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Robert Musil und James Joyce: Das Leib-Seele-Problem als kreativer Ansporn in "Törless" und "A Portrait of the Artist": Vergleichende Untersuchung mit Ausblick auf das spätere Werk

©1995 Magisterarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Robert Musil (1880-1942), der Rationales und Irrationales nicht als unversöhnliche Gegensätze begriff, sondern beide Dimensionen aus wissenschaftlicher Sicht dichterisch miteinander verknüpfte, schildert in seinem ersten Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törless (1906) geistige und körperliche Grenzüberschreitungen, die den Protagonisten dazu führen, ‘Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden‘. Das so entstandene Spannungsfeld fördert in Törless eine kreative Betrachtungsweise, die sich von der anerzogenen Moral distanziert, dafür aber eine Selbstfindung ermöglicht, die unbewusste Zonen integriert und ihnen deshalb nicht zu verfallen braucht. In der Konzentration auf die Innerlichkeit eines Jugendlichen mit Törless vergleichbar, lässt der Entwicklungsroman A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) den stolzen Stephen Dedalus einen Weg beschreiten, der sein Selbstbewusstsein stärkt und ihm neue Perspektiven eröffnet. Anders als Robert Musil spiegelt James Joyce (1882-1941) in seinem irischen Helden jedoch eine traditionelle Dichotomie katholischer Prägung, die seiner Dichtung ebenso eigen ist wie ihre stilistischen Erneuerungen. Diesen gegenläufigen Tendenzen bei Musil und Joyce hat die Autorin im Frühwerk der beiden Schriftsteller nachgespürt, um ihren Umgang mit dem Leib-Seele-Problem sichtbar zu machen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.2.2 Persönliche Prägung und literarische Umsetzung

Die in Törless und A Portrait of the Artist geschilderten Ereignisse lassen sich bei beiden Autoren auf persönliche Erfahrungen zurückführen, doch ist der Roman von James Joyce in einem konkreteren Sinn autobiografisch als jener Musils. Bekannt ist Musils Aussage, dass er „auf den vorgezeigten ‚Stoff’ selbst gar keinen Wert legte”:

„Natürlich hatte ich Ähnliches mit eigenen Augen einmal gesehn, aber es bewegte mich persönlich so wenig, dass ich es zwei Jahre, bevor ich es selbst benutzte, einem anderen jungen Schriftsteller erzählte, dessen krasser Realismus mir für diesen Stoff viel geeigneter erschien, u. ihm fest versicherte, dass dies ein Stoff für ihn wäre, aber nicht für mich. [...] Warum ich dann (1902/1903) doch den Stoff selbst anpackte, weiß ich nicht mehr zu sagen; ich glaube es geschah in einer besonderen Lebenslage aus Langweile und auch, weil ich mich, nachdem ich für meine Gedankenpoesie keinen Verleger gefunden hatte, etwas fester auf die Erde stellen wollte.” (PS 967)

An einer anderen Stelle (PS 923) heißt es: „Plötzlich der Törless. Die Seltsamkeit der Themenwahl. Das unterirdische Eigentliche (Kontemplation bis MoE). Zugleich der Wille, ‚Philosoph’ zu werden, u. zw. schon mit der Leitvorstellung der Karriere” (PS 923). Der psychoanalytischen Betrachtung einer Autobiografie als Therapie wollte Musil jedoch nicht entsprechen:

„Unter den Antrieben, die mich zur Arbeit führten, haben sich niemals, wenigstens mit meinem Bewusstsein niemals, die befunden, dass ich mich mit mir selbst auseinanderzusetzen wünschte, dass ich mich darstellen oder prüfen oder verteidigen, dass ich bekennen, beichten, bereuen oder mich begnadigen wollte.” (PS 947)

Anders bei Joyce. Mit A Portrait of the Artist as a Young Man versenkte sich der irische Schriftsteller in seine eigene Vergangenheit, um sie zu rechtfertigen, gleichzeitig aber auch zu entlarven. Vier Monate nach dem Tod seiner Mutter, am 7. Januar 1904, hatte er in einem Notizbuch seiner Schwester Mabel bereits ein Selbstportrait von knapp acht Druckseiten skizziert. Er nannte es „A Portrait of the Artist”. Das Manuskript, das von den Verlegern der Dubliner Zeitschrift Dana seinerzeit aus vorwiegend moralischen Gründen abgelehnt wurde[1], liegt heute in der Lockwood Memorial Library der State University of New York in Buffalo. Publiziert wurde dieser erste Entwurf erst seit 1960, nachdem er in der Yale Review [2] erschienen war. Dieses ‚Ur-Portrait’ setzte Joyce in einen langen naturalistischen Roman um. Unter dem Titel Stephen Hero schrieb er seine erste Autobiografie als auktorialen Roman mit ausführlichen Kommentaren zur Entwicklung seines ‚Helden’. Gemäß dem Tagebuch seines Bruders Stanislaus begann Joyce an seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, dem 2. Februar 1904, mit der Niederschrift. Stanislaus berichtet, dass der Roman „autobiographical, and naturally as it comes from Jim, satirical” sein sollte:

„[Jim] is putting a large number of his acquaintances into it, and those Jesuits whom he has known. I don’t think they will like themselves in it [...] The title, like the book, is satirical.”[3]

Es war ein Manuskript von etwa neunhundert Seiten, das jedoch ebenfalls keinen Verleger fand. Da auch die Veröffentlichung seiner Kurzgeschichten Dubliners immer wieder verschoben wurde, soll Joyce den Roman 1911 aus Verzweiflung ins Feuer geworfen haben.[4] Die 383 Seiten, die seine Frau Nora und seine Schwester Eileen retten konnten, schildern Stephens Universitätsjahre und decken sich so inhaltlich mit dem fünften Kapitel des Portrait. Diese Seiten erschienen erstmals 1944 und wurden 1956 mit zusätzlichen Fragmenten neu herausgegeben. Im Vergleich mit A Portrait of the Artist as a Young Man ist der Stil von Stephen Hero viel direkter und die Darstellung von Stephens geistiger Entwicklung viel detaillierter, aber auch schwerfälliger. Der pathetische und egozentrische Ton mag zum Misserfolg des früheren Werkes beigetragen haben, doch bildet es ein wertvolles Dokument zum Verständnis des ‚Geists der Erzählung’, der aus der komprimierten Textur des 1907 begonnenen Portraits nicht mehr deutlich hervorgeht. Dieser ‚erzählerlose’ Roman verfolgt die Entfremdung seines Helden Stephen Dedalus von Nationalität, Religion und Familie in einer bis in die sprachliche Entsprechung der Entwicklungsstadien konsequenten Perspektiventechnik. Die unkommentierte Spiegelung der dargestellten Wirklichkeit im Bewusstsein des Protagonisten erschwert jedoch einen wertenden Zugang zu dessen Persönlichkeit, wie ihn die Musil’sche Außenperspektive dem Leser des Törless gestattet. Wo sich eine Geschichte gleichsam von innen heraus darstellt und sprachliche Rhythmen oder Kompositionsmethoden dafür zuständig sind, einen Erzählvorgang ‚ganzheitlich’ wiederzugeben[5], während der Autor, „paring his fingernails”, detachiert daneben steht, müssen dessen Intentionen mehr oder weniger erraten werden. So weist Wayne C. Booth in seinem berühmten Aufsatz „The Problem of Distance in ‚A Portrait of the Artist’“ darauf hin, dass vor der Veröffentlichung von Ulysses die meisten Leser den ironischen Ton in A Portrait übersahen: „[N]o one said anything about irony against Stephen until after Ulysses was published in 1922, with its opening in which Icarus-Stephen is shown with his wings clipped.”[6] Dadurch, dass Joyce in A Portrait den unreifen Erzähler der ersten Autobiografie weglässt, entsteht ein Eindruck von Reife, doch machen für Booth gerade die unreifen Kommentare des Stephen Hero die ironischen Perspektiven des späteren, ‚reineren’ Werks erst deutlich. Der „fiery-hearted revolutionary” und „heaven-ascending essayist” wird in A Portrait zur Reflektorfigur einer personalen Erzählsituation, die an die Empathie des Lesers appelliert, während sie ihn über die Einschätzung des impliziten Autors im Ungewissen lässt:

„[E]ven if we were to spend the lifetime that Joyce playfully said his novels demand, presumably we should never come to as rich, as refined, and as varied a conception of the quality of Stephen’s last days in Ireland as Joyce had in mind. For some of us the air of detachment and objectivity may still be worth the price, but we must never pretend that a price was not paid.”[7]

Was sich Joyce bei der Umsetzung seiner Jugendgeschichte in einen personalen Roman dachte, erklärt sein Biograf Richard Ellmann:

„His brother records that in the first draft of ‚A Portrait’, Joyce thought of a man’s character as developing ‚from an embryo’ with constant traits. Joyce acted upon this theory with his characteristic thouroughness, and his subsequent interest in the process of gestation, as conveyed to Stanislaus during Nora’s first pregnancy, expressed a concern that was literary as well as anatomical. His decision to rewrite ‚Stephen Hero’ as ‚A Portrait’ in five chapters occured appropriately just after Lucia’s birth.[8] For ‚A Portrait of the Artist as a Young Man’ is in fact the gestation of a soul, and in the metaphor Joyce found his new principle of order. The book begins with Stephen’s father and, just before the ending, it depicts the hero’s severance from his mother”.[9]

Den episodischen Rahmen von Stephen Hero [10] ersetzte Joyce durch eine Gruppe von Szenen, die auf Vergangenes und Zukünftiges verweisen: „The past is consumed in the present and the present is living only because it brings forth the future” (P 251). Im ersten Kapitel der neuen Fassung bringt Joyce drei Erlebnismuster zusammen: früheste Kindheitserinnerungen, seine Krankheit in der vornehmen Jesuitenschule Clongowes Wood und die Schläge aus der Hand des Studienpräfekten. Damit verbindet er Ketten von zusammenhängenden Momenten und lässt so anstelle einer linearen Folge von Ereignissen eine Sequenz von Schichten entstehen. Die gleichen Figuren erscheinen unter verschiedenen Aspekten, um das Wachstum des Helden anzudeuten. Wörter wie „apologise”, „admit”, „green”, „red”, „cold” und „warm” werden mit veränderter Bedeutung immer wieder verwendet. Analog zur Entwicklung des Helden führt der Roman von elementaren Sinneseindrücken wie kindliches Bettnässen, Mutterliebe und Körperstrafen zu komplexeren Bedeutungsstrukturen wie Stephens seelische Konflikte zwischen Bordell und Marienkult, seine künstlerische Berufung und gleichzeitige Verwerfung des Priestertums, seine Kreativitätstheorien und die Bejahung der Sünde als conditio sine qua non seiner Selbstverwirklichung.

Booths Klage über die mangelnde auktoriale Präsenz in A Portrait musste selbst einem kritischen Leser der ‚alten Schule’ unberechtigt erscheinen, falls er sich vorgenommen hatte, den sozio-kulturellen Hintergrund dieser Autobiografie ohne Kenntnis des Stephen Hero auszuleuchten. Der zugunsten seiner ‚anatomischen’ Makrostruktur häufig gebrochene Erzählvorgang lässt zumindest die religiösen Einflüsse, denen der jugendliche Held ausgesetzt ist, immer noch deutlich genug zu Tage treten, um die „gestation of a soul”, wie sie Joyce rückblickend nachzeichnete, verständlich zu machen. Bereits in seinem ersten Entwurf zu A Portrait hatte er seine psychologische Perspektive klar gemacht, die Ellmann so beschreibt:

„What we are to look for is not a fixed character but an ‚indivduating rhythm,’ not ‚an identificative paper but rather the curve of an emotion.’ This conception of personality as river rather than statue is premonitory of Joyce’s later view of consciousness.”[11]

Diese ‚Emotionskurve’, die der irische Dichter mit seinen Helden teilte, entstand in einem erstarrten Fin de siècle katholischer Repression unter der Aufsicht einer streng gläubigen Mutter, eines anti-klerikalen aber gewalttätigen Vaters und sadistischer Jesuiten, deren Institutionen Joyce von seinem sechsten Lebensjahr bis zum Universitätsabschluss im Alter von zwanzig Jahren besuchte. Von Anfang an ging es ihm in seiner Autobiografie um das Portrait eines abtrünnigen Katholiken, der seine wahre Religion in der Kunst findet, für die er alles aufgibt. Joyce nannte sich selbst Stephen nach dem ersten Märtyrer der Christenheit und Dedalus nach dem größten Erfinder der griechischen Mythologie. Als Stephen wollte er ein Heiliger der Literatur werden, als Dedalus konnte er Flügel herstellen, die ihn über die engen Grenzen seiner Herkunft hinwegtragen würden. Von den geschilderten Ereignissen suchte er sich auch später nicht zu distanzieren, doch betonte er die Schwierigkeit, die sich für den Verfasser einer Autobiografie ergab, „when your work and life make one, when they are interwoven in the same fabric”.[12] Der Übergang von auktorialer zu personaler Erzählperspektive und deren spätere Auflösung in inneren Monolog und Aperspektivismus wurde von Feministinnen als stilistische ‚women’s liberation’ gedeutet, mit der Joyce jedoch nicht Frauen, sondern, wie Frances Restruccia hervorhebt[13], sich selbst von patriarchalen Strukturen befreien wollte.

„Mir fiel ein: einen Menschen darstellen, der in der christlichen Moral aufwuchs und untersuchen, ob der zu meiner kommt“ (TB I 241). Diesen Gedanken hat Robert Musil in der Figur des Professors August Lindner ausgearbeitet.[14] Er kommt aber nicht zu ‚seiner Moral’[15], „[d]ieser christliche Ethiker Gegenfigur zur Hauptperson“ (TB I 580). Joyce, der auch „in der christlichen Moral aufwuchs”, sich aber von ihr distanzierte, entwirft in A Portrait das Bildnis eines jugendlichen Helden, der zwar neue Wege sucht, den die theologischen Fixierungen seiner Erziehung jedoch eine kreisförmige Odyssee wählen lassen, die nicht „die Zersplitterung einer tausendjährigen Ordnung zeichnet”, sondern „die Kontinuität jener Ordnung mit konservativer Treue bewahrt und weitergibt”.[16] In Ulysses spiegelt sich Joyce noch einmal in Stephen, nachdem dessen Höhenflug gescheitert ist, stellt ihm aber in Leopold Bloom eine Vaterfigur gegenüber, der er als Stephens reiferem Doppelgänger und Hauptperson des Romans „the best qualities of the mind”[17] verleiht. Bloom, „the commonplace husband”, illustriert Joyces Entdeckung, „that the ordinary is the extraordinary”.[18] Mit dem Musil’schen ‚Möglichkeitsmenschen’ hat diese Weisheit offensichtlich nichts zu tun, sucht dieser doch „das geheime Leben der Dinge, das dem Diskurs entflieht”[19], sprachlich zu formulieren. Musil hat selbst klar erkannt, wo er sich grundsätzlich von seinem irischen Zeitgenossen unterschied, mit dem er oft in einem Atemzug genannt wurde:

„Joyce. Ein Profil: der spiritualisierte Naturalismus [...] Dazu gehört auch die ‚Unanständigkeit’. Anziehung: Wie lebt der Mensch im Durchschnitt? Verglichen damit praktiziere ich eine heroische Kunstauffassung. Frage: Wie denkt man? Seine Abkürzungen sind: Kurzformeln der sprachlich orthodoxen Formeln. Sie kopieren den sich auf Jahre erstreckenden Sprachprozess. Nicht den Denkprozess.” (PS 858)

Der österreichische Dichter wollte weder einen Sprach- noch einen Denkprozess ‚kopieren’, sondern versteckte Zusammenhänge aufspüren, für die adäquate Be- oder Umschreibungen erst gefunden werden mussten. Denken in vorgeformten Mustern ist bereits Törless verdächtig. Er stammt aus „einem bürgerlich-freidenkenden Hause” (T 11), und seine kurze Freundschaft mit dem jungen Fürsten H., „der aus einem der einflussreichsten, ältesten und konservativsten Adelsgeschlechter des Reiches stammte” (T 10), scheitert an dessen religiösen Überzeugungen:

„Denn wie von Törless unabhängig, schlug nun der Verstand in ihm unaufhaltsam auf den zarten Prinzen los. Er überschüttete ihn mit dem Spott des Vernünftigen, zerstörte barbarisch das filigrane Gebäude, in dem dessen Seele heimisch war, und sie gingen im Zorne auseinander.” (T 12)

Das „ruhige Sicheinfügen in objektive Relationen, das die Psychiater ebenso fordern wie die katholischen Moraltheologen” (TB I 241)[20], wird für Musil immer ein Stein des Anstoßes bleiben. Christliche Erziehung enthält zwar alles, was der Staat braucht, ist „Erziehung zum gemeinsamen, tatkräftigen Leben” (TB I 241), widersetzt sich aber der geistigen Natur und ihrer Entwicklung, indem sie beharrlich bemüht ist, zwischen ‚erlaubt’ und ‚verboten’ hin und her zu manövrieren:

„Der Charaker, das Recht, die Norm, das Gute, der Imperativ, das Feste in jeder Hinsicht sind solche Pfähle, auf deren Versteintheit gehalten wird, um daran das Netz der hunderte moralischen Einzelentscheidungen die jeder Tag fordert, befestigen zu können. Die heute noch herrschende Ethik ist ihrer Methode nach eine statische, mit dem Festen als Grundbegriff. Aber da man auf dem Weg von der Natur zum Geiste gleichsam aus einem starren Mineralienkabinett in ein Treibhaus voll unausgesprochener Bewegung getreten ist, erfordert ihre Anwendung eine sehr komische Technik der Einschränkung und des Widerrufs, deren Kompliziertheit allein schon unsre Moral zum Untergang reif erscheinen lässt.” (PS 1027 f.)

Auch wenn Musil diese Überlegungen zehn Jahre nach dem Erscheinen seines Erstlingswerks niedergeschrieben hat, leidet der junge Törless offensichtlich schon an einer „Inkongruenz zwischen [...] neuen Einflüssen und der Form des Gefäßes, das sie aufnehmen soll” (PS 1126):

„‚Die Verwirrungen des Zöglings Törless’ sind das beste Spiegelbild einer Grundlagenkrise, die ihre denkerische Kristallisation in den theoretischen Schriften findet. Das Erlebnis der Präsenz einer irrationalen Wirklichkeit, die in die rationale hineingewoben ist und sie zeitweise überflutet, das Erlebnis des Ausgeliefertseins an das Zufällige, Unfassbare sind Grundmotive des Erstlingsromans Musils.”[21]

Uwe Baur bringt diese Problematik mit dem Zerfall der bürgerlich feudalen Lebensform in der untergehenden Monarchie „Kakanien“[22] in Verbindung, weist aber auch auf die unveränderte Aktualität gesellschaftskritischer Dimensionen in Törless’ Konflikten hin.[23] Die verlogene Moral des k. und k. österreichischen Bürgertums nährte die Illusion einer heilen fraglosen Stabilität, indem sie die menschlichen Triebe, vor allem den Sexualtrieb verdrängte, ohne dies notwendigerweise religiös zu motivieren.[24] Von dieser abgestandenen Moral her deckte auch Sigmund Freud „die Krise und Krankheit der Gesellschaft an ihrer wunden Stelle auf”.[25] Wo aber die Wiener Fin-de-siècle -Gesellschaft von 1890-1900, gegen die Freud sich richtete, der Vergangenheit angehört, ist

“[d]er Impuls, der vom ‚Törless’ ausgeht, [..,] nur in zweiter Linie an die konkrete historische Situation gebunden, in die hinein er geschrieben wurde. In erster Linie geht es hier um den Widerspruch von statischer und dynamischer Lebensform des Menschen [...], der uns heute nicht minder betrifft als die Monarchie Kakanien.”[26]

Während viele Kritiker die innere Desorientierung der Jugendlichen um die Jahrhundertwende ausschließlich als epochentypische Erscheinung zwischen strengster Tabuisierung des Sexuellen und Aufhebung des Tabus behandeln, die sich „schon bei der Nachkriegsjugend und erst recht bei der heutigen Jugend fast ganz verloren [hat]”[27], durchschaut auch Jos van Ussel die mit der Sexualität verbundene Problematik und verweist auf deren Zeitlosigkeit:

„Der Bürger spielt Versteck, nicht nur auf dem Gebiet des Sexuellen, sondern auch in anderen Lebensbereichen. Er zeigt sich fast nie, wie er in Wirklichkeit ist. [...] Dank der Teilemanzipation des Sexuellen ist es vielen schon klargeworden, dass sexuelle Probleme nur eine Maske sind, hinter der sich wichtigere Probleme verbergen, wie die Einsamkeit, die Kontaktschwierigkeiten sowie die Macht- und Gewaltbeziehungen, die wir durch eine sexuell gefärbte Brille als sexuell zu sehen lernten.”[28]

„Was hat es für einen Sinn”, fragt sich der belgische Historiker mit Recht, „der Jugend sexuelle Freiheit zuzugestehn, wenn sie nicht kritisch denken darf und in einer Zwangslage gefangen ist?”[29] Van Ussel, der Sexualmoral und sexuelles Verhalten von der Renaissance bis zur Gegenwart analysiert, vertritt jedoch die These, dass die Verbürgerlichung der westlichen Gesellschaften zwischem dem 16. und 19. Jahrhundert und nicht christliche Wertvorstellungen an der kulturellen Sexualfeindschaft schuld sind. Die Gleichsetzung des Körpers mit einem Leistungsorgan zugunsten der Industriegesellschaft wäre aber sicher kein ausreichender Grund gewesen, um Jugendliche Anfangs des 20. Jahrhunderts durch Angst- und Schuldgefühle in den Freitod zu treiben.[30] Selbst Musil, dessen Eltern „für Aufklärung in jeder Hinsicht” waren, erinnert sich, dass beim Einschlafen, „wenn ich mich nicht irre, mich jede selbst unfreiwillige Berührung der Bauchgegend als sündhaft fürchten hieß” (TB I 315). Sogar das, was er auf Grund seiner liberalen Erziehung nicht mehr ‚Sünde’ nennen müsste, ist noch Sünde. „Gesundheitsrücksichten” und Unanständigkeit wurden in Musils ‚aufgeklärter’ Familie scheinbar unter einen Hut gebracht. Aber die „Ermahnung aus nicht ganz bestimmten Gründen [] war erfolgreich u. packte das leicht zu entflammende Gemüt” des kleinen Robert, „dessen Erinnerung eine Farbe der Dankbarkeit u. des Vertrauens bewahrt[e]“ (TB I 962). „Credo quia absurdum est”[31], hätte sich Musil hier selbst kommentieren können.

In „Der Philosoph und die ‚Kokotte’”, einem „Beitrag aus heutiger Sicht” zur Neuauflage von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter [32], schreibt Robert Calasso:

„Es hat eine Zeit gegeben, glauben sie mir, in der das ‚Sexualproblem’ wirklich existierte – und nicht nur Futter für Statistiken, Soziologen, Eheberater und Menschheitsbefreier war. Es hat drei Generationen gegeben, von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an, bei denen jede Ahnung des Geschlechtlichen einen stechenden Krampf verursachte und sich auf alles übertrug. Damals – wie zu jeder Zeit – widmeten sich die sensiblen Jünglinge der Masturbation, jedoch mit der heroischen Gewissheit, sich den Wahnsinn und den Tod zu holen. Das Knochenmark, in der Tat würde nach der damals herrschenden Lehrmeinung rasch erweichen und durch die Wirbelsäule hinunterfließen. Und als Strindberg in ‚Der Sohn der Magd’[33] zu verstehen gab, dass es sich hier um eine der vielen Täuschungen, die er als Kind erlitten hatte, handelte, war das eine Geste von unermesslicher Kühnheit.”[34]

Der Österreicher Musil stammte wie Joyce aus einem katholischen Land, und obwohl er wiederholt das Freidenkertum seiner Herkunft erwähnt[35], bezeichnet er sich noch in seinem Lebenslauf bis zur Promotionsprüfung an der Philosophischen Fakultät Berlin als katholisch[36]:

„Geboren am 6. November 1880 zu Klagenfurt in Kärnten, katholisch, absolvierte der Gefertigte die k. u. k. Militär-Oberrealschule zu Mähr. Weißkirchen im Jahre 1897, studierte hierauf in den Jahren 1897 bis 1901 als ordentlicher Hörer an der k. k. technischen Hochschule in Brünn, legte l899 die erste, 1901 die zweite Staatsprüfung aus dem Maschinenbaufache ab.

Nach Ableistung seines Militärdienstes war er durch ein Jahr im maschinentechnischen Laboratorium der königl. württemberg. technischen Hochschule in Stuttgart wissenschaftlich tätig.

Seit November 1903 ist er an hiesiger Universität als ordentlicher Hörer immatrikuliert und legte im Jahre 1904 am k. k. Ersten deutschen Gymnasium in Brünn die Maturitätsprüfung ab.

Die Promotionsprüfung bestand ich am 27. Februar 1908.

Robert Musil.“[37]

Religiösen Einflüssen scheint jedenfalls auch der junge Musil ausgesetzt gewesen zu sein, und die Rolle, die er den Katecheten im Törless spielen lässt, kommt nicht von ungefähr:

„Wenn ich mich frage, wann u wodurch es sich zum erstenmal zeigte, dass ich / bescheiden ausdrücken: Dichter sei / so geschah es kaum mit Deutlichkeit in den Gedichten, die ich als Knabe u Heranwachsender machte, sondern in meinen Leistungen im Religions- u. Geschichtsunterricht.” (PS 947)

Törless’ Religiosität ist jedoch bereits so weit säkularisiert, dass er Monotheismus mit einem Rechenfehler in Verbindung bringt (T 22) und den hoffnungsvollen Religionslehrer mit seinen „Worten und Gleichnissen” (T 137) schließlich enttäuschen muss.

Dass Die Verwirrungen des Zöglings Törless nicht nur ‚unterirdisch’ dem Biografischen verhaftet sind, wurde inzwischen längst aufgedeckt[38], selbst wenn „gerade das Kompromittierende zum großen Teil erfunden” war und Musil sich bemüht hatte, „möglichst zu verschleiern” (TB II 1218). Er, der für die ‚Wahrheit’ der erzählten Ereignisse nicht haftbar sein wollte, kommt in seinen Tagebüchern immer wieder auf das Trauma seiner Internatszeit zu sprechen.[39] Seine abwehrende Reaktion gegenüber Qualifizierungen seines Werks als „Erlebnis-” oder „Bekenntnisbuch”[40] lässt sich durch Diskretion und berechtigten Künstlerstolz erklären[41], doch ist sie auch durch die enorme Tabudurchbrechung motiviert, die dieser Pubertätsroman im Jahre seines Erscheinens darstellte. Während Joyce zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von A Portrait of the Artist bereits im Exil lebte, war Musil 1906 erst sechsundzwanzig Jahre alt und hatte sich nur vorübergehend von jenem Land entfernt, wo das, was er beschrieben hatte, möglich war. Nachdem der Roman von drei Verlegern „in gleicher Kürze, nachgeprüft und abgelehnt” worden war[42], wandte sich Musil an den berühmten Kritiker Alfred Kerr, der das Manuskript mit dem Autor überarbeitete. Der Roman konnte dann Ende 1906 im Wiener Verlag erscheinen. Dank der anerkennenden Würdigung Kerrs in der Berliner Zeitung Der Tag [43] wurde das Buch zum Bestseller und erregte vor allem bei fortschrittlichen Pädagogen gerade durch „seine, wie man sagte, amoralische Behandlung [...] Aufsehen” (PS 954)[44]:

„Mein erster Erfolg ist mit meiner ersten Veröffentlichung ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törless’ zusammengetroffen. Er hat sogar bis heute ausgedauert, aber in jenen Jahren galt der kleine Roman, den ich geschrieben hatte, dreifach: als das starke Wort einer neuen ‚Generation’, als ein Schlüsselwerk des Erziehungswesen, und als Gesellen-, wenn nicht Meisterstück/ Antritt/ erstes Auftreten/ Antrittsrede/ ‚Probestück’/ eines jungen Dichters, in den man die größten Erwartungen setzte. Ich bekam kritische Zustimmung u. eifrige Anfragen aus aller Welt.” (PS 966f.)

Musil schien dieser Erfolg „aus einer Reihe von Missverständnissen zu bestehn“, und er wehrte sich gegen den ihm seither anhaftenden „Ruf des Psychologen”: „Denn was an einer Dichtung für Psychologie gilt, ist etwas anderes als Psychologie, so wie eben Dichtung etwas anderes als Wissenschaft” (PS 967). Er ärgerte sich, dass man versuchte, „ihn zum Handlanger der Lehrer zu machen”[45], während man dem ästhetischen Wert seines Buches kaum Beachtung schenkte. Andererseits war ihm aber auch daran gelegen, den Vorwurf, dass sein Roman unmoralisch sei, von sich zu weisen. In einem 1907 verfassten Brief an Mathias di Gaspero (RM B I 46f.) erläutert er seinen Begriff von Moral in der Kunst „als ein Werdendes, als einen Gegenstand beständigen Fragens und Bildens” gegenüber „der Moral als einem Gewordenen, Festen, bürgerlichen Wohnhaus”. In diesem Sinne muss auch Törless interpretiert werden:

„Das Buch ist nicht naturalistisch. Es gibt nicht Pubertätspsychologie wie viele andere, es ist symbolisch, es illustriert eine Idee. Um nicht missverstanden zu werden, habe ich ein Wort von Maeterlinck[46], das ihr am nächsten kommt, vorangestellt. Das Buch ist unmoralisch, weil diese besondere Form der Unmoral mir am geeignetsten schien, die Idee daran herauszuarbeiten. – Das Buch ist in doppeltem Sinne moralisch. Einmal weil es eine Idee hat, sodann, weil es zeigt, dass es auf die gewöhnliche Unmoral in gewissen Fällen gar nicht ankommt.”[47]

Seit der Veröffentlichung von Musils Tagebüchern[48] im Jahre 1955 kann sich die Literaturwissenschaft auf biografische, psychologische und kunsttheoretische Quellen aus erster Hand berufen. Während wir uns bei Joyce vor allem auf die Zeugnisse verlassen müssen, die Stanislaus dem „definitiven Biografen”[49] seines Bruders zukommen ließ, nachdem dieser ihn in seinem Werk mehrmals gekränkt hatte[50], vermitteln die persönlichen Notizen von ‚Österreichs ernstestem Dichter’[51] direkte Einblicke in dessen Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und geistigen Einflüssen. Eine Eintragung wie

„Übrigens: im Törless habe ich meine Gedanken, [...] wie ich sie so jetzt in den Zetteln notiere, zu Verbindungen, Erklärungen udgl. benutzt, in den Novellen suchte ich daraus das Erzählte selbst aufzubauen. Daher im Törless der Eindruck größeren Reichtums, weil er im Nebenbei liegt.” (TB I 234)

hätte Booth, stammte sie aus Joyces Hand, zutiefst beruhigt, ist es doch gerade das „Nebenbei”, das er bei dem irischen Dichter vermisst. Musil macht aus seiner Autorintention keinen Hehl, sondern stellt sich offensichtlich hinter den auktorialen Erzähler seines ersten Romans als einen ihm ebenbürtigen Interpreten. Wo sich bei Joyce die Sprache emanzipiert, um selbstreferentiell über ein immanentes Sinngefüge hinauszuwachsen und so ein eigenes Bezugssystem zu bilden, schreibt Musil aus einer Teilnehmerperspektive, die trotz metaphorischer Vielschichtigkeit und Subjektivierung der erlebten und direkten Rede noch weitgehend dem klassischen Bildungsroman entspricht, da sich der Erzähler hier noch deutlich von der Reflektorfigur unterscheiden lässt. Inwiefern sich die moderne Tendenz der Verschmelzung von personalem und auktorialem Medium ➔ la Joyce aber auch bereits in Musils Erstlingswerk bemerkbar macht, hat Walter Jens hervorgehoben:

„Robert Musil war es, dem es in den ‚Verwirrungen des Zöglings Törless’ gelang, einen Jugendlichen zu beschreiben, der anders: weil er ganz und gar ‚er selbst’ ist. Darüber hinaus – und das ist entscheidend – unternahm der große Romancier hier den Versuch, das Geschehen (eine Reihe von Internatsfällen) aus einer Perspektive zu betrachten, die der Blickweise des Helden sehr nahe kam, ohne sich doch mit ihr zu decken. Auf diese Weise wurde es möglich, zum ersten Mal den Denkvorgang eines Jugendlichen zu konstruieren, um diesen noetischen Prozess zugleich dort, wo der Autor, Maximen und Sentenzen vortragend, gleichsam Törless’ Schädel verlässt, in Kommentaren zu interpretieren.”[52]

Musil formulierte in diesem Zusammenhang eine für meine Untersuchung interessante Differenzierung: „Der Bildungsroman einer Person, das ist ein Typus des Romans. Der Bildungsroman einer Idee, das ist der Roman schlechterweg (Am Törless hat man beides verwechselt)” (PS 831). Diese unterschiedlichen Aspekte brauchen aber nicht „verwechselt” zu werden, sondern lassen sich im Törless wie in Joyces Portrait getrennt herausarbeiten: Es handelt sich einerseits um die psychologische, andererseits um die ästhetische Dimension, wobei Musil „von Jugend an das Ästhetische als Ethik betrachtet” hat (TB I, 777). Dass Joyce den Bildungsroman als „Idee”[53] weiterführte, bedeutete für ihn einen geistigen Sieg über den Inhalt als Materie, die er auch als mater zu überwinden suchte, von deren Imago er aber lebenslänglich abhängig blieb.[54] Musils mathematisches „Prinzip der geraden Linie als der kürzesten Verbindung zwischen 2 Punkten”, das sich begnügt, „gewisse Ideen ‚einfließen’ zu lassen” (PS 955), ist weniger revolutionär, sprengt aber den herkömmlichen Rahmen eines Bildungsromans durch die „ruhige[...], verinnerlichte[...] Gestaltung abseitiger Dinge dieses Lebens, – die eben doch in diesem Leben sind.”[55] Der Autonomie der Sprache bei Joyce entspricht bei Musil die Autonomie der Dinge: „[S]ie emanzipieren sich und zerbrechen die Fesseln, die sie mit den ‚harmlos-erklärenden’ Worten verbinden.”[56] Wo Stephen in seiner Suche nach einer neuen Weltsicht noch seine scholastischen Denkkategorien ‚re-formieren’ kann, muss Törless zuerst eine Sprache finden, um die Dinge neu zu benennen. Mit Törless teilte der junge Musil eine militärisch-technische aber ganz unliterarische Erziehung: „Ich hatte noch wenig gelesen u kannte kein Vorbild” (PS 955). Diese größere geistige Freiheit im Umgang mit seinen „Verwirrungen” verbunden mit dem Ringen um eine eigene „verstandes-gesetzmäßige Fassung” erleichtern ihm jedoch, „er selbst” zu werden. Musils ‚gerade Linie’, eine „umhüllende[...] Linie”, die „aus dem wirren Bilde sich hundertfältig schneidenden Kurven heraustritt” (T 88), integriert existenzielle Widersprüche und entlässt Törless schließlich gereift in eine kollektive Wirklichkeit, deren Mechanismen er durchschaut hat.

3. WEIBLICHKEIT ALS METAPHER DES LEIBES

„Gelobt seist du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Weib erschaffen.”

Morgengebet der Männer[57]

[...]


[1] Richard Ellmann beschreibt dieses Ereignis folgendermaßen: „The essay narrative was duly submitted to Englinton and Ryan, and by them duly rejected. Eglinton told Joyce, ‚I can’t print what I can’t understand, and objected to the hero’s sexual exploits, whether with the dream lady of his litany or with the real prostitutes. Joyce took this rejection as a challenge to make the fictional history of his own life the call to arms of a new age.” In: Ders.: James Joyce. New and revised edition. Oxford 1982, S. 147.

[2] Yale Review XLIX, Frühjahr 1960.

[3] Stanislaus Joyce: Dublin Diary. Ithaca, New York 1962, Eintragung vom 2. 2. 1904.

[4] Vgl. dazu Joyces Brief in SL 247 sowie Thomas Staley: „Joyce in Trieste”. In: The Georgia Review, Oktober 1962, S. 449.

[5] Vgl. Stephens Kurzfassung thomistischer Ästhetik („ ad pulcritudinem tria requiruntur, integritas, consonantia, claritas “), deren Konzepte er mit „wholeness”, „harmony” und „radiance“ übersetzt (P 212f.). Bei Aquino (Summa Theologiae I, q. 39, a. 8, conclusio, in der deutschen Ausgabe, Stuttgart 1985, nicht integral wiedergegeben) handelt es sich allerdings nicht um Ästhetik im Allgemeinen, sondern um die ‚Schönheit’ der zweiten Person der Trinität.

[6] Vgl. Wayne C. Booth: „The Problem of Distance in ‚A Portrait of the Artist’“. In: Ders.: The Rhetoric of Fiction. Harmondsworth 1991, S. 323-336, hier S. 333.

[7] Ebd. Booths Gleichsetzung von auktorialem Erzähler und implizitem Autor wirkt heute naiv, da ja gerade Joyce die Darstellung menschlicher Ambivalenz zu einem Extrem gesteigert hat, das für viele Dichter unseres Jahrhunderts richtungsweisend wurde und den Umfang an kritischer Literatur zu seinem Werk erklärt. Personales Erzählen zwingt den Leser zu eigener Sinngebung, und so kann denn Joyces Roman tatsächlich als „both a portrait of the prisoner freed and a portrait of the soul placing itself in chains” (Booth, S. 328) interpretiert werden, auch wenn Booth eine solche Sicht als „incommunicable relativism” verwirft.

[8] Joyces Tochter Lucia kam am 26. Juli 1907 in Triest zur Welt. Von diesem Zeitpunkt bis 1915 schrieb Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man. Der Text wurde zwischen 1914 und 1915 in vierundzwanzig Fortsetzungen in der Londoner Zeitschrift Egoist vorabgedruckt. Die Buchausgabe erschien am 29. Dezember 1916 bei B. W. Huebsch in New York.

[9] Ellmann (1982), S. 296f.

[10] Gemäß Ellmanns Informationen änderte Joyce diesen Titel, weil er eine sarkastische Perspektive zu implizieren schien, die er nicht beabsichtigt hatte. Dies würde bedeuten, dass die ‚versteckte Ironie’ in A Portrait, die Booth zu schaffen macht, tatsächlich schwächer ist als im auktorialen Kommentar des Stephen Hero.

[11] Ellmann (1982), S. 145.

[12] Ebd., S. 149.

[13] Frances L. Restruccia: Joyce and the Law of the Father. New Haven 1989.

[14] MoE I Kap. 31 ff.

[15] „Aber habe ich eine?”, fragt sich Musils Held ebd., während der Autor in den Dreißigerjahren zum Mann ohne Eigenschaften bemerkt: „Dieses Buch ist religiös unter den Voraussetzungen der Ungläubigen” (MoE II, 1940).

[16] Claudio Magris: „Hinter dieser Unendlichkeit. Zu Robert Musils 100. Gebrutstag am 6. November.” In: Neue Zürcher Zeitung, 1./2. November 1980.

[17] Ellmann (1982), S. 5.

[18] Ebd.

[19] Magris (1980).

[20] Musil anerkannte zwar die kulturelle Leistung der Psychoanalyse (PS, 832), doch kritisierte er jene geistige Bewegung, die sie zur Tagesphilosophie erhob und ohne eigenes Denken alles damit zu ‚erklären’ suchte (vgl. MoE 1162).

[21] Marie-Louise Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München 1972, S. 47.

[22] Musils Name für Oesterreich im MoE.

[23] Uwe Baur: „Zeit- und Gesellschaftskritik in Robet Musils Roman ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törless’“. In: Ders./Dietmar Goltschnigg, Hg.: Musil-Studien 4. Vom ‚Törless’ zum ‚Mann ohne Eigenschaften’. München/Salzburg 1973. Zur Relevanz des Törless über Musils Zeit hinaus vgl. auch Walter Jens: „Erwachsene Kinder. Das Bild des Jugendlichen in der modernen Poesie“. In: Ders.: Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen 1957/1962 und id.: „Sadistische Spiele auf dem Dachboden. Über R. M.s ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törless’“. In: Marcel Reich-Ranicki, Hg .: Romane von gestern heute gelesen. Bd. I. Frankfurt am Main 1989, S. 55-63.

[24] Vgl. Musils Eintragungen über die Ermahnung seiner Mutter, „die Hände stets über der Bettdecke zu halten, aus nicht ganz bestimmten Gründen” (TB I 962”) und TB I 315: „Meine Eltern waren für Aufklärung in jeder Hinsicht. Meine Mutter hat resolut und sicher nur aus Gesundheitsrücksichten mir solche Befehle eingeprägt.” Vgl. auch Heft 4, S. 40: „Denn er musste Nachts immer mit den Händen ober der Decke schlafen und man hatte ihm immer erklärt, dass gewisse Körperteile unanständig seien.”

[25] Baur (1973), S. 44. Freuds Traumdeutung erschien 1900, die Psychopathologie des Alltagslebens 1901 , Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1905.

[26] Baur (1973), S. 45.

[27] Hans Heinrich Muchov: „Sexualreife und Sozialstruktur der Jugend”. In: Dietrich Steinbach, Hg.: Materialien. Robert Musil ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törless’. Stuttgart 1979, S. 14.

[28] Jos van Ussel: Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Gießen 1977, S. 224.

[29] Ebd., S. 225.

[30] Eine Tendenz, die in der deutschen Literatur zwischen 1901 und 1907 ihren Niederschlag findet. Jugendliche Protagonisten erschießen oder erhängen sich, wenn sie nicht wie in Hermann Hesses Roman Unterm Rad, der wie Musils Törless 1906 erschien, den Tod im Wasser suchen. Nach fünfzehnjährigem Polizeiverbot wird im gleichen Jahr Wedekinds Sexualtragödie Frühlings Erwachen freigegeben. Psychohistorische Erwägungen mögen Volker Schloendorff in seiner Törless -Verfilmung veranlasst haben, auch das Opfer Basini zum Selbstmörder zu machen.

[31] „Besteht der Glaube nur darin, dass ‚mysteriöse’ Tatsachen für wahr gehalten werden sollen, ist er rationalistisch mit negativen Vorzeichen. Schärfster Ausdruck: Credo quia absurdum est” (TB I 362). Vgl. auch Karl Corino: „Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse”. In: Baur/Goltschnigg, Hg. (1973), S. 132: „Das Elternhaus ist für Aufklärung, perpetuiert aber unreflektiert die jahrhundertealten Klischees von sündhafter Sexualität und die trivialen Vorurteile der Gesundheitsapostel, die die sogenannte kindliche Onanie für moralisch verwerflich und gesundheitsschädlich halten”.

[32] Erstmals 1903 in Wien erschienen. Neuauflage München 1980.

[33] Entwicklungsgeschichte in vier Teilen (1886-1909).

[34] Weininger (1980), S. 662f.

[35] Vgl. z. B. die Beschreibung der Eltern seines Vaters (TB I 963): „[B]ei Grossmama M., weil ihre Söhne sie so liebten, scheint Herzensgüte dazugekommen zu sein […]. Vielleicht war sie nicht süßlich weich, sondern hatte viel Haltung! [...] Was nicht ganz ins Bild passt, ist der Akatholizismus, überhaupt die Areligiosität der Familie. Vielleicht herrschte eine Art Theismus, eine Art Gut- und Ordentlichsein; vielleicht auch eine Scheu, viel von Gott zu sprechen. Viell. auch eine Art Vertrag zwischen der weicheren Mutter u. dem von Darwin beeindruckten Vater.”

[36] Ich gebe den ganzen Text dieser Kurzbiografie wieder, da er Musils Bildungsgang vor seiner Entscheidung, ‚vollamtlicher’ Schriftsteller zu werden, übersichtlich zusammenfasst.

[37] Diss.-Reprint, S. 139.

[38] Vgl. dazu besonders Karl Corino: „Törless ignotus. Zu den biografischen Hintergründen von Robert Musils Roman ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törless’”. In: Heinz Ludwig Arnold, Hg.: Text + Kritik. Aachen l968, Heft 21/22, S. 18-25.

[39] Auch Baur (1973, S. 19), hebt hervor, dass „Musil von kaum einem anderen Aufenthaltsort noch in späten Jahren mit ähnlicher Bitterkeit gesprochen hat”. Vgl. z. B. (1937 bis etwa Ende 194l) TB I 936: „Warum haben meine Eltern nicht protestiert? Heute noch unverständlich. Mensch!” und TB I 953: „Mährisch-Weißkirchen – Hranice (das A-loch des Teufels)”.

[40] Vgl. PS 967.

[41] Vgl. dazu Musils vielzitierten Kommentar zu seiner Erzählstrategie: „Der Sechzehnjährige [...] ist eine List. Verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel anderes kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt. Ein Zustand hemmungsschwacher Reagibilität” (PS 996).

[42] TB I 912.

[43] „Alfred Kerrs Besprechung, das nachdrücklichste und für das Ansehen seines jungen Autors entscheidende Echo auf den ‚Törless’ war am 21. Dezember 1906 in der Berliner Zeitung ‚Der Tag’ erschienen. Der Titel lautet lakonisch: ‚Robert Musil’. In der Überschrift kein Hinweis auf den Anlass; Kerr brachte seine Kritik, sechs Spalten über zwei Seiten im Feuilleton ‚unter dem Strich’, als Porträt eines bis dahin unbekannten Erzählers” (TB II 138).

[44] Vgl. andererseits Musils Feststellung in „Fallengelassenes Vorwort zu: Nachlass zu Lebzeiten –Selbstkritik u – Biogr.“ (1935): „Noch heute werde ich in einem vielbenutzten österr. Schullesebuch als ‚perverser’ Schriftsteller angeführt” (PS 966).

[45] Corino, „Törless ignotus” (wie Anm. 72), S. 62.

[46] Das Zitat, das Musil als Motto vor sein Erstlingswerk setzte, stammt aus dem Kapitel „Die Moral des Mystikers” von Maurice Maeterlincks Der Schatz der Armen. In der französischen Originalfassung

(„La morale mystique”. In: Le trésor des humbles. Brüssel 1986, S. 45) lautet es folgendermaßen: „Dès que nous exprimons quelque chose, nous le diminuons étrangement. Nous croyons avoir plongé jusqu’au fond des abîmes et quand nous remontons ➔ la surface, la goutte d’eau qui scintille au bout de nos doigts pâles ne ressemble plus ➔ la mer d’où elle sort. Nous croyons avoir découvert une goutte aux trésors merveilleux; et quand nous revenons au jour, nous n’avons emporté que des pierres fausses et des morceaux de verre; et cependant le trésor brille invariablement dans les ténèbres.”

[47] Maeterlinck spricht in diesem Zusammenhang von einer „innocence inférieure”: „La pensée la plus basse ou l’idée la plus noble laissera-t-elle une trace sur le pivot de diamant?” (1986, S. 48).

[48] Diese können als Musils zweites Hauptwerk neben dem Mann ohne Eigenschaften betrachtet werden.

[49] So bezeichnet Harald Bloom den verstorbenen Richard Ellmann in: James Joyce’s ‚A Portrait of the Artist as a Young Man’. New York 1988, S. vii.

[50] Vgl. Brenda Maddox in: Nora. A Biography of Nora Joyce, S. 510f.: „Underlying all was Stanislaus’s bitterness. He saw himself [...] as one of the worst-treated brothers in the history of genius [...]. In his writing […] Joyce had heaped humiliation on Stanislaus. He broke his promise to dedicate Dubliners to Stanislaus. Then, when turning Stephen Hero into A Portrait, Joyce removed the character of Maurice, the artist’s sensitive brother, the better to display the artist standing ‚friendless and alone’. Worse than the omissions were some of the lines Joyce put into his work: ‚A brother is as easily forgotten as an umbrella’ (Ulysses, S. 173), ‚[M]y gold fashioned brother’ (Finnegans Wake, 276n., S. 2).“ Solche und andere Seitenhiebe „were all barbs meant to hurt and they did. – These frustrations and slights […] led Stanislaus to determine – well before he met Ellmann – to get what he could for himself and his family out of his memories and his brother’s papers.”

[51] Vgl. Walter Dimter: „Österreichs ernstester Dichter. Zu Robert Musils Briefen”. In: Herbert Zeman, Hg.: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart 1880-1980. Graz 1989, S. 958-988.

[52] Walter Jens: „Erwachsene Kinder. Das Bild des Jugendlichen in der modernen Literatur.” In: Ders.: Statt einer Literaturgeschichte. München 1990, S. 145f. Neu ist im Törless auch der Erzählkommentar zur Verquickung von Außen- und Innenperspektive, der Musils Technik den Ruf des ‚Psychologismus’ oder ‚Impressionismus’ einbrachte. Vgl. dazu Helmut Arntzen in: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften’. München 1980, S. 96 ff.

[53] Die Entwicklung eines Romans als ‚Hirngeburt’ entsprechend dem physio-psychischen Werdegang eines Individuums, aber auch die Formulierung und gleichzeitige Gestaltung einer säkularisierten Interpretation ‚thomistischer Ästhetik’ als Wesensschau. Die Idee der claritas, die Joyce für die Synthese von integritas und consonantia dem Doctor angelicus entlehnte aber als quidditas („the whatness of a thing”, P 213) bezeichnete, entspricht dem in Stephen Hero (S. 216) definierten Begriff der „epiphany”, der von manchen Kritikern auf Joyces Werk selbst angewandt wurde.

[54] Bereits im ersten Kapitel von Ulysses findet Stephen über den Bildbereich ‚Meer’ den Weg zurück zur sterbenden Mutter, deren letzten Wunsch, ihn betend niederknien zu sehen, er nicht erfüllt hat. Dieses mit obsessionellen Schuldkomplexen verbundene Todesthema ist eines der Leitmotive des Romans.

[55] Alfred Kerr in seiner Kritik vom 21. Dezember 1906 (TB II 138).

[56] Walter Jens: „Der Mensch und die Dinge. Die Revolution der deutschen Prosa”. In: Ders.: Literaturgeschichte (wie Anm. 86), S. 113-139, hier S. 118.

[57] In: Sidur Sefat Emet, mit deutscher Übersetzung von Rabbiner Dr. S. Bamberger. Basel 1982, S. 5.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
1995
ISBN (PDF)
9783956849862
ISBN (Paperback)
9783956844867
Dateigröße
866 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Université de Genève
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
Glaube Erkenntnis Kreativität Moral Erziehung
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Cornelia Pechota, Dr. phil., geboren in Zürich, lebt seit 1971 in Genf. Nach langjähriger Tätigkeit als diplomierte Übersetzerin, Herausgeberin und Redakteurin studierte sie Germanistik, Anglistik und Assyriologie an der Genfer Universität. Mit der Magisterarbeit über Robert Musil und James Joyce schloss sie 1995 ihr Studium ab. 2003 promovierte sie an der Universität Lausanne in Germanistik. Auf die Publikation ihrer Dissertation ‚O Vater, laß uns ziehn!’ Literarische Vater-Töchter um 1900. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé (2005) folgte die vergleichende Studie Heim und Unheimlichkeit bei Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. Literarische Wechselwirkungen (2010). Zur Neuedition von Lou Andreas-Salomé: Henrik Ibsens Frauen-Gestalten (2012) verfasste sie die Kommentare und das Nachwort. Beteiligt an Jahrbüchern und Zeitschriften (Blätter der Rilke-Gesellschaft, Nietzsche-Forschung, Entwürfe, Kultursoziologie) und Sammelbänden. Weitere Informationen unter http://www.cpv-intertext.com.
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Titel: Robert Musil und James Joyce: Das Leib-Seele-Problem als kreativer Ansporn in "Törless" und "A Portrait of the Artist": Vergleichende Untersuchung mit Ausblick auf das spätere Werk
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