sein wird, wieder 16 oder 17 Stunden bei Bewußtsein zu bleiben, ehe ich neues Vergessen finden konnte; früher oder später werde ich vernünftig genug sein, die nötigen Schritte zu unternehmen, um zu einem Schlaf von barmherziger Dauer zu gelangen.[22]

Als sein Großvater starb, zwang dies die Lovecrafts zum Umzug und Howard sah sich aus seinem gewohnten Umfeld vertrieben. Aus Mangel an Kontakten bzw. Freunden jenseits seiner Korrespondenzen und Neigungen zur Xenophobie verschlechterte sich sein fragiler Gemütszustand zusehends. Aus diesen Emotionen schaffte er später eine phantastische Schöpfung, die eigene Neurosen und Alpträume mit einbezog, wenn auch vermutlich teil­weise unbewusst. Die misanthropischen Ansichten und Neophobie erreichten in seiner Kreativität ihren Höhepunkt. Obwohl sich die Frage stellt, ob seine Texte für ihn therapeuti­sche Zwecke erfüllten, soll dies hier nicht Thema sein.

Seine Erfahrungen, Emotionen, Verluste und Gebrechen vielerlei Herkunft, sind Faktoren, welche sich später in seinem eigenen unheimlichen Horror herauskristallisierten. Als Auto­didakt und pragmatischer Materialist, legte er viel Wert auf eine wissenschaftliche Seite sei­ner Geschichten. Naturwissenschaftliche Experimente, Fakten der damaligen Wissensstände – manchmal auch vorausschauende Momente und visionäre Vermutungen - und Fiktion kul­minieren im Fundus seiner eigenen Kreationen und seiner eigens erschaffenen Bibliothek.

Viele Fragmente fügen sich zu seiner literarischen Umsetzung zusammen und bilden spezi­elle Merkmale und Charakteristika aus denen sich ein Lovecraftscher Wiedererkennungs­wert und ein Spezifikum herausdestillieren. Vorsichtig ausgedrückt formen sich aus erleb­ten und empfundenen Ängsten des Autors Themenkonstrukte, in denen eben diese Emotio­nen vorherrschen, mit welchen der Autor durchaus vertraut ist, wenn auch wider Willen.

2.3 Entwicklung zum Schriftsteller

Nachdem deutlich wurde, dass HPL starke Ambitionen zu Literatur und der Gestaltung und Vervollkommnung eigener Texte vielerlei Gattungen entwickelte, gilt es nun zu erfahren, wie er sich zu einem Autoren entwickelte. Auch hier stößt man auf Probleme, denn HPL selbst erlernte sein Handwerk ausschließlich autodidaktisch und nicht durch eine Ausbil­dung. Richtungweisend bei der Findung und Festigung seines Stils, waren vor allem seine enorme Korrespondenz mit anderen Amateurschriftstellern, und Meinungen über seine Texte durch Leserbriefe und Kritiken.

Nachdem er in seiner Kindheit eigene Zeitschriften herausgab - in kindlicher und nicht kommerzieller Manier wohlgemerkt - wie The Scientific Gazette im Alter von acht Jahren, und mit sechzehn aufgrund seines regen Interesses an der Wissenschaft, wie z.B. der Astro­nomie, astronomischer Mitarbeiter der Providencer Zeitung Tribune wurde, schloss er sich 1914 der United Amateur Press Association (UAPA) an.[23] Dies war der Grundstein seiner riesigen Korrespondenzen und seiner Entwicklung zu einem in weiten Kreisen ernst ge­nommenen Schriftsteller. Innerhalb der UAPA gab er The Conservative heraus, in dem er Gedichte, Essays und erste Erzählungen veröffentlichte.[24] Inspiriert durch seine immer fort­währende Lektüre seiner Vorbilder und geschätzter Autoren, formten sich durch Reaktionen der Leserschaft Anfänge eines Stils, der bereits in eine Richtung zu schreiten schien, welche sich mit Horror und Angst beschäftigen, wie er es an seinen Vorgängern schätzte. Abgese­hen von Imitationen Edgar Allen Poes und einer Vielzahl weiterer Autoren, von denen er überzeugt war, hatte er sich trotz Erfolge und positiven Statements seitens der Leserschaft seiner Artikel und Erzählungen lange immer wieder eingeredet, er habe kein Talent zum Schriftsteller.[25]

Erneut auf Drängen von Freunden versuchte er um 1915 erneut angesehene Literatur zu er­schaffen, was ihm trotz seiner Skepsis immer wieder gelang. 1917 begann er, auf dem Ge­biet zu arbeiten, auf dem er zu Ruhm gelangen sollte: als Autor phantastischer, unheimli­cher Literatur. Seine Kurzgeschichten Das Grab wurde 1922 in der Märznummer des Va­grant abgedruckt, dem Amateurmagazin, das Cook in New York herausbrachte. Sie ist in die Weird Tales Art einzuordnen.[26] Es folgten Dagon, eine Geschichte die stark an seine Ab­neigung vor Fisch etc. angelehnt ist, und um 1920 war Lovecraft mit sich zufrieden und schrieb, dass es ihn freue, dass seine literarischen Versuche als verdienstvoll anerkannt wür­den und er wünsche sich, er hätte sie in den Jahren zwischen 1908 und 1917 nicht unterbro­chen.[27]

Zurück zur UAPA in der HPL bald bekannt wurde. Er schaffte es, sich zum offiziellen Her­ausgeber und Präsidenten vorzuarbeiten. Die erwähnten Korrespondenzen, welche auf Le­benszeit erhalten blieben, umfassten Gleichgesinnte, wie Reinhart Kleiner, James F. Mor­ton, Maurice W. Moe, Alfred Galpin, Samuel Loveman, W Paul Cook und Frank Belknap Long.[28] Dieser Amateurjournalismus verdichtete von 1914 bis 1925 (wie erwähnt gingen die Korrespondenzen über HPLs Tätigkeit bei der UAPA hinaus) Bekanntschaften und Briefkontakte zu Freundschaften und einer Quelle konstruktiver Kritik an den Werken Lovecrafts.

Auf Wunsch von Mitgliedern weiterer Verbindungen, verfasste Lovecraft stetig Schauerge­schichten, deren Qualität immer dann besonderen Auftrieb erhielten, wenn HPL einen neu­en Autoren entdeckte und sich eingehender mit Theorien der Erschaffung von Atmosphäre und literarischen Techniken eingehend befasste, was immer wieder vorkam (Hier sei erneut die huldigende Erwähnung Lord Dunsanys, als Initiationsgrund erneuter Kreativität er­wähnt).

In den Zwanziger Jahren befand sich Lovecraft „eindeutig auf dem Höhepunkt seiner litera­rischen Kräfte: nicht nur vollendete er im Jahre 1927 die bedeutende Abhandlung Superna­tural Horror in Literature (spät im Jahre 1925 auf Wunsch W. Paul Cooks begonnen), son­dern schrieb auch einige seiner beeindruckendsten und bekanntesten Erzählungen: Cuthul­hus Ruf (1926), Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath (1926-27), Der Fall des Charles Dexter Ward (1927), Die Farbe aus dem All (1927), Berge des Wahnsinns (1931), Der Schatten aus der Zeit (1934-35), und andere.“[29] Neben eigenen Erschaffungen von Er­zählungen, war HPL auch häufig als Ghostwriter[30] beschäftigt. Aber diese Tätigkeit enthält keinen Nutzen für die Thematik dieser Arbeit und soll deshalb nur der Vollständigkeit hal­ber kurz erwähnt sein.

2.4 Die letzten Jahre

Gegen Ende seines Lebens, konnte Howard Phillips Lovecraft auf einen Lebenslauf zurück­blicken, der spannender und abwechslungsreicher war, als er als Gentleman und Mann der alten Schule zugeben wollte. Dass er seine Ansichten aus dem 18. Jahrhundert übernahm und auch seinen Sprach-, Schrift- und Verhaltensstil nach ihm richtete, manifestierte sich nicht nur durch sein Auftreten anderen gegenüber, sondern auch durch seine Praxis in Sa­chen Meinungsverkündung und

Geschmack in jeglicher Hinsicht. Politische, soziale und kulturelle Begebenheiten wurden von ihm argwöhnisch mit den Augen eines Mannes betrachtet und bewertet, dem es missfiel in Zeiten zu leben, in denen Maschinen und Industrie pittoreske Viertel verdrängten und ko­lonial geprägten Siedlungen entgegenstanden. In eigenen Worten, sagte HPL, er

[...] hatte den kindlichen Einfall, [s]ich ganz und gar in die Vergangenheit zu versetzen, und so wählte [er] nur solche Bücher, die sehr alt waren, und datierte alles was [er] schrieb, um zwei­hundert Jahre zurück – 1697 statt 1897, und so weiter … Bevor [er]'s wusste, hatte das 18. Jahr­hundert [ihn] ganz und gar gefangengenommen […].[31]

Auch seine Vorbilder, darunter Arthur Machen, idealisierten das 17. Jahrhundert und frühe­re Zeiten. Doch HPL pflegte diesen Stil und verwendete eine archaische Aussprache und bemühte sich, seine Rede von postkolonialen Wörtern und Ausdrücken zu reinigen.[32]

Er behauptete von sich, er sei wahrscheinlich der einzige lebende Mensch, dem das alte Idi­om des 18. Jahrhunderts tatsächlich die Muttersprache für Prosa und Lyrik ist. Alles was nach dieser Zeit an sprachlichen Gepflogenheiten kursierte und sich im Stil neuer Literaten niederließ, bezeichnete er als grotesk, Alptraum oder Karikatur. Diese Einstellung behielt er auf Lebenszeit bis zu seinem Tode. Dieser Missmut begleitete seine üblichen schriftstel­lerischen Tätigkeiten. Ab Ende des Jahres 1936 – er hatte zwischendurch weitere Projekte für z.B. das Fantasy Magazine, einen pseudowissenschaftlichen Aufsatz über sein Necrono­micon uvm. angefangen – verstärkte sich ein Verdauungsproblem, welches er sonst als un­wichtig abtat. Doch es folgten geschwollene Füße und mehrere Leiden, welche er auf die Kälte zurückführte. Mitte Februar zwang ihn eine 'Grippe', seine Briefe auf der Maschine zu schreiben. Dann wurde er rapide schwächer; er nahm ab und hatte Mühe, sein Essen bei sich zu behalten. Tagelang blieb er, auf Kissen gestützt, im Bett und versuchte, mit einem Bleistift Briefe und Postkarten zu schreiben oder seinen Tanten zu diktieren. Ein Spezialist, der HPL am 2. März untersuchte, bestätigte den Verdacht, dass er Krebs hatte. Am 10. März wurde er ins Jane Memorial Hospital eingeliefert. Eine Operation kam nicht mehr in Be­tracht. Lovecraft konnte auch nicht mehr essen und wurde intravenös versorgt und man gab ihm Morphium. Er starb am frühen Morgen des 15. März 1937. In seinem Totenschein steht als Todesursache „Karzinom des Darmes, chronische Nephritis“.[33] Oftmals resümierte Lovecraft sein Leben auf pessimistische Weise, wobei eines aufschlussreich verwendet wer­den kann, wollte man seine Selbsteinschätzung kurz beschreiben:

Ich kenne kaum jemanden, bei dem das Erreichte das Angestrebte so gründlich verfehlt hat oder der allgemein weniger hat, wofür er lebt. Jede Fertigkeit, die ich mir zu haben wünsche, erman­gelt mir. Ich habe nicht vermocht, zu formulieren und auszudrücken, was ich wollte. Alles, was mir wertvoll ist, habe ich verloren, oder werde ich wahrscheinlich verlieren. … Und was die Einsam­keit betrifft, so kann ich vermutlich sämtliche Medaillen beanspruchen. In Providence habe ich nie einen geistesverwandten Menschen getroffen, mit dem ich Ideen hätte austauschen können, und selbst unter meinen Briefpartnern finden sich weniger und weniger, die in hinreichend vielen Punk­ten mit mir übereinstimmen, um den Diskurs über mehr als einige wenige spezialisierte Punkte zu ei­nem Genuß werden zu lassen. … In allem – Philosophie, Politik, Ästhetik und den Wissenschaften – finde ich mich allein auf einer Insel, und eine nahezu feindselige Atmosphäre zieht sich um mich zusammen. Mit der Jugend sind alle Möglichkeiten des Glanzes und der abenteuerlichen Erwar­tung dahin – und ich bin gestrandet auf einem Felsenriff und habe nichts mehr zu erwarten.[34]

In späteren Erzählungen, verkünden die Protagonisten eine ähnlich düstere und alternativlo­se Ansicht über ihr Dasein, welches sie ebenfalls als sinnlos bezeichnen und ohne jegliche Aussicht auf Linderung des Schmerzes durch Erlebtes ihrem Ende entgegen­blicken. Im späteren Textbeispiel Die Farbe aus dem All sollen die Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz im Kosmos und das vergebliche Suchen nach ei­nem Jenseits erwähnt werden.

3. Theorien von Angst und Ekel in der Literatur

Nachdem man sich eingehender mit der Biographie Lovecrafts beschäftigt hat, fallen besonders zwei Merkmale auf, die sein Leben und auch seine Horrorgeschichten bestimm­en. Zum einen die allgegenwärtige Angst vor allem Neuen und Unbekannten, zum anderen der sich mannigfaltig präsentierende Ekel. Ekel ist ein besonderer Aspekt in den Werken HPLs. Er bedarf einer genauen Betrachtung.

Hinsichtlich evolutionärer Warnmechanis­men zum Schutze des Körpers und darüber hinaus des Lebens, sich einer daraus entwi­ckelnden Ästhetik und Assoziationsfolgerung, ist Ekel ein wirksames Mittel, um beim Leser gezielt Abscheu und Unbehagen zu erzeugen. Einige Essays und Bücher beschäftigen sich ausschließlich mit dieser Thematik und bezeugen, dass Ekel tiefer in den menschlichen Empfindungen verwurzelt ist, als man zunächst annimmt. Winfried Menninghaus behandelt den Ekel in seinem über 500 Seiten starken Buch Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, von einem philosophischen, aber auch psychologischen Standpunkt aus. Dagegen beschäf­tigt sich Jens Malte Fischer expliziter mit dem produktiven Ekel in seinem gleichnamigen Essay. Darin bezieht er sich besonders auf Ekelerzeugung in den Werken von Lovecraft, weshalb dieses Werk in diesem Kapitel von Zentraler Bedeutung sein wird. Einen wichtigen Teil zur Frage nach Ekelerzeugung in den Geschichten Lovecrafts, leistete auch Susanne Smuda in ihrer ausführlichen Studie H.P. Lovecrafts Mythologie – Bricolage und Intertex­tualität – Erzählstrategien und ihre Wirkung, in der sie dem Ekel und dessen Erzeugung einen weiten Teil widmet.

In diesem Kapitel soll demnach eine ausführliche Behandlung des Themas Ekel geschehen, wobei sich hauptsächlich auf die besagten Titel bezogen wird. Angst und Ekel sollen zentra­le Thematik sein.

Angst setzt sich zunächst einmal aus vielen Prämissen zusammen, die im Kollektiv wirken und uns in den Zustand versetzen, den wir naturgemäß meiden. Defizitärer Schutz gegen un­bekannte oder eindeutig drohende Gefahren, die uns Schaden zufügen, ist wichtiger Be­standteil des Angstzustandes. Die Suche nach Auswegen, diesem Schaden zu entgehen, also Fragen nach dem Fluchtweg zu beantworten (nicht nur das Wegrennen, sondern auch Hand­lungsimpulse, Logik und sonstige Mittel zur Umgehung des nahenden Todes oder der Schmerzen, sind hier gemeint), ist entscheidend für das Überleben. So lange diese Lösung der Problematik und Gefahrenbeseitigung ausbleibt, herrscht Ungewissheit und das Gefühl der Sicherheit ist aufgehoben.

Im Falle des Ausbleibens einer greifbaren Ursache oder natürlichen Erklärung für eine be­vorstehende Gefahr, ist die Wirklichkeit in einem Zustand, in dem sich Gefahr und das Un­bekannte miteinander vereinigen, was wir dann das Unheimliche nennen. Dabei entsteht das Gefühl des Individuums der totalen Unsicherheit und Ratlosigkeit und der Kontrollver­lust naht. Dies wird Angst genannt.[35]

Anfangs ist es wichtig zu unterscheiden, wo der Unterschied in der Angst und dem Schauer liegt, den ein Individuum im realen Umfeld erleben kann und der Angst, welche der Rezipi­ent erfährt, wenn er Schauerliteratur konsumiert und Schauerantizipationen hat. Hier liegt ein enormer Unterschied vor, den es zunächst einmal zu verdeutlichen gilt. Wie Wolf­gang Trautwein in seinem Buch Erlesene Angst – Schauerliteratur im 18. und 19. Jahrhun­dert nachvollziehbar verdeutlicht, ist eine Trennung der real erfahrenen Emotionen und de­ren Auslösern von der erlesenen Emotion und des absichtlich gewählten Schreckens zu konstatieren. Ergänzt wird das Betrachten des literarischen Schauererlebnisses durch Hans Richard Brittnachers Werk Ästhetik des Horrors. Darin behandelt Brittnacher die These, dass die intendierte Abweichung von der Norm ihre eigene Attraktivität beinhaltet und beim Leser positive Reaktionen durch die „schockierende Abweichung vom Vernünftigen, Schö­nen und Guten“[36] erfährt.

Allem voran steht die Frage nach den Motiven der Phantastik. Genauer heißt dies, zu klären, weshalb eine Nachfrage zu Literatur existiert, die eine Empfindung hervorruft, welche grundsätzlich erst einmal Unbehagen und Abscheu beim Menschen hervorruft. Wie kommt es also zu der Begeisterung für eine Literatur, die nicht nur explizit übermächtige Wesen schreckenerregend darstellt, sondern die generell auf eine Weise beschreibt, die in eklatan­tem Widerspruch zu den tradierten Normen des guten Geschmacks steht? Brittnacher stellt die These auf, dass Literatur, sprich ihr ästhetischer Ernstfall, der Horror, dem Leser Schock, Ekel, Angst und Entsetzen zumutet, weil sie die eingespielten Muster eines disziplinierten Kunst­genusses durchbrechen will.[37] Es geht also zunächst um Provokation und die Separation von tradierten romantischen Vorstellungen. Dies weist Ähnlichkeiten mit Techniken auf, durch die sich der lite­rarische Expressionismus etablierte und auf sich aufmerksam machte.

Ein allgemeines Interesse der Bevölkerung an Norm-Brüchen und das Suchen nach Mög­lichkeiten zum Eskapismus kann an dieser Stelle schon daran belegt werden, da es eine breite Masse an Rezipienten gab und gibt, welche sich zu größeren Fangemeinden, Leser-Kommunen und Amateurkreisen entwickelte und eine Steigerung der Nachfrage zu bemerken ist, seitdem sich Horror in der Literatur durchsetzte. Schon Märchen und mittelalterliche Kindergeschichten, hatten ein Gruselmoment, bedenkt man, dass auch hier Hexen verbrannt wurden, Kinder ausgesetzt wurden, geliebte Menschen starben und Tod und Trauer allgegenwärtig waren. Kinder steckten sich in Flammen, Daumen wurden abgeschnitten und der Hungertod fand Einzug in Literatur, welche durchaus für Kinder konzipiert war.[38] Angst und die Abkehr von fröhlichem Miteinander und schicklichen Umgangsformen wurde seit jeher dazu benutzt, um sich in literarischen Produkten von herkömmlichen Waldspaziergängen oder anderen alltäglichen mit Schönem und Angenehmem verbundenen Situationen abzugrenzen.

Etablierte Umbrüche in der Gestaltung von Unterhaltungsliteratur zogen sich über einen langen Zeitraum und formten sich dabei stetig neu. Es gab nicht einen abrupten Umbruch oder das Werk, welches ad hoc eine neue Nachfrage einläutete. Wenn gleich sicherlich einige Werke von essentieller Bedeutung sind, betrachtet man die Entstehung des Verlangens nach Horrorliteratur. Neue Stil- und Strukturprinzipien entstanden. Mit ihnen erschienen die Ver­stöße des phantastischen Erzählens gegen Wahrscheinlichkeit und eingespielte Lesererwar­tungen unverhofft als besonderer ästhetischer Gestus einer auf besagter Provokation einge­stimmten Moderne, die dem Rationalitätsschub der gesellschaftlichen Entwicklung mit der ästhetischen Attitüde des desinvolture begegnete.[39] Weiterhin kann resümiert werden, dass sich das Archaische der Phantastik in dieser Perspektive plötzlich zur Norm der Moderne verwandelte, deren Literatur damit zum Paradigma eines Genres wurde, das sich gerade über seine Modernitätsfeindlichkeit bestimmte.[40]

Mittel und Wege zur Erschaffung dieser Befremdung gibt es zahllose. Deshalb findet sich hier eine bestimmte Auswahl an Verfahren und Bestandteilen, welche essentiellen Charakter vor allem in Lovecrafts Geschichten besitzen. Dessen ungeachtet, dass Literatur des Horror-Genres nicht den Anspruch erhebt, sich von Trivialliteratur durch ihren künstlerischen Bruch abzugrenzen, ist es keinesfalls trivial, Horror-Literatur zu verfassen. Zusammenfassend kann zu Anfang gesagt werden, dass:

[W]er ein derartiges literarisches Material untersucht, muß in Kauf nehmen, daß es sich dabei zumeist weder um formal ambitionierte noch gesellschaftskritische oder gar fortschrittliche Literatur handelt. Narrative Biederkeit ist nun einmal konstitutiv für eine Literatur, die ihrem Leser eben die mimetische Treuherzigkeit abverlangt, die sie selbst gegenüber ihrem Thema zu haben vorgibt. Ein umfangreiches Repertoire an Mitteln der Glaubwürdigkeitserzeugung soll den Leser bewegen, dem übernatürlichen Geschehen Glauben zu schenken: Ich-Form, Manu­skriptform, Rahmenhandlungen, die Berufung auf Gewährsmänner, Augenzeugen oder Chroniken usf. Sind bewährte Formen überlieferter Erzählkunst.[41]

Nicht wider die Natur im herkömmlichen Sinne, aber überaus schreckenerregend, ist allzeit das Thema Tod. Der Tod, eingesetzt in der Literatur, ist nahezu ein Garant für Angstantizi­pationen, Unbehagen und Existenzängste. Abgesehen vom religiösen Standpunkt aus, in dem der Tod zum Leben dazu gehört und oft als Etappe zu einem höheren Ziel tituliert wird, gibt es auch rationale bzw. wissenschaftlich nüchterne Ansichtsweisen, welche den Tod nicht als Teil eines Kreislaufs spirituellen Charakters ansehen. Diese scheinbare Trost­losigkeit und materialistische Sichtweise ist gepaart mit literarischer Finesse und der Inten­tion Angst zu erzeugen, eine stets unerschöpfliche Quelle des Horrors. Wird also der Tod als endgültiger und unwiderruflicher Abschluss des Lebens wahrgenommen oder als Eintritt in eine von unheimlichen, bösartigen Dämonen oder Monstern beherrschte Welt, gewinnen auch andere in der Erzählung dargestellten Ängste an zusätzlichem Gewicht. Die Erfahrung von Anonymität, die Angst vor Konspiration, vor Identitätsverlust sowie die Ahnung eines undurchdringlichen Schicksalsnexus entstehen.[42]

Der Mensch muss sich, angesichts der Todesthematik mit der Erfahrung der Naturkontin­genz eines sinnlosen Lebens und Sterbens, belasten. Dieser elementaren Angst widmen sich vor allem Gespenstergeschichten. Mit Gespenstern sind hier im weitesten Sinne sämtliche Erscheinungen gemeint, die das rationale Verständnis und wissenschaftlichen Ansätze durch eine Erscheinung eines, dem Grunde nach verstorbenen Menschen, Lügen strafen. Der Tod und die Angst davor nimmt eine Form an und befindet sich in der Welt, die eigentlich der Ratio und den Naturgesetzen vorbehalten sind. Tod und Leben greifen in­einander über. Sobald sich in der Geschichte Tote blicken lassen, stehen sie z.B. in eigen­tümlicher Stummheit dem vor Entsetzen verstummten Bürger Auge in Auge gegenüber und es wird ein Zerrbild des eigenen Lebens und Abbild des baldigen Todes erzeugt. Die Be­gegnung führt bei den Betroffenen mit sofortiger Wirkung zu physiologisch unzweckmäßi­gen Reaktionen: Die Haare sträuben sich, oder die Zähne klappern, und dies ist keine sinn­volle, von instinktiver Furcht gelenkte Abwehr, sondern lediglich motorischer Verlust und Überreaktion.[43]

Ein Totalverlust der körperlichen Funktionen ist keinesfalls wünschenswert und der Gedan­ke daran ruft Panik und Angst hervor. Auch die Vorstellung jener Bilder durch das Lesen hat eine Antizipation zur Folge, welche sich Autoren zu Nutze machen können. Zusammenge­fasst ist der Geist Repräsentant des Todes und Auslöser physischer Reaktionen, welche kei­nerlei Funktionen innehaben.

Warum sollte ein Mensch sich freiwillig einer solchen Angst vor dem Tod ausliefern? Denn ein Lustempfinden durch Angst scheint im ersten Moment der Betrachtung Paradox. Britt­nacher sagt zu dieser Frage, dass die ästhetische Versprachlichung oder Bebilderung eine Domestikationsleistung dieses Grauens immerhin in Aussicht stellt, und so kann sie tenden­ziell auch genussvoll erlebt werden.[44] Es wird durch die literarische Form ermöglicht, jene Angst zu kontrollieren und eine Art Herrschaft darüber zu entwickeln. Man nimmt also nicht als Opfer an der Todesszene teil, sondern als Zuschauer bzw. passiver Involvierter, dem exakt bewusst ist, dass es sich um eine nicht real existierende Szene handelt und kein Schaden an der eigenen Existenz erfolgen kann. Ein Rauscherlebnis mit Tendenzen zum thrill wird erzeugt, der sogenannte Nervenkitzel. Eine Lusterfahrung, welche Glückshormone erzeugt und potentiell süchtig machen kann, da man speziell durch die Buchform keiner Zeit wirklicher Gefahr ausgesetzt ist, jedoch durch die Vorstellungskraft dazu in der Lage ist, am Geschehen Anteil in erhabener Position zu neh­men.

Neben dem Tod als wirksames Mittel, elementare Angst hervorzurufen, gibt es eine Vielzahl von Kategorien, welche zusammen als System eine Geschichte zu einem Horrorerlebnis werden lassen. Die Aktivierung der Angstempfindung ist an derart viele Bestandteile gekoppelt, dass hier exemplarisch ausgewählte Mechanismen und Verfahren genannt werden.

Ausgehend davon, dass der Leser eine gewisse Sensibilität gegenüber übernatürlichen oder widernatürlichen Begebenheiten besitzt, ist es ebenfalls wichtig, dass er sich stets bewusst darüber ist, dass er sich reell niemals selbst in Gefahr begibt, in­dem er das gewählte Buch schlicht nur liest. Weiterhin ist die Bereitschaft des Lesers erfor­derlich sich in unbestimmter Intensität vom Alltagsleben zu distanzieren und die Vorstel­lungskraft bestmöglich auszuschöpfen, welche sich durch eigene Erlebte negative Erfahrun­gen gespeist haben kann, aber auch durch empathisch beladene Erinnerungen im Gedächt­nis verblieben sind. Demnach kann nicht nur gruseln, was persönlich erlebt wurde, sondern auch erzählte Schicksale dritter, oder fiktional bildhaft beschriebene Szenen, welchen In­halts auch immer. Grundlegende Ängste und Aversionen gegen alles was dem Körper und der Psyche abträglich werden könnte, wenn auch potentiell, sind Mittel, um Unlust Situatio­nen und Abneigungsempfindungen auszulösen. Die Bedrohung der Existenz, also etwas was dem Selbsterhaltungstrieb entgegengeht, ist ebenfalls Auslöser von Panik und Angst, wie die Schmerzerfahrung. Schmerzen, die Vorstellung des mechanischen Vorgangs einer Situation, die Schmerzen eventuell mit Todesfolge erzeugen, sind eines der stärksten Mittel zur Erzeugung von Abneigung und ließen den Leser das Buch normalerweise meiden, wenn nicht stets klar wäre, dass keine wirkliche physische oder psychische Pein bevorsteht. Wenn auch Texte die Macht haben, durch sehr bildhafte und detaillierte Beschreibungen die Psyche sehr stark zu beanspruchen, ist hier von der normalen Lusterfahrung des Lesers beim rezipieren von Schauerliteratur die Rede. Oft wird unbewusste Angst im Leser erzeugt, indem Urinstinkte angesprochen werden, welche dem Leser ein Unbehagen von schwankender Intensität offeriert, auch wenn dieser sich im Grunde bewusst ist, dass keine Gefahr droht und Sicherheit zugegen ist. Denn auch wenn wir durch wissenschaftliche Erkenntnisse vieles besser verstehen und Aberglaube, Unbekanntes, und religiös Erklärtes dem Faktenwissen gewichen ist, gibt es in unseren Nervenzellen noch alte Instinkte die physiologisch so verankert sind, dass sie im Hintergrund unbewusst agieren und wirken, ohne das wir diese temporär wahrnehmen können. Eine willentliche Konfrontation mit diesen Wahrnehmungen und ein Lustempfinden contra Verhaltensnormen geht nicht zuletzt auch mit einer Neugier und Faszination vor dem Nicht-Alltäglichen einher. Poetisch drückt Lovecraft dies aus, da er schreibt, dass Kinder sich immer vor dem Dunkel fürchten werden und Menschen, deren Sinn empfänglich ist für deren erblichen Trieb, werden immer erzittern bei dem Gedanken an verborgene und unermessliche Welten eines fremden Lebens, welches bisher nicht zu erklären ist und Angst vor Unbekanntem hervorruft.[45] Literatur kann Schauerantizipationen hervorrufen. Der Leser fürchtet sich vor dem was er liest bzw. vor dem was er vermutet, was in der jeweiligen Geschichte schlimmer passieren mag und fällt in den Zustand der sogenannten Unlustsituation.

Neben Angst wurde zu Anfang des Kapitels der Ekel als wichtige Zutat zur Herstellung von Angst, Schauer und Abneigung erwähnt. Ekel ist zunächst eine der heftigsten Affektionen des menschlichen Wahrnehmungssystems, heißt es in der ersten Zeile von Menninghaus' Buch über den Ekel.[46] Abneigungen gegen eine Vielzahl von Sinneseindrücken erzeugen diese Empfindung und lassen den Körper selbst durch visuellen Kontakt, also jenseits von unmittelbarer physischen Gefahr, dennoch physisch reagieren, z.B. durch Erbrechen, un­kontrollierbare Muskelkontraktionen, erhöhten Puls und dergleichen mehr. Menninghaus nennt ihn einen Alarm- und Ausnahmezustand und eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein geht.[47] Gleichwohl eine Reaktion auf Gesehenes, Gehörtes, Ertastetes, oder intellektuell Erfahrenes folgt, ist es wichtig letzteren Punkt auf die Literaturrezeption zu beziehen. Mit Intellekt ist auch die Vorstellungskraft gemeint, also der Ekel vor etwas, das nicht unmittelbar physisch erfahrbar ist. Somit steht dem Leser ein Metaphysisches Ele­ment der Ekelerfahrung zur Verfügung bzw. dem Autor dieses Element zur Erzeugung des Ekels beim jeweiligen Leser. Zentrale Rolle bei der Erwähnung des Ekels ist stets die verwesende Leiche. Dies ist ebenso übertragbar auf die Technik des Erzeugens von Ekel beim Leser, denn genau dieser Tatsache bedient sich der Autor von Horrorgeschichten, in diesem Falle Lovecraft. Ekel geht oft mit einer Entscheidung des Betroffenen einher, der abwägt, ob er etwas zu sich nimmt oder nicht, ob er Nähe zu einem Objekt zulässt oder ob er instinktiv flüchtet. Oft entscheidet er zwar nicht selber, jedoch ist dies auch eine Folge des Zustandes, welcher Ekel hervorruft. Nicht selten ist demnach eine Entscheidung des Betroffenen auch nicht möglich, sofern nämlich spontane Reflexreaktionen einsetzen und etwas gewaltsam entfernt wird, geflüchtet wird oder gar zerstört wird, da eine starke Abneigung dem Körper zum Schutze eine sofortige Handlung oktroyiert.

Hinter dem Ekel als Oberbegriff verbergen sich hingegen konkrete anwendbare Bestandtei­le, welche auch literarisch verwendet werden können, um assoziativ beim Leser durch De­skription Abscheu und Unlust zu generieren. Dabei spielt unter anderem die Detailfülle und authentische Wiedergabe des realistisch Möglichen eine Rolle. Authentizität hat oft einen prägnanteren Effekt auf das Gemüt eines Lesers, als überzogen wirkende, beinahe lächer­lich unrealistische Beschreibungen von ekelhaften Vorgängen oder Objekten und deren Zu­stand.

In der Literatur sind es diese Zustände, besser noch die Zustandsübergänge, welche in be­schriebener Form Bilder im Kopf des Lesers aufkommen lassen, welche er aus der realen Welt kennt, bzw. von denen er durch beispielsweise (visuelle) Medien erfuhr. Diese facet­tenreiche Thematik wird hier zusammengefasst, um einen deutlichen Einblick in die Be­standteile des Ekels zu gewährleisten. Dazu dient vor allem das Werk von Susanne Smuda und Winfried Menninghaus, ergänzt durch den Essay von Jens Malte Fischer.

Sowie Angst ist auch der Ekel Bestandteil der Erzeugung einer atmosphärischen Gestal­tung, die je nach Komprimiertheit der konkreten Ekelaspekte erheblich gruseliger oder übertrieben wirken kann. Da vor allem Lovecraft Wert auf eine atmosphärische Gewichtung legt, statt alles bin ins letzte Detail aufzuklären und zu beschreiben, ist der folgende Teil über den Ekel stets als Teil des Ganzen zu betrachten, um eine solche bedrückende Stim­mung bzw. Atmosphäre zu kreieren. Voraussetzung ist die Korrelation zwischen Angst und Ekel, welche zusammen ein stärkeres Mittel ergeben, als einzeln von einander getrennt. Ekel erzeugt Angst und Angst einflößende Umstände führen nicht selten zu ekelhaften Ob­jekten oder moralisch Verwerflichem (ebenfalls Teil des Ekels) oder Ausgang für etwaige Protagonisten oder sonstige Beteiligte der Geschichte. Das Phänomen des Angewidertseins und des Ekelempfindens entsteht aus der Konfrontation des Individuums mit stofflichem Zerfall und Gefahr für die Gesundheit, also des Körpers des Betroffenen, aber auch aus ei­ner Unmoral. Smuda nennt dies das Ungenierte, Schamlose, Ordinäre und, auch außerhalb des moralischen Bereichs, das körperlich Abnorme, welche Ekel hervorrufen. Also auch der moralische Verfall ist mit Ekel in Beziehung zu setzen. Zunächst zur stofflichen Ebene. Wichtig ist es zu erwähnen, dass Ekel eine ambivalente Gefühlsregung sei kann, die sowohl „ein Abstoßen und Abwenden, als auch, bis zu einem gewissen Grad, ein lustvolles Sichzuwenden enthält.“[48] Die Faszination des Ekels, oder vielmehr des betroffenen Objektes und das damit oftmals typische Verweilen des Lesers an der konkreten Textstelle ist ein Phänomen, welches unmittelbar mit dem physischen Typus des Ekels zu tun hat.

Auslöser wie Fäulnis und dessen Begleiterscheinungen, wie Geruch, Schleim und Sekrete, finden oft Einzug in die Geschichten Lovecrafts, aber auch sind sie Bestandteil einer An­laufstelle für Schauergeschichten jeglicher Herkunft und vorerst generalisierbar. Sinnesein­drücke sind das Medium, um das stofflich Ekelhafte überhaupt wahrzunehmen. Smuda fasst zusammen, dass zu den Sinneseindrücken, die beschrieben werden, wie furchtbarer Geruch und z.B. Leichengestank, nicht nur das Riechen, das allein schon Assoziationen mit Fäulnis , Verwesung und Tod nach sich zieht, sondern auch das Sehen. Auf diese Weise ver­gegenwärtigt der Protagonist das Phänomen der Fäulnis durch die verschiedenen Sinne. Die Ekelelemente lassen sich nicht nach den Kanälen Wahrnehmung (Sehen, Riechen, Tasten) unterscheiden, denn sie treten im Hinblick auf die Sinnesempfindungen in gemischter Form auf.[49]

Häufige Erwähnung von Komponenten wie Schleim, Halbflüssiges, Klebriges und undefi­nierten Auflösungssekreten sind Fundgruben des Autoren, bezüglich der Ekelerschaffung. Aber auch die Deformation und Entstellung von menschlichen Körpern und anderen Objek­ten, sowie Krankheit, sind Quellen der Assoziationen mit dem Ungesunden und rufen beim Leser unheimliche Abscheu hervor.

Smuda erwähnt auch die parasitären Gewächse, wie Pilze, Schwämme, Flechten und sogar vermeintlich simple Bäume als Träger einer ekelerregenden Veranschaulichung. Grundsätz­lich sind ein Pilz und ein Schwamm nicht Ekelerregendes. Verbindet der Autor diese aber mit Eigenschaften, wie rasanter Verbreitung, Giftausstoß und dem sich Ernähren von zerfalle­nen anderen Lebensformen, überträgt er die Furcht vor Zerfall, Gift als Lebensbedrohung und der Verwilderung von ganzen Landschaftsarealen, auf diese und erschafft eine Assozia­tion des Ekels beim Leser. Sie nehmen somit die Rolle der „Indikatoren für die Verwe­sungszustände“[50] ein.

Doch auch der Begriff Ekel und das Prädikat „ekelhaft“ sind nicht nur Im Kontext des Zer­falls etc. zu sehen, sondern stehen auch heute noch im sprachlichen Wandel und bieten dem Autor sowie dem Leser eine expandierende Fülle an Verwendungs- bzw. Verständnismög­lichkeiten an und weiten den engen Sinne des Ekels vor z.B. Verwesung oder Unmoral deutlich aus. Umgangssprachlich wird das Prädikat „ekelhaft“ inflationär und sogar hyperbolisch, also übertreibend für anscheinend schwache Phänomene genutzt. Selbst das Wetter kann „ekelhaft“ sein, oder ein Verhalten von anderen, deren Weise stark dem Usus der eigenen Kultur, oder Gewohnheit entgegengeht. Generell ist alles ekelhaft, was dem „guten Geschmack“ der eigenen Gesellschaft abträglich ist.

Im Falle der Lovecraftschen Geschichten ist es der physischen und moralischen Ebene zu­zuschreiben, dass Ekel dem Leser widerfährt. Konkrete Beschreibungen der erwähnten stofflichen Zerfallsprodukte, meist nicht wissenschaftlich erklärbar, trotz wissenschaftlich authentischer Untersuchungsansätze. Die konkreten Bereiche des Ekels sollen im folgenden Kapitel ebenso veranschaulicht werden, wie die Theorien und Verfahren der Angsterzeu­gung in seinen Texten. Zugehörig zum Bereich des Ekels sind also der physische Zerfall, man denke an das Paradebeispiel des verwesenden Leichnams und den Sekreten, Gerüchen und allem Widerlichen, was der Leser damit assoziiert. Pflanzliche, parasitäre Gewächse, die auf Kosten fremden Lebens deren Existenz vernichten, gehören ebenso zur Auswahl, wie Deformationen des Körpers, Krankheit und Verfremdung der Sprache, die nicht selten erst durch die Deformation oder Transformation in ein Objekt derart undeutlich ist, dass sie als Teil des Gesamtpaketes zum Ekel beiträgt (Blubbergeräusche, Schmatzen, Grunzen, oder Winseln und Klagen etc. sind in erster Linie keine Laute, die positive Erlebnisse an sanften Sommertagen vermuten lassen). Stimmliche Abnormitäten offerieren dem Leser eine Fülle von Wendungen oder Begebenheiten und Zuständen innerhalb der Rahmenhandlung. Der Autor entscheidet darüber, welche (subjektiven) Schauerantizipationen des Lesers dem Gru­selfaktor dienlich sind und ruft diese technisch effizient hervor. Ein Verfahren zur Herstel­lung von Ekel, dessen sich auch Lovecraft bedient ist die Beschreibung und Integrierung von Tieren, welche ihrerseits Schauerantizipationen hervorrufen. Zum Verständnis seien hier Kriechtiere, Insekten und Fische bzw. Meerestiere, Ratten und nachtaktive Tiere, wie Fledermäuse und Gifttiere, wie Schlangen oder sonstige Reptilien genannt, welche oftmals einer positiven Antizipation entbehren. Diese Tiere halten sich in Umgebungen auf, die Menschen Unbehagen und Ur-Ängste spüren lassen. Unbekanntes Terrain, Dunkelheit, un­ergründliche Tiefen mit Todesfolge, Schmutz und Fäkalien übersäte Gegenden sind nahezu die Garanten für Ekel und Angst in Schauergeschichten.[51] A. Kolnai verweist in diesem Kontext indirekt auf dieses Ekelspektrum, indem er auf Eigenschaften der Kriechtiere und des Ungeziefers eingeht:

Was nun die Ekelhaftigkeit des Ungeziefers im Allgemeinen bedingt, ist ein Zusammenwirken mehrerer Motive […]. Es sind dies: Das Kriechen, Kleben, „Bekleben“ der Umgebung sozusa­gen […]; das Gewimmel und Gekribbel, das Phänomen eines zusammenhängend wimmelnden Ge­misches („Geschmeiß“!); die – teils scheinbare, teils auch reale – Beziehung der betreffenden Tie­re zu Auflösung und Verfall […]; überhaupt der merkwürdig „kalte“ Zug dieser ruhelosen, ner­vösen, sich windenden, zuckenden Vitalität, als wäre das alles ein abstrakter, irgendwie de­ monstrativer „Lebenstanz“ ohne angemessene „Lebenswärme“, ohne inneren Gehalt des Lebens […].[52]

Diese Textstelle über den Grund des Ekelns bei Ungeziefer fasst nicht nur die Eigenschaf­ten des Getiers zusammen, also den Auslöser, sondern bietet auch einen theoretischen An­satz zur Erklärung, warum dies im Menschen Ekel hervorruft. Assoziationen und Antizipa­tionen des Lesers führen durch das Tun jenes Tieres und durch das, was der Leser damit verbindet, zu einer abwehrenden Grundhaltung.

Weiterer wichtiger Baustein des Ekelgerüsts ist der Ekel vor sexueller Vermischung. Das kurze Zitat erklärt nachvollziehbar, was daran ekelhaft ist und bietet einen nützlichen An­satz, um weitere Bedingungen herzuleiten. Kolnai sagt, es liegt etwas ungewöhnlich Scha­les, grauenvoll-süßlich Anödendes in dem Gedanken, dass die ursprünglich, kindheitlich (bei Mutter und Kind vorgeburtlich!) familiäre Gemeinschaft noch das Sexualleben in sich aufnehme, ein Vorbild einknickender Lebensstrom-Verdickung.“[53] Die Angst vor Krankhei­ten und Degeneration und Verfall der Folgegenerationen generieren auch hier Ekel und vor allem eine strikte bis ins Gesetz reichende Tabuisierung. Geschieht die Vermischung nicht durch Inzest, sondern gibt es eine Hybridisierung von Mensch und Tier oder Monster, stei­gert sich diese Tabuisierung entsprechend und der Ekel ist unumkehrbar, demnach ein viel­versprechendes Mittel, den Leser zu binden.

Zuletzt sei hier noch der Ekel im Bereich der Nahrungsaufnahme kurz angesprochen, wel­cher in sich weitere Unterstufen birgt. Ein auffallender Punkt des Ekels im Bereich der Speiseaufnahme ist der Kannibalismus. Hier liegt eine etwas speziellere Form des Ekels vor, dessen Erklärung keinesfalls auf dem Verzehr des Menschenfleisches allein begründet ist. Smuda bietet geht das Problem an, indem sie in ihrem Buch die Studie Kulturgeschicht­liche und sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels von L.M. Penning erwähnt. Diese be­sagt, dass „Menschenfleisch an sich nicht ekelhaft ist und daß es nicht nur primitiven Völ­kern als Speise gedient hat, sondern daß auch Massenmörder, wie Kroll und Haarmann, das Fleisch ihrer Opfer verarbeitet haben und zum Verzehr käuflich angeboten haben.“[54] Es wird ferner davon ausgegangen, dass Menschenfleisch nicht per se die natürliche Abscheu hervorruft, die man allgemein annimmt. Der Ekel, so Penning, als Abwehrreaktion gegen das Essen von Menschenfleisch entsteht vielmehr durch das Bewusstsein einer Tabuverlet­zung und sei daher ein sozialhistorisch begründetes Phänomen.[55] Wieder entsteht die Aus­weitung der physischen Ebene auf einen moralisch wertenden Kontext. Bei Lovecraft wird der Kannibalismus mit anderen Ekelmomenten als Konglomerat wirksam und steht nie al­lein als Auslöser des Ekels bzw. ist stets begleitet von diversen Phänomenen des Ekels, wie sie oben im Text beschrieben stehen.

Im nächsten Kapitel soll nun anhand des Essays Unheimlicher Horror von HPL und weite­ren Quellen nicht allgemein, sondern bezogen auf HPL selbst dargestellt werden, welche der Techniken er benutzt. Welche Verfahren nutzt er, um Angst und Schauerantizipationen hervorzurufen und wie bringt er den Leser dazu, sich über die Maßen zu ekeln. Mit dem Vorwissen aus dem vorherigen Text und der konkreten Einbindung Lovecrafts sollen die grundlegenden Thesen des Arbeitstitels weiter analysiert und beantwortet werden. Von ge­nerellen Möglichkeiten zur konkreten Anwendung bei Lovecraft geht es später dann noch an Textbeispiele in ausgewählten Kurzgeschichten. Vorerst aber zu den literarischen Verfah­ren, deren Lovecraft sich bedient, um Schrecken bei seiner Leserschaft zu erzeugen.

[...]


[1] S. de Camp: S. 9.

[2] Ebd., S. 8.

[3] Ebd.

[4] Von Sodomie, und Nekrophilie durch literarische Verfahren zur Erzeugung von Ekel abgesehen.

[5] Ebd., S. 145. Sonia bat ihn persönlich, ihr mitzuteilen, was er über die Liebe denke.

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 27.

[9] Ebd., S. 61.

[10] Ebd.

[11] Ebd., S.47.

[12] Ebd.

[13] Hier ist das Haus gemeint in dem Lovecraft aufwuchs. In Wirklichkeit war es das Haus von Whipple van Buren Phillips, HPLs Großvater mütterlicherseits. Sarah Susan Phillips Lovecraft zog dort 1893 mit ihrem Mann Winfield Scott Lovecraft ein.

[14] Ebd., S. 19-20.

[15] Ebd., S. 20.

[16] Lovecraft: In seinem Essay Supernatural Horror in Literature, New York 1973. (zu deutsch: Unheim­licher Horror. Das übernatürliche Grauen in der Literatur, S. 72), lobt und beschreibt HPL Poe Bier­ce mit deutlicher Tendenz zur Idealisierung in positiver Hinsicht: „[...] wenn auch seine [O'Brien, Ein­fügung von mir, R.K.] Begabung, offen gesagt, nicht von der gleichen titanischen Größe war, wie sie Poe und Hawthorne auszeichnete. Dieser Größe näher kam der ekzentrische [sic!] und ungerührte Journalist Ambrose Bierce, […]. Bierce war Satiriker und Pamphletist von Graden, doch sein künstle­rischer Ruf beruht unbedingt auf seinem grimmigen und wilden Kurzgeschichten, von denen viele den Bürgerkrieg behandeln, und zwar mit dem lebhaftesten und realistischsten Ausdruck, den dieser Kon­flikt in der erzählenden Literatur jemals gefunden hat.!

[17] Vgl.: Lovecraft: Unheimlicher Horror, S. 110.

[18] Ebd.

[19] Lovecraft, in: A. Derleth, D. Wandrei, J. Turner (Hrsg): Selected Letters V, Wisconsin 1976, S. 353.

[20] Lovecraft: Unheimlicher Horror. Die Masse an geschichtlichen Hintergründen ist derart groß, dass hier, auch aus Gründen der Thematik der Arbeit, eine Erwähnung genügen muss.

[21] Ebd., S. 7-8.

[22] S. de Camp: S. 118.

[23] Vgl.: Hans Alpers (Hrsg.): Lexikon der Horrorliteratur, S. 210.

[24] Ebd.

[25] Vgl.: S. de Camp: S. 96.

[26] Vgl.: S. de Camp: S. 96.

[27] Vgl.: Ebd., S. 98.

[28] Ebd.: S. 18-19

[29] Ebd.; S. 22.

[30] S. de Camp schreibt in seiner Biographie auf S. 100: Im letzten Jahrzehnt seines Lebens kamen, so schätze er, mindestens dreiviertel seiner Einkünfte aus dieser Quelle. Die präzisen Einkünfte und Tari­fe sollen hier nicht von Belang sein.

[31] S. de Camp: S. 23.

[32] Ebd.

[33] Vgl.: S. de Camp: S. 305.

[34] Ebd., S. 286.

[35] Vgl.: Wolfgang Trautwein: Erlesene Angst. München/Wien 1980, S. 29f.

[36] Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. F.a.M. 1994, o.S..

[37] Vgl.: Ebd., S. 7.

[38] Hier sind die Appelle und sozialkritischen Aspekte gemeint, welche man in den meisten Märchen fin­det, sowie Sanktionen bei Fehlverhalten in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter von 1845. Psychologie der Angst spielte auch dort eine zentrale Rolle.

[39] H.J. Brittnacher: S. 17.

[40] Ebd.

[41] Ebd., S. 21f.

[42] Ebd., S. 46f.

[43] Vgl.: Ebd., S. 51.

[44] Vgl.: Ebd., S. 55.

[45] Vgl.: Lovecraft: Unheimlicher Horror, S. 10.

[46] Vgl.: Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. F.a.M. 1999, S. 7.

[47] Vgl.: Ebd.

[48] S. Smuda: H.P Lovecrafts Mythologie. Bricolage und Intertextualität.Erzählstrategien und ihre Wir­kung. Bielefeld 1997, S. 148f.

[49] Vgl.: Ebd.: S. 152.

[50] Ebd.: S. 156.

[51] Vgl.: S. Smuda: S. 164.

[52] A. Kolnai: Der Ekel. In: S. Smuda: S. 166.

[53] A. Kolnai: Der Ekel. S. 144, in: S. Smuda: S. 174.

[54] L.M. Penning: Kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels. In: S. Smuda: S. 184f.

[55] Ebd., S. 185.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783956849923
ISBN (Paperback)
9783956844928
Dateigröße
737 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Siegen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Erzählerfigur Howard Phillips Lovecraft Literatur Angst Ekel

Autor

Ramon Klein, B.A., wurde 1987 in Dortmund geboren. Sein Studium der Literatur, Kultur und Medien an der Universität Siegen schloss der Autor im Jahre 2014 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. Bereits während des Studiums sammelte der Autor umfassende praktische Erfahrungen in der Literaturwissenschaft und dem kreativen Schreiben. Fasziniert von literarischen Techniken, den Leser zu beeinflussen und Konventionen abzustreifen, arbeitete Ramon theoretische und praktische Verfahren heraus welche der Leserschaft ein emotionales und innovatives Leseerlebnis garantieren, wobei er den Schwerpunkt auf Angst- und Ekelerzeugung legte. Dazu verfasste er wissenschaftliche Arbeiten in der Medien- und Kulturwissenschaft. Einige der dabei gewonnenen Erkenntnisse verarbeitete er in seiner Abschlussarbeit, die hier in Buchform vorliegt.
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Titel: Unheimlicher Horror: Motive, Plots und literarische Verfahren zur Erzeugung von Schrecken bei H.P. Lovecraft
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