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Ehre als Thema im Ethikunterricht: Ein komplexes soziales Phänomen jenseits von Stereotypen

©2014 Masterarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Der Begriff der Ehre weckt widersprüchliche Assoziationen. Auf der einen Seite stehen Bilder von öffentlichen Ehrungen, ehrenwerten Damen und Herren und herausragenden Persönlichkeiten, auf der anderen solche von Ehrenmördern und unterdrückte Frauen. Mit der Ehre sind Hoch- und Geringschätzung zugleich verbunden, je nachdem, um welche Personengruppe es sich handelt. Der Autor geht in dieser Arbeit der Frage nach, wie es zu diesem Widerspruch kommt und macht praktische Vorschläge, wie das Thema Ehre im Ethikunterricht behandelt werden könnte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. W
ARUM
E
HRE
UNTERRICHTEN
?
,,Warum Ehre für die Ethik bedeutsam ist, wird deutlich, wenn wir uns den
Zusammenhang zwischen Ehre und Achtung oder Respekt vor Augen führen. Denn
Achtung und Selbstachtung sind zweifellos gleichfalls ein wichtiges menschliches Gut,
das ... zu einem guten Leben beiträgt."
9
Warum sollte sich Ethikunterricht mit dem Thema Ehre beschäftigen? Ist Ehre nicht ein Wert, der
längst vergangenen, ,,vormodernen" Zeiten angehört? Sollte bestehenden Identifikationen mit dem
Wert der Ehre nicht mit der Beförderung liberaler Werte begegnet werden? Ich möchte argumentie-
ren, dass Ehre eine aktuelle Relevanz hat ­ und zwar nicht nur unter Minderheitenangehörigen ­
und deshalb im Ethikunterricht thematisiert werden sollte.
2.1 Einordnung in den Rahmenlehrplan
Das Thema Ehre berührt viele ethische Fragestellungen und kann auf fast alle Themenbereich die
im Berliner Rahmenlehrplan für das Fach Ethik
10
genannt werden, angewendet werden. Ehre hat Et-
was mit Identität (Themenfeld 1) zu tun, denn durch die Identifizierung mit individuellen und kol-
lektiven Normen ehrenhaften Verhaltens erwirbt das Individuum seine Identität. Ehre ist eine
Schnittstelle von Freiheit und Verantwortung (TF 2), denn diese Normen können das Individuum zu
Handlungen für die Gemeinschaft veranlassen, aber auch zu sozial nicht akzeptiertem Verhalten.
Das Individuum sieht sich zugleich den Anforderungen ehrenhaften Verhaltens, die eher durch sein
soziales Umfeld repräsentiert werden, und die Normen des Rechts und der Gerechtigkeit (TF 3), die
von staatlichen Institutionen eingefordert werden, wobei sich diese Normen manchmal widerspre-
chen. Ehre hat auch mit Diskriminierung (TF 4, Mensch und Gemeinschaft) zu tun, denn Menschen,
die sich mit dem Wert der Ehre identifizieren, sind Objekt gesellschaftlicher Stigmatisierung. Da die
Normen ehrenhaften Verhaltens oft internalisiert sind, ist eine Normverletzung häufig mit dem Ge-
fühl von Schuld und schlechtem Gewissen (TF 5, Pflicht und Gewissen) verbunden.
2.2 Ziele moralischer Bildung
Der Ethikunterricht ist eine spezifische Form moralischer Bildung innerhalb liberal-pluralistischer
Gesellschaften. In liberalen Gesellschaften ist die Schule einerseits liberalen Werten (Freiheit,
Gleichheit, Autonomie, Gerechtigkeit), andererseits dem Gebot des Pluralismus und der weltan-
9
Appiah, ,,Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt.", 13.
10 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, ,,Rahmenlehrplan Ethik für die Sekundarstufe I".
3

schaulichen Neutralität verpflichtet. Ethikunterricht versucht, die Gratwanderung zwischen der Ver-
mittlung liberaler Werte und der weltanschaulichen Neutralität zu gehen.
11
Oft wurde dem Ethikun-
terricht die Aufgabe zugewiesen, Jugendliche durch Werteerziehung auf die Partizipation an der de-
mokratischen Gesellschaft vorzubereiten, welche auf reflektierte Staatsbürger_innen, die kompetent
mit gesellschaftlicher Vielfalt umgehen, angewiesen ist.
12
Diese Forderung wurde jedoch von meh-
reren Seiten kritisiert. Multikulturalist_innen und Kommunitarist_innen kritisieren, dass die Beför-
derung liberaler Werte, wie Freiheit und Autonomie, welche substanzielle ethische Prämissen dar-
stellen und alles andere als weltanschaulich neutral seien, die kulturelle Identität von religiösen und
ethnischen Minderheiten gefährde.
13
oft berufen sie sich dabei auf die Kritik an John Rawls, dass
auch der ,,regulierende Rahmen" liberaler Werte, innerhalb dessen Individuen ihre comprehensive
doctrines of the good verfolgen, substanzielle (comprehensive) normative Setzungen enthalten, die
nicht universalisierbar seien, etwa die Annahme, dass Güter individuell, nicht kollektiv verankert
seien
14
. Aber auch von liberaler Seite wurde die Forderung, Ethikunterricht solle liberale Werte ver-
mitteln, kritisiert. Kirsten Meyer kritisiert, dass die Forderung nach der Vermittlung liberaler Werte
nur in Bezug auf diejenigen Werte gilt, die nicht vernünftigerweise umstritten sind, z.B. sich nicht
gegenseitig zu verletzen. Viele andere Werte seien jedoch in der Moralphilosophie umstritten, wes-
halb sich moralische Bildung nicht auf eine Position festlegen könne. Sie sieht den spezifischen
Beitrag, den der Ethikunterricht zur schulischen Bildung leisten kann darin, ,,die Fähigkeit (zu) be-
fördern, über grundlegende moralische Normen und Werte zu reflektieren und dadurch vernünftiger
miteinander reden und umgehen zu können".
15
Wenn dieser Argumentation zugestimmt wird, dann darf sich der Ethikunterricht nicht nur auf aus
Sicht der liberalen Gesellschaft vermeintlich beförderungswürdige Werte wie Gerechtigkeit, Auto-
nomie und Toleranz beschränken. Es müssen alle normativen Einstellungen Berücksichtigung fin-
den, die Schüler_innen wichtig sind. Ehre ist einer der Werte, die auf der einen Seite den Wertehori-
11 Im Berliner Rahmenlehrplan Ethik für die Sekundarstufe 1 wurde dafür die folgende Formel gefunden ,,Das Fach
Ethik wird bekenntnisfrei - also religiös und weltanschaulich neutral - unterrichtet. Eine festlegende oder
indoktrinierende Darstellung einer einzelnen Position hat zu unterbleiben. Dennoch ist der Unterricht nicht
wertneutral. Die Jugend soll im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit erzogen werden. Dazu
gehören Toleranz und Achtung anderer Überzeugungen, Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen und Vermeidung gewaltsamer Konfliktlösungen."
12 Kirsten Meyer hat eine Broschüre der Berliner Senatsverwaltung zur Erklärung, warum das neue Schulfach Ethik
eingeführt zitiert, die dem Ethikunterricht die Aufgabe zuweist, durch Werteerziehung zur Lösung der Probleme
einer pluralistischen Gesellschaft beizutragen. Meyer, ,,Moralische Bildung im Philosophie- und Ethikunterricht",
232.
13 Galston, ,,Two Concepts of Liberalism".
14 Gray, ,,Rawls and the Problem of Honour"; Rawls, Political Liberalism.
15 Meyer, ,,Moralische Bildung im Philosophie- und Ethikunterricht", 232.
4

zont vieler Schüler_innen prägen, der auf der anderen Seite jedoch von liberaler Seite weitgehend
als illiberal abgelehnt wird
16
und daher in Debatten um moralische Bildung kaum Berücksichtigung
findet. Wenn überhaupt, dann wird es zu ihrem Ziel erklärt, Jugendliche zur Abkehr von ,,traditio-
nellen" Wertvorstellungen zu bewegen, die sie an der Partizipation in der liberalen Gesellschaft hin-
dern, zu denen Ehre gezählt wird. Wenn jedoch Ethikunterricht zur ergebnisoffenen Reflexion anre-
gen soll, müssen auch mit der liberalen Wertordnung vermeintlich in Konflikt stehende Normen
zum Unterrichtsthema werden. Ehre ist einer dieser Werte. Eine Auseinandersetzung mit ihr im
Ethikunterricht kann Jugendlichen, ob sie den Wert der Ehre teilen oder nicht, zu ihrem besseren
Verständnis verhelfen, indem aus Kommunikation und Austausch Empathie und ein Bewusstsein für
Gemeinsamkeiten hervorgeht.
2.3 Gemeinsames und Trennendes
Ich möchte in dieser Arbeit zeigen, dass Ehre alle Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Her-
kunft betrifft. Auch wenn nur eine Minderheit von Jugendlichen Ehre explizit zu ihren normativen
Orientierungen zählt, ist das, was mit Ehre gemeint ist, ein soziales Phänomen, welches nicht nur
Jugendliche mit Wurzeln in ,,traditionellen Gesellschaften" betrifft. Auch wenn der Begriff der Ehre
vor allem in Bezug auf Einwander_innen Verwendung findet, sind Fragen des Erwerbs von sozia-
lem Status, des Aushandelns von Statusunterschieden und des Selbstwertgefühls, die noch bis ins
20. Jahrhundert unter dem Begriff Ehre subsumiert wurden, soziale Realitäten, die alle Menschen
und Gesellschaften prägen.
Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ehre kann Jugendliche dazu anregen, über diese Fra-
gen ins Gespräch zu kommen. Im Ethikunterricht geht es auch darum, den sozialen Umgang im ei-
genen sozialen Umfeld zu reflektieren. Für diesen spielen die Normen des Zusammenlebens sowie
der Erwerb von Ansehen und Selbstwertgefühl eine wichtige Rolle. Der Begriff der Ehre hat, wie
ich zeigen werde, viele Facetten. Jedoch bezeichnet er fast immer eine Eigenschaft, die durch an be-
stimmten Normen des Zusammenlebens orientiertes Verhalten erworben wird bzw. durch ihnen wi-
dersprechendes Verhalten verloren geht. Es ist damit geeignet, sich über Gemeinsames und Tren-
nendes zugleich auszutauschen. Gemeinsam haben alle Individuen die Erfahrung, dass ihr Ansehen
und in gewissem Maße auch ihr Selbstwert daran hängen, ob sie bestimmten Normen entsprechen
können. Die eine Schülerin erwirbt z.B. einen guten Ruf, weil sie einem ungerechten Lehrer die
Stirn bietet und sein Verhalten vor der Klasse kritisiert, die andere weil sie in der Pause heimlich
16 Vgl. Krause, Liberalism with honor.
5

raucht. Ein anderer Schüler hingegen hat zwar keinen guten Ruf, denn er wird als Streber bezeich-
net, erwirbt jedoch durch seine schulischen Erfolge und Auszeichnungen bei Olympiaden ein hohes
Selbstwertgefühl. Das Trennende der Ehre besteht darin, dass in unterschiedlichen sozialen Kontex-
ten unterschiedliche Normen ehrenhaften Verhaltens Geltung haben. Die eine Schülerin wird dafür
bewundert, dass sie sich für eine gerechte Behandlung von Schüler_innen einsetzt, die andere für
ihr delinquentes Verhalten. Der Schüler dagegen verletzt zwar die Norm der jugendlichen Coolness,
sich schulisch nicht zu sehr hervorzutun, um nicht als Streber zu gelten, erfüllt hingegen seine indi-
viduelle Norm, nach der schulische Erfolge etwas Ehrenvolles sind.
Mit dem Begriff der Ehre ist Gemeinsames und Trennendes verbunden. Es kann eine universale und
eine partikulare Dimension von Ehre unterschieden werden. Anhand des Begriffs können
Schüler_innen im Ethikunterricht zum Austausch und zur Reflexion über gemeinsame Erfahrungen
und solche, die uns trennen, anregen. Im Ergebnis ist ein in Bezug auf andere stärkere Empathie zu
erwarten, die auf der Einsicht beruht, dass auch sie mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert
sind, die jedoch auch deutliche Unterschiede von den eigenen aufweisen. Außerdem kann die Refle-
xion darüber, welchen Stellenwert Ehre für die Schüler_innen selbst hat und was sie darunter ver-
stehen, dazu beitragen, dass sie ihre eigenen Ansichten kritisch hinterfragen.
2.4 Stigma Ehre
Wie bereits erwähnt, ist Ehre nicht nur positiv besetzt. Während Ehre einerseits als eine Auszeich-
nung betrachtet wird, die herausragenden Persönlichkeiten zu teil wird, wird Ehre andererseits mit
Gewalt gegen Frauen und die Unterordnung des Einzelnen unter die Familienehre in Verbindung
gebracht. Ehre in letzterer Hinsicht ist Gegenstand von Stigmatisierung, so dass ,,Kulturen der
Ehre"
17
gegenüber der ,,modernen" Gesellschaft abgewertet werden, indem Ehre auf die Unterord-
nung des Individuums unter die Gruppe, unmoralische Einstellungen und Gewalt reduziert wird.
18
So erfahren Schüler_innen, in deren Wertehorizont der Begriff der Ehre einen wichtigen Stellenwert
einnimmt, die Abwertung ihrer Wertorientierungen durch die Mehrheitsgesellschaft. Eine Beschäfti-
gung mit Ehre im Ethikunterricht sollte aus zwei Gründen vermeiden, das Stereotyp ,,traditioneller
Ehre" zu reproduzieren. Erstens verstellt es den Blick auf die Vielfalt der sozialen Praxen, die sich,
17 Ruth Benedict machte die Unterscheidung zwischen ,,traditionellen Kulturen" der Ehre/Schande und ,,modernen
Kulturen" der Pflicht/Schuld berühmt, die Gesellschaften nach ihren normativen Grundlagen dichotom unterschied
und damit zum Ausschluss von Ehre aus der ,,Moderne" bei, die ich in dieser Arbeit beschreibe. Benedict, The
Chrysanthemum and the Sword; Vgl. Kaufman, ,,Understanding Honor", 562ff.
18 Ewing, Stolen honor, 28.
6

wie ich zeigen werde, hinter dem Begriff Ehre verbergen. Zweitens kann das oben (2.2) formulierte
Ziel moralischer Bildung die Reflexion über eigene Wertorientierungen nur dann erreicht werden,
wenn Jugendliche nicht von vornherein das Gefühl vermittelt bekommen, ihre normativen Orientie-
rungen seien minderwertig. Werden die Werte von Schüler_innen pauschal abgewertet, so kann dies
Auswirkungen auf ihren Selbstwert haben. Erst ein Klima der ergebnisoffenen Reflexion, wo das
Festhalten an eigenen Werten auch auf einer reflektierten Basis nicht ausgeschlossen ist, kann eine
ernsthafte Auseinandersetzung mit eigenen Werten ermöglichen.
Darüber hinaus kann am Begriff der Ehre auch ein Verständnis dafür vermittelt werden, dass Werte
in eine hierarchische Ordnung eingebettet sind. Liberale Werte werden oft als anderen Werten, wie
z.B. der Ehre, der Keuschheit oder der Frommheit gegenüber überlegen angesehen. Gerade Werte,
die in afrikanischen und nahöstlichen Gesellschaften verbreitet sind, sind Gegenstand von Stigmati-
sierung und Abwertung.
19
Am Beispiel der Ehre können Schüler_innen ein besseres Verständnis für
rassistische und orientalistische Diskurse in der Diskussion um Werte erwerben.
Die Tatsachen, dass Ehre erstens viele ethische Fragestellungen berührt, die im Ethikunterricht the-
matisiert werden, dass sie zweitens ein Wert ist, der für viele Schüler_innen wichtig ist, drittens ein
wichtiges Analysekonzept für das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe darstellt und vier-
tens Gegenstand gesellschaftlicher Stigmatisierung ist, von der auch Schüler_innen betroffen sind,
spricht dafür, Ehre im Ethikunterricht zu behandeln.
19 Seelmann-Park, ,,Universal Values or the Tyranny of Values".
7

3. M
ULTIDIMENSIONALE
E
HRE
Ehre, das sei ,,aber ein weites Feld", ,,ein komplexes Thema", ,,schwierig zu bestimmen". Dies habe
ich oft zu hören bekommen, wenn ich verschiedene Menschen danach fragte, was sie unter Ehre
verstehen. Es herrscht Unsicherheit, was die Definition von Ehre angeht. Bei weiterem Nachfragen
zeigt sich jedoch, dass fast jeder eine Vorstellung davon hat, was mit Ehre gemeint ist. oft werden
dabei alternative Begriffe wie Respekt, Achtung, Stolz und Anerkennung gebraucht. Ich habe in vie-
len Gesprächen wertvolle Hinweise bekommen, welch breites Spektrum an Bedeutungen hinter dem
Wort Ehre verborgen liegt. Am systematischsten habe ich diese Herangehensweise in einer Umfrage
unter Schüler_innen an einer Berliner Sekundarschule verfolgt. Da ich in meiner Arbeit die Mög-
lichkeiten der Thematisierung des Begriffs der Ehre im Ethikunterricht untersuchen möchte, erschi-
en es mir ratsam, Schüler_innen zu fragen, was Ehre für sie bedeutet. Angesichts des breiten Be-
griffsspektrums, welches schon bei einer Befragung von nur 21 Schüler_innen aufgezeigt wurde,
bietet sich die Methode des Schülerbefragung auch als Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit dem
Thema Ehre im Ethikunterricht an. Ausgehend von den Ergebnissen können wichtige begriffliche
Unterscheidungen in Bezug auf die Ehre entwickelt werden. Nach einer Diskussion der Beiträge der
Schüler_innen, möchte ich einige begriffsgeschichtliche Überlegungen zur Ehre anschließen. Auch
anhand einer Diskussion der verschiedenen sprachlichen Kontexte, die in das zeitgenössische Ehr-
verständnis Eingang gefunden haben, stellt sich Ehre als ein multidimensionales Phänomen heraus.
3.1 Was verstehen Schüler_innen unter Ehre?
Für die Schüler_innen war es nach eigener Aussage nicht einfach, begrifflich festzumachen, was Ehre
eigentlich genau sei. Viele Fragen tun sich bei der Beschäftigung mit der Ehre auf, z.B. Folgende: Was
ist Ehre eigentlich? Eine Eigenschaft ('Ich besitze Ehre.')? Ein Tun ('Ich verhalte mich ehrenhaft.')? Ein
Erfahren ('Ich werde geehrt.')? Eine Norm ('So verhält sich der Mensch von Ehre.')? Ist Ehre eher etwas,
das ein Individuum von außen erfährt (Reputation) oder etwas, das es selber über sich denkt (Selbstach-
tung)? Wird Ehre durch eigenes Verhalten oder durch das anderer (z.B. Familienmitglieder) erworben?
Ist Ehre etwas, das alle Menschen besitzen (so etwas Ähnliches wie Würde) oder nur einige als Zeichen
ihrer Exzellenz? Was hat Ehre mit Moral zu tun? Ist Ehre etwas, dass das Individuum für gute Taten
auszeichnet oder sozialer Zwang, der unmoralische Taten gebietet? Anhand der Schüler_innenaussagen
möchte ich zeigen, dass diese Fragen zumeist nicht mit einem entweder-oder zu beantworten sind. Un-
terschiedliche Begriffsverständnisse von Ehre beschreiben unterschiedliche soziale Realitäten.
8

(a) kategoriale Einordnung
Allein bezüglich der Frage, was Ehre kategorial eigentlich darstellt, lässt sich zeigen, dass Ehre Ver-
schiedenes zugleich ist, ein Tun, ein Erfahren, eine Eigenschaft und eine Norm. In einer Hinsicht
kann Ehre als ein Tun beschrieben werden. Ehre besteht demnach darin, sich ehrenhaft zu verhalten.
,,Ich verstehe unter Ehre sich freundlich gegenüber anderen zu verhalten."
20
Was ehrenhaftes Ver-
halten ist, kann ganz unterschiedlich verstanden werden. Die Schüler_innen bezeichnen verschiede-
ne moralische (,,keine asozialen oder beleidigende Aktionen"
21
), sozial erwartete (,,gut in der Schule
sein"
22
) und mutige (,,sich den Sachen stellen die auf einen zu kommen"
23
) Verhaltensweisen als eh-
renhaft.
In anderer Hinsicht ist Ehre etwas, das empfangen wird, indem man verehrt oder geehrt wird. ,,man
kann auch verehrt werden (z.B. Stars). man kann aber auch einen Ehrenpreis bekommen"
24
. Die Eh-
rung kann in Zusammenhang mit ehrenhaften Verhalten stehen, denn oft wird sie vollzogen, um
Letzteres zu belohnen. ,,man beehert jemanden für gute Taten."
25
Darüber hinaus stellt Ehre auch eine Eigenschaft dar. Ehre besitzen kann sich einerseits auf das An-
sehen beziehen. ,,Ehre ist für mich wie ein Rang."
26
Andererseits paraphrasieren die Schüler_innen
Ehre mit Stolz, eine Form von Selbstwertgefühl. ,,Ehre ist für mich Stolz über sich selbst zu haben
und auf sich zu sein."
27
Schließlich beinhaltet Ehre auch die Norm des Ehrenhaften, die soziokulturell und individuell unter-
schiedlich definiert, welches Verhalten ehrenhaft und welches ehrlos ist. An ihr kann das Verhalten
des Einzelnen gemessen und dieser ermahnt werden, sich nach ihr zu richten. ,,Zum Beispiel bei
dem Spruch: »Hast du keine Ehre?«, den ich öfters höre, wenn Leute etwas gemacht haben, bei dem
andere denken, man sollte sich dafür schämen."
28
Es muss jedoch zwischen kollektiven und indivi-
duellen Normen des Ehrenhaften unterschieden werden, die miteinander in Konflikt stehen können.
20 Zitat Schüler_in 17. Alle Zitate diesem Abschnitt sind, sofern nicht anders gekennzeichnet, Zitate von
Schüler_innen aus der Befragung zum Thema Ehre. Die Zitate wurden, wo es nicht den Inhalt verfälscht, auf
Rechtschreibung korrigiert. Die unkorrigierten Antworten sind im Anhang zu finden.
21 Schüler_in 15.
22 Schüler_in 17.
23 Schüler_in 15.
24 Schüler_in 9.
25 Schüler_in 5.
26 Schüler_in 6.
27 Schüler_in 13.
28 Schüler_in 12.
9

(b) Reputation oder Selbstwertgefühl
Die Alternativen in Bezug auf den Erwerb von Ehre lassen sich auf unterschiedliche Handlungsmo-
tive zurückführen. Dem einen geht es um Stolz oder Selbstwertgefühl, der anderen um Ansehen
oder Reputation, dem dritten um beides. Ehre kann damit in eine innere und eine äußere Dimension
unterschieden werden, wobei das Streben nach Ehre in der Realität oft in einer Kombination aus
beiden Handlungsmotiven besteht.
Die äußere Ehre ist der eigene soziale Status, das Ansehen bzw. die Reputation. Wer nach äußerer
Ehre strebt, dem geht es darum, ,,einen guten Ruf zu haben"
29
. Für die innere Ehre ist entscheidend,
das zu tun, was man selbst für richtig hält. Die Meinung der anderen ist zweitrangig. ,,Für mich ist
Ehre eher etwas, das von einem selbst kommt, worauf man stolz sein kann."
30
Innere Ehre beruht
auf der eigenen Authentizität. ,,ich habe Stolz ... für den ich stehe also dazu stehe das ich bin wie
ich bin und nicht wie die anderen ­ Das Wollen ist Ehre"
31
. Allerdings ist die innere Ehre auch mit
der äußeren verbunden. Ansehen wird nicht nur durch sozial erwünschtes Verhalten erworben, son-
dern auch, indem man zu sich und seinen Überzeugungen auch gegen soziale Widerstände steht.
,, ... Ehre ist für mich auch noch, dass man sich selbst treu bleibt, denn wenn man sich verstellt ver-
lieren die Menschen das Ehrgefühl vor Dir."
32
So kann der Verlust an Reputation innerhalb einer be-
stimmten Gruppe mit einem Gewinn an Reputation in einer anderen Gruppe verbunden sein und
umgekehrt.
(c) Kollektive und individuelle Ehre
Ehre ist nicht nur eine individuelle Eigenschaft, sondern kann auch Kollektiven zu eigen sein, wo-
bei die individuelle Ehre Einfluss auf die kollektive hat und umgekehrt die kollektive auf die indivi-
duelle. So kann das Verhalten eines Familienmitglieds die Ehre der gesamten Familie betreffen.
,,Wenn man etwas in der Familie machen muss (Kopftuchtragen) und es nicht tut ist es eine Verlet-
zung der Familienehre! Also Schande!"
33
Umgekehrt kann das Ansehen einer Familie ein Familien-
mitglied mit Stolz erfüllen. ,,Für mich ist ehre ein Gefühl, das den Stolz meiner und meiner Familie
beschreibt."
34
Auch größere Kollektive können Ehre besitzen. So stellen einige individuelles Verhal-
ten in den Kontext nationaler Ehre. ,,man sagt ja auch »für die Ehre meines Landes«, damit ist mei-
29 Schüler_in 17.
30 Schüler_in 2.
31 Schüler_in 8.
32 Schüler_in 19.
33 Schüler_in 10.
34 Schüler_in 18.
10

ner Meinung nach gemeint, für den Ruf meines Landes."
35
Auf den ,,Ruf" eines Landes kann aber
auch die einzelne Staatsbürgerin stolz sein. ,,(Ich verstehe unter Ehre) Stolz zur Nationalität."
36
Auch ohne Bezugnahme auf kollektive Ehre kann das Verhalten des einen Einfluss auf die Ehre des
anderen haben. Dies gilt z.B. für Eltern und ihre Kinder. ,,Also wenn ich an den Begriff Ehre denke,
denk ich immer dann das meine Mutter eine Ehre auf den Spiel zu stehen hat, z.B. wenn ich rauche,
dann denkt man ja ich hab's von meinen Eltern und dann denkt man ja schlecht über meine
Mama."
37
Es gilt auch für Beziehungspartner: ,,man hört öfters von Jugendlichen (männl.), dass
wenn jemand z.B. die Freundin des einen geküsst hat, das er damit seine Ehre verletzt hat oder be-
schmutzt."
38
In gleichberechtigten Beziehungen kann das Bewusstsein für die kollektive Ehre das
Verantwortungsgefühl des Einzelnen stärken. ,,Ehre ist für mich, dass man z.B. zu seiner Familie
steht, oder auch zu seinen Freunden und dem/r Beziehungspartner/in."
39
(d) Allgemeine und besondere Ehre
Ist Ehre etwas, das man besitzt, aber durch unehrenhafte Taten verlieren kann oder etwas, das man
durch ehrenhafte Taten erst erwerben muss? Die meisten Schüler_innen sind der Meinung, dass es
normal ist, Ehre zu besitzen. ,,Hat man Respekt vor dir wirst du normal behandelt"
40
. Jedoch kann
Ehre durch ehrenhafte Taten zu- und durch unehrenhafte abnehmen. ,,Unter Ehre verstehe ich, dass
jeder Mensch seine eigene Ehre besitzt und je nachdem, wie er sich verhält, wächst oder schrumpft
sein Ehre, z.B. wenn man offen, ehrlich und freundlich ist und Respekt zeigt kann man sich seine
Ehre aufbauen aber durch keinen Respekt und Unfreundlichkeit kann die Ehre auch sehr schnell
schrumpfen."
41
Demnach wird Ehre durch gutes Verhalten erworben und kann durch schlechtes ab-
nehmen oder verschwinden. Diese Form der Ehre möchte ich als allgemeine Ehre bezeichnen. Sie
wird eher vom Einzelnen erwartet, als dass er sich damit auszeichnen könnte. Es gibt aber auch eine
Ehre, für die exzellentes, herausragendes Verhalten Voraussetzung ist. ,,Wenn man eine bestimmte
Würde trägt / etwas Besonderes gemacht hat"
42
. Diese Art von ehrenhaften Verhalten ist Gegenstand
öffentlicher Ehrungen. Ich möchte sie als besondere Ehre bezeichnen.
43
Wir müssen also unterschei-
den zwischen der allgemeinen, die man zwar verlieren kann, aber behält, wenn man sich den allge-
35 Schüler_in 3.
36 Schüler_in 16.
37 Schüler_in 4.
38 Schüler_in 2.
39 Schüler_in 19.
40 Schüler_in 6.
41 Schüler_in 14.
42 Schüler_in 9.
43 Allgemeine Ehre wurde auch als horizontale, besondere als vertikale bezeichnet, vgl. Stewart, Honor, 59f.
11

meinen Normen ehrenhaften Verhaltens gegenüber konform verhält, und der besonderen Ehre, die
man sich durch besondere Taten verdienen muss.
(e) Ehre und Moral
Wie ist das Verhältnis von Ehre und Moral? oft sind es genuin moralische Verhaltensweisen, die als
ehrenhaft bezeichnet werden (zum Wohle anderer handeln; anderen z.B. bei Mobbing helfen; Re-
spekt zeigen; ehrlich sein
44
) In anderen Fällen sind es eher Konventionen oder Rollenerwartungen
(nicht rauchen; gut in der Schule sein
45
). Von einigen dieser Konventionen grenzen sich die
Schüler_innen auch eindeutig ab (Ehre, die an die Sexualität der Partnerin oder weibliche Keusch-
heit geknüpft ist; Kopftuchtragen; Ehrenmord
46
). Die Normen der Ehre können, müssen aber nicht
moralische Imperative enthalten. Es kann auch keine klare Verbindung von moralischem Verhalten
und innerer Ehre hergestellt werden, denn wenn innere Ehre darin besteht, dass man selbst von der
Gültigkeit der Norm des Ehrenhaften überzeugt ist, nach der man handelt, besagt das noch nicht,
dass diese Norm moralisch ist. Wenn jemand von der Richtigkeit einer unmoralischen Tat völlig
überzeugt ist, erwirbt er durch diese Tat Selbstwertgefühl. Allerdings wird sie ihm wahrscheinlich
nicht als unmoralisch erscheinen, weil die Normen ehrenhaften Verhaltens seine Vorstellungen des
moralisch Richtigen prägen.
(f) Fazit
Ich habe gezeigt, dass Ehre ein soziales Phänomen mit vielen Dimensionen ist, das auch heute für
junge Menschen eine Bedeutung hat. Mit dem Begriff lässt sich das nicht voneinander zu trennende
Streben nach Reputation und Selbstwertgefühl beschreiben. Er stellt eine Verbindung zwischen in-
dividuellen und kollektiven Normen des Ehrenhaften her. Er weist sowohl egalitäre als auch hierar-
chische Momente auf. Ehre kann etwas mit Moral zu tun haben, muss dies aber nicht notwendig.
Je nach sozialem Kontext treten unterschiedliche Dimensionen in den Vordergrund. Die Schüler_in-
nen haben Ehre im schulischen, familiären, medialen und anderen Kontexten beleuchtet und Begrif-
fe von Ehre formuliert, die viele Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Im Ethikun-
terricht sollten einerseits die Unterscheidungen und andererseits ein Bewusstsein für das Gemeinsa-
me der Ehre klarer herausgearbeitet werden.
44 Schüler_innen 18, 11, 14.
45 Schüler_innen 4, 17.
46 Schüler_innen 16, 10.
12

3.2 Begriffsgeschichtliche Überlegungen
Ehre hat eine umfangreiche Begriffsgeschichte aufzuweisen, in der sie Verschiedenes in unter-
schiedlichen sozialen, sprachlichen und historischen Kontexten bedeutete. Das zeitgenössische Ver-
ständnis von Ehre wurde sowohl durch die germanische als durch die griechische und lateinische
,,Tradition" geprägt. oft vernachlässigt wird der Beitrag des nahöstlichen Diskurses. Zwar taucht in
Publikationen, die sich mit der Thematik der Ehrenmorde beschäftigen, in der Regel eine etymolo-
gische Untersuchung des Gebrauchs von Ehre z.B. im Türkischen oder Arabischen auf.
47
Ich bin
bislang aber auf noch keine Untersuchung gestoßen, welche die nahöstlichen Traditionslinien des
Begriffs mit den griechisch/lateinischen und germanisch/deutschen zusammenführt. Wie ich durch
die Schülerbefragung feststellen konnte, vermischen sich im zeitgenössischen Diskurs um die Ehre,
wie er unter Schüler_innen geführt wird, diese Traditionslinien
48
, weshalb ich hier einige Bemer-
kungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen ihnen machen möchte. Eine intensi-
ve etymologische Unterscheidung kann ich hier jedoch nicht vorlegen, wenngleich sie meiner Mei-
nung nach von besonderer Bedeutung für die Frage ist, welche Rolle Ehre heute spielt.
(a) Griechisch / Lateinische Tradition
In der griechischen Tradition wird Ehre durch zwei Begriffe ausgedrückt, timë und eudoxia. Timë ist
die Ehrung als ,,erwiesenes Zeichen der Anerkennung seines Rufs als eines um das Wohlergehen an-
derer verdienten Mannes"
49
. Aus ihr geht die endoxia (der gute Ruf) einer Person hervor, ,,das von
allen als trefflicher Mann angesehen werden"
50
. Geehrt wird und einen guten Ruf hat nach diesem
Verständnis, wer sich tugendhaft verhält. Die Ehrung ist sodann die Anerkennung, dass jemand are-
te (die Tugend) besitzt, der gute Ruf das Ansehen eines Mannes als tugendhaft.
51
Ehre war für die
Griechen mehr etwas Erworbenes, welches den Einzelnen als besonders tugendhaft herausstellte
und ihm eine besondere soziale Stellung einbrachte.
52
Auch im Lateinischen wurden die zwei Begriffe bona fama (guter Ruf) und honor (Ehrung) in Zu-
sammenhang gebracht. Den guten Ruf erwarb man als Anerkennung der ,,Trefflichkeit des verdien-
ten Mannes" durch Ehrung, wobei im Gegensatz zur griechischen timë, für die ,,Anerkennung und
47 Baxter, ,,Honor thy sister"; Schiffauer, Die Gewalt der Ehre.
48 In der Befragung verstehen einige Schüler_innen Ehre als Familienehre, andere als Individuelle Eigenschaft, einige
nehmen Bezug auf sexuelle Normen, andere eher auch Normen der Leistung usw. Im Begriffsverständnis der
Schüler_innen vermischen sich damit Elemente von Ehre, die im herrschenden Diskurs ,,modern"/,,westlichen" und
,,traditionell"/,,orientalischen" Kontexten zugeschrieben werden.
49 Reiner, ,,Ehre", 320.
50 Aristoteles, Rhetorik. De arte rhetorica <dt.>, 1361 a 25­27.
51 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 b 23­30.
52 Reiner, ,,Ehre", 320.
13

Achtung in Worten und allgemeinem Verhalten der Mitbürger genügen, ... zum honor die offizielle
Ehrung seitens einer öffentlichen Institution"
53
gehört. Damit einhergehend trat der Aspekt der Tu-
gend in den Hintergrund, da der gute Ruf sukzessiv in öffentlichen Ehren unterging, so dass Cicero
sich bemüßigt fühlte, den Begriff honestum (das Ehrenhafte) einzuführen, welchen er als innere
Sittlichkeit definierte.
54
Sowohl in der griechischen als auch in der lateinischen Tradition konnten
nur freie Männer Ehrung empfangen und einen guten Ruf haben. Sklaven, Frauen und Kinder hin-
gegen konnten diesem Verständnis nach keine Ehre erwerben.
55
In der griechisch/lateinischen Tradition überwiegt demnach das äußere Verständnis von Ehre. So ist
Ehre als der gute Ruf eine äußere, kollektive Bewertung des individuellen Verhaltens. Sie wird
durch die Ehrung erst hervorgebracht. Dies heißt jedoch nicht, dass es den Griechen und Römern
nur darum ging, Ehre zu erwerben, ohne nach dem Guten zu Streben. Das, was später als innere
Ehre bezeichnet wurde, also ein von der Meinung anderer unabhängiger Sinn für moralisch gutes
Verhalten, ist bei Aristoteles die Tugendhaftigkeit, bei Cicero das Ehrenhafte (honestum). Aus ei-
nem inneren Sinn für das Gute solle das Individuum sich tugendhaft verhalten, während die Ehrung
die Auszeichnung dieses Verhaltens durch die Gesellschaft darstellte.
(b) Germanisch / Deutsche Tradition
Ehre entstammt dem althochdeutschen era, welches in dem öffentlichen Ansehen einer Person be-
stand und dem Grimmschen Wörterbuch zu Folge eine Vorstellung der Scheu und Ehrfurcht vor ihr
enthielt.
56
,,Bei den Germanen hängt die Ehre an der Erfüllung gewisser sittlicher Mindestanforde-
rungen (beim Mann vor allem Tapferkeit), die bei jedem zunächst vorausgesetzt wird, solange er
dagegen nicht verstößt, und ohne die der freie Mann gar nicht leben kann, weshalb er bei ihrem Ver-
lust an die Wiedergewinnung sein Leben setzen muss".
57
Die Vorstellung eines ,,inneren morali-
schen Sinn (honestum)", der unabhängig von sozialen Erwartungen ist, war nach Thomas v. Aquin
bis ins 13. Jhd. nicht in den Begriff der Ehre eingegangen.
58
Erst die christliche Moraltheologie kop-
pelte Ehre eng an den Begriff der ,,inneren Sittlichkeit".
59
Im Mittelalter wurde Ehre zum Rechtsbegriff, welcher die Rechte einer Person fest an ihrer gesell-
schaftliche Position, also ihren Stand, knüpfte. Im kompetitiven höfischen Umfeld des 16. bis 18.
53 Ebd.
54 Kirchner, Regenbogen, und Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 166.
55 Roberts, ,,Honour", 503.
56 Kirchner, Regenbogen, und Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 167.
57 Reiner, ,,Ehre", 320.
58 Kirchner, Regenbogen, und Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 166.
59 Aschmann, Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre, 14.
14

Jahrhunderts wurden Ruhm und Ehre zunehmend gleichgesetzt. So ging das Streben nach Ehre in
dieser Zeit darin auf, ,,das eigene Ansehen durch Zugewinn an rein äußerlicher Reputation zu ver-
bessern. Die Aufklärung setzte dieser rein äußeren Ehre eine innere Vorstellung entgegen, die ,,un-
abhängig von anderen sein und ausschließlich vom eigenen sittlichen Urteil abhängen müsse".
60
Während Ehre bis zum Beginn der Neuzeit eine Männerangelegenheit war, bildete sich auch eine
,,Weiberehre" heraus, die jedoch im Gegensatz zur männlichen, vor allem an ihr Sexualverhalten
geknüpft wurde.
61
In der bürgerlichen Gesellschaft wurde Ehre zunehmend an Leistungen gebunden
und diente als Markierung der sozialen Position. Mit der Auflösung der ständischen Gesellschaft
konnte das Individuum nicht mehr vom Ansehen seines Standes profitieren. Stattdessen bildete sich
die Nationalehre als Kollektivehre heraus.
62
Im Nationalsozialismus wurde diese zu einer Rasseneh-
re verklärt, welche vom Individuum die Unterordnung unter die Interessen seiner ,,Rasse" forder-
te.
63
Mit der Gründung der BRD ging auch in Bezug auf die Verwendung des Begriffs Ehre eine Zä-
sur einher. Der Begriff, der vorher durch alle Gesellschaftsschichten und politischen Spektren weit
verbreitet war, wurde zum Unwort. ,,»Ehre« und Demokratie schienen Gegensätze zu sein oder
doch kaum etwas miteinander zu tun zu haben". Erst ab den 1980ern wurde er wieder salonfähig,
allerdings ,,nur jener Teilbereich des zwischen den Kriegen noch vorhandenen Bedeutungsspek-
trums (von Ehre) ..., der sich auf die durch Ansprüche irgendwelcher Kollektiva unberührbare
»Ehre« des Individuums bezieht"
64
. Mit dem Aufkommen des Integrationsdiskurses trat zunehmend
die Verknüpfung von Ehre und Gewalt in den Vordergrund, welche an häuslicher Gewalt, patriar-
chalen Familienstrukturen und ,,Ehrenmorden" in Einwanderermilieus festgemacht wurde.
65
Obwohl die Begriffsgeschichte zeigt, dass ,,Zeiten, in denen eine »innere Ehre« hoch angesehen
war, mit Phasen wechselten, in denen nahezu ausschließlich die »äußere Ehre« im Vordergrund
stand"
66
und oft beide Aspekte zugleich wirksam waren, hat der Begriff heute gewissermaßen ein
Doppelleben, als Zeichen großer Würde einerseits und archaische Gesellschaftsnorm andererseits.
60 Ebd., 15f.
61 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit (Aphorisms for wisdom of life).
62 Aschmann, Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre, 15.
63 Zingerle, ,,Die Systemehre. Stellung und Funktion von Ehre in der NS-Ideologie", 107.
64 Ebd., 96ff.
65 Ate, Der Multikulti-Irrtum - Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können, 72ff.
66 Aschmann, Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre, 16.
15

(c) Türkisch / Arabische Tradition
Im Türkisch/Arabischen Kontext beinhaltet der Begriff der Ehre ,,drei voneinander untrennbare
Werte ... eref, namus und saygi"
67
, so sind sich Ahmet Toprak und Werner Schiffauer
68
, die führen-
den Forscher bezüglich türkischer Ehrvorstellungen im deutschsprachigen Raum, einig. eref be-
deutet Ansehen, welches durch Dienste für die Gemeinschaft erworben wird bzw. durch Schaden,
welcher der Gemeinschaft zugefügt wird, verloren geht. Männer und Frauen besitzen eref. Namus,
welches in der deutschen Diskussion oft mit Ehre übersetzt wird, kann auch als sexuelle Integrität
übersetzt werden. Sie ist an für Männer und Frauen unterschiedliche Normen des legitimen oder eh-
renhaften Verhaltens, insbesondere des Sexualverhaltens, gebunden
69
. Wer sich durch sein Verhalten
außerhalb der Norm begibt, verliert seinen namus. Das Ansehen (eref) steht in Verbindung mit dem
namus. Überschreitet ein Mann die Grenzen der sexuellen Integrität, indem er z.B. ,,obwohl er Kin-
der hat, nach anderen (verheirateten) Frauen schaut", verliert er sein Ansehen. Überschreitet eine
Frau jedoch diese Grenzen, verliert auch bei unverheirateten Frauen ihr Vater bzw. bei verheirateten
ihr Ehemann sein Ansehen
70
. Vom Familienvater wird erwartet, dass er seine Angehörigen (Ehefrau
und Kinder) unter Kontrolle hat. Verletzen sie die Normen ehrenhaften Verhaltens, wird dies als
Fehlen innerfamiliärer Autorität und als Schwäche ausgelegt. ,,Die Anerkennung der Autorität wird
im Begriff der Achtung (saygi) gedacht. Der Sohn schuldet dem Vater, die Frau dem Mann, der jün-
gere Bruder dem älteren Achtung. ... Die Einhaltung der differenzierten Regeln, mit denen Achtung
ausgedrückt wird, garantiert Gehorsam bzw. Solidarität"
71
. Das Türkische Ehrverständnis bindet das
Ansehen des Einzelnen nicht nur an sein eigenes Verhalten, sondern zusätzlich an das Verhalten der-
jenigen, die ihm zu Achtung verpflichtet sind.
Schiffauer und Toprak zeichnen damit ein Idealbild des Ehrbegriffs in der Türkei. Was die tatsächli-
chen normativen Orientierungen von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund betrifft,
so sind diese in der dörflichen Tradition wurzelnden Vorstellungen vielfach überlagert von alternati-
ven normativen Orientierungen und Quellen von Ansehen und Selbstwert. Jugendliche handeln ihre
Identität in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Wertvorstellungen aus
72
.
67 Toprak, Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer, 152.
68 Schiffauer, Die Gewalt der Ehre.
69 ,,Von der Frau verlangt die namus korrekte Bekleidung, korrektes Verhalten im Umgang mit fremden Männern,
keine vor- oder außereheliche Beziehungen usw. Handelt sie dem zuwider, so muß der Mann, um seine eigene Ehre
wieder herzustellen, sie im äußersten Fall verstoßen" Pfluger-Schindlbeck, Achte die Älteren, liebe die Jüngeren,
63f.
70 Toprak, Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer.
71 Schiffauer, Die Gewalt der Ehre, 67f.
72 Ewing, Stolen honor, 33.
16

Anhand der palestinänsischen Gesellschaft zeigt Diane Baxter, dass Ehrvorstellungen dem sozialen
Wandel unterliegen. Mit dem Begriff muhtaram / muhtarami wird der angesehene Mann bzw. die
angesehene Frau bezeichnet. Ansehen erhält man vor allem für äußere Qualitäten, wie z.B. respekt-
volles Verhalten. Das weit weniger gebräuchliche scherif / scherifa ist die Bezeichnung für Men-
schen mit bestimmten für Männer und Frauen jedoch unterschiedlich definierten inneren Qualitäten.
Beim Mann geht es hier vor allem um seine moralische Integrität, bei der Frau um ihre Keuschheit.
Das ein Mann oder eine Frau scherif / scherifa ist, wird jedoch vorausgesetzt und erst in der Negati-
on ausgesprochen, wenn seine / ihre moralische Integrität in Frage gestellt wird. Der Begriff `ard
bezeichnet die Familienehre, die vom Ansehen ihrer Frauen abhängt, welches durch weibliche
Keuschheit definiert ist. Dieser Begriff werde aber, so Baxter, heute kaum noch benutzt, außer beim
Schwören (,,Bei der Ehre meiner Schwester/Mutter"), wobei die Verwendung dieser Ausdruckswei-
se eher als unehrenhaft gilt. Sie zeigt eine Entwicklung auf, bei der die sexuelle Integrität als Be-
standteil von Ehre, sowie die kollektive Ehre zugunsten einer Vorstellung von Ansehen, die von
Männern und Frauen respektvolles Verhalten einfordert, in den Hintergrund tritt
73
.
Sowohl die türkische als auch die palestinänsische Tradition kennt den Begriff der äußeren Ehre
(eref, muhtaram/i) als gesellschaftliches Ansehen, welches durch besondere Verdienste für die Ge-
meinschaft erworben wird. Daneben ist auch in beiden Kontexten ein Begriff innerer Ehre (namus,
scherif/a) auszumachen, an den der Selbstwert als moralisch integres Individuum gebunden ist. Die-
se muss nicht erst erworben werden, kann jedoch durch unmoralisches Verhalten verloren gehen.
Jedoch ist die moralische Integrität nicht unabhängig von der Meinung anderer und wird von der
Gesellschaft beobachtet und evaluiert.
(d) Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Anhand der begrifflichen Unterscheidungen, die ich im Abschnitt 3.1 gemacht habe, möchte ich
kurz Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen zuvor dargestellten Einflüsse, die den
zeitgenössischen Begriff der Ehre unter Jugendlichen prägen, diskutieren.
Kategorial stellt Ehre in den meisten der untersuchten sprachlichen Kontexte eine Eigenschaft dar
und kann als solche mit Ansehen oder gutem Ruf oder als Bezeichnung mit dem Begriff Ehren-
Mann/-frau (palästinensischer Kontext) paraphrasiert werden. Dort wo Ehre eher als etwas durch
gute Taten Erworbenes verstanden wird (besondere Ehre: griechischer, römischer und spätmittelal-
terlich bis heutiger deutscher Kontext), tritt die Ehrung als etwas, welches das Individuum durch
seine Mitbürger oder öffentliche Institutionen erfährt, hinzu. Wo Ehre nicht erworben, sondern be-
73 Baxter, ,,Honor thy sister", 743.
17

wahrt bzw. verloren wird (allgemeine Ehre: germanischer, türkischer, palästinäsischer Kontext),
fehlt dieser Begriff, weil diese Ehre nicht durch Ehrung zugesprochen wird. Das ehrenhafte Tun ist
im griechischen Kontext die Tugend, die durch von der Ehrung unabhängige moralische Normen
bestimmt ist. Erst Cicero hat einen eigenen Begriff des Ehrenhaften vorgeschlagen, als eine Norm
ehrenhaften Verhaltens. Durch die christliche Moralphilosophie wurde der Begriff der inneren Ehre
zunehmend mit moralischem Verhalten gleichgesetzt. Während im türkischen und palästinensischen
Kontext die äußere Ehre nicht notwendig an moralische Regeln gebunden ist, ist die innere Ehre
(namus, scherif) an Normen der Sittlichkeit gebunden, die moralischen Charakter haben.
Ebenso gibt es in fast allen untersuchten Kontexten die Unterscheidung zwischen Reputation und
Selbstwert als Handlungsmotiv. Nur in der Antike wurde Ehre auf Reputation reduziert, die der Ein-
zelne durch tugendhaftes Verhalten erwirbt. Sein Selbstwert war eher an sein tugendhaftes Verhalten
(bzw. ehrenhaftes Verhalten bei Cicero), als an den Erwerb von Ehre geknüpft, wenn auch Letzteres
aus Ersterem zu folgen hatte. Dort wo Ehre mit sittlichem Verhalten gleichgesetzt wurde bzw. wird,
ist auch der Selbstwert stärker an die Ehre geknüpft. Die untersuchten zeitgenössischen Ehrkonzep-
tionen kennen beide Dimensionen der Ehre als Streben nach Reputation (äußere Ehre, eref, muhta-
ram) und Selbstwert (innere Ehre, namus, scherif).
Im antiken Kontext ist Ehre eher eine individuelle Angelegenheit unter gleichen freien Männern. Bei
den Germanen hingegen war Ehre Stammesehre. Im deutschen Kontext gibt es sowohl die kollektive
als auch die individuelle Ehre. Kollektive Ehre bezog sich auf Familie, Stand und Nation und hatte die
Funktion, sozialen Zusammenhalts und Solidarität unter den Mitgliedern zu stiften. Gleichzeitig gab
es auch schon immer eine Vorstellung individueller Ehre, die von Männern höheren Standes durch be-
sondere Taten erworben werden konnte. In der zeitgenössischen deutschen Diskussion wird der Be-
griff Familienehre nur unter Bezug auf Einwander_innen verwendet, wenngleich, wie die Befragung
der Schüler_innen zeigt, auch in deutschen Familien das Verhalten von Kindern das Ansehen der El-
tern beeinflusst. Der Begriff der nationalen Ehre ist seit dem Zweiten Weltkrieg tabuisiert und kollek-
tive Identitäten werden eher durch den Begriff Nationalstolz ausgedrückt. Auch im türkischen und pa-
lästinensischen Kontext gibt es eine Vorstellung individueller Ehre (eref, muhtaram), die Männer und
Frauen durch respektvolles Verhalten als Ansehen in der Gemeinschaft erwerben. Die moralische In-
tegrität (namus, scherif/a) hat sowohl einen individuellen Aspekt, als auch einen kollektiven. Einer-
seits besitzt sie, wer sich individuell den Normen der Sittlichkeit entsprechend verhält, andererseits
hat das eigene Verhalten auch Einfluss auf die Ehre anderer (Familienmitglieder, Partner). Wie Diane
Baxter zeigt, wird auf kollektive Ehre als Familienehre zunehmend weniger Bezug genommen.
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783958205239
ISBN (Paperback)
9783958200234
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Stigmatisierung Migration Diskurs Ehrenmord Orientalismus

Autor

Felix Mayer ist angehender Lehrer in den Fächern Ethik und Sozialkunde. Im Rahmen seines Studiums der Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Regensburg, der Marmara-Universität Istanbul, der Humboldt-Universität sowie der Freien Universität Berlin sind mehrere Veröffentlichungen entstanden. Inhaltlich geht es dabei um Fragen der Ethik, der multikulturellen Gesellschaft und interkultureller Pädagogik. Neben seinen Studieninhalten waren auch seine Studien- und Arbeitsaufenthalte in der Türkei, seine pädagogischen Erfahrungen an verschiedenen Schulen in Berlin und in Balikesir, Türkei, sowie sein Engagement bei einem Berliner Mentoring-Projekt prägend für den Autor und stellen einen wichtigen Einflussfaktor für seine bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen dar.
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Titel: Ehre als Thema im Ethikunterricht: Ein komplexes soziales Phänomen jenseits von Stereotypen
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