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Vom Lebkuchenhaus und seiner Bewohnerin: Die Hexe im Märchen

©2009 Magisterarbeit 77 Seiten

Zusammenfassung

Sie ist alt, böse, hässlich und kann zaubern - Schon die ganz Kleinen wissen, wie die Hexe im Märchen aussieht und welche Rolle sie spielt. Keine Frage also, sie ist der Bösewicht des deutschen Märchens. In über 50 Märchen der Brüder Grimm, einem Drittel aller Kinder- und Hausmärchen gehört sie zum festen Inventar, wird das Märchen durch die Hexe geprägt. So weiß auch jeder, dass sie Hänsel und Gretel in ihr Lebkuchenhaus lockt, um sie zu fressen. Doch warum tut sie das? Wer ist die Märchenhexe eigentlich, in welchem Zusammenhang steht sie mit der Volkshexe und wie ist sie zu einer der wichtigsten Figuren im Märchen geworden? Möglicherweise ist sie auch eine Erfindung der Brüder Grimm, aber was haben Frau Holle, Stiefmütter und eine russische Märchenfigur namens Baba Jaga mit ihr zu tun? Die so einfach gestrickt zu scheinende Märchenhexe ist ein Wesen mit vielen Gesichtern. In diesem Buch wird hinter ihre schaurige Visage geblickt, die Bedeutung des Begriffs Hexe entschlüsselt und ihre Rolle in verschiedenen Märchen analysiert, um herauszufinden, wer die Märchenhexe wirklich ist. Ist sie nur die böse Alte mit kannibalischen Absichten oder steckt doch mehr dahinter?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Die Märchenhexe

Die Märchenhexe ist eine bedeutende Figur innerhalb der Märchen der Brüder Grimm, in über 50 Texten tritt sie in Erscheinung.

Man kann die Hexe als Wesen bezeichnen, als jemand, der sich auf der Grenze zwischen dem dämonischen und dem menschlichen Bereich befindet. Rein äußerlich ist sie ein Mensch, zumeist kein sehr schöner aber doch ein menschliches Wesen, während ihre dämonische Seite durch ihre Zauberkräfte geprägt ist. Während der Begriff Hexe vielfältig ist und sich wie beschrieben sehr weit fassen lässt, ist die Gestaltung der Hexe zumeist sehr auf bestimmte Aussehensmerkmale beschränkt.

Ihr Äußeres kann sehr schön sein, in den meisten Märchen ist die Hexe jedoch hässlich. Sie ist eine steinalte Frau, die auf eine Krücke gestützt umherschleicht. Ihre Hautfarbe hat einen gelblichen Ton, sie hat dürre Hände, einen ausgemergelten Körper und eine Warze auf der Nase. Ihr Blick aus zumeist roten Augen ist stechend und ihr Lachen böse und voller Hohn. In vielen Märchen ist sie von einer oder mehreren Katzen umgeben, die ihr in einem Märchen auch als Flughilfe dienen.

Dieses hässliche Äußere entspricht in den meisten Fällen dem Charakter der Hexe. Eine Hexe erkennt man an ihrer Boshaftigkeit, denn diese ist ihr zentrales Kennzeichen. Hass, Neid und Hochmut sind der Ursprung für ihre Handlungsweisen. Ihr Handeln ist deshalb auf das Bestrafen und Peinigen von anderen ausgerichtet, wobei die Methoden äußerst vielfältig sind. Im Mittelpunkt steht die Verzauberung von Menschen in Gegenstände vor allem jedoch Tiere. Auch das Brauen von giftigen Getränken und anderen verhexten Mittelchen gehört zu ihrem hexerischen Repertoire.[1]

Charakteristisch für die Hexe im Märchen ist zudem ihr kannibalisches Wesen.[2]

Einige Hexen in den Märchen der Brüder Grimm haben kannibalische Züge, die sie in ihrem Vorhaben vorantreiben, Kindern aufzulauern, Menschen zu zerstückeln und zu verspeisen und sie wie im Märchen „Hänsel und Gretel“ vorher noch zu mästen.

Die Forschung zeigt, dass dieses Motiv im Märchen erst verarbeitet wurde, als die Zeit des Kannibalismus längst vorüber war. Die Frage nach der Zuweisung der Hexe als Kannibalin lässt sich durch die Sichtung verschiedener Volkserzählungen eindeutig festlegen.

In allen Volkserzählungen besitzt der Menschenfresser das Attribut „böse“ und Verbrechen dieser Art werden nur dämonischen Figuren zugetraut. Nach dem Volksglauben trugen im Volk als Hexe geoutete Menschen kannibalische Züge,[3] da diese ihre zauberischen Fähig­keiten durch kannibalisches Vorgehen in sich aufnahmen.[4] Diese Vorstellung wurde auf die Märchen übertragen und die Hexe zum Kannibalen erklärt. Die der Hexe in ihren Handlungen zugesprochene Grausamkeit lässt sich in ihrer kannibalischen Vorgehensweise somit im Besonderen nachweisen.[5]

Die Macht und die zauberischen Fähigkeiten der Hexe scheinen unendlich und dieser Schein der Unbesiegbarkeit verleiht ihr zudem den Charakter der Unsterblichkeit.

Nur der Held des Märchens ist in der Lage die Hexe zu bezwingen. Wenn es ihm gelungen ist, bedeutet das in der Konsequenz des Märchens den Tod der Hexe. Nur dann kann ihr Zauber gebrochen und ihre Macht aufgehoben werden.

Nicht nur die zauberischen Methoden der Hexe sind zahlreich und grausam sondern auch die Todesarten denen sie erliegt. Die Todesarten der Märchenhexe verweisen sehr oft auf ihre historische Vergangenheit. Neben der Hexenverbrennung im Märchen war auch zur Zeit der Hexenverfolgung das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen eine vermehrt angewendete Todes­art. Zudem findet das Ertränken in den Märchen Anwendung, wobei die Hexe in ein Fass gesteckt wird, das in vielen Fällen mit Nägeln versehen ist. Auch das Aufhängen, Köpfen oder Erschlagen lässt sich in den Märchen als Todesursache der Hexe finden. In manchen Fällen wird sie auch in eine Schlangengrube geworfen, im Meer ausgesetzt oder auf ein Schiff gebracht, das mit Löchern präpariert wird.[6]

Die Hexe wohnt in den meisten Märchen alleine in einem Häuschen im Wald, das mit dem Zusatz verwünscht oder verzaubert versehen wird. Aus volkskundlicher Sicht stellt das Hexenhaus oder auch Knusperhäuschen eine Verbindung zum Herbergswesen vergangener Zeiten her. Damals bot es den Vorüberkommenden Schutz und für die Nacht ein Dach über dem Kopf. In den Märchen wird diese Funktion nur als Vorwand genutzt, um die Vorbei­kommenden zu ködern. Das einladende Äußere vermittelt das Gefühl von Schutz, Geborgenheit und dem Wissen, das Hungergefühl bekämpfen zu können. Das Haus wird somit zweckentfremdet und ist nur dem Anschein nach eine Herberge.

Das Häuschen strahlt eine Anziehungskraft aus und wirkt auf die Besucher als Köder, insbesondere im Märchen von „Hänsel und Gretel“ ist es als Zuckerhäuschen in erster Linie zweckbestimmt. Die Macht und das unheimliche Wesen der Hexe haben sich auf das Haus übertragen und lassen es für Besucher zur Falle werden. Der Wirkungsbereich der Hexe geht jedoch über ihr Häuschen hinaus. Auch der Wald ist zu ihrem Territorium geworden.[7]

Neben dem Hexenhaus ist auch der Wald untrennbar mit der Figur der Hexe verbunden und dient als Symbol für eine magische Welt, die außerhalb der realen, menschlichen Welt liegt. Der Wald ist der dämonische Bereich der Hexe, der alle gefangen nimmt und in eine magische Welt führt, die ihn betreten.[8]

Wilhelm Grimm sieht den Wald und dessen Stimmung als wesentliches Merkmal des deutschen Volksmärchens. Das dunkle, unheimliche, dämonische wird für die Handlung des Märchens zum wichtigen Inventar. Der Wald wird zu einem Netz, das sich um die Ein­dringenden webt und sie gefangen nimmt. Die Märchenhexe ist auf untrennbare Weise mit dem Wald verbunden und ihr dämonischer Charakter tritt besonders deutlich in Erscheinung, weil auch sie diese Attribute in sich vereint.

Indem der Wald die negativen Attribute der Hexe verstärkt, ist er neben dem Hexenhäuschen zum Inventar der Hexe geworden. Da sie untrennbar mit der Hexe verbunden sind ver­vollständigen diese Symbole das Hexenbild.

Die Darstellung des Hexenbildes im Märchen bringt die Unterschiede zwischen Volkshexe und Märchenhexe deutlicher hervor. Im Vergleich zur Märchenhexe kann für die Volkshexe kein Bezug zu den Wäldern hergestellt werden. Dieser und andere durch das Märchen geprägte Unterschiede lassen erkennen, dass die Hexe des Märchens ein eigener Typ gewor­den ist und innerhalb des Märchens eine ihr zugedachte Rolle erfüllt.[9]

Demnach ist die Märchenhexe zum Gegenstand vieler Deutungsversuche geworden und ihr Wesen und Handeln sind oft in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Mit ihr haben sich die Deuter intensiver auseinandergesetzt als mit vielen anderen Märchenfiguren. Die Deutungen sind deshalb zahlreich und auf viele Deutungsrichtungen verteilt. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden ist das Aufzeigen der wichtigsten Deutungsergebnisse von Interesse.

Viele Deutungen beziehen sich auf den Zusammenhang zwischen Volks- und Märchenhexe und sehen in der Märchenhexe ein Überbleibsel des Hexenbegriffs zur Zeit der Hexen­verfolgung.[10]

Der nationalistischen Deutungsrichtung entsprechend lässt sich nach Werner von Bühlow die Hexe im Märchen auf die historische Hexe der Hexenverfolgung zurückführen. Sie ist eine Verteufelung der germanischen Gottesvorstellung, eine Reinkarnation des Bösen. Anderer­seits nimmt sie eine Hauptrolle in den Kindermärchen der Brüder Grimm ein und vermittelt den jungen Lesern ein abschreckendes Beispiel. Sie überträgt eine einfache Kinderstuben­moral und spiegelt somit den Charakter einer Zeit wider.[11]

Auf dieser Herkunftszuweisung aufbauend nimmt die Hexe für viele Deuter eine wichtige Stellung innerhalb des Märchens ein. Die Herkunft der Märchenhexe scheint somit unum­stritten, die Entwicklung zu einer eigenständigen und von einem alten Hexenbegriff weit­gehend unabhängigen Figur wird von den Deutern bestätigt.

Eine weitere Deutungsgrundlage, um das Wesen der Hexe zu bestimmen, ist die literatur­wissenschaftliche – volkskundliche Sicht. Ihr bekanntester Vertreter, Max Lüthi, sieht in der Figur der Hexe keinen Menschen mit guten und bösen Seiten sondern ausschließlich die Verkörperung des Bösen.[12]

Nach Erich Wulffens juristisch-kriminalistischer Deutung ist das Volksmärchen von einem ständigen Kampf zwischen Gut und Böse geprägt. Die Hexe nimmt den Part des Bösen ein und handelt gegen alle Gesetze. Sie dient dem Leser als abschreckendes Beispiel, als Anschauungsobjekt, wie man sich nicht zu verhalten hat.

Da sie ein bestimmtes Rollenmuster ausfüllt, hat sich die Märchenhexe für das Märchen und dessen Inventar zu einer wichtigen Figur entwickelt.[13]

Die Vervollständigung des Hexenbildes

Um dazustellen wer die Märchenhexe ist, welches Hexenbild sie nach außen hin verkörpert, genügt es nicht die Hexe nach dem Maßstab des Wortes Hexe zu nehmen.

Es ist nicht ausreichend nur die als Hexe bezeichneten Figuren in den Vordergrund zu stellen. Für das Vervollständigen des Hexenbildes spielen weitere Figuren eine große Rolle. Denn in mehr als einem Fünftel der Grimmschen Märchen kommen Gestalten vor, die nicht als Hexen bezeichnet werden sondern in ihrem Wesen und Aussehen der Figur der Hexe entsprechen und die aufgrund ihrer hexerischen Züge miteinbezogen werden müssen.[14]

Nicht nur der Vorrat an Hexenfiguren ist umfangreich sondern auch das Bild der Hexe, ihr Charakter, ist vielschichtig. Um diesem Umfang und der Vielschichtigkeit gerecht zu werden, um zu bestimmen, wer die Märchenhexe ist und welche Eigenschaften sie vereint, hat Sigrid Früh das Hexenbild in drei Arten unterteilt. Dazu zählen die Vernichtende und Bedrohende, die Hilfreiche und Heilkundige und die mythischen Gestalten.[15]

Die Vernichtende und Bedrohende

Die bekanntesten Märchen zeigen die Hexe als vernichtend und bedrohend. Sie ist in den meisten Fällen eine mit magischen Fähigkeiten ausgestattete böse Alte, die ihre Fähigkeiten nur einsetzt um anderen Schaden zuzufügen. Dieses Hexenbild als Überbleibsel vergangener Tage hat sich im Märchen verfestigt und die Hexe zum Kinderschreck werden lassen. Die Märchenhexe, wie sie zu Beginn des Kapitels dargestellt worden ist, lässt sich dieser Kate­gorie zuordnen. Denn diese Figur ist grundlegend mit dem Attribut „böse“ zu beschreiben. In den Märchen, in denen die Hexe als Vernichtende und Bedrohende auftritt, ist sie aus­schließlich mit diesem Wesensmerkmal versehen.[16]

Eine Figur, die lediglich als Vernichtende und Bedrohende in Erscheinung tritt, ist in der Stiefmutter zu sehen. In vielen Märchen der Brüder Grimm gelten Stiefmütter als Ursprung des Bösen, sie zählen zu den denkwürdigsten Bösewichten des Märchens. Ausschließlich der Titel Stiefmutter versieht sie mit der Kennzeichnung als Bösewicht und die Formulierung „böse Stiefmutter“ ist zum festen Inventar innerhalb des Märchens geworden.[17]

Dr. Werner Lincke hat sich mit der Entstehung von Märchenmotiven auseinander­gesetzt. Seine Forschung zu diesem Thema hat er anthropologisch ausgerichtet. Seiner Meinung nach verdeutlicht die Lehre vom Menschen, dass nicht alle Übereinstimmungen, die sich bei verschiedenen Völkern innerhalb der Motivik des Märchens zeigen, Ergebnisse eines Ab­schreibevorgangs sein können. Aus dem gleichen menschlichen Grundgedanken sind bei verschiedenen Völkern die gleichen Motive unabhängig voneinander entstanden. Die gemein­schaftlichen Grundlagen sind bei allen Völkern gleich, da sie an menschlichen Urbeziehungen ausgerichtet sind. Das Märchen ist somit oft zeitlich und örtlich verankert und hat seine Ursprünge innerhalb eines bestimmten Volkes. Andere Märchenmotive finden sich jedoch in allen Märchen zu jeder Zeit und an jedem Ort.

Das Stiefmuttermotiv ist sehr beliebt und bei vielen Völkern innerhalb des Märchens zu einem festen Bestandteil avanciert. Urbeziehungen zwischen Mutter und Kind oder zwischen Frau und Mann sind eine beliebte Grundlage für ein Märchenmotiv. Denn die Urbeziehung zwischen Mutter und Kind, eine menschliche Wechselbeziehung, existiert überall auf der Welt und wird deshalb gerne von den Märchen aufgegriffen. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind wird auf die Beziehung zwischen Stiefmutter und Stiefkind übertragen. Die Stief­mutter nimmt den Platz der Mutter ein und eine Wechselbeziehung entsteht. Das Stiefmutter­motiv hat sich demnach im Laufe der Zeit zu einem bekannten und oft verwendeten Motiv entwickelt, das als Grundgerüst für ein Märchen dienen kann.[18]

Nach der Enzyklopädie des Märchens ist die Herkunft der Stiefmutter als Motiv enger mit ihrer Rolle in der Gesellschaft historischer Zeiten verbunden. Im europäischen Märchen war das Dargestellte oft auf die Kleinfamilie begrenzt und die Familie des Helden stand deshalb im Mittelpunkt des Geschehens.[19]

Auch hier zeigt sich die Bedeutung der Urbeziehungen für das Märchen. Die Enzyklopädie versucht jedoch geschichtlich nachzuweisen, warum die Mutter durch die Stiefmutter ersetzt wurde und sich die Beziehung zwischen Stiefmutter und Kind zu einem solch zentralen Motiv entwickelte. Geschichtlich führte eine hohe Müttersterblichkeit dazu, dass der Stiefmutter eine wichtige Rolle innerhalb der Familie und des Märchens zukam. An die Stelle der Mutter trat die Stiefmutter. In polygamen Kulturen nahm die Zweitfrau die Rolle der Stiefmutter ein.

Im europäischen, vor allem aber im deutschen Märchen ist das Stiefmuttermotiv jedoch erst seit zwei Jahrhunderten konsequent vertreten.

Die Brüder Grimm haben durch die Bearbeitung ihrer Märchen die Stiefmutter in die Märchen gebracht und zu ihrer Verbreitung verholfen. In allen Märchen wird sie mit dem Attribut „böse“ versehen.[20] Motiv für die Einführung und die Zuschreibung „böse“ war die Ansicht, leiblichen Müttern habe nicht das Attribut „böse“ zu zustehen.[21] Die Stiefmutter wurde zur Märchenfigur und mit dem Zusatz versehen, ausschließlich böse Stiefmutter zu sein.[22]

Die Erklärung der Enzyklopädie, den Ursprung der bösen Stiefmutter in der Vorstellung der Brüder Grimm von der Gutmütigkeit der Mutter und der Boshaftigkeit der Stiefmutter zu sehen, reiht sich schlüssig in die Motivwerdung der Stiefmutter ein.

Doch auch der Ursprung des Begriffs der bösen Stiefmutter lässt weitere Erklärungen zu.[23] Viele Erklärungen basieren jedoch ausschließlich auf Vermutungen und sind für diese Ausführungen nicht von Bedeutung. Auch ein mythologischer Ursprung des Stiefmutter­motivs ist innerhalb der Forschung umstritten.

Franz Vonessen deutet das Motiv der bösen Stiefmutter mythologisch. Diese Deutungs­richtung hat ihren Ursprung Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts.

Er möchte, dass die Mutter im Märchen in der richtigen Weise aufgefasst und verstanden wird. Deshalb erachtet er es als sinnvoll, den Glauben an die Mutter, auf den sich das Märchen stützt, zu erkennen und zu verstehen. Die Mutter der Menschen ist, auf den alten Glauben begründet, die Erde. Das „Stief“ in Stiefmutter bedeutet etymologisch „bistiufen“, was aus dem althochdeutschen kommt und „berauben“ bedeutet. Nach Vonessen ist die Stiefmutter deshalb nur der Form, dem Wortstamm nach, eine Mutter. Sie enthält dem Kind das Mütterliche, beraubt es ihm und muss somit den Zusatz „böse“ erhalten.[24]

Diese mythologische Begründung des Stiefmutter-Motivs bestätigt die Ansicht Werner Linckes, die Stiefmutter in ihrem Ursprung nicht als Hexe zu sehen. Die Bezeichnung der Stiefmutter als Hexe ist wie das Wort Stiefmutter selbst erst später in viele Märchen eingefügt worden.

Obwohl er in ihrem Ursprung eine von der Hexe unabhängige Figur sieht, stimmt er der Auf­fassung Friedrich von der Leyens zu. Von der Leyen sieht in der Stiefmutter eine Hexe, da die Stiefmutter in nahezu allen Märchen mit Zauberkünsten ausgestattet ist.[25]

Auch Vonessen positioniert Stiefmutter und Hexe auf eine Ebene und sieht in den beiden Figuren ein und dieselbe Person.[26]

Obwohl die Stiefmutter im Ursprung wohl keine Hexe war, sind sich auch andere Märchen­forscher weitgehend einig, dass die Stiefmutter zumeist identisch mit der Figur der Hexe ist und dass beide einen negativen Frauenstereotyp verkörpern. Charaktermerkmale stimmen überein und lassen eine Verwandtschaft zwischen Hexen und Stiefmüttern im Märchen nicht bezweifeln.[27] Die Stiefmutter ist in allen Märchen, in denen sie eine Rolle spielt, mit negativen Attributen ausgestattet, sie verkörpert das böse Prinzip. Zudem wird sie in den meisten Märchen als Hexe bezeichnet und mit magischen Kräften versehen.

Für den Verlauf der Handlung kann sie durchaus unterschiedliche Funktionen besitzen. Ob sie jedoch das Eingangsmotiv stellt, die Kontrastfigur der Heldin ist oder zwischendurch in das Geschehen eingreift, so tut sie das immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Sie greift in das Leben ihrer Stiefkinder ein und versucht dieses zum Negativen zu wandeln. Während die Hexe keinen sozialen Bezug zu ihren Opfern hat, steht die Stiefmutter in direktem Bezug zu ihnen, ist ihr Opfer zumeist das Stiefkind.

Der Ursprung für ihren Hass ist zumeist in der Schönheit und dem Neid darauf zu sehen. Das macht sie zum Gegenbild einer guten Mutter, da sie nur Liebe für ihre Kinder, in den meisten Fällen für ihre Töchter, empfindet. Diese Stiefschwestern werden zu Rivalinnen der Heldin, vor allem wenn sich das Geschehen um die Liebe eines Mannes dreht. Die Stiefmutter wird zur Anstifterin, um eine Beziehung zwischen dem Auserwählten und der Heldin zu verhin­dern. Sie tut alles um ihrem Stiefkind das Leben zu erschweren. Schwere, zum Teil nicht zu erfüllende Arbeit, Misshandlungen, Spott und Bestrafungen sind in den Märchen an der Tagesordnung.

Alles mit dem Ziel, die ungeliebte Nebenbuhlerin zu beseitigen, um den Vorteil für die eigenen Töchter nutzen zu können. Ihre Mittel sind rücksichtslos aber äußerst erfinderisch. Garn muss in einem gefrorenen Teich gewaschen, Erdbeeren im Winter gesucht und die guten Linsen von den schlechten getrennt werden.

Hat die Stieftochter das Glück gefunden und der Prinz sich in sie verliebt, so ist es die Stiefmutter, die versucht es wieder zu zerstören. Bis zuletzt kann sie jeden Verdacht von sich und ihren Töchtern weisen, doch am Schluss wird sie enttarnt und zumeist mit dem Tod bestraft.[28]

Die Ähnlichkeit zur Hexe wird vor allem durch das Märchen „Vom Machandelboom“[29] deutlich, in dem die Stiefmutter als Hexe vorgestellt wird. Sie schlägt ihrem Stiefsohn mit dem Truhendeckel den Kopf ab, schlachtet den Jungen und bereitet dem Vater aus den Überresten seines Sohnes das Abendessen.

Die Ähnlichkeit zur Hexe liegt hier nicht vordergründig im Aussehen und der Gestalt oder an einem ausgeführten Zauber, sondern an der Grausamkeit die gezeigt wird. Die Kaltblütigkeit mit der vorgegangen wird und die Vorgehensweise spiegeln sich im Märchen von „Hänsel und Gretel“ wider.[30] Auch die Hexe in „Hänsel und Gretel“ versucht Hänsel auf grausame Art zu töten, um ihn anschließend zu verspeisen.

Obwohl die bekannten Märchen der Brüder Grimm nur dieses einseitige Bild zeichnen, stellt diese Darstellung nur einen Aspekt ihres Charakters, beleuchtet sie nur eine Facette ihres Wesens.[31]

Die mythische Gestalt

In einigen Märchen treten mythische Gestalten auf, die das Bild der Hexe vervoll­ständigen. Die mythischen Figuren im Märchen entstammen einer vorchristlichen Zeit der Götter und Göttinnen. Eine dieser mythischen Gestalten zeigt sich in einem Grimmschen Märchen in der Figur der Frau Holle.[32]

Heide Göttner-Abendroth und Sonja Rüttner-Cova sehen in ihr die „Große Mutter­göttin“. Eine vorgermanische „Erd- und Unterweltsgöttin“, die Herrin über Leben und Tod. Als Erd­göttin verkörpert sie das Urbild des Guten, Fruchtbaren, Gerechten und Mütterlichen, ihr Wesen als Unterweltsgöttin zeigt sie ausschließlich als Todesbringerin mit erschreckenden Zügen.

Der matristischen Gesellschaft entsprechend zeigt sie sich in ihrer Ambivalenz, wird die Doppeldeutigkeit dieser Göttin deutlich. Denn auch sie vereint noch sowohl die guten als auch die bösen Eigenschaften in sich.[33]

Ihr Wesen und Handeln ist vor allem in den Initiationsriten begründet. Initiation bedeutet Einführung in magische und religiöse Riten und wird von Frau Holle durch die Initiierung der beiden Mädchen in die Aufgabe des Ackerbaus (Brot), der Pflanzenzucht (Apfelbaum), der Tierzucht (Kuh) und der Magie (Wetter machen) geleistet.[34]

Ihr Wesen als ganzheitliche Göttin zeigt sich in der durch Symbole versetzte Thematik des Märchens. Der Fall in den Brunnen, der normalerweise zum Tod durch Ertrinken führt, steht symbolisch für den Fall in das Todesreich, die Unterwelt. Apfelbaum, Kuh und Backofen sind Fruchtbarkeitssymbole, die sie als Erdgöttin kennzeichnen. Vervollständigt wird ihre Figur durch ihre Darstellung als Göttin des Himmels, die, durch das Ausschütteln der Betten, Schnee auf die Erde rieseln lässt.

Dass sich dieser Gegensatz noch in der Figur der Frau Holle vereint, lässt sie als Überbleibsel einer matristischen Zeit erscheinen. Der Unterschied zur Figur der Hexe, die sich entweder gut oder böse zeigt, ist demnach groß und eine Verbindung nicht auf den ersten Blick ersichtlich.[35] Attribute des heutigen Hexenbildes können jedoch durch die dunkle, böse Seite der Frau Holle wahrgenommen werden.[36] Trotz eines anderen durch die Märchenwelt vermittelten Eindrucks, lässt sich Frau Holle zu den Märchenhexen zählen.[37]

Den Vorgang der Initiation, einen mythologisch begründeten Ritus, findet man zudem im Märchen von „Rapunzel“[38]. Die „böse Alte“ nimmt in diesem Märchen eine Rolle als „Unterweiserin“ wahr. Ihre Aufgabe besteht im Schutz Rapunzels, da diese noch nicht ge­schlechtsreif ist und als Konsequenz von der Außenwelt abgeschottet werden muss. Ein­gesperrt in einen Turm, ist es nur einem Prinzen möglich sie zu befreien.[39]

Die Hilfreiche und Heilkundige

Neben der Hexe als Vernichtende und Bedrohende und ihrer Erscheinung als mythische Figur gibt es nach Sigrid Früh noch die Kategorie der Hilfreichen und Heilkundigen, aus der die Hexenfigur entstammen kann.

In diese Kategorie aufnehmen lässt sich die „gute Alte“, das „Mütterchen“ oder eine nur mit dem Begriff „Alte“ versehene Figur.[40] Auch die gute Alte erscheint in den Märchen in fast ebenso großer Zahl wie die bösen Hexen, ihre Handlungen sind jedoch beschränkt und ihre Rolle ist für das Geschehen von geringer Bedeutung. Die Erwähnung von Aussehens- und Charaktermerkmalen spielt deshalb eine geringe Rolle. Ihre Handlung beschränkt sich auf die Befreiung des Märchenhelden aus einer misslichen Situation. Ihren Zauber wendet sie nur an, wenn es dem Schutz des Helden dient.[41]

Die Alte oder die böse Alte nimmt in den Märchen zumeist eine Rolle als Unterweiserin wahr. Im Unterschied zu Hexe und Stiefmutter tut sie jedoch nichts Böses, um ihre böse Seite auszuleben, um anderen zu schaden, sondern sie erfüllt eine Aufgabe. In „Rapunzel“ fungiert sie als Einführende, die Rapunzel in einem Turm versteckt hält.

Obwohl die Initiation mythologisch begründet ist, hat Lutz Röhrich Parallelen zwischen der bösen Alten und der Unterweiserin, meist einer alten Frau, bei einigen Naturvölkern her­gestellt. Nach einem Ritus leben Mädchen, die sich noch nicht in dieser Phase befinden, abgesondert und vom Rest des Volkes isoliert. Nach Eintreten der ersten Menstruation werden sie für einige Zeit in eine Pubertätshütte gebracht.[42]

Das Wesen und die Erscheinung der Hilfreichen und Heilkundigen wird vor allem durch ihren Einsatz von weißer Magie geprägt. Die schon in der Antike vorgenommene Unterscheidung zwischen schwarzer und weißer Magie lässt sich auch auf das Hexenbild des Märchens anwenden. Während den vernichtenden und bedrohenden Hexengestalten der Einsatz von schwarzer Magie zugesprochen wird, sind es die Taten der Hilfreichen und Heilkundigen, die sich durch weiße Magie auszeichnen. Sie setzen ihre Magie ein, um Kranke zu heilen und Gefahren abzuwenden. Eine Verbindung zur matristischen Gesellschaft und den Aufgaben die die Frauen vor allem im Bereich des Gesundheitswesens wahrnahmen liegt sehr nah.

Die hilfreichen und heilkundigen Hexen können somit als Überbleibsel des Wandels von der matristischen zur patriarchalischen Gesellschaft angesehen werden.[43]

Obwohl die guten Alten häufig einen Platz im Märchen einnehmen, ist von ihrer Rolle als heilkundige Frau nur noch wenig vorhanden. Ihre Funktion als Wetterhexe und die Ausübung von Fruchtbarkeitszaubern spielt in den Märchen kaum mehr eine Rolle.

Die Zauberkräfte und Fähigkeiten aus der matristischen Zeit, wozu die Chirurgie und die Kräuterkunde zählen, werden nur noch negativ, in Form von schwarzer Magie gebraucht. Diese Erkenntnis weist darauf hin, dass, bis auf wenige Ausnahmen abgesehen, fast alle Hexen der Kategorie der Vernichtenden und Bedrohenden zuzuordnen sind.[44]

3.1. Exkurs über das Wesen des Märchen nach Wilhelm Grimm

Die Frage nach Alter und Herkunft eines Märchens ist meist so alt wie das Märchen selbst. Immer wieder kehrt die Forschung zu dieser Frage zurück, insbesondere im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand sie im Mittelpunkt der Diskussion. Trotz unter­nommener Spekulationen und Vermutungen lässt sich diese Frage nie ganz beantworten. Aus diesem Grund kann auch die Frage nach dem Wesen des Märchens, nach dessen Motiv, nur schwer beantwortet werden. Aus vielen verschiedenen Richtungen ist versucht worden dieses Wesen zu erfassen und zu begründen, auf welchem Zweck die Märchen beruhen.[45]

Um das Wesen und die Gestalt der Kinder- und Hausmärchen zu erkennen, ist es wichtig, dass Vorhaben, die Idee hinter diesen Märchen im Ansatz zu erkennen und festzustellen welche Absicht vor allem die Brüder Grimm mit den Märchen verfolgten.

Wilhelm Grimm sieht in den Märchen einen heidnischen Ursprung. Nach ihm lässt sich der Ursprung auf den Mythos, die Götter- und Heldensagen zurückführen.

In den Märchen wurde der mythische Glaube verarbeitet und konnte durch die Einfachheit in der Darstellung auch nach vielen Jahren und vielen vorgenommenen Veränderungen wieder auf den Mythos zurückgeführt werden.[46] Für Wilhelm Grimm lassen sich die Märchen somit in der Historie zurückverfolgen, sind Abbilder einer frühen Phase in der Geschichte der Menschheit. Doch auch er ist sich der Tatsache bewusst, dass die Märchen im Verlauf der Geschichte, vor allem durch ihre mündliche Überlieferung, Veränderungen erfahren haben.

Diese Veränderungen, die durch Hinzufügungen und Streichungen geprägt waren, führten dazu, dass ursprüngliche Motive nur in geringem Maße oder gar nicht mehr zu erkennen waren. Die Veränderungen basierten vor allem auf gesellschaftlichen Veränderungen und der subjektiven Färbung durch die Märchenerzähler.[47]

Für Wilhelm Grimm bleiben die im Märchen dargestellten Grundsituationen und die Grundkonflikte des menschlichen Lebens jedoch im Grundsatz immer die gleichen. Diese wiederholen sich in jeder Gesellschaft und finden somit in jedem Märchen einen Platz.

In seiner Abhandlung vergleicht Wilhelm Grimm die Entwicklung der Menschheit in der Geschichte mit der Entwicklung jedes einzelnen Menschen. Die Menschheit passiert verschie­dene Altersstufen mit entsprechenden Denk- und Handlungsweisen, wie auch jedes mensch­liche Wesen verschiedene Altersstufen durchläuft. Da Wilhelm Grimm den Ursprung des Märchens in den Ursprüngen der Menschheit sieht, also der Ursprung des Märchens in der Kindheit des Volkes liegt, wird er in der Meinung bestärkt, dass es sich um kindgerechte Dichtung handelt. Jedes Individuum durchläuft einen Zustand des Bewusstwerdens und auch das Märchen enthält diese wiederholbare Erfahrung und ist somit unabhängig von Ort und Zeit. Neben der Absicht, die Märchen für Kinder zu schreiben, ergibt sich daraus automatisch die Bezeichnung „Kinder- und Hausmärchen“ für die Märchensammlung der Brüder Grimm. Nach Wilhelm Grimm lassen sich die im Märchen immer wieder präsenten Grundsituationen und Grundkonflikte folgendermaßen bestimmen.

Im Grundsatz des Märchens steht die Aufteilung der Welt in Gegensätze und im Mittelpunkt dessen vor allem der immerwährende Kampf des Guten gegen das Böse.

Bei dieser Aufteilung in Gegensätzlichkeit steht der Sieg des Guten im Vordergrund.

Der Sieg des Guten beruht im Märchen auf Gewissheit, da der Held, immer mit dem Attribut „gut“ ausgezeichnet, in jedem Kampf mit dem Bösen als Sieger hervorgeht. Für seinen Sieg erhält er immer eine Belohnung, während das Böse immer mit einer Strafe zu rechnen hat. Für das Märchen ergibt sich aus diesem Grundelement ein festgelegter Aufbau.

Zu Beginn des Märchens ist die Weltordnung aus den Fugen geraten, es wird eine verdrehte Ordnung oder ein unkorrektes Verhalten aufgezeigt und angeprangert. Das Märchen versucht in dessen Verlauf die Weltordnung wiederherzustellen. Nach einem Kampf oder einer Auseinandersetzung zwischen dem, der die Ordnung gestört hat und dem, der versucht sie wiederherzustellen, zwischen Gut und Böse, geht das Gute als Sieger hervor und wird belohnt und verliert das Böse und muss mit einer Bestrafung rechnen. Der Bestand an Personen ist innerhalb des Märchens deshalb stark beschränkt und umfasst vor allem Vertreter des guten und des bösen Prinzips.

Auch Wilhelm Grimm sieht in den Märchen das Konzept eines verallgemeinernden Märchen­stils, der geschaffen wird um zu polarisieren und Gut und Böse gegenüber zu stellen.[48]

Es muss berücksichtigt werden, dass die Kinder- und Hausmärchen vor allem für Kinder geschrieben worden sind und die Darstellung der charakterlichen Polaritäten dem Kind hilft, Unterschiede zwischen Gut und Böse zu erfassen. Diese Polarisierung hat Priorität, da sie als Grundlage des kindlichen Geistes zu sehen ist.[49] In der kindlichen Entwicklung hilft das Märchen vordergründig, gegen Unrecht und Gewalt zu sensibilisieren. Auch die Aspekte Angst und Angstüberwindung sind im Bezug auf das Märchen hervorzuheben. Das bewusste provozieren von Angst, um Unrecht und Gewalt besser zu verstehen und einordnen zu können, bedarf somit einer Personifizierung. Diesen Platz nehmen in den Märchen die Bösewichte ein. Die Vernichtung des Bösewichts und die damit einhergehende Vernichtung der Angst bedeutet zugleich die Befreiung von jedem überlegenen Gegner. Die Kinder lernen, sich auf ihren Verstand und ihre Fähigkeiten zu verlassen und sind aus anthropologischer Sicht fähig, ihr Leben selbstständig zu meistern.[50]

3.2. Welchen Platz nimmt die Hexe im Grimmschen Märchen ein?

Die Hexen haben nach dem Wesen der Volksdichtung einen typischen Charakter.[51] Kaum eine der vielen in den Märchen erscheinenden Hexen ist individuell, ist ein eigener Typ. Fast alle Hexen sind nach stereotypen Vorstellungen entstanden, sind nach diesen ausgerichtet worden.

Auch das Aussehen der Hexe wird in erster Linie dazu gebraucht, ihren Charakter nach außen zu kehren. Wenn die Hexe beschrieben wird und ihr Äußeres zur Sprache kommt, soll vor allem die abschreckende Hässlichkeit hervorgehoben werden. Attribute, die der Hexe zu­geschrieben werden, benutzt man, um ihre Boshaftigkeit zu betonen.[52]

Die Empfindung vom Hässlichen als etwas Abschreckendes, Böses wurde schon durch den Hexenglauben des Mittelalters hervorgehoben. Nach der Logik des Volksglaubens erscheint das Böse immer im Gewand des äußerlich Hässlichen.

Im hässlichen Äußeren befindet sich ein unheimlicher Kern, der das Irrationale, Abnormale nach außen kehrt. Ein hässliches Äußeres führt somit zu der Annahme, dahinter stecke auch ein hässliches Inneres.

Viele Frauen im Mittelalter wurden nur aufgrund ihres Äußeren als Hexe angeklagt, verurteilt und hingerichtet. Diese Vorgehensweise verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem damaligen Hexenwahn und entsprechenden Elementen der Märchenvorstellung. Man hat diese Logik des Volksglaubens auf das Märchen und die Märchenhexe übertragen. Denn auch im Märchen besteht ein Grauen vor der Hässlichkeit, wird die Hässlichkeit zum Aufhänger für einen Kampf zwischen Gut und Böse und dem daraus resultierenden Sieg für das Gute.

Das Märchen „Hänsel und Gretel“ zeigt, dass die Angst der Kinder vor der Gestalt der Hexe größer ist, als davor, von ihr beim Naschen erwischt zu werden. Es ist pures Entsetzen, das aus ihren Augen spricht und das sie dazu führt, alles blitzartig fallen zu lassen, was sie in ihren Händen hielten. Noch stärker als in „Hänsel und Gretel“ ist die negative Stimmung, das Entsetzen, im Märchen „Jorinde und Joringel“[53]. Joringel sieht dabei zu, wie seine, in eine Nachtigall verwandelte Geliebte von einer Nachteule mit glühenden, roten Augen umkreist wird, als plötzlich eine hässliche, abgemagerte Alte mit ebenfalls roten Augen aus dem Gebüsch geschlichen kommt und die Eule unter ihre Kontrolle bringt.

Die Wirkung, die diese Erzählung hat, zeigt deutlich die Empfindung, die ein solches Motiv hervorruft. Charakteristisch ist auch die Furcht vor der Freundlichkeit der Hexe. Das hässliche Äußere und das vermeintliche Bewusstsein von der inneren Hässlichkeit lassen auch bei einer freundlichen Hexe das negativ behaftete Hexenbild nicht vergessen. In „Hänsel und Gretel“ täuscht die Hexe ihre Freundlichkeit auch nur vor. Die Kinder lassen sich durch ihre negativ behaftete Einstellung nicht täuschen, sehen in der Hexe das Böse und behalten Recht.

Im Märchen „Die Gänsehirtin am Brunnen“[54] wird ein steinaltes Mütterchen, das charakter­lich nicht mit einer Hexe zu vergleichen ist, durch Nichtbeachtung zurückgewiesen. Ihr freundlicher Gruß an die, die bei ihr vorbeigehen wird nicht erwidert, stattdessen von den Vorüberkommenden lieber der Umweg genommen. Ein Vater, der mit seinem Sohn vorüber läuft warnt diesen sich in Acht zu nehmen, da die Frau es als Hexe faustdick hinter den Ohren habe. Die Hexenfurcht in den Märchen ist groß und wird durch solche Bemerkungen verdeutlicht.[55]

Die vermeintliche Hilflosigkeit und Gebrechlichkeit steht im Kontrast zu ihrer zauberischen Stärke. Dieser Kontrast verstärkt den Eindruck und die Angst vor der Macht, über die sie, dem Anschein nach, verfügt.

Die Darstellung einer steinalten Frau, die den Zenit ihrer Jugend und Schönheit überschritten hat, ist ausreichend, um die Hässlichkeit und dadurch das Unheimliche nach außen zu kehren und die Furcht vor ihr zu schüren.

Es gibt jedoch in den Märchen auch junge und schöne Hexen, deren Äußeres keine Furcht hervorrufen kann und das Unheimliche nicht durch Äußerlichkeiten zum Ausdruck gebracht wird. Doch auch in diesen vereinzelten Fällen kommt das Unheimliche, Dämonische zum Vorschein, dringt das Hexerische sozusagen durch die äußere Hülle. Auch wenn die junge, schöne Hexe nicht Vertreterin des bösen Prinzips ist sondern im Märchen als eine freundliche Helferin erscheint, trägt sie doch das Irrationale, Dämonische in sich, ist sie doch eine Hexe. Im Märchen von den „Sechs Schwänen“[56] nimmt der König dieses Unheimliche deutlich wahr. Eine böse Hexe hat ihn in einen Wald gelockt und hält ihn dort gefangen. Diesen Wald kann er nur verlassen wenn er die Tochter der Hexe heiratet. Mit dem Wissen keine andere Wahl zu haben, willigt er ein und heiratet die junge Hexe, die zu seiner Überraschung sehr hübsch ist. Trotz aller Schönheit gefällt sie ihm nicht und er kann sie nicht ansehen ohne zu erschaudern.

Auch Schneewittchens Stiefmutter wird als makellos schön beschrieben, doch ihre Boshaftig­keit überdeckt ihre äußerliche Schönheit.

Neben Schneewittchens Stiefmutter gibt es in den Märchen weitere Hexen, die kein hässliches Äußeres besitzen, deren hässliches, dämonisches Inneres jedoch nach außen hin wirkt.[57]

Das Märchen wird jedoch nicht nur durch das Hässliche geprägt, erfährt seine Bedeutung nicht nur durch die Darstellung von negativen Attributen wie „hässlich“ und „böse“, sondern vor allem durch den Gegensatz. Das direkte Gegenbild von hässlich ist schön und das von böse ist gut. Im Märchen dominiert das Schöne, die Märchenhelden und -heldinnen stehen zumeist auf der guten Seite und sind von äußerlicher Schönheit. Das Volksmärchen schafft ganz bewusst diesen Gegensatz, denn Schönheit ist nach Maßstab des Märchens die äußere Erscheinung des Guten und Richtigen. Übertragen auf das Märchen ist der schöne und gute Held des Märchens der Normale, das Böse und Hässliche wird, wie dargestellt, ganz automatisch zum Unnormalen degradiert.[58]

Durch den Kontrast, der geschaffen wird, hebt man die Gegensätze stark hervor und spielt diese gegeneinander aus. Die den jeweiligen Märchenfiguren zugeteilten Attribute wie „schön“ und „hässlich“ sind in den Märchen zumeist wenig spezifisch.

Der Grad an Schönheit bzw. Hässlichkeit wird oft durch Vergleiche festgelegt, der Fantasie bleibt jedoch viel Freiheit, um darüber zu entscheiden, wie schön bzw. hässlich jemand wirklich ist. Der Ausdruck „hässlich“, wie auch die Bezeichnung „Hexe“ beeinflussen jedoch stark und rufen oft präzise Vorstellungen hervor. In der ersten Fassung der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen war die Hexe noch eine steinalte Frau, die mit dem Kopf wackelte. Später hat Wilhelm Grimm gesagt, dass die Hexe rote Augen habe und nicht besonders weit sehen könne, ihre Witterung sei aber umso besser. Viele Attribute zur Beschreibung der Märchenhexe wurden ergänzt und nach und nach entstand daraus ein Hexenbild. Für die Kenntnis, dass es sich um eine Hexe handelt, muss dieses Bild jedoch nicht in seiner vollen Ausschmückung dargelegt werden.

Zumeist ist schon die Beschreibung einer bösen, hässlichen Alten ausreichend, diese Person als Hexe zu kennzeichnen.[59]

In manchen Märchen ist diese Gleichsetzung der Hexe mit dem Attribut „böse“ oder dem Attribut „hässlich“ jedoch nicht möglich. Der Begriff „Hexe“ bleibt dann als Oberbegriff bestehen und vereint unterschiedliche Vorstellungen.

Letztendlich ist die Rolle der Hexe von der Handlung des Märchens abhängig, prägt erst die Handlung die Rolle, die sie in einem bestimmten Kontext darstellen soll. Die häufigste Rolle, die sie anhand der Geschehnisse zugespielt bekommt, ist jedoch ohne Zweifel die der häss­lichen und bösen Hexe.[60]

Dieser verallgemeinernde Märchenstil, der darauf beruht zu polarisieren und „gut und böse“ sowie „hübsch und hässlich“ gegenüberzustellen, schafft automatisch vorgefertigte Rollen­bilder.

Da jemand den Part des Bösen übernehmen muss, bietet sich die Hexe als unheimliches Wesen an. Sie übernimmt den Gegenpart des Helden, wird dessen Gegenspielerin und vertritt somit das böse Prinzip.[61] Literarisch gesehen, ist sie die wichtigste und am häufigsten auftretende Vertreterin des bösen Prinzips.[62] Die automatisch vorgefertigten Rollenbilder prädestinieren die Hexe als Vertreterin des bösen Prinzips diese Rolle anzunehmen und auszufüllen.[63] In den meisten Märchen hat sie die Aufgabe, Gegenspielerin zu sein, um die Handlung eines Märchens voranzutreiben und am Schluss das Gute gegen das Böse siegen zu lassen, den Held gegenüber der Hexe siegreich aus der Schlacht hervortreten zu lassen.[64]

Im nächsten Kapitel wird das ersichtlich gewordene Bild der Märchenhexe in den Zusammen­hang des Märchens gestellt. Dessen theoretischer Inhalt wird in der Praxis des Märchens überprüft und die Bedeutung der Märchenhexe für das Märchen untersucht.

[...]


[1] Vgl. Ziegler, S.232.

[2] Vgl. Gerlach, Artikel „Hexe“, S.965

[3] Vgl. Böhm-Korff, S.108f.

[4] Vgl. Peuckert, Will-Erich, Deutsches Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel, Band 2, Berlin 1938, S.22.

[5] Vgl. Böhm-Korff, S.108f.

[6] Vgl. Dingeldein, S.56.

[7] Vgl. Vordemfelde, S.570ff.

[8] Vgl. Böhm-Korff, S.110ff.

[9] Vgl. Vordemfelde, S.570ff.

[10] Vgl. Böhm-Korff, S.66f.

[11] Ebd. S.50.

[12] Ebd. S.98.

[13] Ebd. S.54f.

[14] Vgl. Röhrich, „und weil sie nicht gestorben sind…“, S.130.

[15] Vgl. Früh, S.15ff.

[16] Ebd. S.7.

[17] Vgl. Tatar, Maria, Von Blaubärten und Rotkäppchen, Aus dem englischen von Anke Vogel, Salzburg und Wien 1990, S.198.

[18] Vgl. Dr. Lincke, Werner, Das Stiefmuttermotiv im Märchen der germanischen Völker, Germanische Studien Heft 142, Berlin 1933, S.20f.

[19] Vgl. Blaha-Peillex, Nathalie, Artikel „Stiefmutter“, in: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.), Enzyklopädie des Märchens, Band 12, Berlin 2007, S.1294.

[20] Vgl. Blaha-Peillex, S.1295f.

[21] Vgl. Mallet, Carl-Heinz, Am Anfang war nicht Adam, München 1990, S.73.

[22] Vgl. Blaha-Peillex, S.1295.

[23] Vgl. Dr. Lincke, S.22f.

[24] Vgl. Böhm-Korff, S.37f.

[25] Vgl. Dr. Lincke, S.23.

[26] Vgl. Böhm-Korff, S.38.

[27] Ebd. S.38.

[28] Vgl. Röhrich, „und weil sie nicht gestorben sind…“ S.126f.

[29] KHM 47 AaTh 720

[30] Vgl. Röhrich, „und weil sie nicht gestorben sind…“, S.206.

[31] Vgl. Früh, S.7.

[32] KHM 24 AaTh 480

[33] Vgl. Timm, Erika, Frau Holle, Frau Precht und andere verwandte Gestalten, Stuttgart 2003, S.2-3.

[34] Vgl. Göttner-Abendroth, Heide, Die Göttin und ihr Heros: Die matriarchalischen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung, 9. Auflage, München 1990, S.137f.

[35] Vgl. Timm, S.2f.

[36] Vgl. Schliephacke, Bruno P., Bildersprache der Seele, Berlin 1970, S.31.

[37] Vgl. Scherf, Walter, Die Hexe im Zaubermärchen, in: van Dülmen, Richard (Hg.), Hexenwelten, Frankfurt/Main 1993, S.227.

[38] KHM 12 AaTh 310

[39] Vgl. Dingeldein, S.56.

[40] Vgl. Röhrich, „und weil sie nicht gestorben sind…“, S.130.

[41] Vgl. Müller, S.47.

[42] Vgl. Röhrich, „und weil sie nicht gestorben sind…“, S.131.

[43] Vgl. Früh, S.16.

[44] Vgl. Müller, S.47.

[45] Vgl. Bastian, Ulrike, Die „Kinder und Hausmärchen“ der Brüder Grimm in der literaturpädagogischen Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1981, S.8f.

[46] Vgl. Rötzer, Hans Gerd, Märchen, 2. Auflage, Bamberg 1995, S.23.

[47] Ebd. S.21.

[48] Vgl. Rötzer S.22.

[49] Ebd. S.111.

[50] Vgl. Böhm-Korff, S.106f.

[51] Vgl. Bethe, E., Märchen, Sage, Mythus, Leipzig 1922, S.29.

[52] Vgl. Vordemfelde, S.561f.

[53] KHM 69 AaTh 405

[54] KHM 179 AaTh 923

[55] Vgl. Vordemfelde, S.562ff.

[56] KHM 49 AaTh 451

[57] Vgl. Vordemfelde, S.564f.

[58] Vgl. Lüthi, Max, Das Volksmärchen als Dichtung: Ästhetik und Anthropologie, Düsseldorf, Köln 1975, S.40f.

[59] Vgl. Lüthi, S.42.

[60] Vgl. Dingeldein, S.57.

[61] Vgl. Gerlach, Artikel „Hexe“, S.964.

[62] Vgl. Böhm-Korff, S.109.

[63] Vgl. Rötzer, S.21ff.

[64] Vgl. Gerlach, Artikel „Hexe“, S.965.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2009
ISBN (PDF)
9783958205499
ISBN (Paperback)
9783958200494
Dateigröße
7.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Grimm Brüder Grimm Hausmärchen Kindermärchen Baba Jaga

Autor

Denise Turner, geb. Hofmann, M.A., wurde 1983 in Gießen geboren. Ihr Studium der Germanistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen schloss die Autorin im Jahr 2009 mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Bereits während des Studiums befasste sich die Autorin mit Frauenbildern in der Neueren Deutschen Literatur. Ihre umfassenden Erfahrungen motivierten sie, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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Titel: Vom Lebkuchenhaus und seiner Bewohnerin: Die Hexe im Märchen
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